Das absolut perfekte Verbrechen / Unverdächtig / Paris - Brest - Tanguy Viel - E-Book

Das absolut perfekte Verbrechen / Unverdächtig / Paris - Brest E-Book

Tanguy Viel

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Beschreibung

Das absolut perfekte Verbrechen In einer nordfranzösischen Hafenstadt plant die örtliche Gaunerbande den Überfall auf das Casino. Der Plan ist ebenso verrückt wie perfekt & Ein filmischer Roman in Schwarz-Weiß über den Traum vom großen Glück. Unverdächtig In der Kulisse eines nordfranzösischen Küstenstädtchens spielt diese hinterhältige Geschichte um Liebe und Geld und Verrat. Sam und Lise sind ein Paar. Sie arbeitet als Animierdame und schläft am Tag. Er hingegen schläft nachts und verbringt seine Tage vor dem Fernseher. Das Meer ist nicht weit, doch der Traum von einem anderen Leben scheint auf ewig ein Traum bleiben zu müssen. Bis Lises bester Kunde Henri ihr einen Heiratsantrag macht. Paris - Brest Im Tonfall eines Geständnisses geschrieben, ist dieser Familienkriminalroman ironisch und elegant. Es geht um viel Geld, um bodenlosen Verrat. Genau und schlicht entwickelt der Autor die Geschehnisse, Figuren und das Bühnenbild seiner Geschichte. Mit wenigen, eindrücklichen Strichen baut er eine atemlose Spannung auf, die eines alten britischen Krimis würdig und zugleich voller Humor ist.

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Tanguy Viel

Das absolut perfekte VerbrechenUnverdächtigParis – Brest

Drei Romane in einem Band

Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel

Verlag Klaus Wagenbach  Berlin

E-Book-Ausgabe 2014

©2001, 2006, 2009 Les Éditions de Minuit, Paris

©2014 für diese Ausgabe:Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin.

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN978 3 8031 4170 5

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TANGUY VIELDas Verschwinden des Jim Sullivan

Ein amerikanischer Roman

Das Leben war schon mal netter zu Dwayne Koster, und so besieht er sich die Welt nun vorzugsweise von seinem Wagen aus, einem Dodge Coronet aus den sechziger Jahren, und hört dabei Musik von Jim Sullivan. Dieses Buch von Tanguy Viel ist ein Roman hinter dem Roman. Eine hochkomische, sehr unterhaltsame Parodie ebenso wie eine große Hommage an den amerikanischen Roman.

Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-HenkelQuartbuch. Gebunden mit Schutzumschlag. 128 SeitenAuch als E-Book erhältlich

DANIEL ALARCÓNDes Nachts gehn wir im Kreis

Roman

Auf der Theaterbühne ist Nelson seiner Rolle gewachsen – nicht aber im wirklichen Leben. Er ist einer derjenigen, die nach einem Krieg noch immer den Weg zurück in die Normalität suchen. Und so probt auch er seine eigene Existenz, geht im Kreis – und wird dabei vom Feuer verzehrt.

Aus dem Amerikanischen von Friederike MeltendorfQuartbuch. Gebunden mit Schutzumschlag. 256 SeitenAuch als E-Book erhältlich

DEBORAH LEVYBlack Vodka

Zehn Geschichten

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Aus dem Englischen von Barbara SchadenQuartbuch. Gebunden mit Schutzumschlag. 128 SeitenAuch als E-Book erhältlich

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Verlag Klaus Wagenbach Emser Straße 40/41 10719 Berlin www.wagenbach.de

INHALTSVERZEICHNIS

Das absolut perfekte Verbrechen

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Teil 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil 3

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Unverdächtig

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Paris–Brest

I Mit Blick über die Bucht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

II Drei Jahre später

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

III Der junge Kermeur

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

IV Etwas über uns

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Das absolut perfekte Verbrechen

Den Bildschirm über dem Tresen, mit einer Kamera draußen verbunden, damit man sehen konnte, wer hereinkommt, streifte ich oft mit einem zerstreuten Blick, mal aus Langeweile, mal reflexhaft, und auf die Haarfarbe oder die Hautfarbe dessen, der klingelte, achtete ich kaum auf diesem Bildschirm. Aber an jenem Septemberabend wollte es dieser Fernseher mit der Straße als einzigem Programm, wollte es der Zufall, dass mein Blick daran hängen blieb, durch denselben schweren, verräucherten, übel riechenden Mief, und ich sah, wie er ankam, Marin, nach drei Jahren, höchstpersönlich.

Jener Abend war ein ganz normaler Abend, normale Rauchwirbel, Schatten, leere Gläser. Kein allgemeines Verstummen, nicht einmal der Geräuschpegel senkte sich, nur Augen- und Nackenbewegungen, und die Gespräche fuhren fort. Leise, an ein paar Tischen vielleicht, würde man über ihn reden, aber flüsternd.

Wir fixierten uns einen Moment, vier starre Augen, zwei erstarrte Gestalten, dann umarmten wir uns. Drei Jahre, sagte er dann doch, und du hast mich nicht ein einziges Mal besucht im Gefängnis. Eine Pause. Na ja, Leute wie dich, antwortete ich, die sieht man nicht gern im Bau. Wir umarmten uns erneut, zwei Cognacs standen zugleich vor uns, wir prosteten uns zu.

Ich stellte mir den Genuss vor in seinem Mund, das besondere Aroma, das es ihm bescherte, selbst das leere Glas schien er zu bewundern, und er hob die Hand zum Barkeeper, fragte mich mit einem Zwinkern, ob ich noch einen wollte: Immer ja sagen, dachte ich, vor allem heute Abend, denn einem, der gerade aus dem Gefängnis kommt, dem schlägt man nichts ab. Mehrmals legte er mir den Arm auf den Rücken, die massige Hand auf die Schulter, und lächelte mir zu. Wenn wir hätten reden wollen, wir hätten es nicht gekonnt, diese laute Musik, und mein inneres Zittern.

Manchmal stellte Marin das Glas auf den Tresen und klemmte die Zigarre zwischen den Zähnen fest. Dann fixierte er mich, und er zeigte mit den Fingern die Zahl drei, Daumen, Zeige- und Mittelfinger, er zeigte die Zahl der Jahre an, unerbittlich, drei Jahre, nickte dazu, und seine Augen schienen den Rhythmus zu geben, drei Jahre, seine Brauen gingen hoch, um die Länge zu betonen, wie um den Sinn zu verstärken, die bezifferte Schwere seiner Finger, dann nahm er sein Glas wieder zur Hand, tätschelte mir die Schulter, warf den Kopf in den Nacken mit geschlossenen Augen, so, trunken, müde, nervös. Auf seinen Lippen las ich nochmals die Bewegung dieser Worte: drei Jahre. Und er lächelte die ganze Zeit, und ich erwiderte es ihm, zwang meine Lippen, sich auseinanderzuziehen, er sollte nichts davon wissen, von meinen inneren Nöten, meinem Taumel, diesen Spiralen und Verknotungen unter meinem Schädel, nichts.

Zwei, drei Cognacs noch vor dem Gehen, vor unserem Aufbruch, und wahrscheinlich wusste ich, was draußen wartete, wahrscheinlich hatte ich es geträumt, ohne mich daran zu erinnern, also, als wir später gingen, war es wie ein eiserner Vorhang, vom Himmel herab auf mich drauf, und mehrere Minuten lang blieb ich am Boden liegen.

Aber was sollte ich auch tun, mal ehrlich, also ließ ich mich prügeln, fiel fast gleich beim ersten Fausthieb hin, voll ins Gesicht, ich konnte nichts tun, ihn beschimpfen vielleicht, aber ich bin ja nicht wahnsinnig, ich ließ mich prügeln, fertig.

Der Lichtschein aus der Kneipe, das Halogen, das eine Art Boxring vor dem Eingang bildete, es gleißte schon lange nicht mehr, und Marin hockte sich neben mir hin und sagte mir tief ins Ohr hinein, sagte, ich hätte ihm gefehlt, und er schlug weiter zu, in die Lungen, in den Bauch, und es sei doch schade, seine Familie nicht mal von Zeit zu Zeit zu besuchen, drehte mir den Arm in den Rücken, wir würden das alles vergessen als alte Kumpel, die wir waren, den Ellbogen in die Zähne, wir hätten schließlich noch einiges miteinander vor, danach drückte er die Zigarre auf dem Pflaster aus, wenige Zentimeter neben meinen Haaren, und ging, die Straßen hinauf, bis er im Licht der Dämmerung verschwand.

1

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Mit den Scheinwerfern wegen des Regens, der Zettel ZU VERKAUFEN, mit schwarzem Filzer geschrieben und mit Klebstreifen im Rückfenster befestigt, ich erinnere mich, man sah ihn im Rückspiegel, und da er durchscheinend war, sah man ihn richtig herum. Den Rückspiegel hatte Marin als Zubehör gekauft, so was kam aus den Staaten, sagte er, und es stand eingeprägt, auf Englisch, »Gegenstände können näher sein, als sie im Spiegel scheinen«, und er sagte, das gefalle ihm, dieser ins Glas eingravierte Satz. Er wollte ihn selbst anbringen, kaum dass wir den Verkäufer verlassen hatten, auf dem Parkplatz schon wollte er ihn anbringen, aber ich fand es dämlich, Zeit damit zu vergeuden an jenem Morgen, wo wir hunderttausend Dinge zu erledigen hatten vor dem Nachhausefahren. Also hatte er bis zum nächsten Morgen gewartet, einem Samstag, wegen des allwöchentlichen Besuchs beim Onkel.

Auf dem Weg zum Onkel, gen Norden, wenn man von Marin kam, fuhr man natürlich über die Brücke, dann natürlich durch die Stadt, und nach den Boulevards ging es am Meer entlang. Die Straße schlängelte sich oberhalb der Steilküste dahin, an manchen Aussichtspunkten hätte man sich auf der großen Corniche von Monaco glauben können, wegen der zum Meer hin niederstürzenden Kurven, den Abgrund sichtbar unter den Rädern. Aber dafür fuhr er gut, Marins Mercedes.

Am nächsten Morgen also hatte er den Rückspiegel über der Windschutzscheibe angebracht, dann war er so gefahren, den Blick immer halb im Spiegel, um den Onkel zu besuchen, den bettlägerigen, der Lattenrost unter dem Gewicht des Greises, die Hände hatte er stets auf dem Leib gefaltet. Außerdem war da die Tante, kaum jünger als er, lesend, kein Mensch hat je erfahren, was es in diesem dicken, bordeauxfarben eingebundenen Buch zu lesen gab, aber sie schlug es nur zu, dieses Buch, wenn Marin hinter ihr ihre Schulter tätschelte, die immer offen stehende Tür ließ sich nicht kontrollieren, allein die Schulter der Tante versah den Dienst einer Tür. Wenn er sich nicht beherrscht hätte, dann hätte Marin draufgeschlagen wie ein Berserker. Aber ihr Auge, das der Tante, saß wie ein unerbittlicher Türspion inmitten der Falten, also beherrschte er sich lieber.

Der Rückspiegel war sehr schnell vergessen, wenn er vor seinem Onkel loslegte, vor der Tante, vor Andrei und mir, loslegte über die Fortschritte der »Jobs«, so sein Wort, »Jobs«, soll heißen, alles, was er angeblich allein zuwege gebracht hatte, es klang ganz so, als hätte niemand in diesem Zimmer je etwas über ihn gehört, als hätte er irgendwann einmal ohne uns agiert, ohne den Onkel, ganz allein, und schon seit langem die Leitung der Geschäfte übernommen.

Es gab, um die Wahrheit zu sagen, keinerlei Verwandtschaftsbeziehung zum Onkel. Sogar dieser Spitzname, Onkel, verlor sich zu sehr in der Tiefe der Zeiten, als dass man noch gewusst hätte, woher er kam, in diesem Zimmer, dessen einziges Fenster schlecht schloss und klapperte, dann wusste man nie so recht, ob der Wind, ob die Stimme, ob unsere Bewegungen einen Luftzug veranstalteten zum Obstgarten hinaus, in dem nur ein paar Äpfel einsam wuchsen.

Und Marin rezitierte die Liste der Einkäufe, die Buchhaltung im Detail, die komplette Überschau all dessen, was, so der »Onkel«, den Lebensunterhalt der Familie sichern sollte. Er selbst, Marin, hatte früher mit den Fingern die Anführungszeichen um die Familie in die Luft gezeichnet. Die »Familie«, so musste man das also verstehen, und das Gefühl, dass wir uns zwischen den Anführungszeichen zugehöriger fühlten, als wenn wir eines Blutes gewesen wären, dank des Stolzes, genau dieser Familie anzugehören, mit der krankhaften Notwendigkeit, seinen Platz in ihr zu finden; er vor allem, Marin, der immer an seiner möglichen, jähen, sinnlosen Verbannung herumzudenken schien, auch ohne den geringsten Grund, dass ausgerechnet er fortmüsste. Wenn es einen gab, der das alles hätte aufgeben müssen, dann ich. Aber ich tat es nicht, weder an jenem Tag noch an den Tagen darauf, ich blieb, das ist meine Geschichte.

Unsere Geschichte ist das, hätte Marin gesagt. Und er würde loszetern, immer noch im Glauben, so den Sorgen des Onkels zu begegnen, der schon seinen Tod erlebte, ebenso rasch, wie er uns kommen sah, und stumm darum flehte, dass nach seinem Tod nichts verändert würde, dass wir auf seinen Ruinen, so suggerierte er, weitermachen würden. Und ich fragte innerlich: weitermachen womit? Dann stand Marin auf, marschierte zum Fenster, versuchte es zu schließen und blieb dort stehen, aufrecht, um den regenfleckigen Scheiben, an denen sein Atem sich neblig niederschlug, zu erzählen, wie nah der Sieg sei, um wieviel wertvoller die Opfer eines jeden von uns, wie undenkbar der Misserfolg, und immer klammerten sich in seinem Rücken seine Arme aneinander. Dann schloss der Onkel die Augen, und er beließ sie so, geschlossen, die ganze Zeit, und es schien, als interessierten wir uns für seine Träume, für die Hinterlassenschaft seiner Träume. Und Andrei und ich gingen hinaus, von Müdigkeit befallen, wie Automaten, und beobachteten durchs Fenster, wie die dunkle, undurchdringliche Silhouette, wie Marin die Lippen bewegte, und ich stellte mir immer noch, hier zwischen zwei Bäumen, die geschlossenen Lider des Onkels vor, der voller Ruhe und Wärme seufzte.

Er redete immer weniger, der Onkel, kaum, dass er uns in den letzten Monaten überhaupt begrüßte. Sogar als Marin vor einigen Wochen wieder rauskam, an jenem für den Onkel gebenedeiten Tag, an dem Marin seine Strafe verbüßt hatte, die drei Jahre, die er in einer Zelle von drei mal drei Metern abgesessen hatte, sogar an diesem ersehnten Tag hatte der Onkel keine Zeichen von Rührung an den Tag legen, hatte weder weinen noch zittern wollen. Dabei hatte er so auf ihn gewartet, auf diesen Tag, und war schneller gealtert durch das Wissen, dass Marin in diesem heruntergekommenen Gefängnis saß. Aber für ihn hatte das Wort Rührung wohl allen Sinn verloren.

Er macht das absichtlich, sagte Marin im Wagen, also dass er nicht mit uns spricht, das macht er absichtlich. Und dass er die grässliche Tante uns fast allein begrüßen ließ, dabei sagte die auch kaum was oder beschränkte sich auf grundlegendste Funktionen der Sprache wie »Kaffee?«, »Seid leise, er schläft« oder »Bis Samstag dann«. Diese Tante, dunkel, vertrocknet, spinnengliedrig, deren mit ihm geteilte Behausung ihren beiden Körpern ähnelte, nur feuchter als ihre rissigen Wangen. Denn Strenge, nein, die kann man nicht improvisieren, dachten wir, und Improvisation und Fantasie hatten sie längst verlassen, sie, deren Gesicht, deren Augen- und Lippenbewegungen mehr Macht ausstrahlten als alle Predigten in der Kirche, sie, wenn sie uns jeden Samstag wieder ankommen sah, erstarrte schon angesichts unseres Eindringens.

Andrei vor allem, Andrei meinte, ihn nerve das mehr als alles andere, und er verweigerte sobald möglich diese öden Besuche, diese ranzigen Samstage, wie er es nannte, wegen der alten Schachtel. Umso mehr verweigerte er sie, als wir immer zu ihnen fahren mussten, nie sie bei einem von uns begrüßen konnten, immer wir in jenes kurz vor dem Verfall befindliche Haus mussten, um trist denselben Tee ohne Zucker kredenzt zu bekommen, dieselben weich gewordenen Kekse, denselben faden Portwein, und dabei immer im Kopf behalten sollten, dass wir Bosse waren.

Denn wir waren Bosse.

Marin behauptete also, der Onkel mache das absichtlich, also schlimmer wirken, als er eigentlich war, wie machte er das nur, welches Vergnügen konnte es ihm in seinem hohen Alter bereiten, sich ohne Sinn und Zweck als noch älter zu geben, als noch degenerierter?

Ich weiß warum, Marin, ich wusste es schon damals, aber ich habe es dir nie verraten.

Und wir sprachen auch nicht darüber, weder Marin noch ich, im Wagen auf der Rückfahrt, sagten etwas, das erlaubt hätte, dass ein Dritter Zugriff auf uns alle bekommen hätte oder auf die Beziehungen, die wir zueinander unterhielten, oder getrennt, ein jeder von uns, der Onkel, die Tante, Marin, Andrei und ich, und so behielten wir die Verwicklung für uns, die uns in diesen Zustand falscher Gedankenversunkenheit beförderte, in dem die vorsichtig, geizig, immer in jenem Tonfall, der anzeigt, dass man gern noch eine Erläuterung hätte, gesagten Wörter, wo unter diesen Wörtern der unsichtbare Teil des Eisbergs also nur zu erahnen war.

Oft fingen wir auf Höhe der Mole, fast zu Hause angekommen, wenn wir über die Brücke fuhren, alle wieder zu reden an. Wir redeten, füllten den Wagen mit allem, was wir sahen, spekulierten über die Segelboote auf dem Meer, sagten »das da hinten, das ist Robs Boot, ja es ist Robs, das mit den grauen Segeln, er ist der einzige, der bei so einem Wetter rausfährt«, unter diesem einförmigen Regen, der immer oder fast das Meer punzte, und wir waren uns so einig in der Absicht, das gallige Schweigen zu brechen. In gewissem Sinne atmeten wir auf, als bedeutete die Aussicht auf die vollbrachte Rückkehr, die Überschreitung der Grenze zwischen zwei Hoheitsbereichen, eine Erleichterung – als gäbe es zwischen dieser ganzen, das Gedächtnis des Onkels tragenden Küste im Norden und der ganz anderen, die Marins Universum im Süden umfasste, einen trennenden Meridian und zur Überschreitung dieser Grenze wäre diese alte Brücke übers Meer vorgesehen, hinter der wir uns frei fühlen konnten, oder allein.

Also hörte ich kaum zu, wenn Marin vor dem Onkel all die laufenden Geschäfte erwähnte, die »Jobs«, wie er sagte, die für unser Überleben in dieser Welt nötig waren, wie der Onkel es nannte. Das hatte er so oft gesagt: unser Überleben. Man muss ja noch ein bisschen überstehen, fügte der Onkel hinzu, loyal bleiben inmitten all dieser Verräter. Dieser Veräter, genau, bestätigte Marin, der rastlos über das knarrende, abgetretene Parkett tigerte, das ein perfektes Echo für seine immer düstereren Worte abgab, für den alternden Onkel, diese Verräter, das war das immer wiederkehrende Wort, das über die trockene, schneidende Seele der Männer in diesen Kreisen sprach, in diesem angeblich finsteren und schmutzigen Milieu der örtlichen Unterwelt. Allerdings gehörten wir selbst ja auch dazu, zur örtlichen Unterwelt.

Aber wir, wir waren dennoch anders. Wenn wir eines Tages so werden sollten wie die, tönte Marin, wenn wir werden wie die, ich schwörs, dann verpasst mir eine Kugel ins Herz. Denen geht doch jeder Sinn für die Familie ab, sagte er. Aber weil die Zeiten sich ändern, schloss der Onkel, er, dessen Leben, Vermögen, Position auf festen Begriffen von Freundschaft und Loyalität gründeten und der hier eine Aufweichung, da Verrat witterte, überall, sagte er, wie die Zeiten sich ändern, sagte er immer wieder, zehnmal, seufzend, er, der es so müde war, auszutüfteln, zu teilen, zu verhandeln, und uns jetzt beschwor, nicht zu wanken noch zu weichen, lasst nicht locker, sagte er, bis zum letzten Atemzug, sagte er.

Und dazu unsere Gewöhnung an Listen und riskante Jobs, seit all den Jahren, in denen dieselben Straßen uns an dieselben Orte brachten, ohne dass wir mehr wussten, ob die Sehnsucht in uns tatsächlich dazu passte.

Die Gewöhnung auch daran, nicht mehr zu wollen, wuchs mit der Menge der »Baustellen«, der »Jobs«, der »Projekte«, die wir für selbstmörderisch hielten und die jedes Mal schrecklicher zu jener anderen so verwandten Gewohnheit beitrugen, unseren eigenen Willen automatisch vor ihm zu ersticken, vor dem Onkel, oder vor seinem Statthalter, Marin. Und die Gewohnheit, dachte ich, die Gewohnheit zerbröselt bisweilen, ohne dass man irgendwelche Risse gesehen hätte.

Seit Langem schon war uns all das, das Ausführen von Befehlen, die Revolver unter unseren Jacken, die Art und Weise, wie wir auf der Straße gegrüßt wurden und üble Begegnungen hatten, war uns all das über. Überdruss, sagten wir, daran, nachts immer eine Hand in der Tasche zu behalten, für alle Fälle, sagten wir. Es kommt eine Zeit, da träumt man von was anderem. Aber wenn man nicht selbst in einem Steinbruch landen will, wenn man selbst nur einfach überleben will, dann macht man weiter.

2

Also war der Glauben, dieses Mal ginge es anders, dieses Mal würden wir’s sein lassen und hätten das sogar Marin gegenüber ausgedrückt, fünf Mal, zehn Mal, in diesem Auto, das uns jeden Samstag vom Onkel zurückbrachte, also war auch der eine Illusion, natürlich, die uns von Kurve zu Kurve schaukelte. Er, Marin, führte wieder vor, wie toll er seinen Wagen fand, den Blick auf die Straße geheftet, schaltend, vom fünften in den vierten, um die Biegungen anzusteuern, die Kutsche flitzen zu spüren und das Lenkrad festzuklammern, als ich sagte, ist doch verrückt, weiterzumachen, Marin, dieser Starrsinn passt eigentlich nicht zu dir, und deine Antwort, zum Glück sei es verrückt, in den Dritten, klammernde Hände, der Motor röhrte wieder auf, denn seit Langem, das ist gewiss, sprachen wir nicht mehr dieselbe Sprache.

Es gab bei Marin keinen Eingangsflur, wir waren sofort im Wohnzimmer und versuchten, die Vögel nicht zu erschrecken, die beiden zahmen Papageien, die dort lebten, im Wohnzimmer, und losflatterten, sobald sie uns kommen hörten. Marin verhätschelte seine Papageien, und sie beruhigten ihn, sagte er.

Aber was vor allem beeindruckte, wenn man zwischen die vielen Sessel trat, die Steinwände, vor das Panoramafenster, durch das Licht in den Raum strömte, was beeindruckte, das war der Anblick des Meers schräg unten. Marin führte es stolz jedem neuen Besucher vor, jedem Gast, und alle bestaunten sie die Aussicht und setzten sich fasziniert davor. Wir aber waren es schon gewöhnt, uns konnte das nicht mehr beeindrucken, wir kannten das Meer seit jeher. Außerdem ging der Blick nicht nur aufs Meer, ins Weite, sondern auch auf die kompakte, arbeitsame, rostige Masse der Hafenstadt gegenüber, das war unser Meerblick, oder auch die Hintergrundfarbe. Und dann sahen wir durch das Fernglas, das da auf einem Holztischchen stand, einer nach dem anderen fern die Stadt, den Hafen, und glaubten, alles, was wir damit umfassten, vor allem Marin wollte das glauben, dass alles, was wir dann vergrößert vor der Nase hatten, die Stadt, das Meer, dass uns das gehörte. Kein Wunder, dass er einen rennen hatte, sollte ich später sagen, und dass drei Jahre im Bau ihm nicht genügt hatten.

Im Park gab es Bäume, die seit Langem da wuchsen, um für die Gediegenheit zu sorgen, nach der er verlangte, und man hätte sie für Wasserpflanzen halten mögen, die sich aus den Banden des Wassers befreit hatten. Da waren seine blauen Sessel, die nach einem Abfluggate aussahen, aber vor diesem Fenster auch wirkten wie in einem Aquarium, immer noch wegen dieser grauen Stadt gegenüber, zu drei Vierteln von den Zweigen der Kiefern schraffiert, erst der Hafen vorn auf der Bühne, dann die Stadt dahinter aufgehäuft, über dem ruhigen Wasser. Wie eine Stadt auf dem Meeresgrund. Wie Marin mal gesagt hat: Wir sind nicht hier, um einen auf Touris zu machen. Und so war es: wie in einem Reisebüro, die blauen Sitze zur Vorbereitung der Abreise und über dem Kopf das Poster mit dem Ziel.

Dann wandten wir den Blick ab und wussten, es stimmt, wir sind nicht hier, um einen auf Touris zu machen, sondern im Gegenteil alle gemeinsam ganz und gar auf ein Ziel hin gespannt, ein Datum, das unsere Zukunft und unsere Daseinsberechtigung vor sich hertrug: das des nächsten Coups, den er, Marin, beschlossen hatte, angeordnet vom Onkel, aber beschlossen von dir, Marin, des nächsten Coups, der uns einspannte wie ein Schraubstock.

An jenem denkwürdigen Samstag – der Onkel in seinem staubigen Schaukelstuhl, den wir für ausgemustert gehalten hatten, endlich mal nicht in seinem alten Morgenmantel, gekämmt, wie wir ihn seit Jahren nicht gesehen hatten – begriff ich sofort, dass etwas im Busch war. Sogar die Tante, sonst düster und trocken und hager, deren Felsengesicht uns jede Freundlichkeit versagte, selbst sie entspannte ihre Lippen beim Wangenkuss. Ich weiß noch, als ich sie lächeln sah, hatte ich Zeit, mich zu fragen, ob er vielleicht gestorben war, der Onkel. Aber statt tot war er lebendiger denn je.

Er sagte: Die Idee ist nicht von mir, er sagte: Die Idee ist von Marin, aber ich billige sie. Marin, erklär es ihnen. Und Marin erklärte es uns, Marin setzte sein Pfaffengesicht auf und erläuterte seine Idee: das Casino, es einfach ausräumen, ich hab nachgedacht im Gefängnis, das würde uns wieder flottmachen. Andrei und ich, wir regten uns nicht, standen wie angenagelt auf dem gebohnerten Wohnzimmerparkett, hörten weiter zu, Marin, der Onkel, wie ein Konzert zu zwei Stimmen, eine Partitur, von beiden notiert, ein einziges Wort kreiste in unseren Schädeln, Casino. Dieses Wort summte in unseren Gehörgängen mehr als ein Ohrwurm, denn wir wussten auswendig, was sich alles unter diesen sechs Buchstaben geduckt hielt: Casino, die Macht des Geldes, die eisernen Fäuste, und die Gesichter der Männer, die mehr als wir auf der Stadt lasteten.

Eine Razzia, ein Überfall, wenn euch das lieber ist. Und ich fröstelte unter meiner Jacke.

Wenn das gelingt, fing der Onkel wieder an, wenn das gelingt, dann ist es das absolut perfekte Verbrechen. Und er setzte die Wörter voneinander ab, einzeln, so: das … absolut … perfekte … Verbrechen.

Wir sagten kein Wort, Andrei und ich, standen stumm da, schienen sämtliche Informationen aufzusaugen (obwohl nur einzel Silben unsere Hirne auftupften: Ca-si-no, aus-räu-men, Ü-ber-leben, Fa-mili-e), mit verschränkten Armen, die unsere Jacken fest-hielten, und hüstelten nur, um die Beklommenheit zu verscheuchen oder etwas, das ihr ähnelte, der Angst vielleicht, etwas, das uns jetzt trennte. Von einer fixen Idee besessen, dachte ich über Marin, ihn, der die ganze Sache allein ausgetüftelt, das alles uns gegenüber mit keinem Wörtchen erwähnt und den Onkel überzeugt hatte, allmählich, indem er sich zu ihm setzte, seine Hand nahm, ihm versprach, ihm garantierte, dass wir ihn überdauern würden, dass die Familie ihn überdauern würde, und später sagte er noch einmal zu uns: Wir werden dafür sorgen, dass sein Name uns alle überlebt. So hast du es geschafft, Marin, ich schwör dir’s, so hast du es geschafft.

Und der Onkel redete weiter, er fegte den Boden mit Blicken, seine Augen wanderten von rechts nach links und wagten sich nie direkt zu uns, aber in seinem Tonfall war die Gewissheit eingeschrieben, das Fehlen jedes Irrtums oder Risikos, und die wilde Entschlossenheit, sie fertigzumachen, die anderen. Bald, darauf beharrte er, werdet ihr als reiche Männer aufwachen, stolz und glücklich. Und das Wort Casino rumorte in unseren Bäuchen, beim Onkel, im Wagen, auf der Brücke, bei Marin, diese Phantomidee, die meine Lider und meine verschlossenen Lippen bearbeitete, denn es war nichts für uns, das Casino, nichts für solche wie uns. Solche wie wir, Marin, solche wie wir segeln eine Klasse darunter.

Wir mochten ja Bosse sein, vielleicht war da was in unseren Gesichtern, das Furcht einflößte, und vielleicht gab es mal eine Zeit, da hatte man in der Stadt Angst vor uns, vor unseren gut eingefädelten Übergriffen, unseren schwarzen Jacken, vielleicht hätten wir weiter in den dunklen Vierteln rumkurven und Geld abgreifen können, wenn es in schmutzige Hände geraten war, bloß beim Casino, da konnten wir nur eins tun, nämlich mit gesenktem Kopf dran vorbeigehen.

Aber davonkommen jetzt noch, das wussten wir, da hätten wir uns gleich ein Ticket nach Argentinien besorgen müssen, da wir durch unser Schweigen schon akzeptiert hatten, gemäß der in der Familie seit jeher geltenden Regel, nach der mit von der Partie ist, wer nichts sagt. Ein solcher Coup, na danke, sagte Andrei, ein solcher Coup, dabei wird er doch bald sterben. Aber niemand im Auto wollte das Fass wieder aufmachen, während wir an den Felsen vorbeifuhren, dann über die Brücke, dann die ungepflasterte Auffahrt entlang, und ich spürte in Andreis Blick, in Marins Lächeln, spürte, dass auch unsere sofortige Rückkehr zu Marin gewisse Gelüste, zu viel zu sagen, im Keim erstickte. Es war so leicht, dann zu unserem Unbehagen die paar Sätze hinzuzugeben, die es genau dafür gab, um das alles zu überspielen, »ich muss mir zu Hause gleich mal die Schuhe putzen«, »wir gönnen uns dann einen guten Cognac«, und sie zu nutzen, diese kleinen Sätze, um einen Übergang zu bewerkstelligen und dann das Vergessen.

Als würde man es für sich selbst beschließen, das Vergessen, und vor diesem Panoramafenster, bei dir zu Hause, Marin, vor der hereinbrechenden Nacht, gelang es uns zu lachen, den Papageien Aufmerksamkeit zu schenken oder einander kühl anzublicken, als hätte diese Sache da, dieser Coup, unsere Köpfe nicht mit Beschlag belegt, sie gesättigt, jener 31. Dezember, an dem wir das Casino hochnehmen würden, denn in dieser Nacht wären die Kassen rappelvoll, so sagte der Onkel, und wir würden sie restlos plündern, die Scheißkerle. Das Neujahrsfest, ich ahnte es sofort, würde einen bitteren Beigeschmack haben.

Er sagte genau dies: In der letzten Nacht des Jahres, in genau der, keiner anderen. Und niemand hat weiter diskutiert, weder Marin noch ich noch Andrei. Und auch nicht Jeanne, die an jenem Abend dazukam, weil es auch eine weibliche Note brauchte, so der Onkel. Er hätte auch sagen können: Weil sie deine Frau ist, Marin. Aber er sagte: Weil wir auch eine Frau brauchen. Und als wir ihr das ganze Projekt erklärt hatten, da wurde Jeanne, ich erinnere mich, ein bisschen blass, sagte eine Zeitlang gar nichts, dann murmelte sie: Er ist wirklich verrückt geworden. Aber ich erinnere noch, zwar weiß ich nicht mehr, über wen ich das sagte, über Marin, den Onkel, über mich, es ist schon verrückt, sich auf so was einzulassen, und doch nichts zu sagen, weiterzumachen, Marin vor seinem Panoramafenster stehen zu sehen, wie er seine Papageien neckte, indem er an ihren Käfig klopfte, und weiter miteinander zu trinken und weiter zu vergessen, was uns trennte, genauer gesagt alles, das Maß der Dinge, Jeanne, die Familie, der bei der Sache über Bord geworfene Glaube. Auf einmal fähig, alle beide, miteinander eine Flasche zu leeren, über dieselben Witze zu lachen und Schwamm über alles, das uns entzweite. Du, dachte ich, nach drei Jahren in einer Zelle von drei mal drei Metern, musstest wie alle anderen die Überfüllung des Gefängnisses ertragen, ohne Extrawurst für dich, den Lieblingsneffen des Onkels. Aber als du aus dem Knast raus warst, als du in jener Nacht zurückkamst und ich dich in diese Kneipe kommen sah, genau in dem Moment, als du mich zu Boden strecktest, da begriff ich, dass alles so weitergehen würde wie immer.

Und wir gehorchten dir weiter, genervt natürlich, immer mit Argusaugen auf deine Launen natürlich, aber gehorchten den tief verankerten Gesetzen eines gemeinsamen Lebens. Ich fragte mich oft, Marin, woher es kommt, dass man sich mit dem zusammentut, was man verabscheut. Aber dich verabscheute ich nicht, Marin, wir verabscheuten einander nicht, wir gehörten ja zu einer Familie. Und das, diese Familie, gehört geehrt, selbst tot.

In diesem Haus zu sein, einfach nur dort zu sein, spannte eine Art Faden in mir, vor ihm, Marin, der mehr strahlte denn je, das Gesicht offener als sonst, ruhiger, gelassener, all das war in der Entspanntheit der Brauen zu lesen, des lockeren Kiefers, des fast gutmütigen Blicks, der in diesem geräumigen Wohnzimmer nicht zu uns passen wollte, zu Andrei und mir, unseren immer noch von den Befehlen des Onkels, durch seine Verrücktheit zerrütteten Nerven, unserem Widerstreben, unserer Pflicht und wegen des Gefühls, die Finger in etwas hineinzustecken, wo wir nichts zu suchen hatten, zu groß, zu hoch für uns, zu stabil die Tresore eines Casinos.

Prost.

Prost.

Prost. Unsere erhobenen Gläser begleiteten unsere Worte, und unsere Blicke, systematisch an mal diesen, mal jenen gerichtet, Augenzwinkern nach hier und nach dort, versuchten, Leichtigkeit zu bewahren, oder kaltes Blut. Er lächelte beinahe, Marin, das heißt, für mich war es, als ob er lächeln würde, wegen der Selbstsicherheit, dem zu hoch getragenen Kopf, seiner Zigarre, dem zwei Mal nachgeschenkten Cognac. Ich stand ruhig auf, ich nahm das Fernglas und betrachtete durch die Nacht die Straßenlaternen im schwarzen Wasser gegenüber, den verlassenen Hafen, und ich sah, hinter dem Strand, in sehr gro-ßen Buchstaben die sechs elektrischen Lichter, rot, die da standen: Casino. Ich drehte mich zu Marin um, versuchte, seinen Blick mit den runden Linsen einzufangen, bis jedes Auge einen Kreis ausfüllen würde, ich sah die offenen Poren der Haut auf seinen Wangen, die vom Alkohol geplatzten Äderchen, fast hätte ich seinen Atem in meinen Augen riechen können. Hinter ihm an die Wand genagelt der Kalender, wie ein Stück Theaterkulisse am Bühnenhintergrund, darauf zu lesen 3. Oktober, Gerhard, stand da riesenhaft, und ich stellte mir die kommenden Morgen vor, die Reihe der Namenstage, bald wäre Sylvester wieder dran. Ich glaube, ich lächelte im Schatten des Fernglases, starrte Marin an, seine vom Fieber, von der Erschöpfung geweiteten Pupillen, vom Krieg, den man in diesen Augen lesen konnte, den er gegen alle führte, gegen die ganze Welt, so weit seine Knarre reichte, so mochte es scheinen, und seine gelben Papageien zischten durch die Luft wie Tennisbälle durchs Gesichtsfeld. Dann gingen wir nach Hause, betrunken, endlose Umarmungen, geflüsterte Formeln, bis morgen. Bis morgen, denn wir würden das alles sehr bald aufs Gleis bringen müssen.

Das war eine Wendung des Onkels, sehr bald aufs Gleis bringen und nicht mehr locker lassen, so sagte der Onkel in diesem gestelzten Pseudojargon, den er unter seiner mottenlöchrigen Decke noch zur Verfügung zu haben meinte, er, der immer noch sagte, eine Stadt beherrsche man mit der einen Hand und mit der andern ballere man auf den Feind los, was das Zeug hält, auf dieses Gewimmel, dachte er, in diesem elenden Milieu voller missratener Gestalten, Betrüger, kleine Lichter mit großer Schnauze, deren mythisches Vorbild er war oder ihr durchs Alter geschrumpftes Symbol.

Doch was an jenem Abend auf der Oberfläche unserer Gedanken trieb, über das Casino und die feindlichen Visagen hinaus, über den Cognac hinaus, der uns langsam benommen machte, was in der hereinbrechenden Nacht schwebte, das war der abstrakte Ort in unseren Schädeln, an dem fettgedruckt die vom Onkel hinterlassenen Worte standen, das absolut perfekte Verbrechen.

3

Die verdreckten Docks. Die verrosteten Gleise. Die reglosen Kräne. Ihre Verlassenheit. Der Dunst. Die Kais. Das fast graue Meer. Die Brandung. Die Promenade entlang. Die Brücke hinten. Die vierspurige Straße vorn. Die roten Neonbuchstaben. Das Casino.

Für saubere Bilder, erklärte Andrei, muss man die Kamera mit beiden Händen halten, die Ellbogen horizontal öffnen und sich langsam bewegen. Die vierspurige Straße vorn. Die Dauer der Rotphase. Der Haupteingang. Die Wachleute wie Figurinen. Die getönten Scheiben.

Eine exemplarische Sicht vom neunten Stock aus, sagte er, nur von dort aus hat man so eine Sicht, von dem Balkon aus, den er entdeckt, bei dieser alten Dame, die ihn eingelassen hatte. Er hatte ihr erklärt, er mache Werbefilme über die Region, für den Fremdenverkehrsverein, und jetzt müsse er die Bucht, den Strand ins rechte Licht setzen, und das Casino. Sie, die alte Dame, erst misstrauisch natürlich, dann freilich bereitwillig, öffnete ihm ihre Tür, und er baute die Kamera auf ihrem Balkon auf. Und später, als er uns zeigte, was er selbst seinen Film nannte, erkannten wir eines nach dem anderen die meisten der Hindernisse, die es zu überwinden gelten würde, die Zwänge, die Ängste, den monumentalen Eingang des Casinos, und die Schnellstraße, so lang und gerade, bis man weit hinten endlich verschwand.

Und sie sollten wertvoll sein, sehr wertvoll, all diese Bilder, diese optische Genauigkeit, der hochnäsige Wagenservice, die Klasse der Kundschaft, alles, was in dem stummen Ausschnitt der Großaufnahme zu sehen war, großes Zoom bis zur fetten Haut der Wachmänner, bis zu ihren polierten Schuhen. Mehr als wertvoll, entscheidend, in dem Maß, dass wir unser Handeln nach diesem Wissen orientieren würden, diesem optischen, filmischen Wissen, wie wir sagten, und uns nicht allzu viel vor Ort herumtreiben mussten. Und die Gestalt der Wachleute, ihre kantigen Kiefer, ihre trapezförmigen Nacken, sogar der Stoff ihrer Jacken erschien uns muskulös, und so gelangten wir zur Gewissheit, dass wir Gewalt vergessen konnten und List viel sicherer wäre.

Mit List, ja, sagte Marin, ich kenne diese Art Orte, um da lebend wieder rauszukommen, muss man besser bluffen als die. Aber dafür brauchen wir einen Spezialisten.

Ich erinnere mich noch, Marin, an den Tag, wo du uns deinen Kumpel Lucho vorstelltest, den Spezialisten. Ein alter Zellengenosse, sagte er, ein neuer Cousin, wenn euch das lieber ist; Lucho, das ist Andrei, das da Pierre. Und als er sich vor uns hinstellte, Lucho, wollte er sofort, dass ich ihm die Hand gebe, kaum Zeit, seinen Blick auszumessen, ich weiß es noch, ich zögerte erst, eine gute Sekunde lang zögerte ich, er mitten im Zimmer, die Hand im Leeren, sein Blick, der mir auswich, der Marin suchte, Andrei sah mich an, und schließlich stand ich auf, ich fasste ihn ein wenig ins Auge, und schließlich gab ich nach, streckte meinerseits die Hand aus, und unsere beiden Handflächen ineinander verhakt, ich habe es getan. Aber wenn ich es wieder tun sollte, offen gesagt, wenn es nur möglich wäre, den Fim zurückzuspulen, ich schwör dir’s, Lucho, ich würde die Hand in der Tasche lassen.

Denn nicht genug, dass wir eine schlecht verschweißte Familie waren, nicht genug, dass wir uns zu viert in den blauen Sesseln langweilten und spekulierten, wer von den Bullen oder den Bossen uns abknallen würde, nicht genug, dass wir unsere alten Rechnungen beglichen. Er hieß in Wirklichkeit Luciano, aber wir nannten ihn Lucho. Ist einfacher so, sagte Marin, familiärer, und goss ihm einen Cognac ein.

Lucho trank nichts. Sogar später, wenn wir abends ausgingen, ihn drängten mitzukommen, wenn er nicht sagte »ich gehe nach Hause« oder »ich hab zu arbeiten«, sogar nachts fühlte er sich in der Gesellschaft von Flaschen unwohl. Wo bleibt denn der Spaß, wenn man nichts trinkt, erklärte ich ihm, das ist ja wie Pokern ohne Einsatz. Sogar Marin sagte am Ende: Man muss doch auch was von sich selbst einbringen. Und du hattest Recht, Marin, man muss auch was von sich selbst einbringen, aber manchmal, wenn man das tut, geht alles bergab.

Und wir machten ihn mit unseren Gewohnheiten vertraut, Lucho, unseren Aktivitäten, dem Casino. Wir sagten zu ihm: Normalerweise, weißt du, säubern wir die Stadt von Leuten, die uns in die Quere kommen, aber wir halten uns aus ihrem Terrain raus, normalerweise, aber hier ist es was anderes.

An jenem Abend unseres Kennenlernens erklärte ich ihm die Briefkastenmethode. Sonst hätte ich nichts erzählt, aber an dem Abend war ich blau. Das war unsere Lieblingsnummer, Marins und meine, die Briefkästen. Wenn wir jemanden beseitigen wollten, rissen wir ganz einfach im Eingang zu dem Haus, wo er wohnte, seinen Namen vom Briefkasten, dann klingelten wir und gingen. Wenn der runterkam, um zu sehen, wer geklingelt hatte, und seinen Namen vom Briefkasten gerissen fand, dann wusste er, er war ein toter Mann. Danach, sagte Marin, danach gibt es zwei Sorten: Die einen sitzen zu Hause und warten, die anderen rennen weg. Aber in beiden Fällen, Lucho, ich schwör dir’s, in beiden Fällen haben wir bisher noch alle erwischt. Das war unsere Lieblingsnummer, Marins und meine.

Wir fragten Lucho, zu welcher der beiden Rassen er gehören würde, und er antwortete, zur ersten natürlich, zu denen, die warten, weil er sicher war, dass wir alle, die wegliefen, drankriegten. Wir lachten zusammen in diesem Moment.

Am nächsten Tag zeigten wir ihm Andreis Film, wir zeigten ihm folglich alles, was uns zu groß war, die unablässige Überwachung, die Psychologie der Wachmänner, die Angst. Wir zeigten ihm, warum wir ihn brauchten.

Das Schwierigste, sagte er, ist nicht, selbst rauszukommen, sondern rauszukommen mit einem Sack voller Geld. Wir alle vor dem Bildschirm, in einem fort die ganzen Bilder vom Casino aus allen Perspektiven, eine Festung, ein gepanzerter Kubus, dachten wir, und als dann Lucho das so hinwarf, begriffen wir sofort, dass er ins Schwarze zielte, und begriffen auch, dass er seine eigene Meinung von der Sache hatte. Und er legte sofort nach: Man muss das Geld übers Dach rausbringen.

Ich weiß noch, ich hab mich nicht getraut, ihn anzusehen, als er das sagte, seine selbstsicheren Worte, seine so hinwerfende Beinahe-Arroganz, so kam es einem vor in der nun folgenden Stille, wie, fragte Marin, wie sollen wir das Geld übers Dach rausbringen, was soll das heißen, übers Dach? Und es war wie eine Kugel aus Sehnen, die die Wand mit ihrer Faust traf, was soll das heißen, übers Dach?

Lucho blieb ganz ruhig, immer, und so hatte er ihn in der Hand, Marin, so domptierte er ihn, indem er ruhig blieb. Und er erklärte, er habe da so seine Vorstellung: Übers Dach, genau, und dann würde das Geld wegfliegen. Und drehte sich zur Aussicht, betrachtete den an diesem grauen Morgen dunklen Himmel, ließ uns Zeit, die Ohren zu spitzen, drehte sich wieder zu uns um, und er sagte: Eine Montgolfiere, ein fernsteuerbarer kleiner Heißluftballon, er landet auf dem Dach, einer von uns bringt das Geld dort hin, der Ballon fliegt weg, und wir steuern ihn, wohin wir wollen.

Erstmal mussten wir alle lachen. Wir stellten uns die Überschriften in der Zeitung vor: »Überfall mit Heißluft«, »Das Geld bekam Flügel«, »Fünf Millionen im Ballon«. Wir stellten uns das Geld in dem Korb über den Häusern vor, wie es durch die freie, feuchte Luft einer Silvesternacht gondelt. Wir stellten uns die Wachmänner unten vor, am Fuß des Gebäudes, und über ihnen flog ihre Daseinsberechtigung gemütlich davon. Lucho fing an, die Szene darzustellen, er spielte die Wachleute:

Hast du das auch gehört?

Nein, du, hast du was gehört?

Nein, nichts. Und du?

Nichts. Komm, wir schlafen weiter.

Er sprach alle Rollen allein, Lucho spielte die Bewegungen und ihre großen, leeren Augen, wir lachten unglaublich, sogar Marin, er wieherte los, und ich sah in seinen stolzen Augen wie als Beweis für seinen siebten Sinn die Intelligenz seiner Neuerwerbung, dabei war Lucho so anders als wir, weil so fern der Familie.

Und sofort notierten wir auf einem Blatt Papier: Das Geld mit einem Heißluftballon rausschaffen. Denn wir hielten alles fest, Notizen, Ideen, Skizzen. Geschriebenes, sagten wir, gehört uns allen, als hätte das Papier, die Abreißblöcke, die uns als Papier dienten, Werbegeschenke mit Bildern von Cognacflaschen, als hätten sie es verstanden, unseren Stolz wegzutupfen, als würde jedem von uns eine Silbe gehören, ein Buchstabe von jeder auf ihm, dem Papier, niedergelegten Idee, und wir würden gemeinsam jene Geistesfäden denken, die durch die rauchgeschwängerte Luft des Wohnzimmers zogen, dann und wann die schwere Erschöpfung vertrieben und uns die Illusion vermittelten, wir würden daran glauben. Ein Heißluftballon also, und das Geld übers Dach rausbringen. Hast du daran geglaubt, Marin, wirklich geglaubt?

Doch als Lucho ein paar Wochen darauf aus dem Basement hochkam, aus der Werkstatt, sagte er, die er sich im Keller eingerichtet hatte, schneller hochkam als sonst, hagerer als sonst, die Augen noch rot vom Brand des Lichts, der Präzision, der Obsession, als er aus seiner Werkstatt unter dem Haus heraufkam, erkannten wir sofort, dass er am Ende seiner Mühen angelangt war.

Derselbe Teufel, der einen Monat zuvor aus dem Nichts aufgetaucht war, Lucho, hatte seine neue »Familie« langsam handzahm gemacht, indem er ihr, vor allem Marin, restlose Zurückhaltung abverlangte, die unterirdische Vergrabenheit, die dem Handwerker geziemt, sagte Marin, und die kein Mitleid verdiente. Als wir ihn also lächeln sahen, ans Geländer gelehnt, stellten wir unsere Gläser auf die alten Fliesen und gingen gleich ins Kellergeschoss hinunter. Sämtliche Teile waren auf dem Boden ausgelegt: ein großes Stück blauer Stoff, unregelmäßig gefaltet, daran so gut wie unsichtbare Angelschnüre, an denen wiederum ein Weidenkorb hing, so groß wie ein Wäschekorb und einem Wäschekorb merkwürdig ähnlich.

In aufgeblähtem Zustand, versicherte er, hätte der Stoff einen Durchmesser von unter eineinhalb Metern, könne aber einen doppelt so großen Korb befördern. Wir wollten ihn bald gefüllt sehen, den Korb, und zwar mit einer saftigeren Ware als mit schmutziger Wäsche. Ich weiß noch, wie du uns angeschaut hast, Marin, und Lucho lächelte wie ein Kind, das seine Eltern in sein Zimmer lädt.

Aber in der Nacht danach saßen wir alle wie Kinder am Strand und sahen ihm nach, dem blauen Ballon. Er zeichnete die Bewegungen des Windes nach, war kaum auszumachen in der dunstigen Nacht, wie er mal stieg, mal sank, in die Leere des Himmels stürzte, über unseren Köpfen, den angespannten, unseren Augen unterworfenen Nacken, die seinen Launen folgen mussten, das heißt den Launen des Windes, denen er, der Ballon, folgte, auch wenn er nicht einmal heftig war, der Wind, bei diesem ersten Probeflug. Aber was wäre bei Sturm, fragte ich, wenn am 31. zufällig harter Wind ginge, und der Ballon, und das Geld? Kein großes Problem, meinte Lucho, dann muss man nur ein bisschen weiter rausrudern, um ihn zu bergen.

Rudern, genau, denn das hatte er, Lucho, auch vorgeschlagen, dass das Geld im Meer landen sollte, mitten im Freien, wo die Lichter der Stadt verblasst sind. Allererste Vorsichtsmaßnahme, erläuterte er, auf dem Meer sind weniger Feinde, es braucht nur einer von uns den Ballon draußen zu holen. Und ich stellte mir das nervöse Meer innerhalb der Bucht vor, die unerträglich fragile Nussschale, die es zu steuern gälte, den Kiel, den Schlägen der Wellentäler ausgesetzt, der sich bei jedem Wellenkamm ins Leere würfe. Es kann ganz schön bewegt sein, sagte ich, auch in der Bucht, nicht nur draußen auf hoher See.

Am 31. gibt es keinen Sturm, schnitt Marin mir das Wort ab. Und die Freude auf unseren Gesichtern, die Begeisterung bei jedem, sichtbar auch im Dunkeln, wir gingen nach Hause, derart glücklich, dass wir diesen wichtigen Punkt unseres Plans erreicht hatten, diesen entscheidenden Fortschritt, so würden wir es nennen, zur Abwechslung mal bei einem Cognac.

Zur Abwechslung würden wir schließlich daran glauben, zumal wir sahen, dass wir nicht mehr zurückwichen, also in dem Maße, wie wir uns in unserer Rolle als Räuber einlebten. Wie schlecht allein schon dieses Wort uns passte, Räuber. Sogar Marin, sonst immer so eifrig, hatte bei dieser Definition gemeutert, als ich gründlich ins Fettnäpfchen trat: Eines Abends schaute ich zum Hafen rüber, zum Casino, und ließ dieses Wort los, das uns fast beschämte. Aber später, nicht gleich, später reagierte Marin. Eines Nachts sagte er erschöpft: Das sagst du nie wieder. Ich erinnerte mich kaum noch, dass ich das mal ironisch verwendet hatte, aber er hatte die ganze Zeit daran herumgekaut. Mit unserem immer noch so säuberlich gekämmten Haar, unseren gut geschnittenen Jacken fand er natürlich, andere Begriffe träfen uns besser als Räuber. Gangster oder Kings, das schon, aber doch nicht Räuber. Und in jener Nacht dachte ich, er wird wieder unregierbar, wieder brutal, aber nein. Denn je näher das Datum rückte, desto ruhiger wurde er, er trank langsamer, er senkte die Stimme an den Satzenden und brachte seine Papageien nicht mehr zum Kreischen.

Sogar beim Onkel stand er nicht mehr nervös vor dem Fenster herum und hauchte unablässig redend die Scheibe an, sondern setzte sich auf den knarrenden Stuhl ans Fußende des Betts, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und faltete die Hände, legte den Kopf darauf, und nur sein Blick fiel dann und wann mitleidsvoll auf die gelbliche Haut des Onkels und wartete darauf, dass er starb.

4

Aber es hat dann nichts geändert, dass er starb. Es hat für dich nichts geändert. Du hast nicht mal geweint.

Am Morgen der Beerdigung hat er, Marin, X-30 auf den Wandkalender geschrieben. X-30 malte er mit Filzstift darauf, weil er beschlossen hatte, ab sofort einen Countdown zu veranstalten, um uns zu motivieren. Ich hab mir heute Morgen überlegt, sagte er, dass wir ab jetzt rückwärts zählen. Er war seit dem Morgengrauen auf den Beinen, wie alle Tage seit dem Morgengrauen rauchend vor seinem Fenster, denn er schlief wenig und beschwerte sich allmorgendlich über unser spätes Aufstehen, unsere geschwollenen Augen, wenn wir um zehn, elf auftauchten, das kam auf den Abend davor an, das heißt, es kam auf den Cognac an. Doch an jenem Morgen, da hatten wir uns Mühe gegeben, Andrei und ich, um frisch und glattrasiert in unseren Beerdigungsanzügen anzukommen, an jenem Morgen hatte er nur eins zu sagen, und zwar, dass wir jetzt die Tage genauer zählen würden. Der Himmel war umwölkt, aber nicht er.

Er war zwei Tage zuvor gestorben, der Onkel, am Tag X-32 also. Und wir wussten nicht mehr an diesem 1. Dezember, woher unsere Müdigkeit rührte, von den ständigen Gelagen nachts oder von dem Tag, der sich näherte. Die Feier war für 15 Uhr angesetzt, eine religiöse Trauerfeier, katholisch, dabei hatte er sein Leben lang auf die Religion gespuckt, auf die Katholen, aber ganz zum Schluss hatte er sich ein kirchliches Begräbnis gewünscht, hatte die Tante schwören lassen, ihm einen Platz in der Familiengruft zu beschaffen. Und sie hatte versprechen müssen, auf seinen Stein zu schreiben: »Weltlich gelebt, katholisch gestorben«.

Gegen Mittag kamen wir bei der Tante an. Marin brühte Kaffee, wir sprachen wenig. Das Auge wagte sich bisweilen über die Türschwelle für einen Blick auf den noch geöffneten Sarg im Wohnzimmer. So sehr anders ist es nicht, dachte ich, fast dieselbe Stellung, in der wir ihn kannten: die Hände auf dem Bauch gefaltet, mit geschlossenen Augen, nur dass sein Atem nicht mehr zu hören war, wegen seiner erloschenen Bronchien. Das dicke, bordeauxrot eingebundene Buch klemmte neben seiner Hüfte im Sarg, und es sollte da auch nicht mehr rauskommen, hatte die Tante gesagt. Sie goss Kaffee ein und setzte sich zu uns. Und da, in der kühlen Stille dieses Mittags, in dem Trauerfeierwarten, das uns noch vorspiegelte, wir seien eine »Familie«, konnte ich mich nicht beherrschen, ich warf es in die Debatte oder stach die Eiterbeule auf, ich sagte es vor allen anderen: Wir haben keinen Grund mehr, jetzt, wo er tot ist, haben wir keinen Grund mehr, es zu tun.

Ich hatte diesen Satz in meinem Inneren vorbereitet, hatte gehofft, er werde nicht auf halbem Wege liegen bleiben, meine Stimme möge ihn bis zum Ende begleiten, und danach stockte mir der Atem ein wenig, denn Marin saß mir gegenüber, wie ein erzwungener Spiegel. Ich hätte sie gern nacheinander angesehen, damit sich bei jedem ein klares Gefühl einstellen konnte, das Gefühl, dass wir vielleicht nichts mehr miteinander zu tun hatten, aber meine Augen, meine Lippen, mein Atem, alles richtete sich auf Marin. Jeanne, die Tante, Andrei, für eine Sekunde waren sie von der Szene ausgeschlossen.

Und natürlich reagierte Marin, niemand anderer. Er sagte nichts, natürlich nicht, er atmete sehr lange ein, er rückte auf seinem Stuhl nach hinten, aber er sagte nichts. Er stand langsam auf und ging durch die Wohnzimmertür zum Sarg. Wie er da vor dem Fenster stand und rausschaute, die Hände im Rücken verklammert, wussten wir nicht mehr, keiner von uns, was jetzt an Gewalt oder Sanftheit kommen mochte, welche Rolle du dir jetzt für dich ausdenken würdest vor uns, vor Jeanne vielleicht, vor der Tante. Aber ich schwör dir, Marin, wir hatten keinen Grund mehr, es zu tun.

Die Stille dehnte sich aus, erfüllte das gesamte Innere des Hauses, bis in den Garten, bis zu den müden Apfelbäumen. Andrei seufzte seinerseits. Andrei stand auf, trotz der Angst, und sagte, stimmt, das Ganze sei von Anfang an vollkommen verrückt, das Casino noch nie unsere Kragenweite gewesen, und jetzt erst recht, jetzt, wo der Onkel gestorben war, da hätte das keinen Sinn mehr, es sei daneben. Er stockte bei dem d von daneben, als würde er stottern oder vor allem seine Stimme würde zögern, und Marin drehte sich zu uns um, umrundete den Sarg in der Gegenrichtung, stützte sich an die Wand, im Türrahmen, und auf seinem Gesicht, wie ein Schleier, auf seinem Gesicht wie sonst selten zeichnete sich ein Zittern ab. Jeanne ging zu ihm hin, legte ihm den Arm in den Rücken. Sie schuf etwas wie einen Schirm zwischen ihm und uns. Aber auch sie, Jeanne, wusste nicht, sollte sie ihn küssen oder sich in Sicherheit bringen, denn sein Gesicht in diesem Moment war wie eine fremde Sprache. Jeanne sogar, die sonst so hellsichtige, die ihm seine Gemütsverfassung ablesen konnte, da stand sie, ratlos wartete sie auf das, was kommen würde. Aber er, Marin, er brach nicht zusammen, er weinte nicht über dem Sarg seines Onkels, er beschwor nicht die »Familie« und zog keine Knarre, er beschimpfte niemanden, nicht mal mit dem Wort »Verräter«, sondern er lächelte, lächelte sacht, wie um seine Nerven zu entspannen, und wir begnügten uns damit, es zu erdulden.

Du hättest weinen sollen, Marin. Aber du warst schon weit weg, schautest nach dem Onkel da im Holz seines Sargs, fuhrst hinter dem Leichenwagen her über die kurvigen Straßen, warst aber schon weit weg von so einer »Familiensache«. So glücklich im Grunde, als der Marmor sich über dem Onkel schloss, vor den zwanzig, dreißig Leuten, die gekommen waren, um am offenen Grab zu knien. So zufrieden, die fossilisierte Luft der Ahnen zu atmen, die Anzahl der inneren Etagen in der Gruft zu zählen und dich zu vergewissern, dass dein Platz darin nur auf dich wartete. Du hattest es jetzt fast eilig damit, ihm nachzufolgen.