Dark Land - Folge 002 - Graham Grimm - E-Book

Dark Land - Folge 002 E-Book

Graham Grimm

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Beschreibung

Er wachte auf und sah sich blinzelnd um. Das Zimmer lag im Kerzenschein, der das Mobiliar zu dunklen Schemen zerschmolz. Wirklich sehen konnte er nur das Bett, in dem er lag. Er strich mit den Händen über die dick mit Daunen gefüllte Decke.

War das sein Bett?

"Wo bin ich?", fragte er.

Eine Stimme antwortete ihm: "Du bist zu Hause, mein Junge."

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Inhalt

Cover

Impressum

Kein Zurück!

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Timo Wuerz

Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-4147-8

www.bastei-entertainment.de

Kein Zurück!

von Graham Grimm

Wo fahren die bloß hin?,fragte sich Lieutenant Bella Tosh am Steuer ihres Wagens und das nicht zum ersten Mal, seit sie die Verfolgung ihres Partners, Sergeant Kajahn, aufgenommen hatte.

Partner? Er war eben doch nur ein Dämon. Und Dämonen misstraute Bella. Aus gutem Grund, wie diese Sache einmal mehr bewies. Wer im Polizeidienst ein richtiger Partner war, der stahl sich nicht heimlich davon, um …

Das andere Auto tauchte aus der Querstraße auf, als hätten Nacht und Nebel es ausgespuckt!

Wie ein Geschoss jagte es auf Kajahns Wagen zu und rammte ihn …

Das Fahrzeug des Sergeants wurde in die Luft geschleudert, drehte sich um die eigene Achse, einmal, zweimal, dann landete es krachend und splitternd auf dem Dach.

Da war Bella Tosh längst in die Eisen gegangen. Ihr Auto schlitterte über die vom Nieselregen nasse Straße und kam fast quer zur Fahrtrichtung zum Stehen. Der Unfall hatte sich ein gutes Stück voraus ereignet, sie war weit hinter Kajahn zurückgeblieben, damit er mit seinen katzenhaften Sinnen nicht auf sie aufmerksam wurde.

Der Lärm von der Unfallstelle klang in ihren Ohren trotzdem so laut, als hätte der andere Wagen Kajahn direkt vor ihr gerammt.

Gerammt, mit aller Gewalt und voller Absicht. So hatte es in ihren Augen jedenfalls ausgesehen. Es sei denn, der Unfallfahrer war am Steuer eingeschlafen oder hatte einen Infarkt erlitten …

Hatte er nicht. Er stieg aus.

Bella stieß ihre Tür auf und schlüpfte hinaus.

Weit vor ihr flackerte eine kleine Flamme auf, in der Faust des Fahrers, der Kajahn gerammt hatte. Ein Feuerzeug.

War der Kerl denn von allen guten Geistern verlassen?!

Bella öffnete den Mund, der Ruf blieb ihr im Hals stecken.

Die Feuerzeugflamme, nur ein zuckender Lichtpunkt weit vor ihr, verwaschen im Dunst aus Niesel und Nebel, senkte sich dem Boden entgegen. Der Unfallverursacher, nicht mehr als ein Schemen in der Nacht, ging in die Hocke. Seine Hand schien den Boden zu berühren. Tatsächlich leckte nur die Flamme seines Feuerzeugs darüber. Eine Pfütze ausgelaufenen Benzins geriet bläulich schimmernd in Brand.

»Keine Bewegung!«, rief Bella, ihren Revolver schon in der Hand.

Der andere richtete sich auf, blickte in ihre Richtung. Wirklich sehen konnte sie ihn nicht. Aber sie fühlte, wie er zu ihr her starrte, so deutlich, als berührte er sie.

Vor seinen Füßen tanzte knöchelhohes Feuer, wie unentschlossen, als wüsste es nicht, wohin – und dann fanden die Flammen die Benzinspur, die zu Kajahns Wagen führte, und folgten ihr.

Bella rannte los.

Der Unfallverursacher zog sich zu seinem Wagen zurück, der zwar nicht unversehrt geblieben, aber eindeutig noch fahrtüchtig war.

»Stehen bleiben!« Jetzt schrie Bella.

Der andere hörte nicht auf sie. Schon stand er halb hinter seiner offenen Fahrertür.

»Stopp!«

Bella schoss. Im Laufen. Zu überhastet, kaum gezielt. Das Geschoss schlug mit einem bis hierher hörbaren Laut in die dunkle Karosserie des anderen Wagens ein. Der Fahrer saß bereits am Steuer, gab Gas und rangierte.

Bella feuerte ein zweites Mal. Glas splitterte. Leider war es nur ein Scheinwerfer, nicht das Seitenfenster, hinter dem der Kerl hockte. Die blendende Lichtfülle, die sich eben noch in ihre Richtung ergossen hatte, erlosch zur Hälfte. Dann schlingerte der Wagen davon, die roten Hecklichter wurden klein und kleiner. Aber da sah Bella schon nicht mehr hin. Die Flucht des Unfallfahrers war nicht zu verhindern. Sie musste sich auf das konzentrieren, was sie tun konnte.

Ihr Blick war auf die Flammen fixiert, die auf Kajahns Wagen zu tanzten. Dort angelangt, würden sie in den Tank hüpfen, das Wrack würde in einem Feuerball verschwinden, schwarzer Qualm und glutrotes Licht würden sich wie ein Halo darum legen und brennende Trümmer niederregnen. Und gegen einen solchen Tod war dann selbst Kajahn nicht länger gefeit – mochte er auch schon viele Male den Eindruck erweckt haben, er besäße neun Leben wie die Katze, der er ein wenig gleichsah.

Aber selbst wenn Kajahn auch aus dieser Todesfalle einen Weg fände, sein Beifahrer würde sie sicher nicht überleben. Denn der war nur ein Mensch.

Bellas Schritte hallten stakkatoartig zwischen den großen Häusern und herrschaftlichen Villen links und rechts der Straße wider. Sie rannte, nicht um ihr Leben, sondern – wie so oft – um das von jemand anderem.

Leben retten, das war ihr Job. Und Fragen stellen.

Fragen hatte sie viele. Aber die konnte sie nur stellen, nachdem sie Kajahn und seinen rätselhaften Passagier gerettet hatte.

Und die Flammen auf der Benzinspur wurden, genau wie Bella, immer schneller.

***

Fluchend und tanzend, als wollte sie verbotene Kräfte aus finsteren Tiefen heraufbeschwören, versuchte Bella Tosh, die Flammen auszutreten. Aber kaum waren sie hier verloschen, flackerten dort neue auf und fraßen sich abermals auf das Fahrzeugwrack mit seinen beiden Insassen zu. Der ausgelaufene Sprit verteilte sich in feinen Adern auf dem nassen, rissigen Straßenbelag, und alle führten sie zurück zu Kajahns umgekipptem Wagen.

Unterdessen überzog ein wahres Netz winziger, wie von Leben erfüllter Flammen die Fahrbahn rings um das Wrack.

Keine Chance, sah Bella die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen ein. Sie musste versuchen, Kajahn und seinen Passagier herauszuholen, bevor das Feuer den Wagen in Brand setzte.

Hinter ihr ächzte und knarrte das Wrack. Sie drehte sich um und sah, dass es sachte schaukelte. Drinnen rührte sich jemand. Bella ging in die Knie, stützte sich mit den Händen auf der Straße ab, fasste in Flammen, die in ihre Haut bissen, sie fluchte, kroch auf allen vieren näher an den Wagen heran, spähte hinein.

Es war dunkel. Was sich im Innern bewegte, war nur ein Schatten. Ein großer, kräftiger Schatten, das Gesicht so finster, dass es eins war mit der Dunkelheit.

»Kajahn?«, rief sie.

Gelbgrüne Augen glühten im Dunkeln auf und blickten in ihre Richtung. Ein Grollen drang aus den Schatten.

Sie sprang auf, lief um das Wrack herum, zog an der Fahrertür.

»Kajahn, helfen Sie …«, stöhnte sie, mit aller Kraft und ihrem ganzen Gewicht am Griff zerrend.

Da platzte ihr die Tür förmlich entgegen. Kajahn hatte sich von innen mit den Füßen dagegengestemmt und die schwere Tür kraft seiner starken Beinmuskeln aus Schloss und Angel gesprengt.

Bella stürzte rücklings zu Boden und konnte sich gerade noch zur Seite wälzen, sonst wäre die schwere Tür auf ihr gelandet. Kajahn schnellte geschmeidig wie eine Katze – wie eine sehr große Katze im Trenchcoat – aus dem Wagen. Mit derselben Gewandtheit rollte er sich ab und kam hoch. Doch kaum stand er, fuhr er auch schon wieder herum und tauchte zurück ins Innere des Wracks. Sekunden vergingen. Bange Sekunden.

»Kajahn, kommen Sie raus da, das Feuer …«, begann Bella.

Er kam wieder zum Vorschein. Jetzt trug er auch seinen breitkrempigen Hut wieder, ohne den ihn kaum einmal jemand sah.

»Helfen Sie mir«, knurrte er und huschte wie ein Schatten um den Wagen herum.

Mit vereinten Kräften machten sie sich an der Beifahrertür zu schaffen.

»Ziehen Sie da.« Kajahn zeigte auf den Türgriff. Er schob seine kräftigen Krallen in den Schlitz zwischen Tür und Rahmen.

»Jetzt!«, kommandierte er, und Bella zog am Griff, während er das Blech an der Seite aufbog und dann aufriss. Mit dem Geräusch einer sich öffnenden Konservendose – einer sehr, sehr großen Konservendose – löste sich die Tür, und Bella stürzte abermals nach hinten und musste zusehen, dass sie nicht von der herausgerissenen Tür getroffen wurde.

»Verdammt, Kajahn.« Sie rappelte sich auf.

Nicht tausend, aber doch einige Fragen brannten ihr auf der Zunge. Zum Beispiel die, warum ihr feiner Partner einen jungen Mann namens Wynn Blakeston, der eigentlich auf dem Weg ins Gefängnis gewesen war, aus dem Transporter geholt hatte, um ihn dann … ja, wohin zu bringen? Das wäre ihre nächste Frage gewesen.

Doch Bella kam weder dazu, diese beiden zu stellen, noch irgendeine der anderen, die sie nicht weniger brennend interessierten.

Kajahn war mit dem Oberkörper im Wagen verschwunden, jetzt kroch er rückwärts wieder heraus, die Hände unter den Achseln dieses Burschen, den sie in einem Nachtclub wegen Störung einer kulturellen Veranstaltung festgenommen hatten. Daraufhin war Blakeston zu einem Bußgeld verurteilt worden, das er nicht bezahlen konnte. Deshalb hatte der Richter es in eine Haftstrafe umgewandelt: fünfzig Jahre. Das war hart – für einen Menschen. Ein Dämon saß diese Spanne auf einer Backe ab. Und die Gesetze waren nun einmal so angelegt, dass vor allem Dämonen ihre volle Härte zu spüren bekamen.

Aus irgendeinem Grund sollte dem Jungen die Zelle in Land’s End, der Haftanstalt draußen auf der gleichnamigen Insel vor dem Hafen, erspart bleiben. Aber wohin Kajahn ihn auch hatte bringen sollen, es sah nicht danach aus, als könnte Wynn Blakeston dort ankommen.

»Ist er …?«, entfuhr es Bella erschrockener, als sie es zu sein glaubte.

Blut rann unter dem aschblonden Haar des Jungen hervor und lief ihm über die Stirn und das blasse Gesicht. Die Augen waren geschlossen. Alle Bewegung, die seinen Körper durchlief, schien allein davon herzurühren, wie Kajahn ihn vollends aus dem Wrack zerrte.

Sie wusste nicht, ob Kajahn überhaupt antworten wollte. Er tat es jedenfalls nicht, denn in diesem Augenblick erreichten die Feuerzungen, die über die Straße flackerten, das Wrack und leckten daran hoch.

Kajahn schnellte mitsamt seiner Last auf Bella zu, rempelte sie an, sie stolperte ein paar Schritte, dann stürzte sie, Kajahns Schatten fiel auf sie, dann spürte sie sein immenses Gewicht auf sich.

Und hinter ihnen schoss brüllend und brodelnd ein Feuerpilz in die Höhe.

***

Bella konnte riechen, wie der Pelz unter Kajahns Trenchcoat versengte. Und auch sie selbst spürte, trotz seines schützenden Körpers auf ihr, wie der Gluthauch über sie hinwegfuhr, auf ihrer Haut brannte und ihr den Atem raubte, so sehr, dass ihr kurz schwarz vor den Augen wurde.

Noch bevor sie wieder sah, merkte sie, dass Kajahns Gewicht von ihr verschwunden war. Und da brauchte sie gar nicht wieder zu sehen, um zu wissen, was im Einzelnen geschehen war …

»Weg«, stellte sie dann auch ganz richtig fest, als sie sich aufstützte und hochkam.

Kajahn war verschwunden, und mit ihm Wynn Blakeston. Wohin? Sie hörte das Echo sich entfernender Schritte, lief in die Richtung, bog um eine Mauerecke und hörte die Schritte nicht mehr. Dafür sah sie am Fuß der Mauer ein Paar hastig abgestreifter Schuhe stehen. Kajahns Schuhe. Lautlos hatte er sich auf seinen nackten Pantherpfoten vollends aus dem Staub gemacht.

Verdrossen ging sie zurück.

Das Fahrzeugwrack stand in Flammen, ragte wie eine bucklige Insel aus dem Meer des brennenden Benzins, das sich um den Wagen herum verteilt hatte. Links und rechts die Straße hinunter blieben jeweils zwei, drei herangekommene Autos stehen. Hinter einigen Fenstern der Häuser ging Licht an, tauchten Schatten auf.

Ein solches Schauspiel erlebte man nicht oft in dieser Gegend der Stadt. In Morland Heights residierte die Upperclass von Twilight City, und das tat sie unter anderem der Ruhe wegen.

Stimmen wurden laut. Bella rief zu einem der erhellten Fenster hinauf: »Verständigen Sie bitte die Polizei!«

Der Schatten dort zögerte kurz, dann verschwand er.

Bella verzog den Mund. Ja, sie war zwar von der Polizei, aber was sollte sie hier tun? Verkehrsunfälle fielen nicht in ihre Zuständigkeit. Und als solcher würde dieser Zwischenfall hier verbucht werden, daran hatte sie keinen Zweifel. Dafür würde Captain Clarissa Statesboro, Leiterin der Ermittlungsabteilung Delta und sowohl ihre als auch Kajahns Vorgesetzte, schon sorgen. Denn Statesboro war es gewesen, die Kajahn auf diese mysteriöse Mission geschickt hatte, und zwar allein. Sie, Bella, hatten die beiden außen vor gelassen. Aber sie hatte alles beobachtet. Weil sie immer auf der Lauer lag.

Und jetzt hatte Kajahn sie, seine Partnerin, buchstäblich im Regen stehen gelassen.

»Na warte«, murmelte sie, von Nieseldunst und dem glutigen Widerschein des ausbrennenden Wagens umflort. »Komm du mir nur wieder unter die Augen.«

Im Moment tat Kajahn das nicht. Sie entdeckte keine Spur, keinen Mantelzipfel von ihm. Er hatte sich abgesetzt mit diesem jungen Burschen, der mindestens halb tot gewesen war.

Sie wollte wissen, welches Spiel hier ohne sie gespielt werden sollte. Weil sie sich geschworen hatte, ihre Nase in jede undurchsichtige Sache zu stecken, auf die sie stieß. Und das tat sie nicht nur als Polizistin, sondern vor allem auch als Tochter eines Polizisten, der unter undurchsichtigen Umständen zu Tode gekommen war.

Deshalb war sie Kajahn gefolgt. Alles konnte ein Stück in dem großen Puzzle sein, das sie mühsam zusammensetzte, dessen Motiv aber noch nicht einmal zu erahnen war. Umso schmerzhafter fraßen jetzt Wut und Enttäuschung in ihr und prägten Linien in ihr Gesicht, die so hart und tief waren, dass Bella sie spüren konnte.

Wieder einmal war sie gegen eine Wand gelaufen, und sie stand mit leeren Händen da. Und wieder einmal spürte sie, wie der Mut sie verließ, tröpfchenweise aus ihr floss wie Wasser aus einem undichten Hahn.

Aber sie wusste, wo sie immer neuen Mut schöpfen konnte.

Ohne auf die Kollegen zu warten, ging sie zu ihrem Wagen zurück, stieg ein und fuhr hinaus zum Warbling-Fields-Friedhof.

***

Es war ein gutes Gefühl, so durch die Nacht zu jagen. Auch wenn der Grund kein Anlass war zu guten Gefühlen. Auf seinen Armen trug er einen jungen Menschen, der dem Tod sehr viel näher war als dem Leben. Um dies festzustellen, hätte Kajahn seiner besonderen Sinne kaum bedurft. Selbst Tosh hatte es mit bloßem Auge erkannt.

Aus vollem Lauf sprang Kajahn mit einem Satz auf die Krone einer Grundstücksumfriedung, witterte kurz, stieß sich ab und landete auf weichen Pfoten im Sichtschutz eines Gebüschs im Garten des Anwesens. Wieder orientierte er sich, lauschte, nahm Tosh wahr, die jenseits der Mauer auf seine zurückgelassenen Schuhe gestoßen sein musste. Die Mund- und Nasenpartie seines Gesichts zuckte unter dem Anflug eines Lächelns. Dann hetzte er weiter mit seiner reglosen, aber aus irgendeinem Grund wohl wertvollen Bürde.

Diesen Grund hatte Captain Statesboro ihm nicht genannt. Und er hatte nicht danach gefragt. Er hätte nie danach gefragt. Solche Neugier stand ihm nicht zu. Und das Wissen als solches war für ihn ohne Bedeutung. Statesboro hatte ihm aufgetragen, Wynn Blakeston abzuholen und zu einer bestimmten Adresse zu bringen. Die kannte er, und das genügte. Er würde den jungen Mann dort abliefern, damit wäre seine Aufgabe dann erfüllt.

Ob er ihn tot oder lebendig übergab, davon war keine Rede gewesen. Kajahn ging, während er über eine weitere Mauer hinwegsetzte, davon aus, dass Statesboro nicht einkalkuliert hatte, dass es unterwegs zu Schwierigkeiten kommen könnte. Er hatte sie gelöst, soweit es in seinen Kräften gestanden hatte. Noch war das Leben nicht völlig aus Wynn Blakeston gewichen, auch wenn Kajahn spürte, wie es aus dem verletzten Leib strömte, einem leisen Wind gleich, der ihm die Schnurrhaare kribbeln ließ.

Wenn Wynn Blakestons Glückssträhne anhielt, mochte es noch nicht zu spät sein. Andererseits hatte er schon das Glück gehabt, vor fünfzig Jahren Gefängnis verschont zu bleiben. Und wenn man dann noch bedachte, wo Kajahn ihn hinbringen sollte …

Ein Hund bellte und preschte durch Büsche brechend heran. Kajahn, der seine Last inzwischen über der Schulter trug, fuhr tief aus der Kehle fauchend herum und starrte dem geifernden Köter entgegen. Das eben noch so angriffslustige Tier blieb wie von einer gestrafften Kette ruckartig gestoppt stehen, winselte und trollte sich mit eingeklemmtem Schwanz.

Kajahn setzte seinen Weg fort, und zwei Mauersprünge weiter erreichte er den parkartigen Garten des Hauses, das sein Ziel war.

Es gehörte gewiss zu den stattlichsten in Morland Heights, einer Gegend, der es an imposanten Bauten nicht mangelte. Was diese Villa von anderen unterschied, war in erster Linie ihre versteckte Lage. Sie sollte im Gegensatz zu anderen von der Straße aus nicht gesehen werden, stand verborgen hinter hohen Mauern und dichtem Baumbewuchs. Stand man jedoch davor, blickte man an durchaus sehenswerten, reich verzierten Mauern hinauf zu einer wahren Dachlandschaft aus schiefernen Tälern und Höhen, unter der sich ein Labyrinth aus ineinander verschachtelten Speicherräumen vermuten ließ und aus der zahlreiche Türme und Türmchen unterschiedlicher Form und Größe aufragten. Hinter den hohen, von Efeu umrankten und teils mit farbigen Mosaiken verglasten Fenstern in den Mauern wallten glosendes Licht und schattenhafte Dunkelheit.

Ein Mensch hätte geschaudert beim Anblick dieses Hauses und insbesondere ob dessen, was es unsichtbar ausatmete. Als wäre es nicht nur mit dem Leben derjenigen erfüllt, die darin wohnten.

Kajahn verspürte keinen solchen Schauder. Wohl war ihm dennoch nicht. Denn zwischen ihm und dem Haus lag noch der Garten – und der barg Schrecken ganz eigener Art. Schrecken nämlich für seine, Kajahns Art: Fallen für Dämonen.

***

Wo bin ich?

Er blinzelte. Die Welt bewegte sich. Ringsum vermengten sich Zwielicht und Dunkelheit zu einem wogenden Ozean, in dessen Weite er zu treiben schien. Er spürte die Kälte dieses Meeres, seine Nässe und trotzdem auch etwas wie warmen, weichen Boden unter sich, der sich dennoch bewegte, auf und ab, hin und her. Doch irgendetwas hielt ihn fest, verhinderte, dass er abrutschte und fiel.

Er selbst hätte nicht die Kraft gehabt, sich festzuhalten oder gar zu bewegen. Er verlor immer mehr an Kraft. Schon die Anstrengung, nur die Lider offen zu halten, drohte den letzten Rest seiner Kräfte aufzuzehren. Also gab er nach und schloss seine Augen, er ließ sich von der damit einhergehenden Schwärze umfangen, in sie hineinfallen.

Er versank darin und verlor jedes Interesse an einer Antwort auf seine andere Frage: Wer bin ich?

***

Kajahn wusste um die Existenz der Dämonenfallen, und das war der halbe Wegzoll hinüber zum Haus. Die andere Hälfte ließ sich mit Vorsicht begleichen und dem Vertrauen auf seine Sinne, deren Zahl und Feinheit die eines Menschen um ein Vielfaches übertrafen. Nicht einmal jeder Angehörige seiner Spezies hatte sie, und noch weniger hatten sie in der Ausprägung, die ihm eigen war. Als »Panthermann«, wie Menschen ihn bisweilen nannten, war Kajahn eine Rarität selbst innerhalb seiner Rasse.

Die größte Gefahr bestand in der Zeit, die drängte. Denn das Leben, das noch in Wynn Blakeston steckte, zählte spürbar schon nur noch Minuten.

Kajahn legte den jungen Mann behutsam ab und zog sich aus. Um sich ganz auf seine ureigene Natur verlassen zu können, durfte nichts zwischen ihr und der Welt stehen. Keine hinderliche Kleidung, die Strömungen nicht an ihn dringen ließ und seine Sinne, die wie Augen und Ohren waren, blind und taub machte.