Das Erbe der Macht - Band 8: Opfergang - Andreas Suchanek - E-Book

Das Erbe der Macht - Band 8: Opfergang E-Book

Andreas Suchanek

4,8

Beschreibung

Die Lichtkämpfer lecken ihre Wunden. Viel Zeit bleibt jedoch nicht. Leonardo befindet sich in Gefangenschaft, Marks Unterlagen bleiben verschwunden und die Jagd nach dem dritten Sigilsplitter geht weiter. Als sich Nostradamus mit einer wichtigen Information meldet, müssen die Lichtkämpfer reagieren, um Schlimmeres zu verhindern. Denn die Schattenkrieger sinnen auf Rache. Dies ist der 8. Roman der Reihe "Das Erbe der Macht". Das Erbe der Macht erscheint monatlich als E-Book und alle drei Monate als Hardcover-Sammelband.

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Table of Contents

»Opfergang«

Was bisher geschah

Prolog

1. Frühstück im Bett

2. Milch und Honig

3. Kriegsrat

4. Der Auftrag

5. Noch mehr Prophezeiungen

6. Der zerbrochene Stab

7. Eine Diva in ihrer natürlichen Umgebung

8. Der geheime Zugang

9. Baguette und Eclairs

10. Kreatives Chaos

11. Die fehlenden Kinder

12. Fünf Mönche, drei Magier und ein Nimag

13. Stufen ins Gestern

14. Heimvorteil

15. Hier riecht es verbrannt

16. In tiefsten Tiefen

17. Du Banause

18. Was ist hier passiert?

19. Ich plädiere auf Verjährung

20. Ein toter Mönch auf Französisch

21. Mon Dieu

22. Das Kleingedruckte

23. Sightseeing mal auf andere Art

24. Offenbarungen

25. Die Geister, die ich rief

26. Gottheiten, flambiert

27. Darauf hast du doch die ganze Zeit gewartet

28. Die gnadenlose Klinge

29. Silberknochen

30. Sushi?

31. Ich wandle im Schatten

32. Die Waffe

Vorschau

Seriennews

Glossar

Impressum

Das Erbe der Macht

Band 8

»Opfergang«

von Andreas Suchanek

 

Was bisher geschah

 

Der Schleier fällt …

… und Chaos regiert.

Nach Monaten des Kampfes ist es Jen, Alex und Nikki gelungen, die Identität der mysteriösen Schattenfrau aufzudecken. Doch der Triumph wandelt sich in pures Entsetzen. Der dunkle Unsterbliche Crowley hat durch eine wahnsinnige Tat im Refugium des ersten Stabmachers ein Zeitportal erschaffen, das eine der Lichtkämpferinnen in die Vergangenheit schleudert. Sie durchlebt die Jahrhunderte und wächst zu einer Feindin heran. Ihre Geschichte ist ein Mysterium, ihr Leben geprägt von Leid, ihr Hass kennt keine Grenzen.

Zur gleichen Zeit decken Chris und Kevin zusammen mit Chloe ein Familiengeheimnis auf. Es stellt sich heraus, dass ihre Mutter einst keine Kinder bekommen konnte und mit Hilfe eines magischen Trankes das Problem behob. Drillinge entstanden. Zwei wurden geboren – Chris und Kevin –, das dritte Kind starb, nur sein Sigil überlebte. Ein Sigil mit besonderen Eigenschaften, das seinen Weg über Mark zu Alex fand. Auch hier scheint die Schattenfrau involviert zu sein. Doch was ist ihr Plan?

Im Castillo können Johanna, Edison und Einstein das Siegel brechen, welches das Archiv umschließt. Ein verwobener Zauber wird aktiv. Die Räume des Castillos verschmelzen mit jenen im Refugium der Schatten. Die feindlichen Krieger fallen ein.

Der Kampf ums Überleben beginnt. Die Lichtkämpfer können ihn nur knapp für sich entscheiden. Dank einer Idee von Max werden die Hexenholzkrieger des Trainingsraums eingesetzt und die Schattenkrieger zurückgetrieben. Dabei gerät Leonardo in Gefangenschaft. Sein Schicksal bleibt ungewiss.

Alex kann unterdessen von den Verletzungen geheilt werden, die die Schattenfrau ihm zufügte. Diese offenbart Jen Gedanken und Erinnerungen aus ihrem Leben. So erfährt Jen, wie ihre beste Freundin zur legendären Feindin wurde.

In den Erinnerungen seiner Mutter findet Chris ein Gedankenfragment von Mark, das ihn auf einen Schlüssel und eine Box hinweist. Darin könnten die Freunde Antworten auf die Frage zum wilden Sigil finden – und zu dem Preis, den die Zwillinge werden zahlen müssen. Doch dieser Schlüssel hat Jen nie erreicht. Was damit geschah, bleibt ungeklärt.

Die Schattenfrau zerbricht Jens Essenzstab und lässt sie gehen. Die Ereignisse haben Jen tief erschüttert. Sie zieht sich zurück und streift allein durch London. Um die Welt der Magie zu vergessen, lässt sie sich auf einen Flirt mit einem Nimag ein. Beide verbringen unbeschwerte Stunden.

Prolog

 

Der Mond stand am Himmel.

Nur wenige Schritte entfernt brandeten die Wellen an das Ufer. Wasser glitt über den Sand, trug Kieselsteine heran und zog sich wieder zurück. So veränderte sich das Muster aus Sandkörnern und Steinen mit jedem Schwappen der Wellen. Ein ständiges Werden und Vergehen, Chaos und Ordnung.

Michel saß im Schneidersitz unter dem Sternenhimmel. Der Wind trieb den salzigen Geruch der See an seine Nase. Freiheit. Die Sterne spiegelten sich im Wasser. Ein überirdischer Glanz lag in der Schwärze.

Die Welt hatte ihn einst unter dem Namen Nostradamus gekannt, doch das war lange vorbei. Heute verteilte er Essenzstäbe und recherchierte alte Prophezeiungen. Manche davon waren eingetreten, andere würden es erst noch tun. Das größte Mysterium mochte der Foliant darstellen, den der letzte Seher über die Generationen hinweg an Jennifer Danvers vererbt hatte. Doch darüber hinaus gab es weitere prophetische Schriften.

Manche waren blanker Unsinn, andere von essenzieller Bedeutung.

Vor wenigen Tagen hatte sich der Wert zahlreicher Voraussagen jedoch verändert. Die Identität der Schattenfrau war enthüllt worden. Clara Ashwell war durch ein Portal in die Vergangenheit geschleudert worden, wo sie mit dem Sigilsplitter und dem Contego Maxima die Zeiten überdauerte. Sie wurde zur Schattenfrau.

Besonders ein Detail war für Michel von großer Bedeutung. Im Verlauf ihrer Reise durch die Jahrhunderte war Clara Ashwell zur Lichtkämpferin geworden, um sich an Joshua heranzuspielen. Auf diese Art hatte sie ihre gierigen Klauen in einige der Weissagungen geschlagen. Nachdem eine Vision Michel auf das Böse in ihrer Mitte aufmerksam gemacht hatte, war es zu einem Kampf gekommen.

Sie war geflohen.

Diesen ersten Kampf hatte er gewonnen. Leider hatte man in Joshuas Erinnerungen kein Bild mehr vom Antlitz der Frau entdeckt. Niemand, nicht einmal das Team, das oft mit ihr zusammengearbeitet hatte, entsann sich noch ihres Aussehens. Eine perfekte Erinnerungslöschung.

Nachdem Jen ihn über die Ereignisse in Iria Kon aufgeklärt hatte, hatte Michel begriffen, wer seine Gegnerin gewesen war. Seitdem durchwühlte er ihre Hinterlassenschaften. Bei der Flucht vor Jahrhunderten waren Aufzeichnungen zurückgeblieben, die sie angefertigt hatte.

Er ging jede Wette ein, dass sie Joshua gezielt an Visionen herangeführt hatte, um mehr über die Zukunft zu erfahren. Insbesondere über den dritten noch fehlenden Sigilsplitter.

Eine weitere Welle schwappte auf den Strand, trug das Wasser fast bis zu ihm heran.

»Heute werde ich keine Ruhe finden.«

Er kam in einer gleitenden Bewegung in die Höhe. Über eine Holztreppe, die den Strand mit seinem Refugium verband, kehrte er zurück. Die Unterlagen warteten so auf ihn, wie er sie zurückgelassen hatte.

Michel vertiefte sich erneut in die Studien, trennte Nutzloses von wichtigen Niederschriften. Die Zeit verging. Schließlich wurde er fündig.

1. Frühstück im Bett

 

Kaffee.

Der Gedanke trieb die Leichtigkeit des Traumes davon. Jen blinzelte. Sie lag zwischen zerwühlten Laken. Sonnenlicht fiel durch das kreisrunde Fenster in den Raum. Auf der Außenseite des Gebäudes war eine gewaltige Uhr angebracht. Die Zeiger erschufen Schattenlinien auf Boden und Wand.

Das Loft befand sich in einer der noblen Londoner Wohngegenden, wo Banker, Ärzte und Anwälte residierten.

»Damit funktioniert es immer«, erklang eine tiefe Stimme von der abgetrennten Küchenzeile her.

»Hm?«

»Kaffee. Andernfalls würdest du den ganzen Tag verschlafen, gib es zu.«

Sie grinste. »Möglich.« Die Leichtigkeit in ihrem Inneren wurde durch einen Stich vertrieben, der ihr erneut klarmachte, wie und warum sie überhaupt hierhergekommen war.

»Du schaust wieder so.«

»Woher weißt du, wie ich gerade schaue?«

Besteck klirrte. »Ich habe Kaffee erwähnt, also hast du gelächelt. Und wenn du das tust, wirkst du kurz darauf immer traurig.«

Jen schwieg.

All das kam ihr immer noch unwirklich vor. Clara war die Schattenfrau. Oder genauer: Ihre beste Freundin war tot. Sie war ersetzt worden durch ein mordlüsternes Ding, das die absolute Macht und Kontrolle über die magische Welt an sich reißen wollte. Das Mittel zum Zweck war der Wall, der zerstört werden sollte.

Um den Schock zu verdauen, hatte Jen sich eine Auszeit genommen. In London hatte Dylan vor ihr gestanden. Ein Nimag. Obendrein Arzt und unverschämt gutaussehend.

Ohne das Für und Wider abzuwägen, hatte Jen sich einfach fallen lassen. Seit vier Tagen schliefen sie lange aus, frühstückten im Bett, streiften durch die Stadt und hatten wilden Sex. Letzteren überall in der Wohnung.

Etwas kratzte.

Er bestrich Toast mit Butter.

Das Tapsen nackter Füße auf Parkettboden erklang. Dylan kam zurück zum Bett. Er trug nichts außer einer Shorts. Seine Brust war breit, feine Härchen sprossen darauf. Das dunkle Haar stand durcheinander ab, der Dreitagebart konnte demnächst eine Rasur vertragen.

Er begrüßte sie mit einem Kuss. »Guten Mittag.«

»Ist es doch noch gar nicht.«

»Stimmt, aber fast.«

Dylan stellte das Tablett ab und sie begannen zu essen. Jen hob die Kaffeetasse in die Höhe und ließ das Aroma der frisch aufgebrühten Bohnen in ihre Nase steigen.

»Herrlich.«

»Du Junkie.« Dylan nippte an seinem Tee. Er war Engländer, durch und durch. Auf seinem Teller lagen Würstchen und Rührei.

»Wie hältst du nur deine Figur?«

Er zuckte mit den Schultern. »Gute Gene. Training. Keine Ahnung.«

Männer. »Der Urlaub ist also vorbei?«

»Jap. Ich hatte sowieso Glück, dass ich nicht auf Bereitschaft sein musste. Normalerweise geht immer etwas schief, wenn ich versuche, ein paar Tage freizunehmen. Aber dieses Mal hat es geklappt.« Lachfalten bildeten sich um seine blauen Augen.

»Du wirst also wieder Leben im Operationssaal retten?«

»Als Chirurg sollte ich genau das tun. Wann fliegst du denn zurück nach Los Angeles?«

Jen spürte einen Hauch schlechten Gewissens. Ihm gegenüber hatte sie sich als Galeristin ausgegeben, die ein kleines, aber feines Studio in den Staaten betrieb. Sie konnte einem Nimag kaum verraten, dass sie Magierin war, in einem Castillo in Spanien lebte und beruflich Schattenkrieger bekämpfte. »Ich habe noch ein paar Geschäftstermine in der Stadt.«

Schweigen breitete sich aus, nur unterbrochen vom Sekundenzeiger der kleinen Retro-Uhr, die an einer der Wände hing.

»Bist du öfter hier in London?« Die Frage kam so unschuldig, dass Jen breit grinsen musste.

»Was? Ist doch nur eine Frage.« Dylans Wangen färbten sich rot.

Das ist echt süß. Wieso kannst du nicht auch ein Magier sein? Mit Nimgas ist das so kompliziert.

Nur in Ausnahmefällen wurde eine Genehmigung erteilt, ein Permit, durch das ein Nichtmagier die Wahrheit über den Wall erfahren durfte. Ausgestattet mit einer solchen Freigabe, vermochte er oder sie auch Magie zu sehen. Bis dahin war es eine sehr lügenbehaftete Sache, einen Nimag zu daten.

»Könnte sein, dass ich öfter mal hier in der Gegend unterwegs bin«, beantwortete Jen die Frage.

»Das klingt doch ausgezeichnet.« Er nahm das Tablett und stellte es beiseite. »Wir ergänzen uns nämlich perfekt.« Er war über ihr, bedeckte ihren Hals mit Küssen.

»Ich verstehe, was du meinst.«

»Das hatte ich gehofft.«

Seine Muskeln spannten sich an, die Küsse wurden feuriger. Jen ließ ihre Finger sein Rückgrat hinabwandern, griff nach Dylans Hüfte.

»Du leistest ganz ausgezeichnete Überzeugungsarbeit«, brachte sie noch heraus.

Die folgende Stunde versank in Küssen, Berührungen und Vergessen. Pure Leidenschaft, die den letzten Rest logischen Denkens fortspülte. Jen genoss jede einzelne Sekunde.

Als sie danach nebeneinander auf dem Bett lagen, fragte sie sich, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, hätte das Sigil sie nie erwählt.

Ein Leben als Nimag.

Hätte mich das glücklich gemacht?

Jen hatte Dylan erzählt, dass sie kürzlich eine Freundin bei einem Unfall verloren hatte. Näher konnte sie nicht an die Wahrheit herangehen. Auch auf ihre Familie war die Sprache gekommen. Sie hatte berichtet, dass ihre Eltern und ihre Schwester bei einem Hauseinsturz umgekommen waren – was auch stimmte. Dass sie diesen ausgelöst hatte, war der schwierige Teil.

Lügen und Halbwahrheiten. Sie hasste es.

Andererseits war sie Dylan gegenüber zu nichts verpflichtet. Das Ganze hier war eine unbeschwerte Sache. Zugegeben, eine, die bereits einige Tage anhielt. Aber genau das machte den Reiz aus. Sie lebten in dieser Blase aus Leidenschaft und Verlangen, Vergessen und neuem Kennenlernen.

»Ich muss demnächst los«, verkündete Dylan.

Er verschwand im Bad, duschte und kam in Jeans und Pullover wieder heraus. »Du kannst gerne noch ein wenig hierbleiben, wenn du magst.«

»Ich glaube, für mich wird es auch Zeit. Ein paar Mitarbeiter werden schon sehnsüchtig auf meinen Anruf warten.«

Sie verabschiedeten sich mit einem Kuss.

Dylan ging, während Jen noch das Bad benutzte. Bei dem Gedanken, ins Castillo zurückzukehren, kam die Schwermut wieder auf. Wie es den anderen wohl erging?

Die Jungs ließen sich ja nie etwas anmerken und Chloe eigentlich auch nicht. Trotzdem waren sie erschüttert gewesen. Jen hatte die zahlreichen kleinen Hinweise erkannt. In den vergangenen Tagen hatte sie absichtlich keinen Kontakt hergestellt. Nur auf Alex’ kurze Anfrage, ob es ihr gut gehe, hatte sie ihm erklärt, dass sie eine Auszeit benötigte.

»Das war’s dann wohl mit der Blase«, murmelte sie.

Jen verließ das Loft und hielt Minuten später auf das sichere Haus mit dem Sprungportal zu.

Das wirkliche Leben wartete.

2. Milch und Honig

 

Grummelnd streifte Alex durch das Castillo.

In letzter Zeit stritt er sich nur noch mit seinem Bruder. Alfie war ständig sauer, legte sich in seiner Wut mit jedem an. Vor allem ihre Mum bekam es immer wieder ab.

»Blöde Pubertät«, murrte er.

»So schlimm ist die gar nicht«, erklang eine samtene Stimme.

Alex’ Blick fuhr in die Höhe. Kleopatra stand vor ihm. Sie trug enge Jeans, glänzende Boots und einen Rollkragenpullover. Dunkles Haar fiel ihr seidig bis zur Hüfte. Am linken Handgelenk – der Ärmel war zurückgeschoben – schimmerte ein goldener Armreif. Der Hauch eines Parfüms umwehte sie.

»Was?«

»Die Pubertät. Meine dauert nun schon ein paar Jahrtausende, aber es hat etwas für sich.« Sie zwinkerte ihm zu.

Die Unsterbliche trug das Äußere einer Teenagerin.

Alex nickte nur. Seine Wangen glühten, überhaupt war ihm ziemlich heiß.

Kleopatra hielt einen Beutel Milch in der Hand, den sie nun hochhob. »Zum Baden. Biomilch ist besser für die Haut.« Sie grinste. Auf seinen verwirrten Blick hin ergänzte sie: »Ein Scherz.«

»Ahhh. Haha. Dabei steht dir Milch echt gut.«

Ihre Augenbraue wanderte in die Höhe.

Was habe ich gerade gesagt? »Äh, ich meine … also – toller Pullover. Viel besser als die Milch.«

Die Unsterbliche atmete tief ein, schenkte ihm einen letzten Blick und ging ohne ein Wort davon.

»Das war doch ein Kompliment!« Alex sah ihr mit feuerroten Wangen hinterher. Er ging zur Wand und schlug seinen Kopf dagegen. »Die Milch steht dir gut. Habe ich das wirklich gesagt?!«

Irgendwie litt sein Sprachzentrum in Kleopatras Gegenwart. Ziemlich massiv sogar. Das konnte nicht so weitergehen. Als Nächstes vergaß er noch seinen Namen.

»Gut, dass sie keine Vorlesungen abhält, das wäre so megapeinlich.«

Seufzend stieg Alex hinauf ins Turmzimmer. Das Castillo wirkte leer. Zwar hatte es erst vor einigen Monaten durch die Beseitigung eines Artefaktes im Verlorenen Castillo zahlreiche Neuerweckte gegeben, doch die befanden sich nun alle im Bernsteinzimmer. Jenem, das Edison und Einstein erschaffen hatten, um die in Bernstein Eingelagerten zu beschützen. Bedauerlicherweise würden sie dort auch bleiben, da der Zauber nur von jenen aufgehoben werden konnte, die ihn gewirkt hatten. Einer davon war Leonardo da Vinci. Und der befand sich in Gefangenschaft der Schattenkrieger.

»›Dumm gelaufen‹ trifft es nicht einmal ansatzweise«, murmelte Alex.

Er konnte sich denken, wo die anderen waren. Seit Claras Enttarnung lag über dem Turmzimmer ein Schatten. Sie mussten sich nur hinsetzen, um eine Strategie zu besprechen, und jede gute Laune verflog. Die Ereignisse waren noch zu präsent.

Alex hatte jede Nacht Albträume. Schweißgebadet fuhr er aus dem Schlaf hoch. Es war ein sich ständig wiederholender Traum, an den er sich nach dem Erwachen nicht mehr erinnern konnte. Präsent blieb nur, dass darin Blut floss und er starb. Nicht unbedingt die besten Voraussetzungen, um sich zu entspannen.

Alex verließ das Turmzimmer.

Auf den Gängen kamen ihm vereinzelt Ordnungsmagier entgegen, die eifrig miteinander diskutierten. Die Verletzten waren alle geheilt, der Krankenflügel war leer. Da sie völlig unterbesetzt waren, konnten sie nicht so zahlreich in den Einsatz gehen wie bisher. Glücklicherweise sah es bei den Schattenkriegern kaum anders aus.

Max’ Angriff hatte die Reihen ihrer Feinde gelichtet. Das verschaffte den Lichtkämpfern eine kleine Atempause. Und die benötigten sie auch dringend. Zu viele offene Fragen warteten auf Antworten.

Alex erreichte das Erdgeschoss und steuerte die Küche an. Schon von Weitem hörte er die Stimmen.

Tilda stand hinter dem Herd und brutzelte etwas in der Pfanne. Kevin saß auf der Kante der Arbeitsfläche, Chris auf einem Stuhl und Chloe lehnte mit verschränkten Armen an der Wand. Lediglich Jen fehlte.

Er wurde mit einem fröhlichen »Hallo« und Umarmungen begrüßt.

Die Stimmung hier in der Küche war eine völlig andere. Durch die offene Tür zum Kräutergarten fiel Sonnenschein herein, Vogelgezwitscher erklang. Essensdämpfe stiegen über der Pfanne und diversen Töpfen in die Höhe und verbreiteten einen angenehmen Duft.

»Da bekommt man direkt Hunger«, sagte Alex.

Tilda deutete in Richtung Kühlschrank. »Das dachte ich mir schon. Dein Sandwich liegt da drin.«

Freudig holte er es hervor und biss hinein. »Fantastisch. Es gibt niemanden, der bessere Sandwiches macht als du, Tilda.«

»Du bist ein Scheimer.«

»Ähm.« Chloe sah zu Tilda hinüber. »Du meinst Schleimer, oder?«

»Ja, genau, meinte ich doch. Ich finde das alte Wort ›Charmeur‹ zwar viel netter, aber ich passe mich an.«

»Na ja«, sagte Alex mampfend. »Das bedeutet nicht genau dasselbe.«

Tilda kniff die Augen zusammen. Den Pfannenwender bedrohlich erhoben, fragte sie: »Nicht?«

»Nein. Warum?«

»Ach, Einstein war so nett, mir bei der Reparatur einiger zerstörter Gerätschaften zu helfen. Wir mussten auch die Vorräte erneuern und frische Kräuter einpflanzen. Am Ende hat er mir ein Kompliment gemacht.«

»Ich ahne Böses.« Alex vertilgte den letzten Rest des Sandwiches.

»Also habe ich ihn einen alten Schleimer genannt.«

Chloes Gesicht wurde bei dem Versuch, das Lachen zu unterdrücken, knallrot. Chris und Kevin prusteten gleichzeitig los. Alex beschränkte sich auf ein leichtes Kichern. Ein Fettnapf pro Tag war genug.

»Das ist nicht lustig!«, rief Tilda. »Einer von euch erklärt mir jetzt den Unterschied.«

Chloe übernahm es.

Danach wirkte die Köchin des Castillos missmutig. Wütend wendete sie das Fleisch in der Pfanne. »Ich habe ihn beleidigt. Das muss ich wiedergutmachen.«

Alex nahm sich ein zweites Sandwich aus dem Kühlschrank, das Tilda wohl ebenfalls für ihn bereitgelegt hatte.

»Kaffee?«, fragte Chris. Er stand neben der Maschine.

»Nur her damit«, erwiderte Alex.

Der Freund schob ihm die Tasse zu. »Milch ist, glaube ich, noch im Kühlschrank.«

»Vergiss es.« Etwas leiser fügte er hinzu: »Ich hasse Milch.«

Vor der Küche erklangen Schritte.

Jen betrat den Raum.

3. Kriegsrat

 

Sie leuchtete von innen heraus. Ihr Haar wehte leicht im hereinziehenden Wind.

»Wieso sitzt ihr nicht im Turmzimmer?«

Alex betrachtete sie eingehend. Etwas hatte sich verändert. Jen wirkte gelöst. Sie verströmte eine Art von Leichtigkeit. »Die Küche ist gemütlicher.«

Tilda widmete sich mittlerweile wieder dem Fleisch in der Pfanne. »Das sagt er nur, weil er hier ständig etwas zu essen bekommt.«

»Und, ist das etwas Schlechtes?«, fragte Alex.

Chloe kicherte. »Irgendwer muss die Vorräte ja aufbrauchen.«

»Wo warst du so lange?« Kevin reichte Jen einen frischen Kaffee.

»Oh, danke. Koffein kann ich immer gebrauchen.« Sie nahm einen Schluck. »Ich habe eine Auszeit gebraucht. Nach allem, was war. Keine Magie, keine Schattenkrieger, keine Probleme.«

Alex nickte. Er verstand ihr Bedürfnis nach Normalität. Anfangs hatte er es ähnlich gehalten. Nun ja, es zumindest versucht. Doch nach einem Tag zu Hause wollte er unbedingt ins Castillo zurück, um etwas zu tun. Andernfalls hätten Alfie und er sich vermutlich geprügelt.

Möglicherweise sollte ich hier einziehen.

Jeder Lichtkämpfer hatte das Anrecht auf ein Zimmer. Manche nahmen es an, andere kehrten allabendlich zurück in ihr ursprüngliches Heim.

Am zweiten Tag nach dem Angriff war Alex also wieder ins Castillo gekommen. Die Nähe von Chloe, Chris, Kevin und Max tat ihm gut. Sie lieferten sich Schlachten im Übungsraum, trieben Johanna mit Schabernack zur Weißglut und die anderen zeigten ihm die Ländereien ringsum.

Einstein, Edison und Johanna hielten sogar weiterhin Vorlesungen, wenn auch mit stark begrenztem Publikum. Frau Franke führte eisern ihren Unterricht in Pflanzenmagie fort. Eliot Sarin präsentierte ihnen Recht und Gesetz in der magischen Welt. Einzig Ingenieursmagie fiel vollständig aus. Ohne Leonardo hatte dieser Magiezweig keine Fürsprecher.

Mittlerweile hatte Alex den Feuerblut-Splitter an Johanna zurückgegeben. Auf der einen Seite fühlte er sich zu dem magischen Artefakt auf seltsame Art hingezogen, auf der anderen wollte er so viel Macht gar nicht besitzen. Niemand sollte das tun.

»Irgendwelche Neuigkeiten?«, fragte Jen.

»Ich habe mitbekommen, wie sich Eliot mit Johanna unterhalten hat«, sagte Chris. »Heute Morgen erst. Es laufen wohl Verhandlungen mit den Schattenkriegern.«

»Leonardo?«, fragte Chloe.

»Genau. Sie wollen ihn austauschen. Leider haben wir gerade keine Gefangenen und einen Unsterblichen rücken die nicht so schnell wieder raus.«

»Ich hätte gedacht, dass sie ihn sofort töten«, warf Alex ein.

»Einen normalen Lichtkämpfer, ja«, erklärte Jen, »aber Leonardo ist etwas Besonderes. Er kennt alle Geheimnisse, hat über die Jahrhunderte ein immenses Wissen angehäuft. Sie werden ihn vermutlich erst ›befragen‹.«

»Wieso dann die Verhandlungen?«

»Sie versuchen, den Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Möglicherweise bringen die Verhandlungen einen Hinweis«, erklärte Jen. »Allerdings glaube ich es nicht. Das Refugium der Schatten wurde noch nicht gefunden, wir wissen nichts darüber.«

»Sie haben hässliche Toiletten.« Tilda deutete auf die Speisekammer. »Die waren da drinnen.«

Mittlerweile war der Kampf, den sich die Köchin mit zwei Schattenkriegern hier in der Küche geliefert hatte, legendär. Ihre Bratpfanne nahm dabei eine prominente Rolle ein. Alex erinnerte sich noch gut an das erste Zusammentreffen mit der dicklichen Köchin, bei dem er einen Schlag mit dem Küchenutensil abbekommen hatte. So etwas hinterließ Eindruck.

»Damit können wir für Leonardo einstweilen nichts tun, richtig?«, fragte Alex.

»Richtig«, bestätigte Chris.

»Ich habe den Verdacht, dass Edison Max darauf angesetzt hat, das Versteck zu finden. Auf jeden Fall rückt er nicht mit der Sprache heraus, was sein erster Auftrag als Agent ist«, sagte Kevin.

»Was ist mit dem dritten Sigilsplitter?«, fragte Jen. »Einen hat … die Schattenfrau. Den zweiten wir. Der dritte ist noch irgendwo dort draußen.«

»Johanna ist eifrig dabei, das Netzwerk zum Archiv wieder aufzubauen«, sagte Alex. »Sie hofft, dort weitere Hinweise zu finden. Das gestaltet sich aber wohl schwierig, weil der Zauber erst gereinigt werden muss.«

»Kein Wunder, nachdem er so zweckentfremdet wurde.« Der Ärger über die Attacke war Chris noch immer anzumerken. »Aber mal ehrlich, dort findet sich sowieso nichts. Andernfalls hätte das doch längst jemand entdeckt.«

»Es ist die Suche nach dem geschrumpften Essenzstab im Heuhaufen«, kam es von Chloe. »Aber immerhin haben wir schon zwei Mal etwas gefunden. Ein guter Schnitt.«

Alex war zwiegespalten. Irgendwo würde sich irgendwann sicher ein Hinweis finden. Leider blieb ihnen nur wenig Zeit. Die Schattenfrau hatte Jahrhunderte gehabt, um sich auf diesen Zeitpunkt vorzubereiten. Sie hatte längst Bibliotheken durchforstet und war Hinweisen nachgegangen. Wenn sie nichts gefunden hatte, wie sollte es ihnen dann jetzt in so kurzer Zeit gelingen? Falls sie dagegen etwas entdeckt hatte, war sie bereits auf dem Weg zu ihrem Ziel. Konnten sie sie überhaupt noch aufhalten?

»Hast du denn einen Hinweis auf Marks Schlüssel gefunden?«, fragte er.