Das dunkle Blut von Hamburg - Carl Rath - E-Book
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Das dunkle Blut von Hamburg E-Book

Carl Rath

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Beschreibung

Hochspannung aus dem Norden: Der spannungsgeladene Kriminalroman »Das dunkle Blut von Hamburg« von Carl Rath jetzt als eBook bei dotbooks. Drückende Sommerhitze lastet auf Hamburgs Karolinenviertel. Ein Mann tritt auf seinen Balkon – und liegt Sekunden später tot auf der Straße. Handelt es sich um einen schrecklichen Unfall, Freitod … oder Mord? Martha Bankar, die Exfrau des Toten, entdeckt, dass er einem Wirtschaftsskandal auf der Spur war. Musste er deswegen sterben? Die Journalistin weiß, dass sie die Wahrheit um jeden Preis herausfinden muss, da sie und ihr kleiner Sohn plötzlich auf Schritt und Tritt verfolgt zu werden scheinen. Doch welche Rolle spielt dabei der Bundesamtsermittler Bernd Wagner? Er behauptet, der Spur skrupelloser Waffenhändler zu folgen – den gleichen Männern, die auch Martha und ihre Familie ins Fadenkreuz genommen haben? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Kriminalroman »Das dunkle Blut von Hamburg« von Carl Rath – auch bekannt unter dem Titel »Made in Hamburg«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 416

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Über dieses Buch:

Drückende Sommerhitze lastet auf Hamburgs Karolinenviertel. Ein Mann tritt auf seinen Balkon – und liegt Sekunden später tot auf der Straße. Handelt es sich um einen schrecklichen Unfall, Freitod … oder Mord? Martha Bankar, die Exfrau des Toten, entdeckt, dass er einem Wirtschaftsskandal auf der Spur war. Musste er deswegen sterben? Die Journalistin weiß, dass sie die Wahrheit um jeden Preis herausfinden muss, da sie und ihr kleiner Sohn plötzlich auf Schritt und Tritt verfolgt zu werden scheinen. Doch welche Rolle spielt dabei der Bundesamtsermittler Bernd Wagner? Er behauptet, der Spur skrupelloser Waffenhändler zu folgen – den gleichen Männern, die auch Martha und ihre Familie ins Fadenkreuz genommen haben?

Über den Autor:

Carl Rath, hinter dem sich der Autor Claudius Crönert verbirgt, wurde 1961 in Hamburg geboren und lebt in Berlin. Er veröffentlichte mehrere Krimis und historische Romane und wurde mit dem Goldenen Homer ausgezeichnet. Außerdem war er als politischer Journalist tätig und verfasste Filmdrehbücher, Radiofeatures und diverse Zeitungs- und Zeitschriftenartikel.

Die Website des Autors: www.claudius-croenert.de/

Der Autor auf Facebook: www.facebook.com/claudius.cronert

***

eBook-Ausgabe Oktober 2020, Mai 2022

Dieses Buch erschien unter dem Titel »Made in Hamburg« bereits 2011 bei emons und 2020 bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 2011 emons Verlag

Copyright © der eBook-Ausgabe 2020, 2022 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Langenbuch & Weiß Literaturagentur, Hamburg/Berlin.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/ahupepo, Chudih und AdobeStock/spumo

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-356-8

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Carl Rath

Das dunkle Blut von Hamburg

Kriminalroman

dotbooks.

Kapitel 1

Augen zu und durch. Zum dritten Mal innerhalb einer Stunde ging Martha Bankar dieser Satz durch den Kopf, vier Worte, die sie in keinem ihrer Texte geduldet hätte. Eine Phrase – doch eine, die ihre Stimmung genau traf.

Wie immer strich sie im Vorbeigehen mit dem Finger über das Metallschild am Eingang. Da waren sie alle aufgelistet, rote Schrift auf weißem Grund, die Zeitschriften des Kronos-Verlages. Eine für das Fernsehprogramm, eine nur für Männer – Erfolg, Muskeln, Potenz –, eine Klatschzeitschrift, leicht angestaubt, dann eine für junge Frauen, ein Seglerheft und ein Computermagazin. Und schließlich, ganz unten und auf einem Extraschild, die Spot. Das Blatt für einen zweiten Blick. Neuerwerbung und Zuschussgeschäft des Verlegers. Sein Stiefkind.

Martha liebte die Morgenstunden in der Spot-Redaktion, ohne Mails und Flurgequatsche, ohne Konferenzen und Telefon. In den ersten beiden Stunden schaffte sie oft mehr als am ganzen restlichen Tag. Sie hatte sich einen Zwischenspurt vorgenommen. Bis zum Mittag wollte sie einen ordentlichen Teil ihrer Arbeit erledigen. Dann würde ein Ende in Sicht kommen.

Sie hielt ihre Jacke in der Hand, die Tasche in der anderen und drückte mit der Schulter gegen die Glastür, die sich nach innen öffnete. Der Pförtner rief ihr sein übliches »Moin Moin« entgegen. Sie nahm den Fahrstuhl hinauf in die fünfte Etage.

Auf ihrem Schreibtisch breitete sie ihre Unterlagen aus, den Notizblock, ein paar Karteikarten, die Skizzen. Sie saß an einer Reportage über bürgerschaftliches Engagement und Sponsoring. Als Beispiel diente die Elbphilharmonie hier in der Stadt; aber auch die Dresdner Frauenkirche und das Berliner Stadtschloss. Die Idee stammte von ihrem Chefredakteur. Martha fand sie langweilig. Deshalb musste sie sich zwingen.

Sie hatte ein paar Interviews geführt, mit Unternehmergattinnen, die sich in Understatement übten, mit Kulturmanagern, die um die Unabhängigkeit ihrer Häuser fürchteten, mit einem Senator voller Berufsoptimismus.

Martha verlangte Aufmerksamkeit von sich. Sie brauchte eine Gliederung. Es gehörte, sagte sie sich, zu ihrem Beruf, über Themen zu schreiben, an denen das Herz nicht hing. Mit anderen Artikeln hatte sie Aufsehen erregt. Hatte einen Preis gewonnen mit dem Porträt eines Rathaus-Hausmeisters, in dem sie zeigte, wie weit sich einfache Bürger und politische Klasse im Denken und Sprechen voneinander entfernt hatten. Ihre Reportage über Straßenkinder in St. Georg, rund um den Hauptbahnhof, hatte eine Bürgerschaftsdebatte ausgelöst und ein paar Euro für Hygiene und Notunterkünfte gebracht.

Nun also die Reichen, die für ein neues Konzerthaus spendeten.

Sie hatte die Interviews abgehört, zitierenswerte Aussagen abgeschrieben und dachte darüber nach, was fehlte und wie sie den Stoff ordnen sollte. Aber ein guter Gedanke stellte sich nicht ein. Sie wurde unruhig und stand auf, dann machte sie sich auf den Weg in die Küche, wo sie sich Kaffee holte.

Den Rückweg kreuzte ihr Chefredakteur Braun, einen Stapel Akten unterm Arm. »Heribert, was machst du denn schon so früh?«

Braun hob seine Akten in die Höhe. »Auf dem Weg zum Verleger.« Er legte die Stirn in Falten und zog das nächste Wort auseinander: »Strategiegespräch. Sein Höllenhund ist auch dabei, dieser Zahlenknecht von einem Wirtschaftsprüfer.«

»Und du – du kämpfst für die Spot?«

»Worauf du einen lassen kannst.« Er grinste. »Für die Spot im Allgemeinen und für meine Lieblingsautorin im Besonderen.«

Er war Mitte fünfzig, die Haare grau, der Bart zwar gestutzt, aber trotzdem zottelig, eine breite, gold gerandete Brille auf der Nase. Seine Bürokleidung bestand aus einer ausgebeulten Cordhose und einem gestreiften Hemd, dessen Brusttasche sich wölbte, weil er ein mobiles Büro in ihr verwahrte. Sie wusste, dass sich niemand darum scherte – er am allerwenigsten –, in welchem Aufzug er zum Verleger ging. Seine Qualitäten waren anerkannt. Er hatte die Spot aufgebaut, mit wenig Geld und viel Engagement, mit feinen Reportagen und ungewohntem Layout, ein einzigartiges Blatt in der deutschen Presselandschaft.

Als die Verluste zu groß wurden, hatte der damalige Besitzer die Spot verkauft. Wie weit würde Heribert gehen, um sie zu erhalten?

»Wir wären besser selbständig geblieben«, entfuhr es ihr.

»Richtig. Und hätten ohne Salär gearbeitet und uns abwechselnd und gegenseitig geliebt, und die Sonne hätte geschienen, und die Läden in der Nachbarschaft hätten uns ihre Reste geschenkt. Ach wäre das schön gewesen.«

Sie schmunzelte. Dann sagte sie: »Immer noch besser als Stoffe nur danach auszusuchen, ob sie sich verkaufen.«

Er zog Luft durch die Zähne, ein lautes, ironisches Geräusch. »Wir sind beim Thema. Was macht deine Reportage?«

Sie gab sich Mühe, ihm seine Ironie zurückzugeben, betonte ihre Worte und streckte den Satz: »Unser Heft wird in vielen guten Häusern gekauft werden. Und in teuren Friseursalons liegen.«

»Und hoffentlich jede Menge Abonnenten gewinnen«, sagte er. »Denn das ist das, was die hohen Herren von ihrem Schreiberling erwarten. Alternativ darf er ihre Verluste ausgleichen.«

Er grinste, deutete mit seinen Akten ein Winken an und zog weiter. Martha kehrte zu ihrem Platz zurück. Sie hielt ihren Kaffeebecher mit beiden Händen umklammert, legte die Füße auf einen Beistelltisch und den Kopf in den Nacken. Sie war versucht, Braun und der Auflage zuliebe zu schreiben, was die Elb- und Alsteranrainer lesen wollten, selbstloses Engagement zu loben, über den Glasbau der neuen Philharmonie zu jubeln. Eine Heimatgeschichte aus dem Bilderbuch. Sie verwarf den Gedanken. Ihre Leser sollten weiterhin Spot-Geschichten bekommen. Sie würde über den Rückzug des Staates sprechen, über die Chancen, die sich ergaben, aber auch über die Sorge, dass Provokatives es noch schwerer haben würde.

Ihr Telefon klingelte. Sie fühlte sich gestört und nahm sich vor, das Gespräch kurz zu halten. Als sie abhob, wusste sie, wer dran war, bevor der andere zu sprechen begonnen hatte. Ein tiefer, seufzender Atmer. Diese Stimme hatte sie lange nicht gehört.

»Hier ist Mansur Bankar.« Langsam setzte er seine Wort. Er klang stolz und bemühte sich um eine feste Stimme. Sie spürte seine Sehnsucht, die sie immer gespürt hatte, wenn er redete. »Ich rufe dich an, um dir etwas mitzuteilen.«

»Was ist denn?«

Mansur machte eine Pause. Sie hörte, wie er mehrfach ansetzte und dabei schwer atmete. »Ich muss dir sagen, dass mein Sohn Said gestorben ist.« Er schluchzte auf.

»Was?« Die Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Ein Irrtum, war der stärkste, derjenige, der sich festsetzte. Das konnte nicht stimmen. »Mansur, wann? Wie ist das passiert?«

Er war nicht in der Lage zu antworten. Er schnäuzte sich, schluchzte erneut, schnäuzte sich wieder. »Die Polizei hat mich angerufen. Er ist aus dem Fenster gefallen.« Sie hörte ihn weinen. »Oder gesprungen, sagen sie. Das soll eine Untersuchung ergeben.« Seine Stimme verlor sich.

»Ich habe ihn gestern noch gesehen«, sagte Martha. Konnte es wirklich ein Irrtum sein, wenn sich die Polizei bereits eingeschaltet hatte? »Ist das heute passiert?«

»Am Morgen.« Mansur schnaubte ein weiteres Mal in sein Taschentuch, dann fasste er sich. »Ich habe dich angerufen, obwohl ihr getrennt seid. Schließlich bist du die Mutter meines Enkelkindes David.« Die Kraft, die seine Worte ihn kosteten, war greifbar. »Saids Sohn.«

»Kann ich irgendwas tun?«

»Ich habe meinen Sohn aus dem Iran nach Deutschland gebracht. Und jetzt ist er in Deutschland gestorben. Das habe ich nie gewollt.«

»Mansur ...«, sagte sie. Doch da war die Leitung bereits stumm. Er hatte aufgelegt.

Sie starrte aus dem Fenster, ohne irgendetwas zu sehen oder zu denken. In ihrem Kopf war Leere und ein diffuses Rauschen. Als sie wieder zurückfand, begann sie, ihre Aufzeichnungen zusammenzuräumen und zu stapeln. Das Rauschen in ihren Ohren dauerte an. Sie stand auf. Dabei rollte ihr Stuhl davon, und sie wäre fast hingefallen. Als sie wieder sicher stand, eine Faust auf der Tischplatte, zitterten ihr die Knie und ihr Herz schlug schneller. Ihr Verstand war wieder klar.

Dem Pförtner gegenüber murmelte sie etwas von einem Termin und hörte sein »Jo, is' notiert, Frau Bankar. Dann man viel Erfolg.« Sie stieg ins Auto und fuhr ins Karolinenviertel, zu Saids Haus.

Die Leiche war bereits abtransportiert worden. Eine geschwungene Kreidelinie markierte den Platz, wo sie gelegen haben musste. Drumherum standen rot-weiße Polizeihütchen. Zwischen den parkenden Autos war der Bürgersteig vor dem Haus mit Plastikband abgesperrt. Zwei Polizeiwagen mit blinkenden Blaulichtern standen auf der Straße. Gegenüber hatten sich Schaulustige versammelt. Auch aus den Fenstern der stuckverzierten Häuser lehnten die Leute und starrten heraus. Männer in Uniform liefen umher.

Vor der Haustür telefonierte eine Frau und ging dabei auf und ab. Sie hatte blondes Haar, eine Dauerwelle. Ein kräftiger Typ, ihr Gang war wie ein Stampfen. Beamte kamen auf sie zu, drehten aber wieder ab, als sie sahen, dass sie beschäftigt war. Wahrscheinlich die Einsatzleiterin. Martha überlegte, sie anzusprechen. Vor vierundzwanzig Stunden hatte sie den Toten noch gesehen, vielleicht war ihre Aussage erwünscht.

Gefallen – oder gesprungen? Said hatte nicht elend gewirkt, erst recht nicht verzweifelt. Eine solche Stimmung passte nicht zu ihm. Zu ihrer gemeinsamen Zeit hatte er sich trübe Gedanken kaum je zu Herzen gehen lassen – unbegreiflich für sie. »Komm, lach mal wieder«, war ein typischer Said-Satz. Und jetzt sollte er aus dem Fenster gesprungen sein?

Ihr fielen Augenblicke ein, da schien auch ihn aller Schwung verlassen zu haben. Dann wirkte er wie in sich zusammengefallen. Aber lange hatten diese Zustände nie angedauert, ein paar Stunden höchstens, weniger als einen halben Tag. Lange genug, um sich das Leben zu nehmen? Sie schüttelte den Kopf. Trübsinnig war er gestern nicht gewesen. Sicher nicht.

Ihr Blick wanderte an der graublauen Fassade hinauf zu seinem Balkon im vierten Stock. Ihr wurde mulmig, als sie die Höhe ermaß. Der Balkon hatte ein Geländer, so hoch wie die der Nachbarwohnungen. Wie sollte Said da heruntergefallen sein? Stockbetrunken?

Die Einsatzleiterin hatte ihr Telefonat beendet und ließ ihr Handy in der Tasche verschwinden. Vor ihr wartete eine kleine Schlange Uniformierter. Sie sagte jedem ein paar Sätze, schüttelte manchmal nur den Kopf.

Martha drehte sich weg. Sie würde nicht mit dieser Frau sprechen, jetzt nicht. Vor ihr tat sich ein anderer Gang auf, ungleich schwerer. Ihr Sohn, David.

Sie stieg in ihren 190er Mercedes und ließ ihn an. Während sie mechanisch Gas gab und bremste, schaltete, blinkte und abbog, baute sich der gestrige Tag vor ihrem Auge auf. Saids Geburtstag – und gleichzeitig der letzte in seinem Leben. Mit einer Klarheit und Schärfe, die ihr fast unheimlich war, war die Erinnerung da.

Obwohl ein Sonntag, war sie früh aufgestanden. In der Küche hatte sie die Kaffeemaschine gefüllt. Dabei war ihr Blick an dem Kalender hängengeblieben, den David ihr gemalt hatte. Seine typischen Karikaturen von Gesichtern und Szenen. Der August – mit dem Bild »Zwei Faulenzer am See« – war zur Hälfte vorüber, trotzdem hielt sich die feuchte Hitze. Ein Fenster stand offen. Die Sonne schien herein, ihre Strahlen ließen die Scheibe reichlich staubig aussehen.

Sie trug ihren Schlafanzug, einen verwaschenen Zweiteiler. Die Haare hielt sie mit einem Zopfband zusammen. Kaffeeduft füllte den Raum. Als David hereinkam, war er bereits angezogen.

Sonntags blieb er oft bis in den Nachmittag im Pyjama und genoss es, in den Tag hineinzutrödeln. Er las Comics, manchmal sogar Bücher, schoss mit dem Ball gegen seine Zimmertür, bis sie es ihm verbot, und hörte Musik. Oder er zeichnete. Doch an diesem Tag hatte sein Vater Geburtstag. David war fix und fertig, gewaschen und gekämmt. Er hatte die Haare nass gemacht und einen scharfen Scheitel gezogen. Mit seiner Frisur, dem gebügelten Oberhemd und der frisch gewaschenen kurzen Hose hätte er auch zur Einschulung gehen können. Sie konnte ihre Augen kaum von ihm wenden und lachte in sich hinein.

»Ich freue mich auf Papa«, sagte er.

Martha verkniff sich einen Kommentar. David war erst neun, und sie hielt sich an ihren Vorsatz, ihm gegenüber nicht schlecht von seinem Vater zu reden. Doch im Geiste sah sie Said, wie er die Tür öffnete, verpennt und überrascht. »Was, schon so spät?«

David aß eine einzige Scheibe Brot, trank etwas Saft, dann schob er seinen Teller von sich und sagte: »Von mir aus können wir los.«

»Los? Es ist kurz nach neun. Wir sind um elf eingeladen.«

»Erst um elf? Was soll ich denn so lange machen?«

»Hausaufgaben zum Beispiel.« Sie biss in ihr Brot.

»Heute ist Sonntag.«

Sie kaute, während sie antwortete: »Und das heißt: Morgen ist wieder Schule. Hast du alles fertig oder nicht?«

»Hab ich«, erwiderte der Junge.

»Deine Geschenke eingepackt?«

»Schon längst.«

Sie wusste, das stimmte. David hatte seinem Vater Teile fürs Fahrrad gekauft, eine Luftpumpe und je eine Lampe für vorne und hinten. Das, was Papas Rad nach seinem Ordnungssinn fehlte. Er hatte dafür einen Großteil seines Taschengeldes geopfert und drei kleine Präsente gemacht, in Geschenkpapier eingewickelt und mit Band verziert.

»Dann beschäftige dich. Lies irgendwas. Oder noch besser: Räum dein Zimmer auf ...«

Er warf ihr einen Blick zu, rollte dabei die dunklen Augen und brachte sie endgültig zum Lachen. Den macht er in zwanzig Jahren noch genauso, dachte sie, die Stirn in Falten, aber in den Augen der Schalk.

Sie sah oft seinen Vater in ihm. David hatte Saids dunklen Teint; er war eher klein und schmal und konnte, wenn er wollte, über einen entwaffnenden Charme verfügen. Aber anders als bei Said kam bei David eine tiefe Melancholie dazu, wie sie sie noch bei keinem Kind seines Alters gesehen hatte.

Aus dem Bad hörten sie die Klospülung. Hanna kam in die Küche geschlurft. »Der Kaffeegeruch zieht bis in mein Schlafzimmer«, sagte sie, »da kann das beste Murmeltier nicht mehr schlafen.«

Auch Hanna trug noch ihr Nachthemd, ein hellblaues Gewand im Großmutterstil, dazu rote Flip-Flops. Ihr Gesicht wirkte verschlafen, das Haar stand in die verschiedenen Richtungen ab. Trotzdem sah Martha ihre Schönheit, das Ebenmäßige und Anziehende, das sie besaß.

Hanna nahm sich einen Becher aus dem Küchenschrank, bediente sich am Kaffee, pustete und trank abwechselnd. Sie stand direkt unter dem gerahmten Poster, das sie selbst aufgehängt hatte: »Der Kuss«. Martha hatte sich damals jeden Kommentar verboten. Said war erst wenige Wochen aus- und Hanna gerade eingezogen, und Martha hatte sich vorgenommen, in Zukunft weniger zu bestimmen, weniger zu kontrollieren. So hing das Bild dort, eine oft gesehene Pariser Straßenszene in einer Hamburger Wohnung.

Hanna strich David übers Haar, was seinen Scheitel in Unordnung bringen sollte. »Na, Lieblingsneffe? Zu welchem Fest gehst du denn heute?«

»Papa hat Geburtstag. Aber erst um elf.«

»Stimmt, heute ist Saids Geburtstag. Freust du dich?«

Er nickte.

Hanna wandte sich an Martha: »Und du? Gehst mit?«

»Ich bin eingeladen.« Martha schnitt sich eine Orange auf und wechselte das Thema. »Wie war's gestern Abend?«

»Viele wichtige Leute ...« Hanna strich sich nur einen Hauch Butter aufs Brot und kaum mehr Marmelade. Sie war Schauspielerin. Martha überredete sie hin und wieder, zu Festen zu gehen, wo sich Kontakte knüpfen ließen.

»Und«, fragte Martha, »was sagen die wichtigen Leute?«

»Viele Versprechungen, manche Anzüglichkeit.« Sie verzog das Gesicht. »Gefallen gegen Gefallen, hat einer gesagt.«

David verdrückte sich in sein Zimmer.

»Und du gehst jetzt zu Saids Geburtstag?«, fragte Hanna.

»Na und?«

Auch wenn's ihr schwer gefallen war wie noch nie etwas im Leben, hatte sie nach der Trennung auf Abstand gesetzt. Drei, höchstens vier Mal war sie in Saids Wohnung gewesen, zu kurzen Besuchen, um David abzuholen oder um Said etwas zu bringen. Doch in ihren Träumen erschien er regelmäßig. Sie stritten, es gab Wut und Tränen und manche Versöhnung.

»David zum Gefallen«, setzte sie hinzu. »Zwei Stunden. Maximum.«

Hanna grinste. »Na dann: viel Spaß.«

Dieses Grinsen hätte sie sich von niemand anderem gefallen lassen, von Hanna nahm sie es hin. Hanna hatte ihren Zusammenbruch miterlebt. Sie wusste, welche Mühe es Martha gekostet hatte, von Said loszukommen. Wie ein Entzug.

Die ersten Male, die sich Said mit anderen Frauen eingelassen hatte, hatte Martha überhaupt nicht wahrgenommen. Vielleicht gab es keine Zeichen; vielleicht wollte sie keine sehen. Doch später konnte sie die fremden Gerüche und Telefonnummern nicht mehr ignorieren. Sie packte ihm seine Bettdecke aufs Sofa im Wohnzimmer. Davids Erstaunen tat ihr weh, seine Angst und seine plötzliche Hellhörigkeit machten ihr ein schlechtes Gewissen. Für sich selber fürchtete sie, ins Bodenlose zu fallen. Trotzdem sagte sie zu Said: »Ich möchte, dass du ausziehst. Und zwar schnell.«

Sofort danach schlief sie mit einem Volontär, Hendrik. Das war ein blonder Schlacks, der sie mit großen Augen ansah, wenn er glaubte, sie merke es nicht. Er war sechs Jahre jünger. In seinen Armen, mit geschlossenen Augen, dachte Martha ununterbrochen an Said.

Der eigentliche Kampf begann danach. Die Sehnsucht, die Eifersucht, die Einsamkeit. All die Gespräche, die sie in Gedanken mit ihm führte, über Alltagsdinge genauso wie über Grundsätzliches. Sie ertappte sich dabei, nach Feierabend das erste Glas Wein zu trinken und schon mittags darauf zu warten. Sie schlief schlecht, wurde mager und arbeitete ohne Konzentration. Die wenige Kraft, die ihr blieb, verwendete sie auf ihren melancholischen Sohn.

Für Hanna endete damals ein Engagement am Schauspielhaus in Bochum, sie kam zurück nach Hamburg und suchte eine Bleibe, und Martha war froh, dass sie bei ihr und David einziehen wollte. Ihre kleine Schwester half ihr über manchen einsamen Abend und manchen tristen Sonntag hinweg.

Hannas Einzug nahm Martha zum Anlaß, alle Erinnerungen an Said aus der Wohnung zu tilgen. Was er angeschafft hatte, verschwand, was er von seinen Sachen hatte stehen lassen, schickte sie ihm nach oder brachte es ihm. Sogar aus ihrem Fotoalbum riss sie Bilder heraus. Nur waren die Lücken nicht weniger schmerzvoll.

Zwei Stunden später, in Saids Treppenhaus, war David vorneweg gelaufen, hatte immer zwei Stufen auf einmal genommen und war nicht müde geworden, bis er im vierten Stock angekommen war. Martha akzeptierte, dass der Junge an seinem Vater hing und seine Vorfreude zeigte. Sie nahm sein Verhalten als Zeichen dafür, dass er alles ganz gut überstanden hatte.

Saids Treppenhaus war renoviert worden. Die Wände strahlten grau-weiß. Allerdings gab es auf der Treppe und an den Wohnungstüren weiße Farbkleckse. David wartete vor der Wohnungstür, und als er seine Mutter endlich kommen sah, nahm er ihr die drei Geschenke aus der Hand und klingelte stürmisch.

Die Wohnungstür wurde aufgeschlossen, entriegelt, und eine Kette wurde gelöst. Said war angezogen und rasiert. Er ging in die Knie, umarmte seinen Sohn, drückte ihn und ließ sich gratulieren. Er bedankte sich für die Geschenke, die David ihm überreichte.

»Ihr schließt aber gründlich ab«, sagte Martha zur Begrüßung. Dann ließ sie sich von Said umarmen.

»Vorsicht ist die Mutter allen Seins.« Said legte Riegel und Kette wieder vor.

Ein kleiner Flur führte in einen hohen Raum mit einer Reihe einfacher Fenster, die in schwarze Stahlrahmen gefasst waren. Martha wusste von David, dass dieser Raum im Winter schwer zu heizen war, doch jetzt war es warm und zwei Fenster standen offen.

Für Saids Verhältnisse war es unglaublich ordentlich. Kein benutztes Glas im Bücherregal, keine leeren Bierflaschen auf dem Fußboden. Auf dem Fernseher gab es keinen Staub, auch nicht auf den Dielen. Sie wusste, an wem das lag, sie kannte sie aus Erzählungen. Jetzt beobachtete sie, wie vertraut sie ihren Sohn begrüßte, sie legte ihm die Hände auf die Schultern und strich ihm über die Oberarme.

»Hallo Sonja«, gab er zurück.

Der Tisch war gedeckt. Auf ihm lag ein weißes Tischtuch mit Bügelfalten. Kerzen brannten. Es gab Kuchen und Brötchen, Mozzarella mit Tomaten, einen großen Salat aus frischem Obst, Käse und Schinken und Kakao für David. Ein bisschen reichlich für nur fünf Leute, fand Martha.

»Wir haben schon gefrühstückt«, sagte David.

»Für ein Stück Kuchen wird wohl noch Platz sein«, sagte Said. »Den hat Sonja gebacken.«

Martha schüttelte Konrad die Hand, Saids Freund, seinem Mitbewohner. Said stellte die beiden Frauen einander vor, auch sie gaben sich die Hand. Außer Sonja setzten sich alle. Sie war rothaarig und hatte wässrige Augen, wirkte trainiert und hielt sich sehr gerade. Als wäre sie die Gastgeberin, überblickte sie den Tisch, prüfte, ob noch etwas fehlte, brachte einen Teelöffel. Sie war es, die den Kuchen anschnitt und den Kaffee einschenkte. Hatte Said sich also wieder jemanden auf die Kommandobrücke geholt.

Sonja versorgte David mit Kakao und lächelte ihn an. Martha widerstand dem Impuls, aufzustehen und sich neben ihren Sohn zu setzen.

Said zog inzwischen an seinem Zeigefinger und verhakte den Daumen mit einem anderen. Seine Hände waren schmal. Es lag viel Kraft und Konzentration darin, wenn er sie einsetzte. David aß von Sonjas Nusskuchen und lobte ihn, was Martha als gut erzogen verbuchte. Said begann, David Fragen zu stellen, nach der Schule, dann nach seinem Fußball. Die Fragen klangen mechanisch, der Junge antwortete spärlich. Said wirkte abwesend. Er schlug mit den Knöcheln einen Rhythmus auf den Tisch.

Konrad saß ihr gegenüber, Saids ältester, vielleicht sein einziger Freund. Nach der Trennung war es keine Frage gewesen, dass die beiden Männer in eine Wohnung zogen. Konrad war Historiker, hatte Lehraufträge an der Uni und schrieb gelegentlich in Fachzeitschriften. Ein magerer Kerl, das Hemd schlotterte ihm um Brust und Arme, und er wurde am Hinterkopf kahl. Er trug eine winzige runde Brille, die ihn klug aussehen lassen sollte.

»Erzähl du mal ein bisschen«, sagte David zu seinem Vater.

Said verzog das Gesicht und begann, mit seinen schlanken Fingern ein Glas auf dem Tisch zu bewegen, er kippte es vorsichtig von einer Seite zur anderen, sodass der Saft bis zum Rand anstieg, aber nicht auslief.

»Ich ... wollte ... ein neues Heft machen. Aber ... ach nee, ich weiß nicht ...« Er ließ das Glas los und lehnte sich an die Stuhllehne. »Ich zeige es dir, wenn es fertig ist. Falls es fertig wird.«

Er senkte den Blick. Über neue Projekte hatte er noch nie gern gesprochen. Martha wusste, nicht zuletzt aus Davids Erzählungen, dass Said als Comiczeichner immer noch kaum Geld verdiente und als Sanitäter auf einem Rettungswagen arbeitete. Wie zu ihrer Zeit.

Nur diese Nervosität kannte sie nicht an ihm. Ob das mit ihr zu tun hatte? Damit, dass sie und Sonja zusammentrafen?

»Sonja ist übrigens Krankengymnastin«, sagte Said.

»Physiotherapeutin.« Sonja lächelte.

Martha war bereit, den Faden aufzunehmen. »Und wo arbeitest du?«

»Ich habe eine eigene Praxis. Zusammen mit zwei Kolleginnen.«

Said war wieder ausgestiegen. Er stand auf und ging zum Kühlschrank. »Jetzt trinken wir«, rief er.

»Noch zu früh«, entgegnete Konrad.

»Quatsch früh. Ich bin sechsunddreißig. Seit heute gehe ich auf die vierzig zu.«

Martha und Konrad ließen sich breitschlagen. Sonja lehnte ab und blieb dabei, obwohl Said mehrere Überredungsversuche unternahm. Er entkorkte die Flasche und lachte, als es einen lauten Knall gab. Sekt sprudelte heraus, lief auf den Boden und dann auf einen Teller, den Sonja unter die Flasche hielt.

»Ich glaube, dazu brauche ich einen weiteren Kaffee«, sagte Martha. »Kann ich noch einen aufsetzen?«

»Klar«, sagte Said, »was du willst.«

Aber Sonja griff nach der Kanne. »Ich mach schon.«

Es dauerte nicht lange, da begann David genauso unruhig zu werden wie Said. Als wenn er das aufnähme. Der Junge spielte mit seinem Teelöffel, stellte ihn auf und ließ ihn umfallen. Er trommelte mit Messer und Gabel auf die Tischdecke. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, und schließlich stand er auf und lief umher. Vor dem Fernseher blieb er stehen, schien sich aber zu sagen, dass er eh keine Erlaubnis bekommen würde.

Martha nahm das Zeichen auf, und David nickte, als sie ihm anbot, nach Hause zu gehen. Da waren noch keine anderthalb Stunden vergangen. In Gedanken schickte Martha einen Gruß an ihre Schwester: ein problemloser Vormittag, meine Liebe. Berührt mich nicht – und das nicht etwa, weil ich zwei oder drei Gläser Sekt getrunken habe. Ich glaube, ich bin drüber hinweg.

Sie verabschiedeten sich von Sonja und Konrad, und Martha ertrug auch, dass Sonja Davids Hand lange in ihrer hielt und »Bis bald« sagte. Er nickte.

Said brachte sie zur Tür. Martha sparte sich einen weiteren Kommentar über Riegel und Kette. Als sie sich umarmten, fühlte sie seine frisch rasierte Wange an ihrer.

Kapitel 2

Wagners erster Blick blieb an den Stühlen hängen. Er kam selten her – sehr selten –, aber wenn, dann stachen ihm diese Stühle ins Auge.

Er kannte ihre Bedeutung, sah ihre Schönheit. Entworfen von dem Amerikaner Charles Eames. Schlicht, funktional, dabei vollendet. Meilensteine, Museumsstücke – und für einen Mann wie Kelber viel zu schade.

Wenn Kelber mit ihm reden wollte, bedurfte es eines von ihren Sekretärinnen vereinbarten Termins. Als Leiter der Exportkontrolle, der wichtigsten Abteilung beim Bundesamt für Wirtschaft, ließ sich Wagner nicht dienstlich auf dem Flur anquatschen. Auch nicht vom Präsidenten der Behörde. Erst recht nicht von dem.

Er musterte Kelber. Der Mann mochte Ende vierzig sein, gab sich aber Mühe, jünger auszusehen. Er trug eine Designerbrille, außerdem eine gelb und blau gestreifte Krawatte und einen Anzug, der seine Figur betonte. Kelber war schlank und trainiert. Fitnessstudio. Gerüchte in der Behörde besagten, Kelber interessiere sich nur für Männer. Wagner ignorierte diesen Menschen, soweit es ging.

Sechs Eames-Stühle standen um den Besprechungstisch, alle mit blaugrauem Stoff bezogen und akkurat unter die Tischkante geschoben. Am Schreibtisch gab es einen weiteren, aus Leder, mit Rollen und hoher Lehne. Das ganz teure Modell. Kelber saß auf ihm und hob den Blick.

»Ah, Herr Wagner. Schön, dass Sie so pünktlich sind.«

Kelber kam seinem Gast ein paar Schritte entgegen, reichte ihm die Hand und begrüßte ihn mit einer Freude, die Wagner für gespielt hielt. Sein Gastgeber wies in Richtung Tisch. Wagner zog einen der blaugrauen Stühle hervor, strich mit zwei Fingern über ihn und setzte sich. Er ließ seinen Rücken den Stoff fühlen.

»Ich bekam einen Anruf aus Berlin«, begann Kelber. Er hatte sich Wagner gegenübergesetzt und sein Bein übergeschlagen. Seine Arme lagen auf den Stuhllehnen. »Direkt vom Wirtschaftsminister. Das heißt, von seinem Staatssekretär.«

Wagner tat dem Behördenpräsidenten nicht den Gefallen, nachzufragen, er wartete einfach. Er war in keiner Weise bereit, Interesse zu heucheln oder eifrig zu tun, und er hatte es auch nicht nötig. Sein Standing in der Behörde war bestens. Die Kollegen in seiner Abteilung schätzten ihn. Wagner ließ ihnen freie Hand, und wenn der Schlendrian um sich griff, redete er mit den Leuten, aber er tobte nicht und wies sie auch nicht zurecht. Ein anderer Führungsstil als der von Kelber.

»Wie es scheint«, fuhr Kelber fort, »verfügen die Amerikaner über Geheimdienstinformationen, nach denen das iranische Atomprogramm mit deutschen Ausrüstungsgütern bestückt wird.«

»Ach? Und was sind das für Informationen? Kann man die nachprüfen?«

Kelber schüttelte den Kopf. »Es gibt nur diese allgemeinen Hinweise. Für mehr scheinen uns die Amerikaner nicht zu vertrauen. Sie sind davon überzeugt, dass der Iran im Besitz deutscher Waren ist. Verbotener Waren. Und dass noch mehr dorthin gelangt.«

»Welche Wege auch immer diese Güter nehmen.«

Kelber winkte ab und drehte den Kopf weg. »Selbstverständlich. Das wissen wir beide. Dem Staatssekretär kann ich gerade noch klar machen, dass wir kaum die Verantwortung dafür zu übernehmen haben, wenn irgendein internationaler Kunde seine in Deutschland gekauften Waren weiterreicht. Der Staatssekretär kennt unsere Arbeit. Aber den Amis kann man das nicht mehr erklären. Für die ist das deutsche Wertarbeit und kommt deshalb aus Deutschland.«

»Und was folgt nun daraus?«, fragte Wagner. Seine Aufmerksamkeit war mehr bei dem Eames-Stuhl als bei Kelber. Man saß nur auf dem Stoff, der zwischen das Gestell gespannt war. Es gab keinen Unterbau. Deshalb konnte sich der Stuhl so leicht dem Körper anpassen, dem er gleichzeitig ausreichend Widerstand bot.

»Der Staatssekretär bittet uns, in diesem heiklen Fall aktiv zu werden. Er setzt auf unser Gespür. Auf unser Fingerspitzengefühl, wenn Sie so wollen. Deshalb ist das eine große Aufgabe. Wir sollen alle Firmen überprüfen, die in den letzten zwanzig, dreißig Jahren einschlägig aufgefallen sind. Wo wir auch nur den leisesten Zweifel hegen, da sollen wir hinfahren. Die Firmen besuchen. Mit den Leuten reden und uns ein Bild machen. Verstehen Sie?«

Neitzel, dachte Wagner. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Ich fürchte, dafür habe ich kein Personal.«

Kelber nahm seine bunte Brille ab und drehte sie in der Hand. »Kein Personal?« Er setzte ein falsches Lächeln auf. »Sie fahren selber. Sie persönlich.«

Wagner fixierte sein Gegenüber. »Wer sagt das?«

»Ich sage das. In Absprache mit dem Staatssekretär. Ein Wunsch des Ministers.«

Wagner war nicht bereit, sich irgendwohin schicken zu lassen. Wenn Kelber Fleißpunkte in Berlin sammeln wollte, dann musste er seinen Hintern schon selber bewegen.

»Und wann sollte ich das machen?«

Kelber veränderte seine Sitzposition. Er stellte auch das zweite Bein auf den Boden und rückte mit dem Oberkörper ein paar Zentimeter nach vorne, in Richtung seines Gesprächspartners. Wagner roch sein aufdringliches Rasierwasser. Er wollte ausweichen und sich weiter zurücklehnen, doch er war schon an der Stuhllehne angelangt.

»Sehen Sie, verehrter Kollege Wagner, Sie scheinen noch nicht ganz zu verstehen. Es handelt sich um eine Bitte der Bundesregierung.« Kelber hob die linke Hand. »Höchste Ebene.« Er kniff die Augen zusammen und nickte. »Es drohen Verstimmungen im deutsch-amerikanischen Verhältnis. Neuerliche Verstimmungen. Das kann unser Land nun wirklich nicht gebrauchen. Unsere Arbeit war ein Tagesordnungspunkt im Bundeskabinett. Ein eigener TOP. Erkennen Sie langsam die Größenordnung?«

Wagner griff mit beiden Händen nach den Armlehnen und spürte das kalte Metall. Sein Blick wanderte durch das Zimmer. Er verscheuchte einen neuerlichen Gedanken an Neitzel.

»In der Abteilung gibt es unter den Kollegen regionale Zuständigkeiten. Wenn diese Angelegenheit eine solche Bedeutung hat, dann wäre es sicher vernünftig, wenn der jeweils Zuständige ...«

Kelber schüttelte den Kopf. »Sie fahren. Persönlich. Das hat Berlin entschieden. Und zwar, wenn möglich, noch diese Woche.«

Eine solche Reise gehörte schlicht nicht zu seinen Zuständigkeiten. Und Kelber hatte den falschen Tonfall gewählt.

Sein Gegenüber setzte die Brille wieder auf und legte die Stirn in Falten. Jungenhafte Falten, fand Wagner. Gespielter Ernst.

»Zunächst brauchen wir eine Liste«, sagte der Präsident. »Schreiben Sie alle Firmen darauf, die in dem genannten Zeitraum auffällig geworden sind. Zwanzig, dreißig Jahre. Dann: In welchen Bereichen sind diese Firmen heute tätig? An wen liefern sie und was? Wer sitzt im Management? Und wo Zweifel bleiben – selbst kleinste Zweifel –, da muss ich Sie bitten, hinzufahren. Sie müssen diesen Leuten ins Gewissen reden. Drohen Sie ihnen von mir aus. Da haben Sie Gestaltungsspielraum. Nur: Machen Sie ihnen klar, dass wir sie im Visier haben.«

Neitzel, dachte Wagner wieder.

Es war nicht vernünftig, seine Entscheidung davon abhängig zu machen, ob Kelber bittebitte sagte oder nicht. Er ließ sich nirgendwohin schicken, von Kelber nicht und auch nicht vom Staatssekretär. Aber er konnte kaum anders, als das Vorhaben richtig zu finden. Waren die Hinweise der Amerikaner auch noch so vage – ausgerechnet der Geheimdienst, lächerlich –, reagierte man doch lieber zweimal zu oft als einmal zu wenig.

Er überdachte, was auf seinem Schreibtisch auf ihn wartete und dringend war, dann nickte er innerlich. Kelber zeigte er seine Zustimmung noch nicht.

Doch der schien Wagners Gedanken zu ahnen. »Mir ist doch klar, dass Sie beschäftigt sind. Das sind wir alle. Aber wir müssen jetzt Prioritäten setzen. Das zeichnet eine gute Verwaltung aus: dass sie Prioritäten setzen kann. Noch etwas: Ich möchte diese Sache so still ausgeführt haben wie möglich. Auch das ist ein ausdrücklicher Wunsch des Staatssekretärs. Diskretion, verstehen Sie. Weihen Sie nur diejenigen Kollegen ein, die unbedingt notwendig sind. Verpflichten Sie auch sie zu absolutem Stillschweigen. Wenn Sie dabei Hilfe brauchen, lassen Sie es mich wissen. Sollte diese Sache irgendwann einmal publik werden, dann bitte nicht aus meiner Behörde. Ich möchte mir nichts anhängen lassen. Arbeiten Sie als Erstes an der Liste. Und dann sprechen wir drüber. Wenn möglich, morgen. Spätestens übermorgen.«

»Ich sehe, was ich tun kann«, sagte Wagner.

Kelber nickte, beide standen auf. Wagner warf einen letzten Blick auf die Stühle. Definitiv zu schade für Kelber.

Als er an der Tür war, rief sein Vorgesetzter ihn noch einmal. »Wir brauchen die Liste wirklich schnell. Machen Sie sich bitte gleich daran.«

Mit einem Nicken ging Wagner hinaus.

Ein paar Tage später saß er im Erste-Klasse-Abteil eines ICE, ein einzelner Reisender auf einem Fensterplatz, und wartete auf die Abfahrt aus dem Frankfurter Hauptbahnhof. Er hatte keinen Laptop vor sich und kein Telefon am Ohr. Die Schaffnerin hatte ihm Kaffee gebracht. Ein weißer Faden stieg aus der Tasse auf, und er beobachtete ihn, während die Betriebsamkeit um ihn herum anstieg. Er trug ein graubraunes Jackett und hatte den Schlips am Kragen gelockert. Seine Zeitung lag auf dem Klapptisch.

Auf vier Besuche hatten sich Kelber und er geeinigt, einen am Starnberger See, einen in Westfalen, einen nahe Bremen und einen in Hamburg. Seine erste Reise führte ihn nordwärts. Die Türen wurden geschlossen, der Zug setzte sich in Bewegung, Wagner lehnte sich zurück, nippte an seinem Becher und sah nach draußen.

Frankfurt, Eva-Stadt.

Durch eine Verwechslung hatte er sie vor fünfundzwanzig Jahren kennengelernt. Nach Seminarschluss war er einer Kommilitonin nachgegangen, hatte sie von hinten angesprochen: »Hast du die Aufgabe mitgeschrieben, die wir lösen sollen?«

»Ich mache keine Aufgaben. Nie.« Die gleichen kurzen Haare, ein schwarzer Pulli, aber ein anderes Gesicht. Eine Studentin aus einem anderen Fachbereich.

»Oh. Eine Verwechslung.«

»Und, enttäuscht?«

Ein stummes, bestenfalls angedeutetes Kopfschütteln von Wagner.

»Also? Ist die andere hübscher als ich?«

»Nee.«

Eva hatte ihn fasziniert. Sie war das Gegenteil von allem, was er war und kannte. Eine weitverzweigte Familie und Kontakte zu diversen Tanten und Onkels, zu Cousins und Cousinen. Mit Mitte zwanzig noch Freunde aus der Grundschule. Als sie ihn, in ihrer allerersten Zeit, einmal sonntags nachmittags wegen akuter Zahnschmerzen in die Klinik begleitete, da kannte sie den Arzt – ein früherer Nachbar, der sich freute, sie zu sehen. Wagner kam sofort dran.

Fast lautlos glitt der Zug aus Frankfurt hinaus. Dank der Klimaanlage vergaß er die Hitze. Einzelne Wolken standen am Himmel, auf dem Main tänzelten Sonnenstrahlen. Leute trugen ihre Jacken auf dem Arm oder über der Schulter. Der Zug nahm an Fahrt auf, eine elektronische Tafel im Abteil zeigte, dass er bald die Zweihundert-Stundenkilometer-Marke erreichte.

Es hatte ihn nie gestört, sich an Eva ranzuhängen. Er seinerseits half ihr, das Studium zu beenden und im Beruf Fuß zu fassen. Sie maßen diesen Dinge keine Bedeutung bei, sie liebten und unterstützen sich. Außerdem hatte er nie zuvor eine Frau so begehrt wie Eva. Mitten in der Vorlesung oder in der Mensa, selbst im Kino überfiel ihn die Lust und besetzte wie ein Virus alle seine Gedanken. Nachts wachte er erregt auf, und wenn sie neben ihm lag, begann er sie zu streicheln, bis sie endlich die Augen aufschlug, und dann schlief er mit ihr. Aber auch sie antwortete nach einem gemeinsamen Frühstück auf die Frage, was sie tun sollten: »Wieder ins Bett gehen.«

Und jetzt? Alles anders. Sie war in der Klinik.

Es hatte sich über einen langen Zeitraum angekündigt. Manchmal war sie so blass gewesen, dass er erschrocken war. Grau, nicht weiß. Von fahler, ungesunder Gesichtsfarbe. Und Schatten um die Augen.

Er hatte geglaubt, das seien die Veränderungen, die die zweite Lebenshälfte einläuteten. Da musste man durch. Sie unterhielten sich nicht mehr. Sprachen kaum noch. Eva saß im Sessel und tat nichts. Starrte in die Luft. Keine Musik, kein Buch, nicht einmal Fernsehen. Es war ihr egal, was sie aßen, und sie schien es nicht zu schmecken, wenn er eine Delikatesse eingekauft hatte. Und Sex? Er versuchte es gar nicht mehr. Sie hatte nie ein Wort darüber verloren, trotzdem war das Signal, dass sie nicht berührt werden wollte, unmissverständlich. Nicht einmal in den Arm nehmen ließ sie sich.

Er hatte versucht, gegenzusteuern, hatte sie auf eine seiner Radtouren durch den Odenwald mitgenommen, war, da sie nicht joggte, mit ihr sonntags gewandert. Auch sie hatte sich bemüht, hatte für ihn gekocht und einen Abend zu zweit arrangiert. Aber wie viel Kraft hatte sie das gekostet. Wie stumm war sie dann geblieben und wie mühevoll hatte ihr freundlicher Gesichtsausdruck gewirkt.

Über viele Monate war das gegangen. Er konnte nicht sagen, wann ihr Zustand begonnen hatte. Er hatte sich eingeschlichen und mehr und mehr von ihr Besitz ergriffen. Wo sollte man einen Anfang setzen? Vor einem Jahr? Vor zwei?

Die andere Frage war, ob ihn Schuld traf. Und wenn nicht Schuld, dann zumindest Verantwortung. Wurde er der gerecht? Er besuchte sie selten. Der Kontakt war spärlich.

Sie hatte eines Morgens gesagt, sie schaffe es nicht mehr und finde den Weg aus ihrem Loch nicht, sie würde zu einem Psychiater gehen und sich am liebsten in eine Klinik einweisen lassen.

Und da war sie nun.

Hinter Koblenz fuhr der Zug nicht mehr auf der alten Rheinstrecke, er raste durch den Westerwald, durch lange Tunnel, an Lärmschutzwänden und der Autobahn entlang, durch Wälder, die nur selten den Blick in ein Tal ermöglichten. Im Erste-Klasse-Abteil wurde weiter gearbeitet und telefoniert.

Wagner ließ die Rückenlehne nach hinten kippen. Sein leerer Kaffeebecher stand trotz der hohen Geschwindigkeit und einem gelegentlichen Ruckeln des Wagens unbeweglich vor ihm.

Wie würde es weitergehen mit Eva? Wie weit reichte seine Verantwortung? Er lief vor diesen Fragen davon, das wusste er. Aber auch deshalb, weil es auf sie keine Antworten gab. Er spürte nur, dass er allein war, seit Jahren.

Er schloss die Augen und dachte an seine Aufgabe. Sofort kam ihm Neitzel in den Sinn. Vor sechs Jahren hatte Wagner für das Bundesamt einen Prozess gegen diesen Mann geführt. Die Anklage lautete auf Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Sie hatten Neitzel vorgeworfen, über Umwege Ausrüstungsgüter an den Iran zu liefern.

Jetzt ging es wieder zu Neitzel. Auf diesen Teil der Reise hätte er gerne verzichtet. Aber Kelber hatte darauf bestanden. Er hatte die Brust herausgestreckt und wieder sein stärkstes Argument aufgefahren: »Berlin wünscht es so.«

Wagner konnte nur vermeiden, sich jetzt schon damit zu beschäftigen.

Kapitel 3

Davids Schule lag zwei Kilometer von ihrer Wohnung entfernt. Der Hof war asphaltiert. Als Martha ihn überquerte, war er leer, nur ein paar Tauben stritten sich um ein weggeworfenes Schulbrot und gurrten dabei. Das Gebäude selbst war weiß und flach, ein Sechziger-Jahre-Bau.

Schonend – wie sagte man jemandem so etwas schonend? Noch dazu einem neunjährigen Jungen, der den Tod bestenfalls aus Geschichten kannte?

David ging seit dem Ende der Sommerferien in die vierte Klasse. Vom Elternabend wusste Martha, wo sein Klassenraum lag. Langsam stieg sie durch das menschenleere Treppenhaus nach oben. Sie brauchte ihre Hand am Geländer, um sich weiterzuziehen. Der Terrazzoboden gab jeden ihrer Schritte wieder.

Der Flur war gelb gestrichen und bekritzelt. Jacken und Turnbeutel hingen an einer Reihe Kleiderhaken. Zwei vergessene Wollmützen und ein Schal ließen sie schmunzeln. Andere Kinder waren auch nicht besser. Wie unvorstellbar angesichts des Sommers, sich jemals wieder so warm anziehen zu müssen.

Ein Schild neben der Tür wies darauf hin, dass in diesem Klassenraum die 4c zu Hause war. Unter einer Kunststoffplatte hing ein Stundenplan. Die Kinder hatten Deutsch, wurden also von ihrer Klassenlehrerin unterrichtet, einer jungen Frau mit einem hübschen Mädchengesicht.

Martha holte Luft, dann klopfte sie und zog die Tür auf. Die Lehrerin hatte ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug eine dunkelblaue Trainingsjacke und Jeans. Die Augen der Kinder richteten sich auf Martha. David saß am Fenster. Er legte die Stirn in Falten und schien ihr eine stumme Frage zu stellen: Was machst du denn hier? Sie gab ihm kein Zeichen, sondern wandte sich der Lehrerin zu und redete leise mit ihr.

Die Frau blickte sie an, als verstünde sie nicht, was Marthas Anliegen war. Martha erklärte, immer noch leise, dass sie David abholen wollte.

»Ach so«, sagte die Lehrerin. »David«, rief sie und klang fast fröhlich, »pack deine Sachen zusammen. Deine Mutter möchte dich mitnehmen.«

David stand auf. Er hob seinen Ranzen auf den Tisch und begann, verschiedene Stifte in seine Federmappe zu sortieren. Nichts brachte ihn dazu, seine Ordnung zu vernachlässigen, jeder Stift kam an seinen Platz. Er schob die kleine Mappe, Buch und Heft in den Ranzen. Martha sah ihm zu. Sie fing wieder einen Blick von ihm auf und hatte das Gefühl, er ahnte etwas. Aber das konnte nicht sein. Woher denn?

»Oh, der hat's gut«, rief ein Schüler von der anderen Seite des Klassenraums, »der kann nach Hause.« Andere stimmten ein.

Martha biss sich auf die Lippen. Sie wollte sich beherrschen. Der hat es nicht gut, dachte sie. Der hat es ganz bestimmt nicht gut.

David brach zusammen. Auch wenn er mehrfach gefragt hatte, hatte sie mit der Nachricht gewartet, bis sie zu Hause waren und er auf einem Stuhl in der Küche saß. Sie ging in die Hocke und hielt seine Hände, als sie ihm alles berichtete. Er brauchte einen langen Moment, um zu begreifen. Es schien ihr, als kämen ihre Worte gar nicht bei ihm an.

Dann riss er Mund und Augen auf. »Hast du Papa gesehen? Ich meine ... tot?«

»Das nicht. Aber die Polizei und die Ärzte sagen einem nicht, dass jemand tot ist, wenn es nicht stimmt.«

Nachdem er diesen Satz verstanden hatte – was wieder einige Zeit dauerte –, kamen die Tränen. Lautlos. Ein Strom kleiner Tropfen, der ihm aus den Augenwinkeln rann. Er schien sich vor ihr zu schämen, denn er stand auf und drehte ihr den Rücken zu. Sie legte ihm die Hände auf den Rücken und spürte, wie er zitterte. An den Beinen fing es an, erfasste den Oberkörper und die Arme. Vor Zittern gaben seine Knie nach, und sie musste ihn auffangen. Wie ein Sack hing er in ihren Armen, die Beine auf dem Fußboden und trotzdem keinen Halt. Er schien es nicht zu merken. Er krümmte sich und weinte.

Sie packte ihn an den Schultern und unter den Knien, hob ihn auf, schleppte ihn in sein Zimmer und legte ihn ins Bett. Er war wie in Trance. Seine Tränen versiegten, aber er war in keiner Weise ansprechbar, er hörte nicht, was sie ihm sagte, ihren Trost nicht und auch nicht ihre Liebe. Sie blieb bei ihm sitzen und hielt seine Hand.

Vor unendlich langer Zeit war dies Saids Zimmer gewesen, ohne Kinderbett und Kuscheltiere, ohne das Poster eines iranischen Fußballers, der in der Bundesliga sein Geld verdiente, an der Wand. Hier hatte Said an seinen Bewerbungsunterlagen für die Kunsthochschule gearbeitet. Als die Zusage gekommen war, hatte er sie abends mit verbundenen Augen hereingeführt. Der Brief der Hochschule lag auf seinem Zeichentisch, umrahmt von Kerzen, von Sekt und zwei langstieligen Gläsern, von Schälchen mit Pistazien und Oliven. Er hatte Musik aufgelegt und mit ihr getanzt.

Sie erinnerte sich auch daran, wie er seine Bewegungen plötzlich abgebrochen hatte. »Kunst – ich weiß gar nicht, ob das das Richtige für mich ist.«

Zweifel gehörten dazu, hatte sie gedacht, ihn umarmt und ihm einen Kuss auf den Mund gegeben: »Das ist das Richtige.« Was würde sie dafür geben, ihn noch einmal umarmen und küssen zu können.

Als David eingeschlafen war, rief Martha ihren Chefredakteur Braun an und bat um einige freie Tage.

»Klar, das macht gar nichts in unserer Situation, wenn eine der besten Reporterinnen ausfällt, während ihre Geschichte erst halb fertig ist. Geht doch eh alles den Bach runter.«

Pause. Schweigen. »Für David ist es schon ganz unten«, erwiderte sie.

Sie hörte ein lautes Schlucken von ihm.

»Entschuldige«, sagte er, »dieser Wirtschaftsprüfer heute hat mich wütend gemacht, dieser Zahlenknecht. Natürlich, bleib zu Hause, kümmere dich um deinen Jungen. Etwas Wichtigeres gibt es jetzt nicht.«

David aß nicht, er reagierte nicht einmal auf ihre Speiseangebote. Also zerdrückte Martha ihm mit der Gabel eine Banane. Sie setzte ihn im Bett auf, mit dem Kissen gegen die Wand, und fütterte ihn. Mechanisch öffnete er den Mund und schluckte hinunter, was sie ihm gab. Abends kochte sie ihm Suppe mit püriertem Gemüse und Kartoffeln und wiederholte die Prozedur. David war wie nicht anwesend, er wehrte sich nicht, half nicht, sprach nicht. Ein willenloses Wesen mit verweinten Augen. Sie zog ihn aus, führte ihn aufs Klo, blieb dort stehen, bis er fertig war, und brachte ihn wieder ins Bett.

Sie selbst war Anfang zwanzig gewesen, als ihre Mutter starb. Bis dahin war ihr Vater der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen. Er, der Überlegene, der Souveräne. Wenn er abends oder am Sonntag auf seine Oberschenkel klopfte – das Zeichen für sie, auf seinen Schoß zu kommen –, ließ sie liegen, was immer sie gerade tat. Mit zwölf begann sie, die Zeitung zu lesen, um seine Welt zu verstehen. Um ihm Gesprächspartnerin zu sein, ihm wenigstens Fragen stellen zu können, die er ernst nahm. Nach seinen Ratschlägen plante sie ihre Ausbildung, Studium, Journalistenschule. Es machte sie stolz, dass es immer das Beste für sie sein musste.

Und dann stürzte er vom Sockel. Nicht länger als drei Tage dauerte das. Er lief in seinem schwarzen Anzug herum, zog auch im Haus die schwarze Krawatte nicht aus und sagte jedem, der kondolierte, er habe alle Termine abgesagt. Dabei schniefte er. In Marthas Augen trauerte er nicht, sondern spielte Trauer, und das auch noch schlecht. Er las seinen Stapel Zeitungen und sah die Nachrichten im Fernsehen, und da lag seine Aufmerksamkeit. Aufgewühlt wie sie war, erkannte sie, wie winzig der Raum war, den der berühmte Journalist und Ex-Regierungssprecher seiner Frau und der Familie eingeräumt hatte. Sie bekam Wut, gab ihm – zum ersten Mal in ihrem Leben – böse Antworten und empfand die Bitterkeit, die ihre Mutter in der Regel gut verborgen hatte, die aber manchmal aufgeblitzt war. Martha bekam Schuldgefühle darüber, dass sie die Mutter nicht besser verstanden hatte. Sie hatte immer nur die Fröhlichkeit gesehen und die Harmonie, die von ihr ausgegangen war.

Als David schlief, sprach sie mit Hanna über diese Zeit. Das Küchenfenster stand offen, von der Straße drang Motorengeräusch herein, eine Kirchenglocke schlug. Nur Wind gab es nicht. Es war warm.

»Ich habe ihn immer so gesehen«, sagte ihre Schwester, »wenn er etwas zugesagt hat, war das eine Möglichkeit, aber nicht mehr. Selbst seine heiligen Versprechen – erinnerst du dich? Die gespreizten Finger? – Hießen: vielleicht ja, vielleicht nein. Irgendeine Pressekonferenz oder eine überraschende Reise, und er hat meistens nicht mal mehr abgesagt. Damit hat Mama gelebt. Ich glaube, sie ist oft alleine ins Konzert gegangen.«

Später kehrte sie zu David zurück, der im Traum seufzte. Sie setzte sich an sein Bett und hielt wieder seine kleine Hand und streichelte sie. Ihr Sohn war jetzt ein Halbwaise, und sie trug die Verantwortung für ihn allein. Sie hatte Freunde, hatte ihre Schwester, sie würde Rat bekommen, wann immer sie welchen brauchte. Aber die Entscheidungen musste sie in Zukunft allein treffen und verantworten.

Erst am Nachmittag des dritten Tages stand er auf. Er war blass und hatte verquollene Augen, seine dunklen Haare standen ihm wirr auf dem Kopf. Die Pyjamahose schlotterte ihm um die Beine. Er kletterte auf Marthas Schoß, und als sie ihren Arm um ihn legte, fühlte sie seine Rippen.

»Glaubst du, dass Papa mich liebgehabt hat?«, fragte er, das Gesicht an ihren Hals geschmiegt.

»Das glaube ich nicht nur, das weiß ich. Mehr als irgendjemanden sonst auf der Welt.«

»Wenn er da runtergesprungen ist, dann hat er mich nicht so doll liebgehabt. Sonst hätte er mich nicht im Stich gelassen.«

Sie wusste keine Antwort, sie drückte nur den mageren Körper und sagte: »Er hat dich lieb gehabt, ganz bestimmt.«

Er blieb im Schlafanzug, hatte aber Hunger, und sie aßen zusammen. Als sie ihn am Abend wieder ins Bett bringen wollte, hörte sie die Klingel. Hanna öffnete. »Besuch für dich«, sagte sie zu Martha.

Martha gab David einen Kuss. »Ich seh noch mal nach dir.«

Konrad stand im Flur. Er trug ein kariertes Jackett, das an den Armen passte, am Bauch aber zu weit war und ihn noch hagerer wirken ließ.

»Ich wollte nicht stören«, sagte er und blickte zu Boden.

Martha führte ihn ins Wohnzimmer, in dem der Fernseher stand, außerdem ein dunkelblaues Sofa und zwei passende Sessel. Mit Hanna saß sie manchmal abends hier, und sie tranken Wein und sahen einen Film. Die Luft war abgestanden. Martha öffnete die Balkontür. Konrad zog seine Jacke aus und setzte sich in einen der Sessel.

»Es geht um Said.«