Das ermordete Herz - Ulrich Mannsfeldt - E-Book

Das ermordete Herz E-Book

Ulrich Mannsfeldt

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Beschreibung

Klimawandel, Überalterung, künstliche Intelligenz, Fake News, Organspende, Populismus, Immigration - eine ungewöhnliche Kriminalgeschichte eingebettet in überraschende Zukunftsvisionen aktueller Themen Eine brutale, nicht enden wollende Hitzeperiode bestimmt auch im Jahr 2040 das Leben in Frankfurt. Anonyme Eliten steuern mit dem Internet alle Bereiche der Gesellschaft. Der pensionierte, zurückgezogen lebende Kommissar Murtiker wird wieder in Dienst gestellt, um eine Serie von Morden aufzuklären, die der zuverlässige, hochintelligente Fahndungscomputer nicht lösen kann. Als Murtiker lebensgefährliche Anschläge dank der mutigen Hilfe einer jungen Kollegin überlebt, werden seine Ermittlungen mit perfiden Manipulationen der Transplantation eines Herzens für seine Frau sabotiert. In aussichtsloser Lage erhält Murtiker jedoch unerwarteten Beistand aus einer ihm fremden digitalen Welt.

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Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung. 

 

 

 

 

 

Impressum 

 

Ulrich Mannsfeldt, »Das ermordete Herz

Eine Ermittlung im Jahre 2040« 

1. Auflage 

 

www.edition-winterwork  

© 2023 edition-winterwork  

Alle Rechte vorbehalten 

 

Umschlaggestaltung: Anja Fuchs 

Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf 

 

ISBN Print 978-3-96014-944-6 

ISBN E-BOOK 978-3-96014-982-8

Das ermordete Herz 

Eine Ermittlung im Jahre 2040 

 

 

 

Ulrich Mannsfeldt 

 

 

edition winterwork

Allein 

„Wir sind hier fertig“, sagte der Arzt. „Ein Medrob wird Ihre Frau zu den weiteren Untersuchungen bringen.“ Von der Rückenplatte des Roboters halb verdeckt winkte ihm Gertrud von der Liege aus noch einmal zu.  

„Die weiteren Abklärungen sind zeitaufwendig. Wir melden uns, wenn die Ergebnisse vorliegen. Die letzten Tage waren sicher sehr anstrengend, Wollen Sie sich noch etwas ausruhen?“ 

„Danke! Ich schaffe es nach Hause“, erwiderte M. Er musste jetzt allein sein. Wie damals, als er den Mörder den Kollegen der Spezialeinheit übergeben hatte, und in dem einsamen Haus im Wald zurückgeblieben war, um zu spüren, wie die Last der endlosen Verfolgung langsam von ihm abfiel.  

„Ich gebe Ihnen für alle Fälle meine Karte. Seien Sie vorsichtig! Im Netz wird vor Überfällen auf Fahrer gewarnt, die allein unterwegs sind. Irgendetwas mit den Sicherheitssperren am Auto. Haben Sie einen Notruf?“  

„Ich glaube schon. Aber noch nie benutzt. Vielen Dank für den Hinweis.“ M ließ sich aus der drückenden Hitze in den gerade noch im Schatten liegenden Wagen gleiten.  

„Lehne senken!“, befahl er und griff nach der schwarzen Sonnenbinde, die auf der Ablage neben dem Lenkrad bereit lag. Als er erlöst die Augen schloss, überfielen ihn die Bilder. Gertruds plötzliches Fieber. An Ostern vor vier Jahren. Gertrud, die sich weinend und verzweifelt geweigert hatte, den Sensor auf dem Perscom anzuhauchen, und erst nachgab, als M ihr klargemacht hatte, dass die Polizei sie sonst ins Krankenhaus bringen würde. Vor zwölf Jahren war Gertrud in der letzten großen Mutationswelle des Virus endlose Wochen bei vollem Bewusstsein intensiv behandelt worden, hatte endlose Wochen keine Luft bekommen, hatte endlose Wochen lang an einem Schlauch im Hals gewürgt, hatte endlose Wochen nur stumme, vermummte Ärzte und Pfleger gesehen, hatte endlose Wochen nicht gewusst, ob M nicht irgendwo neben ihr auch um sein Leben kämpfte. Nie, nie, nie wieder würde sie in ein Krankenhaus gehen. 

Die glückliche Erleichterung über das negative Ergebnis. Die immer gleichen Diskussionen, wenn sich ihr Zustand nach Zeiten trügerischer Ruhe weiter verschlechterte. Ja, sie gab ihm recht: die Tests durch den Perscom waren regelmäßig negativ. Aber dann war es eben nicht das Coronavirus, dann war es etwas anderes! Es gab keine niedergelassenen Ärzte mehr. Aber das Netz wusste doch alles. Wenn er nur richtig suchte, würde er schon finden, was ihr fehlte. Er hatte den Ferndiagnosen und ihren Vorschlägen für Medikamente und Therapien wieder und wieder vertraut. Heute in den frühen Morgenstunden hatte sie seine Hand gesucht und erklärt: „Ich kann nicht mehr, ich kann Dir das nicht mehr antun, bring mich ins Krankenhaus.“  

Eine Bitte, die er erhofft, aber noch mehr gefürchtet hatte. Er wusste, was der Arzt ihm nachher sagen würde: Wenn Sie früher gekommen wären, hätten wir für Ihre Frau noch etwas tun können!  

Ein Klopfen weckte ihn auf. „Hallo! Ich bin Arzt und arbeite hier. Sie stehen in der Sonne.“ 

„Vielen Dank “, sagte M, schaltete die Klimaanlage ein. Dann angelte er nach seinem Perscom und aktivierte nach einigen Bemühungen den Notruf. Der Rückspiegel zeigte den Eingang zur Klinik. Musste er nicht bei Gertrud bleiben? Aber hier zu warten, half Gertrud nicht. Und er brauchte jetzt alle seine Kräfte.  

Vor ihm, auf der in der Frühsonne gleißenden Straße, glitzerte ein sich ständig entfernender See. Auf ihren Fahrten in der Sahara hatten solche Fata Morganen Gertrud immer wieder entzückt. Er war noch keine zehn Minuten gefahren, als am flimmernden Ufer des Sees ein Mann sichtbar wurde, der ihn, näher gekommen, mit aufgeregten Handzeichen zu einem Parkplatz wies, auf dem eine Gruppe Männer stand. Bunte, schlottrige Polo und T- Shirts.  

Seien sie vorsichtig, hatte der Arzt geraten. Weiterfahren? Halten und Gertrud für einen Moment vergessen? M blieb im geschlossenen Wagen sitzen. Der Kreis öffnete sich. Auf dem Boden lag ein Mann mit seltsam über den Körper verdrehten Armen, der M mit verzerrten Zügen flehend ansah. Ein Anfall, ein Unfall! Als M sich vorbeugte, um die Tür zu öffnen, streifte sein Blick in nicht vergessener Routine noch einmal den am Boden Liegenden, der plötzlich breit grinste. „Tür verriegeln!“, schrie M und hörte das metallische Klacken, mit dem am Türgriff gerüttelt wurde. Bärtige, dunkle Gesichter starrten ihn an.  

„Nach Hause. Sofort. Autonom!“, befahl M. Die Elektromotoren ruckten kurz und schalteten sich aus.  

„Menschen in der Fahrbahn“, sagte der Wagen. Direkt vor dem Wagen stand ein Halbwüchsiger, mit einem triumphierend hoch gestreckten Daumen.  

„Manuell“, sagte M, griff ans Lenkrad und trat aufs Gaspedal.  

„Menschen in der Fahrbahn“, wiederholte der Wagen.  

„Rückwärts!“, sagte M und gab erneut Gas. 

„Menschen in der Fahrbahn.“ Im Rückspiegel sah er zwei hochgestreckte Arme. Irgendetwas mit den Sicherheitssperren, so geht Straßenraub, schoss ihm durch den Kopf. Diese Scheiß-E-Wagen mit ihren Regelungen!  

Ein stämmiger Typ in einem zerschlissenen blauen Polo­shirt hielt plötzlich einen großen Stein, an dem noch Reste von Erde klebten, in der Hand. Unverwandt M ansehend hob er langsam den Arm. M kannte solche Blicke von früher. Ich mach dich fertig, sagte der Blick. Der Stein traf die Windschutzscheibe mit einem trockenen Knall. Die Plastikscheibe hielt. Der Angreifer fletschte mit einem bösen Grinsen die Zähne, holte aus seiner Tasche ein Klappmesser, das er demonstrativ öffnete und auf die Kühlerhaube legte. Die anderen waren ruhig geworden und starrten auf ihren Anführer. Der Notruf! M drückte auf die Shifttaste des Perscoms, der neben ihm auf der Mittelkonsole lag. Er hatte sich richtig erinnert. Die Sirene der Alarmanlage schrillte los und übertönte den erneuten Aufprall des Steines. Die Sirene brach ab und eine Stimme vom Armaturenbrett fragte: „Ist das der BM4 mit dem Kennzeichen F-FZ 200?“  

„Ja“, sagte M. 

„Sind Sie auf dem Parkplatz der L 235 in Höhe Heddernheim?“  

„Ja“, sagte M noch einmal. „Ich werde von einer Gruppe junger Männer angegriffen, die im Fahrweg stehen und die Weiterfahrt blockieren. Ich bin im verriegelten Wagen.“ 

„Ich sehe sie mit den Kameras Ihres Wagens. Wir sind in 10 Minuten da.“ 

Bis auf die zwei Posten, die den Wagen vorne und hinten bewachten, stand die Bande um ihren Anführer und diskutierte. Einer kam mit einer langen Eisenstange, die er in der neben dem Parkplatz sich hinstreckenden Solarfarm losgemacht hatte. Der Stämmige hob die Stange und schwang sie in einer mähenden Bewegung über das Dach. Ein splitternder Knall. Das war der Antennenstummel gewesen. Die Bande johlte. Auf dem Display erschien in roter Schrift die Meldung: Kein Netz. Jetzt musste sich die Polizei beeilen. Der Anführer dirigierte das eine Ende der Stange in den Türspalt, zwei andere hielten sie waagrecht und ein Dritter schlug mit dem Stein auf das andere Ende. Die Tür knirschte und knackte. Die Stange rutschte ab. M sah nach vorne und nach hinten. Die beiden Wegfahrposten machten lange Hälse, bewegten sich aber nicht von ihren Plätzen. Wo blieb die verdammte Polizei?  

Der vor dem Wagen deutete mit ausgestrecktem Arm nach oben und lief dann in Richtung der Solarfarm. Die anderen folgten und verschwanden zwischen den Paneelen.  

„Fenster senken!“ Die Hitze, die durch die offenen Fenster schwappte, fraß die kühle Luft der Klimaanlage mit einem zufriedenen Schmatzen auf. Was war das für ein Summen, eigentlich mehr ein Schwirren? „Sonnendachrollo einfahren!“ Über dem Wagen hing in doppelter Mannshöhe, von vier Rotoren gehalten, eine Drohne in grellroter Farbe, so groß wie ein Tischkühlschrank und mit der schwarzen Aufschrift ‚Polizei’.  

Neben ihm hielt ein Streifenwagen. Der Beifahrer, ein junger Mann in kakifarbenen Shorts und blauem Hemd stieg aus, beugte sich zu M und fragte: „Alles in Ordnung?“  

„Ja“, erwiderte M. 

„Brauchen Sie einen Arzt?“  

„Nein“, sagte M.  

„Einen Moment.“ Der junge Polizist trat etwas zurück und hob beide Arme mit ausgestreckten Daumen nach oben. Die Drohne verschwand mit einem eleganten Bogen.  

„Für die Kollegen“, erklärte der Polizist. Er sah auf das Dach und dann auf den Eisenstab, der neben der Tür auf dem Boden lag.  

„Damit?“, fragte er und deutete auf die Stange. M nickte.  

„Das hat die Konnektivität unterbrochen. Gut, dass Sie sich gleich gemeldet haben. “  

M stieg aus und sagte: „Gerhard Murtiker, Mühlenweg 30, 60599 Frankfurt. Wo soll ich anfangen?“ 

„Wir nehmen kein Protokoll auf.“ 

„Aber die wollten mich umbringen“, protestierte M. 

„Die Gesichtserkennung der Drohne wird die Täter identifizieren. Das waren Immigranten aus dem Getto.“  

M war verblüfft. „Aber die Drohne hat doch nur gesehen, wie die Männer weggelaufen sind, nicht wie ich bedroht worden bin“, protestierte er. „Der Anführer hat übrigens eine markante Narbe auf der rechten Wange.“ 

Der zweite, ältere Polizist lächelte. „Herr Murtiker ist oder besser war ein Kollege. Er wird verstehen, dass wir angewiesen sind, diesen Vorfall, wie soll ich mich ausdrücken …“, er zuckte die Achseln, „diesen Vorfall vertraulich zu behandeln. Ich darf Sie bitten, Ihr Erlebnis geheim zu halten. Das gilt insbesondere für die sozialen Plattformen.“ 

M nickte. Er war auf keiner Plattform. Außer Gertrud gab es niemand, mit dem er sein Erlebnis hätte teilen können. 

„Das hätte schlecht für Sie ausgehen können!“ 

„Ich habe meine Frau, die sehr krank ist, heute Morgen ins Krankenhaus gebracht. Das ist meine erste Fahrt in diesem Jahr. Der Arzt im Krankenhaus hat mich vor Raubüberfällen gewarnt. Deswegen habe ich den Notruf aktiviert.“ 

„Der hat sie gerettet. Das war kein Raubüberfall. Nicht mit so vielen Tätern. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Wir werden das untersuchen und halten Sie auf dem Laufenden. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen“, sagte der ältere Polizist. „Ich bin Polizeiobermeister Hildebrand.“ 

Er wandte sich an seinen Begleiter. „Herr Murtiker war nicht nur ein Kollege, er war ein berühmter Kollege.“  

Der jüngere Polizist sah M halb erstaunt, halb fragend an, verabschiedete sich mit einem Handschlag und sagte: „Wir müssen den Wagen mitnehmen. Er muss untersucht werden. Fingerabdrücke und so.“ 

M war verblüfft. „Die Drohne hat die Täter doch identifiziert. Brauchen Sie denn das heute noch?“ 

„Wahrscheinlich nicht. Aber das ist nun mal die Routine. Sie können den Wagen morgen abholen. Für die Weiterfahrt haben wir ein Taxi bestellt. Da kommt es schon.“  

„Nach Hause!“, befahl M. „Sind Sie Gerhard Murtiker, Mühlenweg 30?“, fragte das Taxi. „Ja“, erwiderte M. In der Mitte des Dachhimmels gab die Abdeckung die Iriserkennung frei. „Identifizierung o. k.“, sagte das Taxi. M lehnte sich in die Ecke des Rücksitzes. Seine Müdigkeit war verschwunden. Diesen Überfall hatte er doch ganz gut absolviert. So wie früher. Die Krankheit von Gertrud war in den vielen müßigen Stunden seiner Pensionierung ein willkommener Vorwand gewesen, sich auf die immer intensivere und zeitraubende Pflege zu konzentrieren, die Vergangenheit zu vergessen und die Gegenwart zu ignorieren. Aber jetzt werde ich vielleicht Zeit haben, dachte er, viel Zeit, und ein Schauer durchlief ihn. Das Grab seiner Eltern lief mit dem Ende des Jahres ab. Konnte er es verlängern und die Urne dort beisetzen? 

,Sie können mich jederzeit anrufenʼ, hatte der Arzt erklärt. Die Visitenkarte war in der Tasche seiner Leinenjacke. „Dr. König, B 72 34 25 X“, sagte M. „Verbinden!“  

„Kein Netz“, erklärte der Wagen. Die Polizei hatte ein Taxi ohne Konnektivität bestellt. Dass es so etwas überhaupt noch gab!  

„Wir sind angekommen“, sagte der Wagen.  

Als er die Wohnungstür öffnete, schob ihn ein Schwall heißer Luft zurück. Die Klimaanlage hatte sich abgestellt. Sein Strombudget war aufgebraucht. „Für 10 NE Strom bei der EDF kaufen“, befahl er. Der französische Atomstrom war am billigsten.  

„Wie soll bezahlt werden?“, fragte der Perscom.  

„Polkacoin NE“, erklärte er. Diese Blockchain-Zahlungen waren teuer. Private Banküberweisungen ins Ausland dauerten noch immer Tage.  

Als die Anlage nach ein paar Minuten ansprang, ging M ins Schlafzimmer und ließ sich auf seine Seite des Bettes fallen. Auf der anderen Seite hatte er heute Nacht, wie in den vielen Nächten davor, gesessen und Gertrud beruhigt, wenn sie mit einem erschrockenen Laut aus ihren fiebrigen Träumen aufschreckte. Hinter der Glastür brannte die Sonne auf die große Sonnenterrasse, die damals, vor vielen Jahren, der Grund für den Erwerb der Wohnung am begehrten Sachsenhäuser Berg gewesen war und die sie jetzt unverkäuflich machte. Zur Hochzeit hatte M Gertrud über die Schwelle getragen. Das war 30 Jahre her. Dass ihre Ehe kinderlos blieb, hatte Gertud tief getroffen. M war in seinem Beruf glücklich geworden.  

Er erwachte unvermittelt. Verwirrt setzte er sich auf. Die tief stehende Sonne schien durch die Terrassentür ins Schlafzimmer. Die Wand neben dem Bett war tiefrot. „Die Große Hitze setzt Ihrer Frau natürlich mehr zu als einer gesunden Person“, hatte der Arzt heute Morgen erklärt, „aber als Ursache für ihre Krankheit scheidet sie aus.“ Das war falsch. Die Große Hitze hatte Gertrud krank gemacht, machte alle, auch ihn, krank. Der riesige Bunsenbrenner am gleißenden Himmel verbrannte die Luft und erstickte das Leben.  

Als nach dem Ende der Großen Unruhe die Wirtschaft wieder ansprang und überall die alten Kraftwerke wieder aktiviert wurden, hatte Gertrud sich bei dem Grünen Fortschritt engagiert, um gegen die fossile Aufrüstung, zu kämpfen. Er war irgendwann vor Weihnachten aufgewacht, weil Gertrud neben ihm in ihr Kopfkissen geweint hatte. „Ich bin eine wirklichkeitsfremde Fanatikerin, die im Netz brutal niedergemacht wird“, hatte sie geschluchzt. „Warum kann ich nicht akzeptieren, dass die normalen Sommer nach dem Rückgang der Wirtschaft in der Großen Unruhe ungeahnte Reserven der Natur beweisen. Wir haben genug durchgemacht. Das Klima kommt dran, wenn die Wirtschaft wieder läuft. Nur die Gegenwart zählt.“ M hatte Gertruds Hand gehalten und geschwiegen.  

Es kam dann, wie es kommen musste. Im März vor vier Jahren war das Klima gekippt und die erste Große Hitze hatte begonnen. Unumkehrbar, sagten die Experten. An Ostern war Gertrud krank geworden.  

Gertrud! Das Krankenhaus! Er tastete nach der Visitenkarte in seiner Jackentasche, betrachtete sie mit leeren Augen und steckte sie wieder ein. Wenn er jetzt ungeduldig anrief, würden die Ärzte die Untersuchungen beschleunigen und Wichtiges übersehen. Ausreden! Er hatte nicht den Mut, Gertruds Todesurteil abzufragen. Das leere Bett neben ihm war unerträglich.  

Die heiße Luft auf der Terrasse war so dicht, dass sich M in ihr wiegen konnte. Hasserfüllt starrte er auf die aufgedunsene untergehende Sonne. Er kannte den Wetterbericht auswendig und murmelte ihn leise vor sich hin, so wie er das Vaterunser früher in der Kirche neben seiner Mutter gemurmelt hatte. Das ist der Wetterbericht für alle Regionen der deutschen Republik. Mit Ausnahme von vereinzelten Wärmegewittern über den Mittelgebirgen ist es wolkenlos und windstill. Die Temperaturen erreichen wieder die Werte der vergangenen Tage. Das Tief über dem Nordatlantik bleibt stationär.Mitte April hatte die Große Hitze mit Temperaturen um die 30 Grad begonnen. Im August waren es 45 Grad gewesen. Und jetzt immer noch 35 Grad. Letztes Jahr war der Regen am 14. Oktober gekommen. Noch zehn Tage! Die rote Scheibe verschwamm vor seinen müden Augen. Dieser pathetische Abgang war unerträglich.  

„Hau ab, verdammte Sonne!“, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen und sah zu, wie sie zwischen den schwarzen Gipfeln des Hunsrücks am Horizont zerfloss.  

Er tastete nach dem hinter ihm stehenden Gartensessel und kippte die Lehne nach hinten. Mit den Füßen stieß er sich vom Geländer ab. Der Sessel rollte sacht und kam unter dem Sonnenschirm zum Stehen. Wie ruhig es war! Vor der Coronakrise jaulten die Billigflieger im Minutentakt über das Haus. Das Virus und dann die Große Hitze hatten sie gestoppt. Jetzt flogen nur noch die Reichen und Mächtigen. Auch der Kinderlärm war verschwunden. Junge Familien hatten sich die Gegend nicht mehr leisten können. Ihren Platz hatten Pensionäre mit robusten Ruhestandsbezügen eingenommen. M hatte die Wohnung monatelang nicht verlassen und Nachbarn weder gesehen noch gehört. Den Bedarf des täglichen Lebens lieferten Drohnen auf die Terrasse.  

Die Zunge lag wie ein Stück Holz in seinem Mund. Er musste jetzt aufstehen, wieder in die kühle Wohnung gehen. Trinken! Von den vorgeschriebenen täglichen drei Litern fehlte sicher die Hälfte. Sei’s drum! Er war ein alter, ein erschöpfter Mann, den auch die erfolgreiche Abwehr von ein paar Gettoflüchtlingen nicht mehr jung machte. Ein alter Mann, dessen Frau im Sterben lag, ein alter Mann, der in einer seltsamen Welt nichts mehr zu suchen hatte.  

Für Gertrud waren die roten Stirnbänder ein weiterer abstruser Auswuchs der Selbstvermarktung gewesen. Mit einem im Netz gekauften Stirnband für seinen geplanten Selbstmord um Aufmerksamkeit zu buhlen, war krank. Georg hatte sich gefragt, ob die Typen mit ihren roten Stirnbändern sich tatsächlich mit dem mitgelieferten Skalpell die Adern aufschnitten oder von Brücken sprangen. M brauchte kein Stirnband und kein Skalpell. Die Sonne würde ihn umbringen. Morgen früh lag er dehydriert im Koma und morgen Mittag war es mit ihm vorbei. Eine sonnengetrocknete, geruchlose Leiche auf einer uneinsehbaren Terrasse.  

Er legte den Perscom auf seinen Bauch und befahl: „Sonnenschirm auf der Terrasse morgen um 14.00 Uhr zusammenklappen. Keine Kontakte!“ 

Ein Vogel tippelte auf seinem Bauch und zwitscherte. Eine Melodie der Beatles, die ihm Gertrud als Klingelton zum 60. Geburtstag geschenkt hatte. Will you still need me, will you still feed me when I’ m 64. Es gibt doch keine Vögel mehr, dachte M und griff nach dem vibrierenden Perscom, der auf dem Display in großen roten Buchstaben auf schwarzem Grund zeigte: Offizielle Nachricht um 22.10 Uhr. 

‚Keine Kontakte’, hatte er befohlen. Was war das für eine offizielle Nachricht, für die dieses Verbot nicht galt? Er sprach halblaut: „Offizielle Nachricht.“ Nichts. Die schwarze Wand! Dann kam die Erinnerung und ließ ihn erleichtert zurücksinken. Als mit immer neuen Mutationen deutlich wurde, dass die Pandemie sich nicht eindämmen ließ, hatten die Populisten den elektronischen Personalausweis, den Perscom, eingeführt. Jeder Bürger musste sich mit einem persönlichen, ständig mit sich zu führenden intelligenten Kommunikationsgerät ausweisen, das mit seiner eingebauten Testfähigkeit und seiner kontinuierlichen Netzortung eine engmaschige Infektionskontrolle erlaubte.  

Nachdem die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten aufgelöst worden waren und die überregionalen elektronischen Tageszeitungen den Konkurrenzkampf gegen die zahllosen privaten Nachrichten und Informationskanäle verloren hatten, wurde im zweiten oder dritten Jahr der Großen Unruhe die Verbreitung Offizieller Nachrichten über den Perscom eingerichtet. Eine digitale Sirene für Warnungen aller Art! Was war es diesmal? Rote Buchstaben auf weißem Grund: 

Information über Zensurmaßnahmen 

Nach Maßgabe des Gesetzes zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im medialen Raum vom 22.6.2023 (Internetgesetz) unterliegt ab sofort jede Kommunikation, Nachricht und Mitteilung gleich welcher Art, die direkt oder indirekt die Neuordnung der Gettos zum Gegenstand haben, der Zensur.  

Das Internetgesetz mit seinen Zensurmöglichkeiten hatte damals die Populisten nicht verhindert. Aber ihm jetzt das Leben gerettet. Denn um das Gesetz auch nach der Großen Unruhe weiter nutzen zu können, hatte die Große Koalition akzeptiert, dass Zensurmaßnahmen mit einer Offiziellen Nachricht bekannt gemacht werden mussten, einer Nachricht, deren vibrierende Ankündigung ihn geweckt hatte.  

Mit zittrigen Fingern nestelte M die Trinkflasche vom Gürtel. Als er mit seiner Zunge wieder den Gaumen fühlte, erhob er sich mühsam und ging mit unsicheren Schritten durch die noch immer heiße und unbewegliche Luft zur Terrassentür. Die kalte Luft aus dem Zimmer schoss schmerzhaft in seine Schläfen und machte ihn schwindlig. Er hielt sich am Türrahmen fest. Was war das für eine Neuordnung? Sollte der Angriff auf dem Parkplatz deshalb geheim bleiben? Er konnte sich an keine Gettoprobleme erinnern. Der vertraute kalte Schreck durchlief ihn. Die schwarze Wand, die ohne Warnung den Zugang zur Vergangenheit sperrte. Unsinn! Er hatte im Netz in den letzten Monaten nur noch Gertruds Krankheit und Gertruds Pflege recherchiert und konnte von diesen Gettoproblemen nichts wissen. 

Gertrud! Der Befund! Er hatte dem Perscom alle Störungen verboten.  

„Gab es Nachrichten?“, fragte er. 

„Ja“, sagte der Perscom. „Eine schriftliche Nachricht. Um 21 Uhr 32. Ich lese sie vor: Guten Abend Herr Murtiker. Ich bin Dr. König und betreue Ihre Frau. Der Tag war für Sie sicher sehr anstrengend. Vielleicht schlafen Sie schon. Dies ist der vorläufige Befund für Ihre Frau: eine virale Infektion der Muskeln einschließlich des Herzens. Möglicherweise tropischen Ursprungs. Eine Art Borreliose. Morgen wissen wir mehr. Ihrer Frau geht es schon besser. Mit freundlichem Gruß. Großes P, großes S. Diese viralen Infektionen sind langwierig, aber heilbar. Großes P, Großes P, großes S. Ihre Frau will Sie morgen früh, wenn es ihr gut genug geht, mit einem Anruf überraschen.“  

Er ließ den Türrahmen los und lief auf der Terrasse auf und ab. Eine virale Infektion. Aus den Tropen? Nach so vielen Jahren! Kein Wunder, dass die Medrobs im Netz ihm einfach etwas vorgeschwafelt hatten. Abrupt blieb er stehen. Spürte sein Herz bis zum Hals schlagen. Er hatte sich umbringen wollen, er hatte Gertrud feige verraten und verlassen wollen. Diese verdammte Hitze hatte sein Gehirn zersetzt. Das durfte nie mehr passieren. Gertrud wurde gesund. Er setzte sich in die kühle Küche, schraubte die Flasche Rotwein auf, die seit Monaten auf der Anrichte stand, schenkte sich ein Glas ein. und prostete Gertrud in der Klinik zu:  

„Auf Dich, meine Liebe!“  

Reaktiviert  

Eine karminrote durchsichtige Kugel verfolgte ihn im Schlaf, eine Kugel, die zwischen zwei schwarzen Berggipfeln immer verzweifelter hin und her rollte, um dann, von ihren Anstrengungen ermüdet, langsam zu verblassen. Der Wandmonitor zeigte nur die blaue Linie seines eigenen ruhigen Atmens. Wo waren die schnellen schwarzen Wellen von Gertrud? Mit einem Ruck setzte er sich auf. Das Bett neben ihm war leer. Erlöst ließ er sich zurücksinken und räkelte sich unter der Decke. Keine Medrob-Recherchen im Netz; keine gekünstelten Aufmunterungen; keine mühsamen Einkaufspläne für die Rewe-Drohne; keine verstohlene Säuberung der Wohnung mit Robonsso. Einfach liegen bleiben. Der Tag gehörte ihm! Und der morgige Tag auch!  

„Die Wetternachrichten!“, befahl er.  

„Das Tief über dem Nordatlantik wird stärker und zieht etwas nach Südosten“, meldete der Perscom und ergänzte unaufgefordert: „Eine erfreuliche Entwicklung!“ 

Beruhigungswetter, vom Ministerium für Atmosphäre und Klimakontrolle ausgedacht. Die sensationsgetriebenen Berichte der privaten Medien über die Große Hitze hatten immer wieder gefährliche Unruhen ausgelöst, die die Regierung mit einem Monopol für Wetternachrichten beendet hatte.  

M fühlte sich gut und hatte Lust, den Perscom mit seinen Manipulationen zu konfrontieren. „Hat sich das Tief wirklich bewegt?“, fragte er.  

Der Perscom war gerüstet. „Das war die Regierung, die das Tief für Sie bewegt hat, weil Sie mit dem Wetter nicht zufrieden sind“, erwiderte er gleichmütig. „Hau ab, verdammte Sonne“, hatte er gesagt, nein, gemurmelt. Der Perscom hörte alles.  

„Robonsso soll mir das Frühstück richten.“  

‚Sich regen bringt Segen’ war das Motto seiner Mutter gewesen, wenn sie M im Haushalt beschäftigt hatte. Aber Gertrud hatte sich über Robonssos Handreichungen kindlich gefreut und nach Ausbruch ihrer Krankheit war er auch richtig hilfreich gewesen. M saß mit einer Tasse Topinambur am Küchentisch. Er hatte sich an den Geschmack gewöhnt. Der Kaffee aus Südamerika ging, America first, ausschließlich in die USA. Afrikanischen Kaffee, soweit es ihn überhaupt gab, tranken die Chinesen. In der Diele ächzte die Klimaanlage. In vier Tagen fing die neue Woche an. Mit einem frischen Stromkontingent der Ökostrom AG. Bis dahin kühlte ihn die EDF. Und dann kam, irgendwann einmal, auch der Regen.  

„Robonsso, wie weit reicht dein Gedächtnis zurück?“  

„Es ist alles gespeichert, seit ich hier angefangen habe. Am 8. Mai 2037.“  

M erinnerte sich. Ende 2036 war die Große Unruhe offiziell zu Ende gegangen und eine Investition wie Robonsso vertretbar geworden. „Bestelle bei Rewe eines von den Fertiggerichten, die wir gerne gegessen haben, bevor meine Frau krank wurde.“ Das war vor der Großen Hitze gewesen. „Soweit es sie noch gibt“, fügte er hinzu.  

„Es gibt sie noch alle.“  

Die milden regenreichen Winter – eine letzte Gnade der Natur? – und die auf einmal nicht mehr verfemten gentechnischen Veränderungen hatten eine schnelle Anpassung der Landwirtschaft möglich gemacht.  

Der Perscom unterbrach seine Gedanken. „Null neun Uhr dreißig, Virustest!“  

Gehorsam hauchte M in die Messöffnung auf der Rückseite des Perscoms. Dieses verdammte Virus! Es hatte die Populisten an die Macht gebracht, die ihm seinen Beruf genommen hatten. Es hatte Gertrud so verängstigt, dass sie sich vier Jahre lang umsonst gequält hatte. Und mit seinen Mutationen in Bayern, an der Küste oder sonst wo hielt es die Große Koalition an der Macht.  

Warum rief Gertrud nicht an?  

Die Beatles. „Annehmen!“, befahl er und sagte: „Ich bin so erleichtert und so froh, dass du anrufst. Wie geht es dir? Hallo, hörst du mich?“ 

„Ich höre Sie und es geht mir gut“, sagte eine männliche Stimme.  

„Abbrechen!“  

Wieder die Anrufmelodie. „Guten Tag Herr Murtiker. Das ist keine Verwechslung. Ich muss Sie dringend sprechen. Es ist wichtig.“ 

„Geht es meiner Frau gut?“  

„Mein Name ist Krieger. Ich rufe im Auftrag von Herrn Ostergard an.“ Krieger hatte, um die Bedeutung seines Auftraggebers hervorzuheben, den Namen wiederholt und jede Silbe einzeln betont. O-ster-gard. Ein wichtiger Name. Der Chefarzt?  

„Kann ich meine Frau sprechen?“  

„Das geht nicht, ich bin im Präsidium.“  

Im Präsidium! Ostergard, das war der Polizeipräsident, der vor Jahren wegen einer Ermittlungspanne im Netz kritisiert worden war.  

„Sie müssen später anrufen. Ich erwarte einen Anruf meiner Frau aus dem Krankenhaus.“ 

„Dann brechen wir ab. Herr Ostergard bedauert die Art und Weise, wie Sie damals den Dienst quittieren mussten, und hofft, dass die Vergangenheit einer erneuten Zusammenarbeit nicht im Wege steht.“ 

Sie werden informiert, hatte der Polizist gestern versprochen. Vom Polizeipräsidenten persönlich?  

„Kommen Sie zur Sache, Herr Krieger! Warum und wie sind diese Leute aus dem Getto ausgebrochen. Warum haben sie mich angegriffen? Warum befasst sich der Präsident mit dieser Sache?“ 

„Von was reden Sie?“, fragte Krieger.  

„Von dem Überfall. Gestern Nachmittag. Auf einem Parkplatz an der L235 in Höhe Heddernheim. Ein Polizeiobermeister Hildebrand hat mich gerettet.“  

„Einen Moment,“ erklärte Krieger. Er war schnell wieder da. „Was für ein Zufall. Das waren Sie! Die Kollegen meinen, Sie hätten ziemlich cool reagiert. “  

„Danke“, entgegnete M. „Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Hat dieser Überfall etwas mit Ihrem Anruf zu tun? Und warum hat Hildebrand meine Tätigkeit als Kommissar gekannt? Die liegt 20 Jahre zurück.“  

Krieger räusperte sich. „Das ist alles ziemlich kompliziert und auch vertraulich. Ich kann Ihnen das im Einzelnen erklären. Aber zuerst müssen wir unsere Zusammenarbeit regeln.“  

„Was für eine Zusammenarbeit?“  

„Habe ich Ihnen das nicht erklärt?“  

Krieger beantwortete seine Frage selbst. „Nein, habe ich nicht. Dieser Überfall hat mich abgelenkt. Sie sollen reaktiviert werden, wieder in der Mordkommission tätig werden. Herr Ostergard hat an einen Zeitraum zwischen sechs und zwölf Monaten gedacht. Die Bezüge werden entsprechend der Einstufung bei Ihrem Ausscheiden berechnet. Sie bekommen auch einen Assistenten. Sie werden direkt mit Ermittlungen befasst sein. Noch wichtiger ist es dem Präsidenten aber, dass Sie die Kollegen mit Ihrer Erfahrung unterstützen.“  

„Warum brauchen die Kollegen meine Erfahrung? Sie wissen, dass ich damals, wie man so schön sagt, gegangen worden bin.“ 

„Das ist lange her. Die Zeiten haben sich geändert. Unsere Personalknappheit ist Ihnen aus den Medien bekannt?“  

„Die Regierung scheut für die innere Sicherheit keine Kosten. Wo ist Ihr wahres Problem?“ 

Krieger schwieg. Dann sagte er: „Sie haben recht. Es gibt eine Serie von Morden, mit denen die KI-Abteilung nicht klarkommt.“  

„Ich habe davon gehört“, bestätigte M.  

„Sie haben davon gehört!? Das ist das Thema Nummer eins in Frankfurt, in Hessen. Seit der Großen Unruhe hat es so etwas nicht mehr gegeben. Die Große Mordserie wird sie im Netz genannt. Die Leute trauen sich nachts nicht mehr auf die Straße. Wo leben Sie denn?“ 

„Meine Frau war, meine Frau ist sehr krank. Ihre Betreuung hat mich voll in Anspruch genommen. Und was ist das für eine KI-Abteilung? Wer leitet die?“  

Krieger lachte. Amüsiert?  

„Entschuldigung“, sagte er. „Ihre Frage hat mich überrascht. Die KI-Abteilung wird nicht geleitet, sie leitet sich selbst. KI steht für künstliche Intelligenz. Das ist unser Fahndungsrechner, der die Ermittlungen durchführt.“  

„Von dem habe ich auch gehört. Der Glaube, mit immer raffinierteren technischen Möglichkeiten, alles zu lösen, ist Verblendung. Dass Sie jetzt meine altmodische Erfahrung und mein Bauchgefühl brauchen, gibt mir recht.“ 

„Nehmen Sie an! Dann können Sie uns doch beweisen, dass wir in einer Sackgasse sind.“ Krieger klang erleichtert.  

M hatte er sich geschworen, nie wieder einen Fuß über die Schwelle des Präsidiums zu setzen.  

„Ich weiß nicht“, sagte er. „Meine Frau liegt im Krankenhaus. Ihre Betreuung und Pflege hat Vorrang. Ich muss mit ihr und den Ärzten sprechen. Ich melde mich nachher noch einmal.“ 

Gertrud brauchte seine ganze Kraft und Zeit. Die Kollegen würden sich seine Mithilfe verbitten. Er lehnte sich mit der Stirn an die Terrassentür. Das Glas glühte. Kein Wunder, dass sich die Leute umbrachten und dass die Computer keine Morde mehr aufklären konnten!  

Die Beatles! Hatte Krieger etwas vergessen?  

„Annehmen“, sagte er.  

„Guten Morgen, ich bin es.“  

„Ich habe auf deinen Anruf gewartet. Wie geht es dir?“ 

„Gut. Dr. König, der Arzt, der mich betreut, war eben hier. Ein Virus hat mich und insbesondere mein Herz geschwächt. Ein seltenes Virus, das ich mir vor Jahren irgendwo in Afrika eingefangen haben muss. Es gibt keine direkte Therapie. Der Körper muss selbst damit fertig werden. Aber man kann die Immunabwehr unterstützen. Mit Immunglobulinen und anderen Virenmedikamenten. Das wird etwa zwei bis drei Monate dauern. So lange muss ich hierbleiben. Diese Virenmittel werden gespritzt. Ihre Dosierung und Wirkung muss laufend überwacht werden.“ 

Gertrud war aufgeräumt und ein wenig übermütig. M war es auch.  

„Das hat mir dieser Dr. König heute Nacht schon geschrieben. Das ist wunderbar.“  

Seine freudige Erregung brauchte Bewegung. M machte die Tür auf und lief auf der Terrasse hin und her. Die Hitze störte ihn nicht. 

„Rate einmal, wer mich angerufen hat? Das rätst du nie!“ 

„Dann sag es mir einfach!“  

„Der Polizeipräsident, oder genauer sein Büroleiter.“  

„Was wollte er?“ 

„Mich wieder einstellen! Weil bei irgendwelchen Mordfällen ihre Computer versagen. Weil ihnen Leute fehlen. Weil die das Ermitteln verlernt haben. Oder alles zusammen! Ich werde absagen. Das ist eine Schnapsidee.“ 

„Das wirst du nicht.“ Gertrud ging es wirklich besser.  

„Und warum nicht?“  

„Du wirst, wenn ich Dr. König richtig verstanden habe, in den nächsten drei Monaten mit mir nicht viel unternehmen können. Du brauchst dein Licht auch nicht unter den Scheffel zu stellen; du kannst den Kollegen oder ihrem Computer in jedem Falle helfen. Und schließlich ist meine Behandlung nur teilweise von der Bürgerversicherung gedeckt. Dr. König hat mich schon gewarnt. Er will versuchen, mich in ein klimatisiertes Einzelzimmer zu verlegen. Ein paar Tausend NE im Monat können schon anfallen. Ein kleines Zubrot wäre nicht schlecht. Ein wenig ermitteln ist ein guter Zeitvertreib, der dir gefehlt hat.“ 

Gertrud hatte immer gewusst und akzeptiert, was ihm sein Beruf bedeutet hatte! Eine Welle von Zärtlichkeit durchlief M. Er spitzte die Lippen und gab dem Perscom einen Kuss. 

„Was war das?“  

„Das Telefon ist mir beinahe aus der Hand gerutscht. Mir läuft das Wasser nur so runter.“ 

„Du bist auf der Terrasse! Hat sich die Klimaanlage abgeschaltet? Die letzten Monate waren nicht einfach für dich. Du musst dich schonen.“  

„Mir geht es gut. Sehr gut sogar. Ich habe nur etwas Platz gebraucht, um mit dir zu sprechen. Die Klimaanlage läuft. Ich habe Strom gekauft, der bis zum Wochenende reicht. Und wie ist es bei dir?“  

„Das ist hier eine Transplantationsfabrik. Ich bin eine der wenigen Patienten, die nicht auf eine Transplantation warten. Ich liege mit drei Frauen in einem Zimmer, das für zwei ausgelegt ist. Die Klimaanlage läuft nur nachts und dann auch nur schwach. Diese Klinik müsste man den Gegnern des Referendums mal zeigen. Wenn es nach mir ginge, würde der Strom für Transplantationen rationiert werden.“  

Da war sie wieder, die resolute Gertrud mit ihren kategorischen Ansichten. Er gab dem Perscom noch einmal einen Kuss. 

„Ist dir der Perscom schon wieder aus der Hand gefallen?“ 

„Nein, das war jetzt eine fernmündliche Zärtlichkeit.“ 

Gertrud lachte. Wie früher. Unbeschwert, hinten in der Kehle.  

„Dr. König meint, der morgige Tag ohne Besuche würde mir guttun. Komm übermorgen früh so gegen zehn! Bis dann!“  

M ließ sich in seinen Terrassensessel fallen. Seine Bezüge als Kommissar und Gertruds Gehalt als Lehrerin hatten ausgereicht, um die Wohnung zu kaufen und die Reisen zu finanzieren. Ihre Ersparnisse hatte die Umstellung auf den Neuen Euro am Ende der Großen Unruhe verschluckt. Die Wohnung mit ihrer großen Südterrasse konnte er nicht belasten.  

„Mit Krieger verbinden!“  

„Es gibt noch eine Bedingung: Ich bekomme 30.000 NE pro Monat.“  

„Das ist das Dreifache Ihrer damaligen Bezüge.“  

„Die Krankheit meiner Frau ist heilbar, aber nicht billig.“  

„Warten Sie!“  

M fing an zu zählen: einundzwanzig, zweiundzwanzig … Bei sechsundzwanzig war Krieger wieder da. „Das mit den 30.000 geht in Ordnung. Kommen Sie morgen um zehn Uhr ins Präsidium. Bis dann.“  

M sah in den grauen Schirm über sich. In den Jahren resignierenden und untätigen Älterwerdens hatte er sich in einen Kokon eingesponnen, in den Gertruds Gesundung und Kriegers Anruf plötzlich ein großes Loch gerissen hatten, durch das er als bunter Schmetterling die Welt und sogar seinen alten, seinen geliebten Job erkunden konnte. M lächelte. Was ihm auf einmal einfiel!  

Genug der Fantasien! Wenn er sich nicht vorbereitete, erzählte ihm dieser Krieger wer weiß was! „Information Große Mordserie“, befahl er.  

„Die Große Mordserie ist die im Netz übliche Bezeichnung ...“  

„Stopp“, sagte M.  

Er ging ins Schlafzimmer, hob den Monitor aus seiner Halterung und stellte ihn vor sich auf den Sekretär. Gesprochene Informationen waren nichts für ihn; er musste sie sehen, um sie zu begreifen. Wie die Menschen da draußen ohne schriftliche Texte, nur mit gesprochenen Worten und Bildern in der Welt zurechtkamen, war ihm ein Rätsel. 

„Monitor, weiter!“  

Er las: Die Große Mordserie ist die im Netz übliche Bezeichnung für eine Serie von Tötungsdelikten, die im Januar 2040 begonnen hat. Die Opfer wurden erschlagen, erwürgt oder erstochen. Die Tatorte liegen in einem Radius von ungefähr 150 km um Frankfurt. Die Polizei hält sich bedeckt. Aber es wird berichtet, dass es keine verwertbaren Spuren gibt, und dass der sonst zuverlässige Fahndungscomputer vor einem Rätsel steht. Die Bevölkerung ist aufs Höchste beunruhigt und erwartet wirksame Maßnahmen. Weitere Informationen bei dn. (deutsches netz). polizei frankfurt/mordserie.  

Das erklärte Kriegers Eifer. Und das dreifache Gehalt. 

Jetzt noch dieser Überfall!  

„Getto“, befahl M und las: Ein Getto ist ein bestimmtes Stadtviertel, das im Mittelalter und dann wieder von den Nationalsozialisten Juden als ausschließlicher Lebensraum zugewiesen wurde. Beispiele sind das Getto im Venedig des 16. Jahrhunderts, das Getto in Rom ....  

Das war nicht, was er suchte. „Stopp! Getto heute.“  

Getto: Volkstümliche Bezeichnung für abgeschlossene und überwachte Wohn-/Siedlungsgebiete , die im Gesetz zur Kontrolle und Verbesserung der Zuwanderung vom 20.4. 2026 (Einwanderungsverbesserungsgesetz) vorgesehen sind. In den Siedlungsgebieten wurden die neuen Immigranten zusammen mit den schon vorher in und außerhalb von Lagern wohnenden Immigranten untergebracht. Deutschen ist das Wohnen in Siedlungsgebieten untersagt. In den Siedlungsgebieten werden Immigranten gleicher oder verwandter ethnischer und/oder religiöser Herkunft zusammengefasst. Die Siedlungsgebiete verwalten sich nach Maßgabe der Regeln des Siedlungsgesetzes unter Aufsicht der zuständigen deutschen Behörden selbst ...  

Das reichte. M war damals noch Kommissar gewesen. Ende der Zwanzigerjahre hatten eine anhaltende Dürre und eine immer unerträglichere Hitze zu schweren Hungersnöten und Unruhen in den nordafrikanischen Mittelmeerstaaten geführt. Die Nahrungsmittelhilfen der nationalpopulistischen Regierungen konnten die wegfallende EU-Hilfe nicht ersetzen und fielen mit dem Beginn der Großen Unruhe ganz aus. Die gemeinsame Sicherung der Außengrenzen brach zusammen. Die Grenzstaaten winkten die Flüchtlinge nach Deutschland durch. Die Einrichtung der Gettos für die zahllosen unkontrollierten Immigranten durch die Regierung der nationalen Einheit fand breite Zustimmung. Weil die Immigranten nach Herkunftsländern zusammengefasst wurden und sich selbst verwalteten, waren die Gettos nicht nur von den Deutschen, sondern auch von den Immigranten angenommen worden. Wer die notwendigen Voraussetzungen wie einen festen Arbeitsplatz und gute Deutschkenntnisse erfüllte, konnte das Getto verlassen. Die Gettos waren seit Jahren eine etablierte Struktur.  

„Getto, aktuelle Probleme!“, befahl M. 

Mit der kleinen, sich drehenden Regenbogenscheibe zeigte der Perscom, dass er nach Daten suchte. Dann kam der Text:  

Zu diesem Thema sind derzeit keine Daten verfügbar. Versuchen Sie es in 24 Stunden noch einmal.  

Die Zensur! M starrte auf den Text, wendete den Perscom in den Händen und betrachtete ihn von allen Seiten. Ein offizielles Modell der Verwaltung, das ihm damals kostenlos zugeteilt worden war. Mehr als 17 Jahre alt. Als offizieller Identitätsausweis hatte der Perscom seine Rolle als Statussymbol verloren und war zu einem normalen Gebrauchsgegenstand geworden. Wie ein Schlüssel.  

Ein Schlüssel zur Vergangenheit. Du kokettierst mit deinem Alter, dafür bist du noch zu jung, hatte Gertrud seine vorsichtigen Hinweise kommentiert. Aber es gab dieses Aussetzen der Erinnerung, die der Perscom mit seinem präzisen Gedächtnis ersetzte, ein Gedächtnis, das ihm jetzt auf dem unbekannten Terrain neuer Ermittlungen nicht mehr helfen konnte. Krieger anrufen und absagen? Er schüttelte den Kopf. Gertrud hatte recht: die schwarze Wand war nur die Weigerung seines Gehirns, die immer gleichen Nichtigkeiten des Alltags zu speichern. Der neue Job würde es wieder auf Trab bringen.  

In der U-Bahn 

Als M mit seinem Volvo nur noch einmal in der Woche fahren durfte, und die Lieferfristen für Elektromobile zu lang geworden waren, hatte er als Übergangslösung einen Elektroquad gekauft, ihn aber nach dem Erwerb des BM4 seit Jahren nicht mehr benutzt. Heute Morgen, als er ihn für die Fahrt zum Präsidium aus seiner Abstellecke geschoben hatte, waren die Batterien leer und der Lademechanismus defekt gewesen. Das Autohaus, bei dem er das Fahrzeug gekauft hatte, hatte sich bereit erklärt, den Quad zur Reparatur in die Werkstatt zu holen. Man werde ihn benachrichtigen, sobald der Wagen fertig sei.  

Auf dem Weg zur U-Bahn-Station waren in den Vorgärten der Reihenhäuser im Schatten der Hauswände Trampelpfade entstanden, die M anfangs zögernd und dann dankbar nutzte. Trotzdem hatten sich auf seinem hellblauen, extra weit geschnittenen Poloshirt unter den Achseln und über dem Ansatz seines, wie Gertrud ihn nannte, liebenswerten kleinen Bauches dunkle Schweißflecke gebildet.  

Der Zug war voll. Mit den Händen seinen Bauch bedeckend, drängte M sich in den Wagen. Er war in seiner Altersklasse schon immer der Größte gewesen und konnte seine Mitfahrer und Mitfahrerinnen unauffällig mustern. Da waren sie, die Jungen. Konzentrierte ruhige Gesichter, die die Große Hitze gleichmütig hinnahmen. Die Männer glatt rasiert, die Frauen mit kaum sichtbarem Make-up. Die meisten trugen Kopfhörer, manche sahen auf das Display des vor die Brust gehaltenen Perscom. Die für M unangenehme Enge störte sie nicht.  

Frankfurt war das Finanzzentrum, das Versicherungszentrum, das Medienzentrum der sich wieder belebenden EU. Hier brauchte die Arbeit den Stimulus der glitzernden Bürotürme mit ihren gestylten Büros und den coolen Kollegen. Dröges Homeoffice war etwas für familienselige Looser. Die Hochhäuser blieben Jahr für Jahr, Abend für Abend, länger hell.  

Die junge Frau neben ihm drehte den Kopf, musterte ihn ohne Scheu, sprach ein paar Worte in das Mikrofon an ihrer Uhr und sah dann auf den Perscom vor sich. Sie schob ihr weiches Becken, das M schon die ganze Zeit an seiner Hüfte gespürt hatte, noch ein wenig weiter vor. M wich zurück. Was sollte das? Sein graues Haar, sein faltiger Hals! Ihre Nase war ein wenig klein, die Lippen über einem kräftigen Kinn voll, die Augenbrauen geschwungen, die dunklen Haare waren hochgesteckt. Sie war nicht älter als 30 Jahre, und trug ein eng anliegendes,, weißes Top mit kurzen Ärmeln. Den linken Arm hatte sie über ihre Brüste gelegt, über die von ihm abgewandte Schulter lief ein dunkler Riemen, an dem wahrscheinlich eine Tasche hing. Mit der rechten Hand hielt sie ihren Perscom. Sie hat etwas genommen, dachte M, heute Nacht auf einer dieser Partys oder heute Morgen, um sich für das Büro fit zu machen. Da seine Füße unbeweglich eingekeilt waren, versuchte er, seine Hüfte durch noch weiteres, jetzt schon schmerzhaftes Wegbiegen, von ihrem Becken, das seiner Absatzbewegung gefolgt war, zu lösen. Hatte sie seinen vorwurfsvollen Blick gespürt, war sie durch sein Ausweichen irritiert? Sie sah ihn an. Nicht provokant oder lasziv, sondern prüfend, dachte er, belustigt, dachte er. Mit einem kleinen ungeduldigen Nicken ihres Kopfes wies sie ihn an, den törichten Rückzug seiner Hüfte rückgängig zu machen. M gehorchte. Er drehte suchend den Kopf. Alles war normal. Die Köpfe um ihn herum schwankten gleichmütig und gleichmäßig. Die junge Frau, die seinen Blicken gefolgt war, schüttelte unmerklich den Kopf. Mit ihrer linken Hand hatte sie eine über M baumelnde Festhalteschlaufe ergriffen und sich damit näher an M herangezogen. M stand bewegungslos. In der Ferne konnte er das Meer erkennen, auf dem sich Sonnenstrahlen silbern brachen. Ganz sachte, um das Bild nicht zu verlieren, spannte er seine Muskeln und spürte den weichen Gegendruck. Die sanften Wellen wiegten ihn hin und her.