Das dunkle Echo - Leon Specht - E-Book

Das dunkle Echo E-Book

Leon Specht

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Beschreibung

"PLÖTZLICH WAR ICH HELLWACH. REGLOS LAG ICH IM BETT. NICHTS WAR ZU HÖREN. WENIGER ALS NICHTS. ABSOLUT NICHTS. ICH FüHLTE EINE ANSPANNUNG WACHSEN, DIE ICH NICHT ERKLÄREN KONNTE." Die junge Frankfurter Kommissarin Leonie Theophila Möller - kurz LTM - macht es ihren Mitmenschen nicht immer leicht. Sie ist aufgeweckt und klug, aber auch ganz schön frech und neugierig. In ihrem ersten Fall, der sie gemeinsam mit ihrem Chef Thomas Seibold in den Jossgrund führt, ist unter mysteriösen Umständen ein Bienenforscher ums Leben gekommen. Während der väterliche Seibold Lebenssinn und seine Mitte sucht, scheint LTM nichts aus der Bahn werfen zu können. Nicht einmal grantige Kellnerinnen, abweisende Einheimische und seltsame Vorgänge, die der Aufklärung im Wege stehen. Spätestens als eine zweite Leiche auftaucht, wird beiden Ermittlern klar, dass die Wahrheit eine sehr vage Sache sein kann. Erst recht, wenn Tote auf einmal gesprächig werden …

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LEON SPECHT ist das Pseudonym eines Unternehmensberaters, der im Raum Frankfurt lebt und als Coach für Führungskräfte arbeitet. Er ist Verfasser einiger Sachbücher über psychologische Themenstellungen in der Unternehmenswelt.

Zum Buch

»PLÖTZLICH WAR ICH HELLWACH. REGLOS LAG ICH IM BETT. NICHTS WAR ZU HÖREN. WENIGER ALS NICHTS. ABSOLUT NICHTS. ICH FüHLTE EINE ANSPANNUNG WACHSEN, DIE ICH NICHT ERKLÄREN KONNTE.«

Die junge Frankfurter Kommissarin Leonie Theophila Möller – kurz LTM – macht es ihren Mitmenschen nicht immer leicht. Sie ist aufgeweckt und klug, aber auch ganz schön frech und neugierig. In ihrem ersten Fall, der sie gemeinsam mit ihrem Chef Thomas Seibold in den Jossgrund führt, ist unter mysteriösen Umständen ein Bienenforscher ums Leben gekommen.

Während der väterliche Seibold Lebenssinn und seine Mitte sucht, scheint LTM nichts aus der Bahn werfen zu können. Nicht einmal grantige Kellnerinnen, abweisende Einheimische und seltsame Vorgänge, die der Aufklärung im Wege stehen. Spätestens als eine zweite Leiche auftaucht, wird beiden Ermittlern klar, dass die Wahrheit eine sehr vage Sache sein kann. Erst recht, wenn Tote auf einmal gesprächig werden …

Woher Kommissarin Leonie Theophila Möller, genannt LTM, die Energie nimmt, mit der sie allmorgendlich – oftmals verspätet – in das Frankfurter Kommissariat stürmt, weiß ihr Vorgesetzter nicht. Während Thomas Seibold selbst ausgelaugt und auf der Suche nach dem Sinn des Daseins ist, macht LTM mit ihrer vorlauten, aber warmherzigen Art den Alltagstrott ihrer Mitmenschen erträglicher.

Allein deshalb möchte er nicht mehr auf sie verzichten. Auch nicht in seinem wohlverdienten Urlaub im malerischen Jossgrund, in dem ihm das Verbrechen wieder einmal keine ruhige Minute lässt. Ein verschwundener Bienenforscher, ein Mord ohne Leiche und dunkle Geheimnisse in der Vergangenheit der Jossgründer locken Seibold und LTM in einen Fall, der das Bild der ländlichen Idylle ins Wanken bringt – und das nicht erst, als eine zweite Leiche auftaucht.

Leon Specht

Das dunkle Echo

Leon Specht

Das dunkle Echo

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten

© by Waldemar Kramer Verlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2014Der Text basiert auf der Ausgabe Waldemar Kramer Verlag, Wiesbaden 2014Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbHHamburg BerlinBildnachweis: © mauritius images / imageBROKER / Daniel SchoeneneBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0403-5

www.verlagshaus-roemerweg.de/Waldemar_Kramer

„Der Jossgründer ist ein dunkler Mensch … Dabei könnte esgerade hier, im tiefsten Herzen der Natur, friedlich zugehen.“

Inhalt

ERSTER TEIL

Jossgrund

Prolog

Schatten und Licht

Ziegenbart

Pizza

Hexenhäuschen

Toni Office

Dämmerung

Käuzchen

Auferstehung

Einsatzkommando

Hund

Wartezimmer

Imkerzeit

Haarspaltereien

Wortspalterei

Erdspalterei

Liebeskummer

Liebeskammer

Wolfsburg

Forellendiät

Pendelnd

Eingeschwungen

Beschleunigung

Inflation

Obduktion

Montagsblues

ZWEITER TEIL

Echo

Wegscheide

Waldleben

Znaimer Hof

Gepolter

Journalistin

Das Trio

Jägersmann

Kondolenz

Arztpraxis

Zum Franziskaner

Aschaffenburg

Lilly

Riesenbratwurst

Rotweingespräch

Honigbrötchen

Hausbesuch

Testamentsvollstreckung

Verschwörung

LTM-Spirale

Kasseler Rücken

Visite 1

Flurfunkintermezzo 1

Visite 2

Flurfunkintermezzo 2

Staatsanwalt

Überläufer

Obduktionsbericht

Polizeipräsidium Südosthessen

Biobauer

Pferdeschwanz

Professorenfrau

Gegacker

Pettersson und Findus

Haftbefehl

Verhaftung

Polizeipräsidium

Epilog

Dank

Kontakt zum Verlag

Erster Teil

Jossgrund

Kommissar Seibold aus Frankfurt macht gern Urlaub im Spessart. Die dunkelste Gegend dort ist der Jossgrund. Und nicht nur, wenn es Herbst wird oder Nacht. Oder die Sonne zu wenig Kraft besitzt, durch die dichten Wälder zu dringen.

Offenbar gibt es noch einen weiteren Grund. Geschichtlich interessierte Menschen führen ihn auf die finstere Zeit des Mittelalters zurück. Während des dreißigjährigen Kriegs wurde dieser Ort samt seiner Kirche fast vollkommen zerstört. Die Brandschatzer gingen mit beispielloser Brutalität vor und ließen selbst Kinder und junge Frauen auf Scheiterhaufen verbrennen. Besonders obszön und gotteslästerlich war die letzte Tat, die Menschen in der Kirche einzusperren und das Gotteshaus in Brand zu stecken. Die Schreie der Menschen wurden erst leiser, als das Feuer an Kraft gewann, erstarben aber nie. Selbst heute meint man, das Echo in den dunklen Wäldern noch hören zu können. Jede verstorbene Seele lebt weiter als ein stiller Schrei.

Nur ganz wenige Menschen konnten diesem Inferno entkommen und rechtzeitig und mit viel Glück im Jossgrunder Forst Zuflucht finden. Sie gaben Zeugnis von diesem Schrecken, der sich bis zum heutigen Tage auszuwirken scheint. Die dunklen Seelen der Verstorbenen sind es, die sich wie ein Schatten auf die hiesigen Menschen legen. So wird es hinter vorgehaltener Hand von Großmüttern ihren Kindern und Enkeln bedeutet. Ein spätes Erbe, das in den Genen mancher Bewohner verankert ist und immer wieder in unkontrollierbarer Weise zum Vorschein kommt. Auf düstere und mysteriöse Art und Weise Menschen ums Leben kommen lässt. Die Geschichte setzt sich unerbittlich fort.

Für die Erstleser, die sich für dieses Buch entschieden haben, sei dies der guten Ordnung halber berichtet, weil sie die Vorgänge aus dem ersten Teil nicht kennen. Gleichwohl lässt sich dieser zweite und dritte Teil der Trilogie unabhängig von „Der Stille Schrei“ lesen: Die Bezüge werden nachvollziehbar gemacht.

Prolog

WOLFSBURGER NACHRICHTEN

SONNTAGSAUSGABE, 17. JUNI 2012

Bekannter Biologieprofessor verschollen

Blum zu Forschungsarbeiten in Bad Orb / Umstände des Verschwindens mysteriös.

Wolfsburg – Wer Gerald Blums Umfeld nach seinen Charaktereigenschaften fragt, bekommt vor allem ein Attribut zu hören: zuverlässig. Der Biologie-Professor sei kein Mann der Überraschungen, heißt es. Doch seit elf Tagen fehlt von dem renommierten Forscher jede Spur. Sein Verschwinden gibt der Polizei Rätsel auf.

Blum war am achten Juni zu einem befreundeten Bienenzüchter nach Bad Orb gefahren. Dieser hatte den Biologen darum gebeten, gemeinsam mit ihm das rätselhafte Verschwinden seines Bienenstamms zu erforschen. In Bad Orb wohnte Blum in der Pension Sonnenschein, doch weder die Besitzerin noch das Personal konnten Hinweise auf seinen Verbleib geben. Laut Polizei wurde sein Zimmer in normalem Zustand vorgefunden. Sein Gepäck wäre da gewesen, und Spuren der Gewalt hätte sie nicht feststellen können. Auch Blums grüner Lada hätte noch auf dem Parkplatz der Pension gestanden.

Wie Blums Frau den Wolfsburger Nachrichten berichtete, hätte sich ihr Mann jeden Abend bei ihr telefonisch gemeldet. Dass er am Mittwochabend nicht angerufen hätte, wäre ungewöhnlich. Daher hätte sie ihn bereits am nächsten Tag als vermisst gemeldet. „Bei unserem letzten Gespräch wirkte er sehr aufgeregt“, sagte Blum, „offenbar hatte er eine Erklärung für das Verschwinden der Bienen gefunden.“ Details hätte er seiner Frau aber nicht genannt, weil ihm noch Beweise für seine Theorie fehlten.

Laut Polizei gibt es bislang keine Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der Forschungsarbeit und dem Verschwinden des Professors. „Wir gehen derzeit aber jedem Hinweis nach“, so ein Sprecher der Polizei.

Schatten und Licht

Endlich Urlaub. Aber ich war so ausgebrannt, dass ich mich nicht einmal darauf freuen konnte. Im Büro war ich zum Glück der Erste. Unwillig packte ich meine Sachen auf dem Schreibtisch zusammen. Als ob das Ordnen der Akten auch Ordnung in meine Überlegungen bringen konnte.

Toni, unsere Teamassistentin, kam durch die Tür: „Guten Morgen, Seibold. Gut geschlafen? Noch einen Cappuccino zum Abschied?“

Sie riss mich aus meinem Grübeln. Müde nickte ich ob der Verlockung eines leckeren Kaffees und hörte mich aber standhaft sagen: „Nein, Toni, du weißt doch. Meine Waage hat mir heute früh wieder signalisiert, dass ich nicht darf, was ich gern möchte.“

„Och, Chef“, schnurrte sie. „Gönn dir doch was. Ich trinke einen mit. Unser Abschiedstrunk. Ich werde dich vermissen.“

Nein. Trotzig bewegte sich mein Kopf. Ich hatte viele Kilos zu viel. Drei Wochen Wandern und Walken sollten davon einiges verbrennen. Trübe richtete sich mein Blick auf lebloses Papier, das sortiert werden wollte. Der Auftrag des Staatsanwalts. Mein Blick ging ins Leere. Dann traf ich eine Entscheidung.

„Toni“, rief ich durch die offene Tür. „Ist LTM schon da?“

„Nein, sie kommt heute später.“

Meine kleine ängstliche Auflehnung gegen den Staatsanwalt sollte einen zweiten Schub bekommen. Ich würde meine Assistentin LTM mit der Ausarbeitung beauftragen. LTM war der Spitzname für die vorwitzige Leonie Theophila Möller, die sich einst als Praktikantin bewährt hatte. Ich drückte ihre Handynummer. Es bimmelte lange. Eine Mailbox sprang nicht an.

„Ja?“, meldete sich eine kratzige Männerstimme.

„Wer ist da?“

„Wen wollen Sie denn sprechen?“

„LTM“.

„Die schläft noch.“

Ich schaute auf die Uhr. Kurz nach neun. Unsere Dienstzeiten begannen deutlich früher. Typisch LTM. Sie schuf sich ihre eigenen Regeln. Wohl kein Über-Ich, flüsterte mir meine kleine rebellische Stimme zu. Nimm dir mal ein Vorbild an ihr.

„Wer sind Sie denn?“, fragte ich die unbekannte Stimme.

„Leon.“

„Neee“, ich dehnte diesen Laut. Wollte er mich veralbern? „Leonie und Leon?“

„Warum nicht? Und wer sind Sie?“

„Ihr Chef, Seibold.“

„Der Kommissar.“

Pause.

„Und Sie gehen an ihr Handy?“

„Ja, und?“

„Dann können Sie sie jetzt auch wecken.“

„Logisch ist das nicht.“

Freche Jugend. „Doch. Ich brauche sie. Sie sollte schon längst an ihrem Arbeitsplatz sein.“

„Na gut. Schneckchen, Schneckchen“, man hörte ein Rascheln, vermutlich der Bettdecke, und dann ein Grummeln. „Dein Chef will dich sprechen.“

Chef schien wohl nicht das Zauberwort für ein blitzschnelles Erwachen zu sein. Erst einmal hörte ich ein herzhaftes Gähnen, das gemächlich in ein gehauchtes Ja überging.

„LTM, alles o.k.? Wieso bist du nicht im Büro?“

„Habe ich doch Toni gesagt.“

„Nein, sie hat nur gesagt, dass du heute später kommst, aber keinen Grund genannt.“

„Der Grund ist, ich wollte ausschlafen. Aber das ging wohl schief.“

Ich holte tief Luft und wusste nicht, ob ich mich über so viel Unverfrorenheit freuen oder ärgern sollte. Freuen, hörte ich die Stimme in mir, die mich zu erziehen suchte.

„Also. Du bist wach. Dann komm bitte möglichst schnell ins Büro. Ich bin am Zusammenräumen und möchte dir noch einen Auftrag erläutern. Du weißt, dann bin ich weg. Im Urlaub.“

„Geht das nicht auch am Telefon?“

„Nein, es ist zu komplex. Bitte beeil dich.“

„Ohne Frühstück?“

„Ja, ohne. Toni besorgt dir ein paar Croissants aus der Cafeteria und einen Milchkaffee. O.k.?“

„Nein, bitte einen Latte.“

Ich beendete das Gespräch und seufzte. Ein liebenswertes Balg. Blitzgescheit, nie auf den Mund gefallen, jung, knusprig. Ich konnte ihr nichts übel nehmen, zumal ihre Leistungen außergewöhnlich gut waren.

Also sortierte ich weiter von links nach rechts, notierte Hinweise für Toni, heftete gelbe Zettel an Unterlagen. Der große Stapel auf der linken Seite schmolz wie Eis in der Sonne.

Ein Papierflieger flatterte sanft auf meinen Schreibtisch. Ich schreckte hoch, was mir sonst nicht passierte. Die Nerven. Mein Blick fiel auf LTM, die wieder in ihrer typischen Art grinste.

„Also, Cheffe.“

Ihr kryptischer Stil. Ich seufzte. Die Aufforderung lautete wohl: Na los, den Flieger auseinander falten. Geheimbotschaft lesen.

Ich folgte dem stummen Befehl. Toni stand schon erwartungsvoll hinter mir, weil sie mitlesen wollte. Mal wieder ein LTM-Limerick, in ihrer kaum lesbaren Handschrift dahin gekritzelt.

Cheffe jetzt eine Auszeit braucht,

da sein Kopf noch mächtig raucht.

Falsche Liebe und tote Verbrecher,

sind ein äußerst giftiger Becher.

Die Seele war völlig verstaucht.

Ihre liebevolle Ironie tat mir gut.

„Ja“, nickte ich ob der tiefsinnigen Botschaft.

„Prima“, freute sich Toni, „ich hole dir jetzt einen Cappuccino.“

„Nein, Toni“, rief ich. „Ich meinte den Limerick von LTM. Keinen Cappuccino“, fügte ich mit Nachdruck hinzu.

„Aber du solltest LTM Gesellschaft leisten“, insistierte Toni. „Sie knabbert ein Croissant und schlürft einen Latte. Da kannst du nicht einfach zusehen. Vor deinem Urlaub gönnst du dir noch etwas. Danach kannst du abgemagert zurückkommen. Keine Widerrede!“

Ich ergab mich in mein Schicksal und sah LTM fassungslos an. Die Verspätung. Schneckchen. Ich wollte es ausprobieren. „Schneckchen“, und schüttelte den Kopf. So hatte ich sie noch nie gesehen.

Sie grinste. „Süß, nicht?“

„Na ja, ich weiß nicht. Mit Schnecken verbinde ich etwas anderes.“

„Ich meine doch ihn.“

Da ich wohl noch immer etwas ungläubig schaute, setzte sie nach. „Außerdem kann ich manchmal ganz langsam sein. Das gefällt ihm.“

Ich glaube, ich wurde ein wenig rot. Jedenfalls fühlte ich eine Hitze in meinem Gesicht, als ob ich aus dem Schatten in die pralle Sommersonne wechselte. Schnell griff ich das Thema auf und erklärte LTM umständlich den Auftrag, den mir der Staatsanwalt erteilt hatte. Den alten Fall aufarbeiten. Die Kriterien nennend, die ich verstanden hatte.

LTM schwieg die ganze Zeit, machte sich wie üblich keine Notizen, biss herzhaft in das Croissant und ließ sich den Latte Macchiato schmecken. Erst als sie grinste, hörte ich auf.

„Was ist?“, fragte ich sie.

„Mensch Cheffe, der Fall ist doch völlig klar. Sie kennen meinen Papa wohl immer noch nicht, oder?“

Ich muss wohl erneut ziemlich verdutzt geschaut haben, denn aus dem Grinsen wurde ein beherztes Lachen.

„Jetzt hätte ich gern einen Schnappschuss von Ihnen gemacht“, erholte sich LTM von ihrem kurzen Lachanfall. „Goldig! Also, Cheffe, mein gestrenger Herr Papa möchte mit dieser Auswertung nichts anderes als seine Statistik-Libido befriedigen. Das ist Ihnen wohl nicht hinreichend klar geworden, oder?“

Statistik-Libido. Interessantes Wort. Ich dachte darüber nach. Sie könnte Recht haben. Ihr Vater war ein Fan von Zahlen, Daten, Fakten. Dann wäre die Ausarbeitung gar nicht so aufwändig.

LTM war das Gegenstück zu meinem Intimfeind, dem Herrn Staatsanwalt, der ihr Vater war. Der Apfel war sehr weit vom Stamm entfernt gefallen, ja schien in diesem Fall überhaupt nicht von dem Stamm des Vaters zu stammen. Sie war offensichtlich der Gegenentwurf zu ihm: frech, vorwitzig, unkonventionell, kreativ, lustig, intelligent. Interessanter Gedanke: Vielleicht war sie ja wirklich ein uneheliches Kind? Ich musste schmunzeln. Vielleicht hatte die Ehefrau dem Staatsanwalt die Hörner aufgesetzt, und er hatte es gar nicht gemerkt? Der Gedanke machte mir Spaß. Kleine Schadenfreude eines unterdrückten und gequälten Mannes.

„Stimmt. Ganz ehrlich, du weißt ja, bei deinem Vater bin ich immer blockiert. Ich komme mit ihm nicht klar.“

„Das kann ich nachempfinden, Cheffe“, tröstete sie mich. „Ich habe mein ganzes Leben lang den einen oder anderen Streit mit ihm ausgetragen und bin durch eine harte Schule gegangen. Es ist nicht leicht, seine Tochter zu sein.“

„Aber du bist so komplett anders, dass ich mich frage …“ Gerade noch rechtzeitig bremste ich mich. Wie so oft wollten sich die Worte über die Lippen drängen, wenn sie zuvor im Kopf schon einmal formuliert worden waren.

„Die Frage habe ich mir auch schon gestellt“, las LTM offensichtlich meine Gedanken erneut. „Und, Cheffe, ganz ehrlich, ich habe sogar meine Mama gefragt, ob ich nicht ein Kuckucksei bin. Aber sie hat standhaft geleugnet.“

„Na ja, wie nennt das heute die Genforschung? Genlotterie?“

„Ja, die Zwillingsforschung lehrt …“, wollte LTM zu einem ihrer größeren Vorträge ausholen, den ich dieses Mal aber rüde unterband.

„Nein, LTM, heute bitte nicht. Ich bin in beginnender Urlaubsstimmung und möchte jetzt los. Bei unserem nächsten Treffen dann bitte eine Vorlesung über die Zwillingsforschung. O.k.?“

Sie setzte ihren süßen Schmollmund auf. „Och Cheffe, ich genieße es immer so sehr, wenn Sie mir gespannt zuhören. Aber versprochen, beim nächsten Treffen. Sie halten Wort, ja?“

„Ja. Und jetzt gehe ich.“

„Lässt du uns eine Adresse da, wo wir dich erreichen können?“ Toni streckte ihre Nase in mein Büro.

„Nein, ihr schickt mir eine Email auf mein Handy. Ich lasse es an, aber stummgeschaltet.“

„Und, was werden Sie machen?“ LTM war nicht weniger neugierig.

„Geheimnis.“

„Nee“, LTM war naseweis wie immer. „Sie werden wieder irgendeinen Fall magisch anziehen und dann nicht mehr loswerden. Seibold, der Verbrecher-Magnet.“

Toni nickte. „Ja, Chef. LTM hat Recht. Lass einfach mal die Finger davon und erhole dich. Dann finden auch weniger Verbrechen statt.“

Die Kommentare und gut gemeinten Ratschläge der beiden im Ohr und noch über die unsinnige Logik Tonis nachdenkend, nahm ich sie in den Arm und drückte sie. Lange. Der Abschied fiel mir schwer. Ein Teil meiner Seele wollte weg. Ein anderer Teil verlangte nach Schutz, Geborgenheit und alt vertrauten Muttergefühlen. So hielt ich sie viel zu lange in meinen Armen. Sie ließ es geschehen.

LTM gab ich nur die Hand. Mit ihr war ich weniger vertraut. Außerdem war sie viel zu jung. Sie hätte meine Tochter sein können.

Aber sie überraschte mich wieder. Schnell drückte sie mir einen Kuss auf die Wange und grinste.

„Nicht so schüchtern, Cheffe.“

Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich nun wirklich rot wurde.

Ziegenbart

Nach dem Abschied im Büro brachte ich noch meine Wohnung in Ordnung, ehe der Aufbruch erfolgen sollte. Aufräumen vermittelt gute Gefühle. Gedankenleer saß ich dann am frühen Abend in meinem Polo und wollte aus Frankfurt hinaus. Richtung Osten. Spessart. Und danach immer geradeaus.

Der Verkehr war spärlich. Die Ampelphasen hingegen waren so blöd geschaltet, dass man mit dem Fahrrad schneller gewesen wäre, wenn man die Rotphasen nicht beachtet hätte. Wer kontrollierte eigentlich dieses System? Ich empfand diese willkürlichen Verzögerungen als Behinderung. War man in Frankfurt nicht in der Lage, den Verkehrsfluss besser zu steuern?

Grell blitzte es. Oh Schreck! Ganz in Gedanken war ich bei Gelbrot kurz vor Maintal-Dörnigheim in die Kreuzung gefahren und nach links in den Autobahnzubringer eingebogen. Der Polo war brav den anderen Autos gefolgt, konnte aber weder wissen noch sehen, dass hier ein Starenkasten installiert war. Blitz!

Wenn ich meine Beziehungen zu einem hochrangigen Kollegen in Hanau, Werner Ziegenbart, nicht spielen ließ, wäre mein Führerschein für einige Zeit weg. Bei Rot über die Ampel: Die Schmach im Polizeirevier! Nicht auszudenken. Aber er dürfte um diese Zeit nicht mehr im Büro sein. Ich tippte daher auf seine Mobilfunknummer.

„Ziegenbart?“, bellte er ins Telefon. Im Hintergrund waren sehr laute Geräusche zu hören. Es klang nach einem Restaurant. Erleichtert atmete ich auf. Glück im Unglück.

„Thomas hier. Wie geht es dir?“

„Wie soll es mir am späten Dienstagabend gehen? Noch drei Tage, bis endlich wieder Wochenende ist. Ungelöste Fälle auf dem Schreibtisch, ein pubertierender Sohn, der neulich erwischt wurde, wie er mit anderen die Fensterscheiben von Hanauer Geschäften eingeschmissen hat, einige Kollegen, die ich am liebsten auf den Mond schießen würde. Die bestellte Pizza kommt auch nicht …“

Offenbar hatte ich keinen guten Zeitpunkt für meinen Anruf erwischt und versuchte es mit etwas Ironie. „Also wie bei uns in Frankfurt.“

Er schwieg. War also wirklich nicht gut drauf.

„Werner, ich bin gerade in Maintal-Dörnigheim geblitzt worden, die Ampel vor der Autobahnzufahrt.“

„Ja, und?“

„Kollegialer Beistand.“

„Nein.“

Also wohl doch das reine Unglück. Pur. Es hätte nicht schlimmer kommen können. Sollte ich eine gemeinsame Leiche im Keller bemühen? Ich versuchte es einfach nur mit Hilflosigkeit. Es war nicht gespielt.

„Werner, bitte. Du weißt doch, was passiert, wenn dieses Vergehen ausgewertet und verfolgt wird.“ Ja, für mich klang es echt.

„Thomas, das ist grenzwertig. Du weißt“, griff er meine Formulierung auf, „dass wir dies unter dem Druck vieler Fälle, die leider an die Öffentlichkeit gelangt sind, nicht mehr dürfen. Erst neulich hatten wir eine interne Revision, und auch ich habe mir einen Verweis zugezogen.“

Ich schwieg und überlegte. „Werner, ja, ich weiß. Aber du weißt auch, was ich schon für dich getan habe.“ In meiner Verzweiflung zog ich also doch die Leichenkarte. Fühlte mich gar nicht wohl dabei. Was blieb mir aber übrig?

Nun war es an ihm, zu schweigen. Offensichtlich dachte er nach. Dann hörte man überlaut eine Stimme mit italienischem Akzent rufen: „Pizza Mafiosi!“

Vielleicht hatte ihn die Ansage inspiriert. Denn er sagte: „Wie sollen wir es deichseln?“

Nicht ungeschickt, mir den Ball zurückzuspielen.

„Was brauchst du, damit es funktioniert?“

„Ich profitiere von dem Gespräch mit dem Revisor. Als Ausnahmemöglichkeit nannte er, dass man im Zivilfahrzeug ein anderes Fahrzeug verfolgt. Hierzu müsstest du mir eine Notiz schicken.“

Seufzend sagte ich: „Gut. Also halten wir fest, dass ich dich gerade entsprechend telefonisch informiert habe und dir später eine Notiz schicke. Ich habe mein Smartphone dabei und kann dir nachher eine kurze Email schicken. Reicht dir das?“

„Ja. Und, Thomas. Wo warst du mit deinen Gedanken? Diesen Kasten kennt doch jeder und zu übersehen ist er auch nicht.“

„Stimmt. Ich war so auf die Verfolgung des Fahrzeugs konzentriert und musste dranbleiben, sonst hätte ich es verloren. Die Ampel war ja schon gelb.“

„Schlitzohr.“

„Danke. Ich fahre für drei Wochen in den Spessart. Mache Urlaub. Bin völlig ausgebrannt. Danach komme ich wieder. Dann trinken wir ein Bier.“

„Schönen Urlaub.“

Nach 30 Minuten runter von der Autobahn und rein nach Bad Orb. Nun passte ich besser auf. Tempo 40 am Ortseingang. Kurstadt. Es war zu erwarten, dass hier fest installierte Blitzer stehen würden. Ja. In der Tat. Die modernen hohen, schlanken und runden Säulen. Schlank. Schlank oder auch nicht. Ich jedenfalls nicht. Eher rund. Mein Übergewicht.

Jedes Gefühl, jede Unzufriedenheit, jede Qual wurde immer wieder aktualisiert. Wie gemein doch unsere Gehirnwindungen sind. Keine Information der äußeren Welt, die nicht irgendeinen Impuls in unserem Innenleben auslöste. Hatte nicht ein berühmter Psychologe dies einmal erklärt? Wir können unseren Schattenseiten nicht entkommen. Das Leben hält immer genau diejenigen Impulse für uns bereit, die wir bewältigen sollten. Tun wir es nicht, werden wir immer wieder in dieselben Fallen hineintappen, bis wir uns endlich dauerhaft davon befreit haben. Ja, Carl Gustav Jung.

Ich hatte Ruhe und konnte nachdenken. Wieso gab es immer wieder diese Impulse? Schneller, höher, weiter, kam es mir in den Sinn. Das olympische Prinzip war wohl ein Gesetz der Evolution. Wenn man stehenblieb, wurde man von der permanenten Entwicklung überrollt. Das galt folglich auch für die eigene Persönlichkeit. Man musste sich immer weiter entwickeln. Die Schwachpunkte wirkten dabei wie Bremsen. Also musste uns die Umwelt immer wieder daran erinnern, wo wir auf der Bremse standen.

Am Ortsausgang von Bad Orb in Richtung Jossgrund ging es in mittlerweile tiefer Dunkelheit den Berg hinauf, mitten durch einen dichten Wald. Ich grübelte noch immer über die unbeantwortbaren Fragen des Lebens nach, während der Polo vor sich hin schnurrte. Einfache Poloseele. Beneidenswert. LTM kam mir in den Sinn. Kein Wunder bei dieser Gedankenkette. Ihre spielerische Leichtigkeit. Ihre Unbefangenheit. War es ein Fehler gewesen, ihrer Deutung zu folgen und den Auftrag des Staatsanwalts als pure Statistik zu verstehen? Schon wieder meldeten sich Zweifel.

Pizza

Sie saßen an der Theke, wo man dem Koch beim Zubereiten der Pizzas zuschauen konnte. Mit extra viel Käse hatten sie ihm zugerufen. Wenig später holte er ihre Pizza Diavolo mit einem langen hölzernen Schieber aus dem Holzkohleofen. Auf dem Teig hatten sich Blasen gebildet und der Käse blubberte noch einige Sekunden vor sich hin, bevor er wie Lava erstarrte. Der Koch zerteilte sie mit dem Metallrad und schob sie auf einen Teller, den er ihnen reichte.

Leon griff als Erster zu. Er schob sich ein großes Stück in den Mund und kaute mit halboffenem Mund. „Ganz schön heiß“, pustete er die Luft und die wenigen Worte zwischen den Pizzateilen und seinen Zähnen hervor.

„Selber schuld“, grinste ihn LTM an, „wenn du so gierig bist.“

Mittlerweile hatte er seinen heißen Brocken mit etwas Cola gekühlt und konnte wieder normal kauen und reden. „Vorhin hat es dir doch auch gefallen“, spielte er auf ihre heißen Spiele im Bett an.

„Aber du kannst mich doch nicht mit einer Pizza vergleichen. Coitus Diavolo, die neueste Variante im sexual life von Leon.“

Breit grinste er. „Es war doch schließlich teuflisch gut, oder nicht?“

„Ja, nur wie immer viel zu schnell“, neckte sie ihn.

„Schneckchen, in jungen Jahren ist das so. Ich übe mich ja schon in der Kunst der Zurückhaltung.“

Statt einer Antwort drückte sie ihm schnell einen Kuss auf den Mund, bevor er sich den nächsten Bissen hineinschob.

„Sag mal, dieser Seibold, was ist der für ein Typ?“

„Der ist o.k. Ich mag ihn.“

„Am Telefon heute früh klang er nicht so prickelnd.“

„Doch, doch. Ein guter Typ. Intelligent. Scharfsinnig. Gutmütig.“

„Du kommst gut mit ihm klar?“

„Ja, nicht nur gut. Sogar sehr gut.“

„Wieso?“

„Seine ruhige Art gefällt mir. Er nimmt sich Zeit. Erklärt gut. Geht den Dingen auf den Grund. Und ich habe ihm meine Stelle zu verdanken.“

„Du und dankbar?“

LTM trat ihm unter dem Tisch gegen das Schienenbein und traf offensichtlich perfekt. Das spürte sie am Druck der Berührung und seinem kleinen Aufschrei.

„Nein, keine Dankbarkeit an sich. Ich habe im Kommissariat während meines Studiums ein Praktikum absolviert. Das hat viel Spaß gemacht. Besonders toll fand ich, dass er mir große Freiräume gelassen hat. Ich durfte einfach mein Ding machen. Er hat ein tolles Team. Auch Toni, seine Assistentin, ist eine ganz bemerkenswerte Persönlichkeit. Ich habe mich dort so wohl gefühlt, dass ich mir meine eigene Stelle als Profilerin gebacken habe.“

„Aha, also weniger Dankbarkeit, sondern dein üblicher Narzissmus.“

LTM trat wieder zu, traf aber ins Leere. Er grinste sie an, weil er sein Schienenbein rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte.

„Schuft!“

„Also stelle ich fest: Seibold, ein Top-Kommissar, toller Vorgesetzter und vor allem, wie pflegst du als Psychologin immer wieder zu dozieren: eine gereifte Persönlichkeit.“

LTM schwieg einen Moment.

Für Leon der Anlass, sofort dazwischen zu grätschen, weil er Verzögerungen bei ihr nicht gewohnt war.

„Oder doch nicht?“

LTM zuckte die Schultern. „Einerseits ja, andererseits nein.“

„Was fehlt ihm denn?“

„Er ist ein bisschen träge und hat ständig einen Winter-blues, auch im Sommer. Vielleicht die Midlife-Depression, vielleicht mein Papa.“

„Wieso dein Papa?“

„Ach, das habe ich noch nicht gebeichtet. So lange kennen wir uns schließlich nicht, dass du alles über mich wissen solltest. Und natürlich halte ich die dunklen Seiten meiner Persönlichkeit bewusst von dir fern.“

„Die dunklen Seiten? Ist dein Papa ein Verbrecher und hat Seibold ihn in den Knast gebracht?“

„Nein, eher umgekehrt.“

„Hä?“

„Mein Papa ist Staatsanwalt und die Beziehungen zur Kripo sind meistens etwas angespannt. Sie sind natürliche Fressfeinde.“

„Verstehe ich nicht.“

„Ja, du als Sportstudent interessierst dich eben für andere Leistungsbereiche“, sagte sie und berührte unter dem Tisch seinen Oberschenkel, gefährlich weit oben. Er zog die Augenbrauen hoch.

„Also. Kleine Nachhilfe in Sachen Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei. Das kann man ganz einfach auf den Punkt bringen. Staatsanwälte haben die Erlaubnis zum Meckern. Man könnte diese Behörde auch Meckerbehörde oder Anklagebehörde nennen.“

„Ach so. Also so, wie James Bond die Lizenz zum Töten hat, hat der Staatsanwalt die Lizenz zum Anklagen bzw. Meckern.“

„Yep.“ LTM widmete sich vorsichtig kauend ihrer Pizza.

„Das macht es für einen Kommissar, der die Lizenz zum Ermitteln hat, sicher nicht leicht.“

„Yep.“

„Und als Vater möchte man so einen Menschen auch nicht unbedingt haben. Vermutlich kommt er nie aus seiner Rolle heraus.“

„Kluger Junge. Deswegen liebe ich dich ja auch, nicht nur wegen deiner starken Muskeln.“

Leon hatte den Schalk im Nacken. „Nicht gerade der ideale Schwiegerpapa, oder?“

„War das jetzt ein versteckter erster Heiratsantrag oder wie soll ich das verstehen? Rückzugsgefechte, das sage ich dir gleich, scheiden aus!“

„Och Schneckchen, du bist mein Augenstern, meine Prinzessin, meine Giselle Bündchen, meine …“

„Du findest sie gut?“

„Ertappt, ja, sie ist cool. Aber verheiratet möchte ich mit ihr nicht sein.“

„Wieso nicht?“

„Ich mag’s lieber französisch als brasilianisch.“

„Wie geht denn brasilianisch?“

„Manche sagen so, andere sagen so.“

„Du weißt es also gar nicht. Oder?“

„Na, ich kann ja mal frei assoziieren, wie du es mir beigebracht hast. Brasilien. Zuckerhut. Zuckerschnute. Zuckerpüppchen. Karneval in Rio. Rum. Caipirinha.“

„Oh ja, sollen wir uns einen als Absacker gönnen? Die Cola hat mich munter gemacht. Eine Caipi wäre jetzt lecker.“

„Hat das dein Italiener hier?“

„Weiß ich nicht. Glaube eher nicht.“

„Also noch eine Runde durch die Bars?“

LTM schaute auf die Uhr. „Just midnight. Ganz schön spät. Aber morgen kann ich definitiv ausschlafen. Il Commissario ist nicht im Büro und wird nicht anrufen. Also können wir ruhig noch ein wenig weiterziehen.“

Die Pizza hatte nun die richtige Temperatur, und die beiden schaufelten die Stücke mit großem Appetit in sich hinein. Das Gespräch pausierte einen Moment. Im Restaurant ging es zu dieser späten Stunde noch immer hoch her. Es war fast Mitternacht, dennoch kamen weitere Gäste. Heiter. Beschwingt. Von Eindrücken des Abends berichtend.

„Uff.“ Leon war als Erster fertig. „Das tat jetzt richtig gut.“ Er streckte sich. „Leckere Pizza!“

„Sage ich doch, mein Geheimtipp.“

„Und jetzt, Schneckchen, die Caipi oder lieber wieder zurück ins Bettchen?“

„Du als Sportstudent kennst doch sicher den weisen Satz unseres Franz Beckenbauers. Wie pflegt er immer zu sagen?“

„Schau’n mer mal.“

„Richtig. 100 Punkte. Oder was hat Sepp Herberger hierzu beizutragen?“

Leon schaute mit groß geöffneten Augen. Darauf fiel ihm wohl keine Antwort ein.

„Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“

Jetzt grinste er. „Nicht schlecht. Siehst du, Fußballer sind eben weise Menschen.“

Hexenhäuschen

Schlagartig spürte ich bohrende Kopfschmerzen und ein Brennen in Hals und Nase. Ich fluchte. Das durfte nicht wahr sein! Ich hatte mich so auf meinen Urlaub gefreut und wollte nicht krank werden. Meine Laune gefror und mich fröstelte. Jetzt schnell eine Bleibe finden und dann ab ins Bett. Mein Blick fiel auf ein Schild. Pension. Ein sehr schmuckes Häuschen mit Blumenkästen vor den Fenstern. Auch wenn es weniger einladend ausgesehen und der Hexe aus Hänsel und Gretel gehört hätte, keinen Meter wäre ich weitergefahren.

Eine Klingel war nicht zu sehen. Stattdessen hing eine große Kuhglocke direkt neben der Haustür. Vorsichtig bewegte ich sie und störte mich an ihrem tiefen Lärm. Eine alte Frau öffnete die Tür und musterte mich. Ihre grünblauen Augen zogen sich ein wenig zusammen. Ich fühlte einen Röntgenblick, der mir in jede Pore drang. Ihr Gesicht war faltig, trotz ihrer Ernsthaftigkeit wirkte sie fröhlich, aufgeräumt und sortiert. Welch interessante Gefühlsregung, die ich spürte, und die mir völlig unbekannt war. Neugierde? Verwunderung? Was die Erschöpfung mit einem Menschen alles anstellen kann. Ich konnte mein Gefühl nicht einordnen.

So standen wir einige Sekunden schweigend da. Keiner wollte den ersten Zug machen. Durch die geöffnete Tür kroch eine schwarze Katze mit weißen Tupfern heraus, sich an den Beinen der alten Frau entlang windend, wie eine Schlange. Tonlos. Auf leisen Samtpfoten. Sie setzte sich neben die Tür auf ihre Hinterbeine und beobachtete mich. Ihre Brust war strahlend weiß. Leise konnte man einen schnurrenden Ton vernehmen.

Dann nickte sie. Die alte Frau. Hatte sie zuerst die Reaktion der Katze beobachten wollen?

„Kommen Sie, ich koche Ihnen einen Tee. Sie sind krank.“

Verdutzt folgte ich ihr ins Haus und nach links durch eine Tür in die gute Stube, wie ein Schild an der Tür auswies. Der Raum enthielt einen Bauerntisch mit einer rotweißkarierten Decke, geschnitzte Holzstühle und verschiedene kleine Schränke mit unzähligen Schubladen und Regale, auf denen kleine Gläschen standen. Ferner einen alten Herd, wie ich ihn nur von Fotos kannte. Hypermodern hingegen ein riesengroßer breiter Kühlschrank, auf dem zahlreiche Magnete zu einem eigenartigen Muster angeordnet waren und viele kleine Zettel an das Metall hefteten. Eine interessante Mischung aus alt und neu, miteinander verschmolzen.

Die Frau setzte einen Kessel Wasser auf und zündete einige Holzscheite an. Trotz meines Schnupfens konnte ich den Geruch von Harz, Holz und Schwefel riechen. Angenehm. Aber meine Blase drückte und störte meine Wahrnehmungen.

„Wo ist die Toilette?“ Nicht gerade höflich von mir.

„Draußen vor der Tür. Und dann nach links.“ Draußen vor der Tür. Eine dünne Erinnerung an meine Schulzeit kam mir in den Sinn. Doppeldeutig. Denn unser Klassenlehrer, der nicht Borchert hieß, bestrafte uns oft dadurch, dass wir das Klassenzimmer verlassen mussten und dann draußen vor der Tür standen. Vielleicht war er eine Wiedergeburt des bekannten Autors oder ein heimlicher Fan, der ihm und seinem berühmten Titel nacheiferte?

Als ich zurückkam, setzte ich mich erleichtert an den Tisch und streckte meine Beine aus. Während die alte Frau an den Schubläden herumhantierte und mir den Rücken zukehrte, führte sie unser einsilbiges Gespräch fort.

„Was machen Sie hier?“

„Wandern.“

Mit einem Blick voller Erstaunen schaute sie sich um.

„Wandern?“

Sicher, meine Kleidung passte gar nicht zu meinem Vorhaben, und ich machte nicht den Eindruck eines Wandersmanns. Also sollte ich ehrlich sein.

„Abnehmen. Vergessen.“

Sie nickte und drehte mir wieder den Rücken zu.

Schweigend bereitete sie etwas zu. Auch ich hatte keine Lust, zu reden.

Sie kam mit zwei Gefäßen und einem großen Tuch wieder.

„Da, trinken Sie. Möglichst heiß.“

Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihr zu gehorchen. Der Tee schmeckte bitter, aber angenehm.

„Was ist das?“

„Tee. Gegen Ihre Erkältung.“

Das heiße Gebräu lief in meinen Magen und brannte wie Whiskey. Der Schweiß auf meiner Haut veränderte sich. Er wurde warm und strömte immer schneller aus meinen Poren. Endlich hatte ich die Tasse leer getrunken.

Dann zog sie das große Gefäß heran.

„Beugen Sie sich mit Ihrem Kopf darüber. Sie inhalieren jetzt. Zehn Minuten.“

Ich war total erschöpft. Konnte ich ihr vertrauen? Eine innere Wahrnehmung meldete sich und flüsterte mir zu: Du bist krank. Deine Mutter. Vertraue. Du suchst doch Geborgenheit.

Willenlos ließ ich auch das mit mir geschehen. Ich hatte keine Energie mehr in mir. Irgendjemand legte ein Tuch über meinen Kopf. Meine Mutter?

„Nein, nicht mit dem Mund einatmen. Mit der Nase. Und mit dem Mund ausatmen.“ Die Stimme klang völlig anders. Das Tuch dämpfte alles. Wirklich alles. Mein Kopf fing an, sich auszuschalten.

Das heiße Wasser brannte in meinem Gesicht. Besonders nach dem Ausatmen, weil ich die Dämpfe aufwirbelte.

„40 Euro das Zimmer. Pro Nacht. Frühstück 10 Euro, Mittagessen 10 Euro, Abendessen 10 Euro. Also 30 Euro Vollpension. Alkoholische Getränke extra, wenn Sie darauf nicht verzichten können.“

Ich nickte unter dem Tuch, das sie mir in diesem Moment wegnahm. Definitiv nicht meine Mutter. Die Kälte erfrischte meine Züge.

„Kommen Sie.“

Leichtfüßig ging sie voraus, während ich dröhnend in meinen Wanderstiefeln folgte. Die Holztreppe knarrte unter meinem Gewicht.

Augenweide stand auf einem Holzschild über der Tür, die sie geöffnet hatte.

„Das ist Ihr Zimmer. Sie werden jetzt schlafen. Ziehen Sie sich aus.“

Kommissar Seibold, flüsterte mir eine innere Stimme zu. Tun Sie, wie Ihnen geheißen wird.

Ich gehorchte ihr, weil ich zu nichts anderem fähig war. Fast schon einschlafend ließ ich geschehen, dass sie mir beim Auskleiden half. Bis zur Unterwäsche. Dann regte sich doch noch die Scham, und ich stockte.

„Weiter.“

Nach kurzem Zögern obsiegte die Wiederholung der inneren Stimme. Lass es geschehen! Als ich ganz nackt war, wickelte sie mich in eine dicke Baumwolldecke und verschnürte mich zu einem versandfertigen Paket. Ab in die Hölle. So schien es mir. Ich war völlig fertig. Bereit zum Sterben. Als eine dicke wohlriechende Bettdecke über mich gelegt wurde, schöpfte ich wieder Hoffnung. Andere Gefühle stellten sich ein: Wolkig. Himmlisch duftend. Lavendel? Ich schnappte einige Male kurzatmig nach Luft und war binnen Sekunden eingeschlafen.

Toni Office

Zur selben Zeit in Frankfurt kam LTM ins Büro. Im Laufe des Nachmittags. Toni sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Na, heute bist du aber wirklich spät. Hattest du Außentermine, die ich nicht kannte?“

„Nein, Toni. Leon und ich sind gestern Abend versackt. Und da mich Seibold gestern früh viel zu früh aus dem Schlaf geholt hat, habe ich heute mal ausgepennt.“

„Deine Ehrlichkeit ehrt dich.“

LTM schwieg und grinste.

„LTM, ich bin nicht deine Mama, nicht dein Papa, nicht dein Chef. Gleichwohl solltest du aufpassen, dass du nicht überziehst.“

„Toni, Mensch, das war doch nur ein Spaß. Hier, schau!“

Sie zog ihr MacBook heraus, klappte es auf und klickte auf die Datei. Ein Dokument mit viel Text, Tabellen und Grafiken erschien. LTM scrollte mit schnellen Fingerbewegungen durch den Text. „Der Auftrag von Seibold. Von gestern. Fast schon fertig.“

„Wie hast du das denn angestellt?“

„Ich habe mich heute früh in unsere Datenbank eingeloggt und von zu Hause die Informationen recherchiert und aufbereitet, die mein Herr Papa als Ausarbeitung erwartet.“

„So schnell? Seibold glaubte, dafür über eine Woche zu brauchen.“

„Ja. Aber ich glaube, dass er meinen Vater nicht richtig verstanden hat. Wer tut das schon! Und mit dem Computer geht unser Chef auch nicht besonders geschickt um, um es vorsichtig zu sagen.“

„Toll“, lobte Toni. „Da wird sich Seibold aber freuen.“

LTM strahlte. Für ehrliches Lob war sie sehr empfänglich.

„LTM? Ein Tipp. Wir sind eine Behörde. Geniale Leistungen werden uns leider nicht abverlangt. Eher deutsche Gründlichkeit. Gewissenhaftigkeit. Ordnungsliebe. Pünktlichkeit.“

„Ich weiß, ich weiß. Aber das ist nervig.“

„Hör zu! Wir hatten hier mal eine tolle Frau, die wirklich Karriere gemacht hatte und auf dem Sprung nach ganz oben war. Warum auch immer, ich weiß es nicht, wurden Unregelmäßigkeiten bei ihren Reisekostenabrechnungen entdeckt. War sie nachlässig, war sie zu faul oder …“

„… hatte sie keine Toni, die auf sie aufpasste“, fiel ihr LTM blitzschnell ins Wort.

„Oder, oder, oder. Das Ergebnis jedenfalls: Ihre Karriere war damit erledigt. Sie musste ausscheiden.“

„Soll ich dir morgens eine SMS oder ein Mail schicken: bin im Home Office statt im Toni Office?“

Toni seufzte. Sie war ein hartnäckiger Fall. Wenn sie nicht wollte, dann wollte sie nicht. „Ja, im Grundsatz schon. Aber du brauchst dafür eine Genehmigung.“

„Wie! Richtig schriftlich?“

„Nein, aber das sollte mit Seibold abgestimmt sein. Und wir sollten immer wissen, wo du während der Dienstzeiten erreichbar bist.“

„Big sister is watching you.“

„Nein, LTM. Das hat mit mir nichts zu tun. Ich finde, dass du ein richtiges Talent bist. Das allein reicht aber nicht aus. Es gehören auch Zuverlässigkeit, Disziplin und Willenskraft dazu. Dann wird daraus eine Erfolgsgeschichte.“

„O.k. Du hast Recht. Ich werde mich zukünftig daran halten. Und als Buße hole ich dir jetzt einen Milchkaffee aus der Kantine. Einverstanden?“

„Gern, LTM. Bitte bring mir einen Obstsalat mit. Heute Abend gibt es bei uns zu Hause Pizza, die mir überhaupt nicht schmeckt. Da muss ich noch etwas vorsorgen.“

„Wie?“ Völlig entsetzt. „Du magst keine Pizza?“

„Doch, schon. Aber nicht die, auf die mein Sohn schwört. Tiefkühlkost, nachbelegt. Er liebt sie so heiß und innig, dass er die Reste am nächsten Morgen in der Mikrowelle aufwärmt und zum Frühstück ist.“

„Oh. Krass. Pizza zum Frühstück. Wie alt ist dein Sohn eigentlich?“

„Mein lieber Léon wird 12 Jahre alt.“

„Er heißt auch Leon?“

„Wieso auch?“

„Mein Freund heißt Leon.“

„Nein, er heißt Léon. Ganz bewusst habe ich mich für diesen Namen entschieden.“

„Stimmt, das ist wohl immer so.“ LTM grinste. „Pass auf.“ Sie schrieb dann folgenden Satz auf.

Das nicht gefüllte Staubecken

hat mehrere Staubecken.

„Lies vor.“

Toni: „Verstehe ich nicht. Das nicht gefüllte Staubecken hat mehrere Staubecken. Das ergibt keinen Sinn.“

„Doch“, grinste LTM. „Also, hör zu. Das nicht gefüllte Staubecken hat mehrere Staub-Ecken.“

„Witzig. Hast du noch mehr solcher Beispiele?“

„Ja. Was sind Gespen-Sterchen?“

Toni grübelte. „Gespen-Sterchen? Weiß ich nicht.“

„Gespensterchen.“

„Na ja. Das hinkt aber ganz schön.“

„Man muss sich das Leben so hinbiegen, dass es für einen bequem ist. Oder nicht?“

„Hinbiegen. Das Leben. Ist das deine Philosophie?“

„Na ja, anders ausgedrückt: Das Leben so sehen, dass mir gefällt, was ich sehe. Der Konstruktivismus, ein Gebiet der Kommunikationspsychologie, definiert das so: Jeder Mensch konstruiert sich seine Wirklichkeit. Es gibt keine absolute Realität. Jede Wahrnehmung ist subjektiv und wird quasi von jedem Menschen in jedem Moment erfunden, also konstruiert.“

„Ja, das entspricht auch meiner Erfahrung. Wir geben den Dingen unseren eigenen Sinn.“

„Ja, auch den Unsinn.“

Sie lachten.

Toni: „Gibt es jetzt Milchkaffee mit Obstsalat?“

„Auch wieder eine unsinnige Kombination: Obstmilch mit Kaffeesalat.“

„LTM, du bist albern.“

„Dein Bauch mischt es aber so. Oder lieber Obstkaffee und Milchsalat?“

„Verschwinde.“ Toni widmete sich dem PC, und LTM eilte aus dem Raum, hüpfend und springend, wie ein Kleinkind.

Wenig später kam sie zurück. „Hier, etwas ernsthafter. Also. Hör genau zu.“ Gleichzeitig balancierte sie zwei große Tassen mit Kaffee und eine Plastikdose mit Obstsalat. „Zehn Finger hab ich an jeder Hand, fünfundzwanzig an Händen und Füßen.“

Toni bekam einen Silberblick, als sie einen Schluck aus der Tasse nahm und gleichzeitig versuchte, das Rätsel zu lösen. Sie entschied sich, dem Kaffee mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

LTM zappelte ungeduldig. „Toni!“

„Also los. Bitte übersetzen, du Schlaubergerin.“

„Zehn Finger hab ich, an jeder Hand fünf, und zwanzig an Händen und Füßen.“

Toni murrte. „Das erste Mal hast du es ganz anders betont!“

„Och Toni, ein bisschen Spaß muss sein.“

Sie tranken schweigend ihren Kaffee. Aber LTM musste reden. „Noch einen Witz. Ja? Das Ehepaar lebte auf großem Fuße. Die einen sagten: Der Mann soll viel verdient und sich etwas zurückgelegt haben. Die anderen sagten: Die Frau soll sich etwas zurückgelegt und dabei viel verdient haben.“

Toni lachte. „Der ist gut. Lernt ihr solche Witze im Psychologiestudium?“

„Ja, aber meistens nicht von den Professoren.“

Sie lachten wieder.

„So“, bestimmte Toni, „unter Scherzen und Lachen ist es jetzt fast Feierabend geworden. Wir arbeiten noch ein wenig, ja?“

„Ja, ich mache den Bericht fertig und schicke ihm Cheffe zur Abstimmung per Mail.“

Dämmerung

Ein Sonnenstrahl weckte mich sanft. Durch das Fenster fiel er direkt auf mein linkes Lid. Dahinter schimmerte es rötlich. Störte mich. Also öffnete ich die Augen. Ich lag noch genauso da wie beim Einschlafen. Konnte das sein?

Langsam stieg ich aus dem Bett, nahm ein bereitgelegtes Handtuch vom Stuhl neben dem Bett und ging durch die Tür, die Dusche suchend. Der Gang führte zu weiteren drei Zimmern namens Regenbogen, Ohrenschmalz und Sonnenweiher. Ich entschied mich für den Regenbogen und hatte Glück oder die richtige Intuition: das Bad roch mir frisch entgegen. Eine Mischung aus verschiedenen Kräutern und das Versprechen von Sauberkeit zogen mich in den kleinen Raum hinein.

Der Regenbogen umhüllte mich, und ich ließ das Wasser so heiß wie möglich über meine Haut rinnen. Das kleine Bad war vom Wasserdampf erfüllt und versank im Nebel. Nach dem Duschen rubbelte ich mich trocken und strich mir die Feuchtigkeit aus den Augen.

Später unten. Die Frau hantierte auf dem Tisch zwischen Herd und Spüle herum.

„Setzen Sie sich“, sagte sie völlig unnötig. Ich hätte nichts anderes getan.

„Geht es Ihnen besser?“

Erstaunt registrierte ich, dass dies der Fall war. Ich hatte noch gar nicht darüber nachgedacht. Die Nase fühlte sich viel freier an und brannte nicht mehr. Aber irgendwie schien der Nebel im Bad direkt in mein Gehirn gezogen zu sein, weil ich noch immer keinen klaren Gedanken fassen konnte.

Also murmelte ich brav ein Ja. Dann, etwas lauter, weil sich regenerierende Kräfte in mir regten: „Wie heißen Sie eigentlich?“

„Bulling.“

Schweigend bereitete sie etwas zu. Offensichtlich, da es Abend wurde, mein Abendessen. 10 Euro. Ich war gespannt. Still musterte ich die gute Stube. Nun fiel mir auf, dass in der Ecke des Raums eine Voliere stand. Die Tür stand offen. Wo war das Tier? Langsam blickte ich mich um. Da! Auf einer Stange in der anderen Ecke des Zimmers. Ein schwarzer Rabe, mit weißer Brust. So ein Tier hatte ich noch nie gesehen.

„Was ist das für ein Tier? Ein Rabe?“

„Ja.“

„Raben sind doch pechschwarz.“

„Dieser nicht.“

„Kriege ich ein Bier?“

„Nein.“

Die Frage nach dem Warum konnte ich mir sparen, weil ich die Antwort zwar nicht kannte, aber vorhersah. Wer war diese alte Frau? Meine Neugierde wurde in dem Maße größer, wie meine Lebensenergie wuchs.

Sie hantierte weiter. Dann ganz unvermittelt. „Corvus albus.“

„Was?“

„Ein so genannter weißer Rabe. Der lateinische Fachbegriff lautet corvus albus.“

Aha. „Haben Sie den hier im Spessart gefangen?“

„Sie kennen sich bei Tieren wohl gar nicht aus.“

„Nein.“ Da hatte sie Recht.

„Corvus albus, auf Deutsch auch Schildrabe, lebt hauptsächlich in Afrika. Ich habe ihn von einer Reise mitgebracht.“

„Sieht eher wie eine Elster aus.“

„Pica pica.“

„Wie bitte?“

„Der lateinische Name der Elster.“

„Ach so.“

Ich schwieg angesichts der Belehrungen und wollte nicht noch ungebildeter erscheinen. Dann konnte ich aber meinen Mund nicht halten.

„Sie lieben wohl schwarz-weiß?“

Sie antwortete nicht. Also setzte ich nach. „Katze und Rabe sind Zwillinge, was das Gefieder bzw. Fell anbelangt.“

Sie ließ es unkommentiert. Ich schien einen Punkt gemacht zu haben.

Einige Minuten später brachte sie ein Holzbrett, auf dem dekorativ kleinere Snacks angerichtet waren.

Eine Augenweide, schoss es mir in den Sinn. Ich sprach es auch aus.

„Ja, Quark, Käse und Schmalz, jeweils mit verschiedenen Kräutern. Es wird brav gegessen, sonst gibt es etwas auf die Ohren.“ Ups. Welcher Tonfall. Sie hatte Haare auf den Zähnen.

„Schmalz und abnehmen?“

„Es ist ohne tierische Fette zubereitet und enthält wertvolle Mineralien, die Sie dringend brauchen.“

Vorsichtig biss ich in das Brot und zerkrümelte es in meinem Mund. Knäckebrot. Ein tolles Geschmackserlebnis breitete sich aus.

„Was ist das?“

„Ohrenschmalz nenne ich es. Haben Sie nicht zugehört?“

Ihr tadelnder Ton nervte mich, zumal sie es so überhaupt nicht gesagt hatte. Aber das Geschmackserlebnis betäubte meinen winzigen Widerstand.

Gierig biss ich hinein, kaute schnell und schluckte hinunter.

„Langsam. Sie kauen sorgfältig und schlucken erst dann, wenn alles in Ihrem Mund flüssig ist.“

Frau Bulling hatte mir auch ein Getränk hingestellt. In einem großen Steinkübel. Ich schaute hinein und schnupperte. Es roch tatsächlich nach Bier. Fragen oder gleich probieren?

Letzteres. Überrascht schaute ich auf. Es schmeckte nach Bier, war aber etwas anders.

„Was ist das?“

„Jetzt erzählen Sie mal. Wer sind Sie, und was tun Sie hier?“

Wandern. Abnehmen. Vergessen. Das wusste sie doch schon alles. Ich folgte meiner Neugier.

„Was war diese weiße Creme mit den bunten Tupfern?“

„Das war Ziegenkäse, selbst gemacht, mit einigen Kräutern, die bei Herzschmerzen und Schnupfenverstimmungen die Seele reinigen.“

„Und das leichte Brennen im Hals?“

„Chilis.“

Besonders redefreudig war sie nicht. Aber ich hatte mich erneut in ihr getäuscht.

„Also, Sie sind auf der Flucht. Sie wissen allerdings noch nicht, wohin. Ihr einziges Motto ist, weg. Das Wohin fehlt Ihnen noch völlig. Ein Kommissar ohne jegliche Orientierung. Ein hoffnungsloser Fall.“

Kürzer und prägnanter konnte man meine Verzweiflung nicht auf den Punkt bringen. Ich betrachtete sie neugierig. Woher nahm diese alte Frau ihr Wissen? Und ihre Menschenkenntnis?

Sie lächelte.

„Mit Zen-Techniken haben Sie sich noch nie befasst.“

Eine Antwort war nicht nötig.

„Es geht um das Loslassen des Falschen. Sie sind noch völlig in der Sackgasse und suchen das Falsche. Man muss Ihnen aber zu Gute halten, dass Sie zumindest den ersten Schritt tun.“

Ich verstand gar nichts. Sie wiederum verstand mich.

„Der erste Schritt ist bei Ihnen, das Falsche zu suchen. Dann spüren Sie, dass es kolossal schmerzt. Erst dann lassen Sie los. Gezwungenermaßen, weil die Schmerzen zu groß werden.“

Diese Theorie hörte sich irgendwie richtig an. Jedenfalls entsprach sie meinen Erfahrungen.

„Dieser Prozess könnte schneller und viel einfacher gehen.“

Wie? Diese unausgesprochene Frage stand dröhnend im Raum.

Plötzlich löste sich der Rabe von seiner Stange und segelte nach einem kurzen Flügelschlag auf ihren ausgestreckten Arm. Sie trug ihn zu seiner Voliere und kraulte ihn mit der freien Hand im Nacken. Die Katze kuschelte sich dabei an ihren Beinen entlang und folgte ihr. Der Rabe verschwand in seinem Käfig und empfing noch einen Leckerbissen. Die Katze wartete geduldig, bis die erste Zeremonie ihr Ende nahm. Die alte Frau füllte einen Napf mit einer Flüssigkeit. Die Katze schlabberte sie mit schnellen Zungenbewegungen auf.

Ich realisierte, dass hier eine klare und feste Ordnung herrschte. Die alte Dame führte ein hartes Regiment, kümmerte sich aber auch liebevoll um ihre Tiere, wenn sie parierten. Ich ahnte, was nun geschehen würde. Genau.

Die Frau drehte sich um und schaute mich mit ihrem grünblauen Röntgenblick an. „Ich gehe jetzt zu Bett. Sie dürfen Ihr besonderes Bier noch austrinken. Das Geschirr räumen Sie dort auf diesen Tisch. Dann gehen auch Sie schlafen. Morgen früh sind Sie gesund. Gute Nacht.“

Käuzchen

Plötzlich war ich hellwach. Reglos lag ich im Bett. Nichts war zu hören. Weniger als nichts. Absolut nichts. Ich fühlte eine Anspannung wachsen, die ich nicht erklären konnte. War ich vom unterschwelligen Lärm in Frankfurt so konditioniert, dass ich die Stille nicht ertrug?