Das falsche Kind - Petra Schulz - E-Book

Das falsche Kind E-Book

Petra Schulz

4,8

Beschreibung

Bennie und Lukas, beide blond und 5 Jahre alt, spielen im Garten einer Villa im Mainzer Rosengartenviertel. Einer ist Asterix, der andere Obelix. Da steht plötzlich Miraculix am Gartenzaun: Idefix ist in Gefahr, und nur Asterix kann ihn retten! Als die Entführer merken, dass sie nicht den Sohn des vermögenden Klaus von Kesselheim entführt haben, setzen sie alles daran, das richtige Kind zu schnappen. Aber wohin mit dem falschen Kind?Der Mainzer KHK Karl Bender ermittelt unter Hochdruck, denn die entführten Kinder sind in höchster Gefahr. Und als dann auch noch das Lösegeld verschwindet und Menschen, die mit dem Fall in Verbindung stehen, auf grausame Weise ermordet werden, sucht Bender nicht nur nach den Kindern und ihren Entführern, sondern auch nach einem Mörder. Von dem er nur eines weiß: Er tötet gerne …

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Das falsche Kind

Petra Schulz und Dieter Bracht

DasfalscheKind

Alle Schauplätze in diesem Buch sind authentisch.

Nur, leider gibt es nicht mehr alle von ihnen.

Die Anatomica Bar, die altmodische Apotheke und der Friseursalon in der Gaugasse – historisch sind sie völlig unbedeutend. Aber sie gehörten einmal zum Mainzer Lokalkolorit, und wir finden es schön, ihnen in diesem Buch ein kleines Denkmal zu setzen. Anders die Personen in diesem Buch – sie sind ausnahmslos frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Persönlichkeiten sind der pure Zufall.

© Leinpfad Verlag

Frühjahr 2015

Alle Rechte, auch diejenigen der Übersetzung, vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne die schriftliche Genehmigung des Leinpfad Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: kosa-design, Ingelheim

Layout: Leinpfad Verlag, Ingelheim

Leinpfad Verlag, Leinpfad 5, 55218 Ingelheim,

Tel. 06132/8369, Fax: 896951

E-Mail: [email protected]

www.leinpfadverlag.com

ISBN 978-3-942291-88-0

eISBN: 978-3-942291-95-8

Inhalt

Personenverzeichnis

Erster Donnerstag: „Er hat mein Peterle ermordet! Er hat ihn einfach abgeknallt!“

Erster Freitag: „Asterix, wie gut, dass ich dich gefunden habe!“

Erster Samstag: „Was hat es nur mit diesem Dorf auf sich?“

Erster Sonntag: ‚Communio in omnibus rebus – Gemeinsamkeit in jeder Lebenslage‘

Erster Montag: „Diamanten in einer Gefriertüte, das ist so gruselig!“

Erster Dienstag: „Erst kein Fahrschein und dann auch noch den Müll aus dem Zug schmeißen!“

Erster Mittwoch: „O.k. Ich hole euch hier raus. Später …“

Zweiter Donnerstag: „Das ist ein Stundenzimmer, da liegen immer mal Mädels rum.“

Zweiter Freitag: „Wer immer das war, der hatte großen Spaß daran.“

Zweiter Sonntag: „Der Tippelbruder klaut die Kollekte!“

Zweiter Montag: „Komm rein! Kaputte Mann hier!“

Zweiter Dienstag: „Wir sind hier nicht in China. Wenn bei uns Journalisten was erfahren, dann schreiben sie auch drüber.“

Zweiter Mittwoch: „Käffchen? Sahne?“

Dritter Donnerstag: „Das ist die sadistischste Tötungsmethode, die ich mir vorstellen kann.“

Dritter Freitag: Und diese Biene, die ich meine, nennt sich Maja …

Zwei Wochen später: „Stillschweigen gegen Ehering.“

Vier Wochen später: „Ach, wie ist das Leben schön!“

Die Autoren

Personenverzeichnis

Karl Bender: Kriminalhauptkommissar, der gerne kocht, Bluesmusik hört und mit seinem Hund Bommel durch den Gonsenheimer Wald streift. Benders Leidenschaft aber gilt dem Sperrmüll – da geht er auf Schatzsuche und wird zum Jäger und Sammler zugleich.

Marc Kittel: Kriminalkommissar und Benders Assistent, der Markenklamotten und schnelle Autos liebt, von wilden Schießereien, Verfolgungsjagden und spektakulären Schlägereien träumt und nie ohne seine Walter P5 Dienstpistole zum Einsatz geht. Wenn ihm ein Fall zu langweilig erscheint, sorgt Kittel verlässlich für Aufregung, Verwirrung und – oft für überraschende Impulse bei der Aufklärung …

Britta: Benders Sekretärin und die tatkräftige, gute Seele des Kommissariats.

Julius Panizza: Pensionierter Rechtsmediziner mit allumfassender Allgemeinbildung und Benders bester Freund.

Dr. Susanne Rüst: Gerichtsmedizinerin mit Hang zum schwarzen Humor.

Nele Fendrich: Freie Journalistin bei der Mainzer Tageszeitung, Lebensgefährtin von André Häusler und Mutter des gemeinsamen Kindes Lukas. Als Kindermädchen bei Familie von Kesselheim bessert Nele ihr mageres Schreiberhonorar auf.

André Häusler: Freier ZDF-Journalist, nimmt jeden Auftrag an, um Nele und Lukas ein gutes Leben zu bieten.

Lukas Häusler: Andrés und Neles fünfjähriger Sohn, Spielkamerad von Bennie von Kesselheim, der nie Asterix sein darf und – das falsche Kind.

Bennie von Kesselheim: der letzte Spross des Adelsgeschlechts der Grafen von Kesselheim, Lukas’ bester Freund und leidenschaftlicher Asterix-Darsteller.

Klaus von Kesselheim: Leiter der chirurgischen Abteilung der Mainzer Universitätsklinik, gehört zur gesellschaftlichen Prominenz in Mainz, Bennies Vater.

Katrin von Kesselheim, geborene Bredow: erfolgreiche Anwältin, Gattin von Klaus und Mutter des fünfjährigen Bennie.

Olivia: Bardame und Geschäftsführerin der Mainzer Anatomica Bar.

Der Engländer: Türsteher und Zuhälter in der Anatomica Bar, der keiner Schlägerei aus dem Weg geht.

Der Shaker: steht seit Menschengedenken hinter dem Tresen der Anatomica Bar.

Kurt Niedlich: Mädchen für alles in der Anatomica Bar, repariert alles, von der Heizungsanlage bis zur wackelnden Folterwand.

Valerie Probst, Franz-Josef Schneider, Horst Liedtke: Die drei Polizeibeamten gehören zur SoKo FaKi.

Tilly und Horst Reinelt: Rentnerehepaar aus Kaub.

Erster Donnerstag: „Er hat mein Peterle ermordet! Er hat ihn einfach abgeknallt!“

„Heute back ich, morgen brau ich und übermorgen holen wir der Königin ihr Kind …“, trällerte die Frau leise vor sich hin und kuschelte sich in die Seidenkissen der cremefarbenen Couch.

„Aber bei uns ist es morgen schon so weit“, warf einer der beiden Männer mit humorlosem Lachen ein.

Die kleine Zweizimmerwohnung in der Mainzer Oberstadt, in der sich die beiden Männer und die Frau so früh an diesem sonnigen Donnerstagmorgen zusammengefunden hatten, war schon auf den ersten Blick als das Zuhause einer allein lebenden Frau zu erkennen. Blühende Orchideen in den Fenstern, blitzsaubere Gardinen und weiche Teppiche. Die hellen Weichholzmöbel waren dekoriert mit all den kleinen Dingen, die kein Mensch braucht und die ein Mann niemals kaufen würde, die aber für viele Frauen zur liebevollen Ausstattung ihres Heims gehören. Das Wohnzimmer strahlte Wärme und Gemütlichkeit aus.

Eine Atmosphäre, die in scharfem Missklang stand zu dem Thema, das hier besprochen wurde. Und auch die beiden Männer schienen so gar nicht in diese Wohnung zu passen. Der größere von ihnen öffnete das Barfach der Schrankwand und schenkte sich ein Glas Whisky ein.

„Ach wie gut, dass niemand weiß …“, murmelte er, und obwohl sein Mund sich unter dem Schnurrbart zu einem Lächeln verzog, blieben die Augen des Mannes hart und kalt. Er war hager, hatte ein kantiges Gesicht und kurze Haare, die an den Schläfen leicht ergraut waren. Er trug abgewetzte Jeans, ein verwaschenes Jeanshemd und um seinen Hals einen Lederriemen, an dem ein goldenes Nugget glitzerte. Unter den Jeans lugten schwere Cowboystiefel aus dunklem Krokodilleder hervor. Mit dem Whiskyglas in der Hand lehnte er lässig an der Schrankwand.

Der zweite Mann fühlte sich ganz offensichtlich nicht wohl. Er war von kleiner Statur, ein Brillenträger mit abstehenden Ohren, rundlich und mit deutlichem Bauchansatz. Auch er trug Jeans, dazu ein graues T-Shirt und braune Arbeitsschuhe. Nichts an diesem kleinen Mann war von erwähnenswerter Besonderheit. Er gehörte zu den Menschen, die unauffällig in jeder Menschenmenge untergehen, über die jeder Blick hinweggleitet und an die sich später niemand mehr erinnern kann. Und ganz offensichtlich versuchte er auch jetzt, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Er kauerte mit gesenktem Blick in einem Sessel und blätterte zerstreut in einer Frauenzeitschrift, die er von einem kleinen Stapel auf dem Couchtisch genommen hatte.

Die Frau fingerte aus der Tasche ihres blauen Seidenkimonos zwei Umschläge hervor, die sie nachlässig auf den gläsernen Couchtisch warf.

„Hier, euer versprochener Vorschuss“, erklärte sie. „10 000 Euro für jeden, wie vereinbart“. Die beiden Männer griffen zu und überzeugten sich schweigend vom Inhalt der Umschläge.

„O.k., dann kann es jetzt losgehen. Hast du das Versteck vorbereitet?“, fragte der Mann mit dem Whiskyglas und ließ seinen Blick über die nackten Beine der Frau gleiten.

Die Frau zündete sich eine Zigarette an. „Natürlich.“ Sie lehnte sich entspannt in der Couch zurück, zog die Beine an und schob ihre nackten Füße unter eine leuchtendrote Kuscheldecke. „Alles ist perfekt organisiert. Es kann überhaupt nichts schiefgehen.“ Sie inhalierte einen tiefen Zug und blickte verträumt einem Rauchkringel nach.

Man sah der Frau im Seidenkimono an, dass sie einmal sehr schön gewesen war. Ihre schwarzen Haare fielen in weichen Locken über die Schultern und rahmten ein zart geschnittenes Gesicht ein. Ihre Augen waren von einem tiefen Blau und ihre Haut war gepflegt. Aber erste Falten, die eindeutig keine Lachfalten waren, ließen sie müde und erschöpft wirken.

„Hast du auch die K.-o.-Tropfen?“ Der Mann mit den Cowboystiefeln schwenkte das Glas mit dem goldgelben Whisky und atmete genießerisch den Duft ein.

„Die bekomme ich heute Abend.“

„Gut. Lass dir die genaue Dosis noch mal sagen“, erinnerte er sie und betrachtete die goldgelbe Flüssigkeit in dem Glas. „Nicht, dass uns der Zwerg abkratzt.“

Mit einem Ruck setzte die Frau sich kerzengerade auf und drückte unwillig ihre Zigarette im Aschenbecher aus.

„Ich will nicht, dass du so redest“, fuhr sie den Mann an. „Ich passe schon auf, dass dem Kleinen nichts passiert. Das Kind wird gesund und munter sein, wenn wir es zurückbringen. Ich habe alles im Griff. Alles andere ist deine Sache.“

„Gut“, wiederholte der Mann und nahm zufrieden einen Schluck Whisky. „Dann geht ja alles nach Plan. Du fährst morgen früh zum Versteck und wartest dort auf uns. Und wir“, wandte er sich an den kleinen Mann mit den Segelohren, „wir treffen uns um elf Uhr vor der Villa. Vorher macht es keinen Sinn. Vor elf Uhr kommt das Kind nicht raus. Ist der Wagen klar?“

„Ja, klar“, nickte der Mann im Sessel und richtete sich hastig auf. „Alles klar“, wiederholte er eifrig und legte die Zeitschrift ordentlich wieder zurück auf den Stapel. „Aufgetankt und das Nummernschild verdreckt. Alles, wie du es mir gesagt hast.“

„Gut.“ Der Mann mit den Cowboystiefeln stellte sein Glas auf dem Couchtisch ab und schaute sich im Wohnzimmer um. Auf einer Kommode standen silberne Bilderrahmen mit Fotos, sie alle zeigten die Frau. Auf allen sah man sie, in die Kamera lachend, immer mit verschiedenen Männern, immer glücklich und immer jung. Der Mann nahm eines der silbernen Rähmchen von der Kommode, betrachtete das Foto. „Wie sieht der Zwerg aus?“

„Wie oft soll ich euch das noch sagen? Blond.“ Die Frau wischte mit dem Kimonoärmel ärgerlich den Wasserfleck des Whiskyglases vom Glastisch. „Er hat blaue Augen und ist fünf Jahre alt.“ Ihr Gesicht wurde weich. „Ein aufgewecktes Kerlchen, neugierig und zutraulich. Er hat immer einen Flügelhelm auf. Und einen Gürtel mit einem Spielzeugdolch. Ich habe es euch doch gezeigt!“ Sie zog ein Comic-Heft zwischen den Frauenzeitschriften hervor und warf es auf den Couchtisch. „Da!“

„Klar“, murmelte das Segelohr und beugte sich vor. „Asterix. Kennen wir. Ist alles klar“, nickte er nervös.

„Dann lass uns gehen“, forderte der Cowboy ihn auf und stellte das Foto nachlässig wieder auf die Kommode zurück. Und, zu der Frau gewandt, „wir sehen uns heute Abend.“

Sie nickte kurz, erhob sich und nahm das leere Whiskyglas, um es in der Küche abzuspülen. Im Vorbeigehen rückte sie den silbernen Bilderrahmen wieder exakt an den Platz, an dem er vorher gestanden hatte.

Die beiden Männer verließen grußlos die kleine Wohnung. Die Frau beobachtete durch das Fenster, wie sie sich vor der Haustür trennten und in verschiedene Richtungen gingen. Sie schloss die Gardinen und setzte sich wieder auf die Couch. Nachdem sie sich eine Zigarette angezündet hatte, griff sie zum Telefon. „Ich bin es“, sagte sie lächelnd. „Es ist alles bereit. Bring mir heute Abend die K.-o.-Tropfen mit.“

Für Karl Bender begann dieser strahlende Donnerstagmorgen wie jeder andere Wochentag auch. Nichts wies darauf hin, dass sich gerade das Böse unter dem Mainzer Sommerhimmel zusammenbraute und wie sehr die nächsten Tage von Gewalt und Mord geprägt sein würden.

Der Kriminalhauptkommissar verließ sein Häuschen am Fuße der gigantischen Gonsenheimer Elsa-Brändström Hochhäuser, um sich mit Bommel auf den Weg zum Feuerwehrpark zu machen. Bender blinzelte in den hellen Sommermorgen und atmete tief ein. Die Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher und einem leisen Duft von Jasmin. Winzige Schäfchenwolken schwebten über den blauen Himmel und der Tag versprach, so richtig heiß zu werden.

In den Vorgärten waren bereits die ersten Nachbarn aktiv. Bettzeug hing aus den Fenstern, aus den Garagen wurden Rasenmäher geschoben und Gartenschläuche versprühten glitzernde Regenbögen über Rabatten und Rasenflächen. Benders Garten war nicht so gepflegt wie die Anlagen seiner Nachbarn, denn für Gartenarbeit fehlte dem Kriminalhauptkommissar einfach die Zeit. Aber dafür strahlten das satte Grün rund um sein kleines Häuschen, der gänseblümchengesprenkelte Rasen, der alte Nussbaum und die wild wuchernden Efeupflanzen eine natürliche Schönheit aus, die man nicht zerstören sollte, fand er.

Bender zog im Vorbeigehen die Morgenzeitung aus dem Briefkasten, da trat nebenan der alte Johann Becker aus seinem Gartenhäuschen.

„Guten Morgen, Karl“, rief der Nachbar, den in Gonsenheim jeder den ‚Beckerjean’ nannte, gut gelaunt über den Zaun und richtete sein Mordinstrument auf Bender. „Ich könnte später bei dir auch mal ran!“ Der Beckerjean war mit seiner neuen Kettensäge bewaffnet. Er fuchtelte tatendurstig damit herum, gefährlich nahe an Benders verwilderter Thujahecke.

Um Himmels willen, nein!, durchfuhr es Bender. „Danke, Jean, das ist nett“, winkte er freundlich ab. „Aber du weißt doch, bei mir bleibt alles, wie es ist.“

„Na, dann…“ Der Beckerjean wandte sich enttäuscht seiner eigenen Hecke zu und versenkte die kreischende Motorsäge in den Tannenzweigen.

Bommel stöberte aufgeregt durch das Dickicht des kleinen Parks, während Bender hinter ihm her schlenderte. Im Gehen warf er flüchtige Blicke auf die Schlagzeilen der Mainzer Zeitung, aber er ließ auch Bommel nicht aus den Augen. Nach der Untätigkeit der langen Nacht tobte der Hund jetzt alle seine Energien aus und da galt es, ein wenig aufzupassen. Denn der Mischling aus Golden Retriever und Border Collie war nach den grundverschiedenen Erbanlagen seiner Eltern ein Jäger und Hüter zugleich. Ein jagender Hütehund, ein hütender Jagdhund sozusagen, der die Objekte seiner Begierde ebenso leidenschaftlich hetzte wie bewachte. Bommels Traum war es, Katzen, Eichhörnchen, Jogger, Radfahrer und Motorräder zu einer gigantischen Herde zusammenzutreiben, um sie dann zu bewachen.

An diesem Morgen fetzte Bommel dem von der Nachtschicht heimkehrenden Nachbarskater hinterher, buddelte in einem Maulwurfsloch, wälzte sich auf der Grünfläche und warf sich dann erhitzt in das Sprinklerbecken der Feuerwehr. Nach Verrichtung aller anstehenden Geschäfte trabte er danach nass und zufrieden mit Bender wieder nach Hause.

Benders und Bommels Arbeitstage waren klar strukturiert. Sobald der Kriminalhauptkommissar ins Präsidium ging, sank Bommel in der Küche in sein Körbchen und in den wohlverdienten Morgenschlaf. Am Mittag holte ihn der Beckerjean ab und bei ihm durfte Bommel mit Luzie spielen, bis Bender von der Arbeit heimkehrte und ihn wieder abholte.

Eigentlich eine perfekte Lösung, zumal Beckers Retrieverhündin Luzie Bommels Lieblingsgespielin war. Vier Welpen waren der sichtbare Beweis für Luzies und Bommels Liebe, aber Bender hoffte, dass es Bommel jetzt genug sein ließe mit der Leidenschaft. Denn, und das hatte ihm der Beckerjean eindeutig klargemacht, wenn Bender ein Loch im Zaun hatte und Bommel ausbüchsen ließ, dann sollte er auch Verantwortung für die Folgen und damit für zwei der Bommelbabys übernehmen. Alimente verlangte der Beckerjean zwar keine, aber zumindest, dass Bender sich an der Welpenvermittlung beteiligte. Das hatte er vor wenigen Tagen beim abendlichen Schwätzchen über den Zaun freundlich, aber bestimmt gefordert. Ein Problem, das Bender noch nicht in Angriff genommen hatte. Aber er hatte ja noch mindestens zwei Wochen Zeit, das zu lösen, tröstete Bender sich, denn noch waren die vier Bommelkinder zu klein, um von der Mutter weggenommen zu werden.

Bender machte sich gegen Viertel nach sieben Uhr auf den Weg ins Kommissariat in der Mainzer Neustadt. Er ging gemütlich die Maler-Becker Straße hinunter und bog in die Breite Straße ein, um am Juxplatz die Straßenbahn in die Innenstadt zu nehmen.

An der Straßenbahnhaltestelle tummelten sich schon die Schüler. Scharen von Kindern und Jugendlichen fuhren jeden Morgen in die Gymnasien der Innenstadt und ab sieben Uhr herrschte an der Haltestelle aufgeregtes Gedrängel. Fast hätte eine besonders lebhafte Gruppe eine alte Dame mit ihrem Rollator auf die Schienen gestoßen. Bender sah sich gezwungen, die Gruppe zur Ordnung zu rufen.

„Jungs, macht mal langsam!“ Benders Stimme klang ruhig, aber bestimmt. Die angesprochenen Schüler drehten sich zu ihm um und hörten widerspruchslos mit ihrem Gerangel auf. Das war keine Überraschung für Bender, denn der Kriminalhauptkommissar war sich der Wirkung seiner Stimme durchaus bewusst. Oft setzte er sie sogar gezielt bei Ermittlungen und Vernehmungen ein.

Benders Stimme war tief, warm und gleichzeitig voller Kraft und Volumen. Eine Stimme, die natürliche Autorität ausstrahlte und besänftigte, die aber bei seinen seltenen Zornesausbrüchen einen ganzen Raum füllen und gewaltig unter die Haut gehen konnte. Meine Bluesstimme eben, schmunzelte Bender in sich hinein und stellte sich mit seiner Zeitung an den Rand des Wartehäuschens. Von hier aus konnte er die alte Dame vorsorglich im Auge behalten.

Karl Bender hatte nicht nur heute ein waches Auge für seine Umgebung. Trotz, oder vielleicht sogar gerade wegen seines mörderischen Berufes, bei dem er mit den schlimmsten Verbrechen konfrontiert wurde, war er ein Mann der Harmonie. Während in seiner Arbeitswelt die schrecklichsten Dinge geschahen, bestand Bender hartnäckig darauf, dass seine eigene kleine Welt heil war. Und dafür setzte er sich auch tatkräftig ein.

Dabei täuschte Benders Erscheinung durchaus darüber hinweg, wie resolut er vorgehen konnte. 95 Kilogramm Lebendgewicht und eine Größe von eins fünfundachtzig ließen ihn zwar nicht unterernährt, aber auch keinesfalls korpulent erscheinen. Seine dunklen Haare waren trotz deutlicher Geheimratsecken irgendwie immer ein klein wenig zu lang und zu strubbelig und seine alte, aber gerade wieder in Mode gekommene Hornbrille und der Schnauzbart erinnerten ihn als Kenner der klassischen Filmszene selbst an Groucho Marx.

Normalerweise stieg Bender in der Mainzer Neustadt aus, an der Haltestelle in der Goethestraße. Das war der kürzeste Weg zum Präsidium am Valenciaplatz. Aber an besonders schönen Tagen wie diesem gönnte er sich einen Umweg und fuhr zwei Stationen weiter, bis zum Mainzer Hauptbahnhof. Von dort aus schlenderte er die Kaiserstraße hinunter und bog in die Hindenburgstraße ein. Bender liebte diesen Arbeitsweg und vor allem liebte er die Hindenburgstraße.

Jetzt im Hochsommer war die breite Allee mit den schattigen Platanen und den schönen Jahrhundertwendehäusern eine wahre Pracht. Bender genoss das satte Grün, durch das er mitten in der Stadt schlendern konnte. Und heute wartete auf ihn sogar noch eine besonders glückliche Fügung.

Mehrere Anwohner der Hindenburgstraße schienen sich zusammengetan zu haben und hatten bei der Stadtverwaltung einen Sperrmülltermin angemeldet. An diesem herrlichen Morgen waren auf den großen Freiflächen zwischen dem Bürgersteig und den Häusern Unmengen von Plunder, Krimskrams und Sammelsurien von Habseligkeiten ausgebreitet. Sperrmüll!!, jubelte Bender innerlich und sein Herz schlug höher. Wenn Kriminalhauptkommissar Karl Bender auf einen Sperrmüllstapel stieß, dann ging er auf Schatzsuche. Dann wurde er zum Sammler und zum Jäger zugleich.

Sperrmüll gehörte zu den großen Versuchungen des Karl Bender. Da konnte er nur selten widerstehen. Eigentlich nie.

Und er fand immer etwas, das seine Fantasie anregte und das er, zumindest irgendwann einmal, gebrauchen konnte. Sein Häuschen war voll von solchen Kostbarkeiten. Manche warteten noch, sorgfältig gestapelt und in allen Räumen verteilt, auf ihre Reparatur und die spätere Verwendung. Andere hatten längst einen Platz in seinem Leben gefunden. Und alle hatte er sie irgendwie lieb gewonnen.

Wie der Küchenschrank, der einmal ein Tortenbüfett gewesen war und den Bender aus einer Gonsenheimer Konditorei gerettet hatte. Als der Konditor seinen Laden modernisierte, standen all die schönen Zuckerbäckermöbel auf der Straße und Bender hatte das Tortenschränkchen nach Hause geschleppt, zusammen mit dem kleinen Nussbaumtisch, auf dem die antike Ladenkasse gestanden hatte. Der hatte jetzt seinen Platz neben Benders Lieblingssessel im Wohnzimmer, als Ablage für sein Rotweinglas und seine Krimis.

Besonders stolz war Bender auf seine Toastersammlung, für die er eigens ein Wandregal über drei Küchenwände hinweg gebaut hatte. Siebenunddreißig chromblitzende Fünfzigerjahre-Toaster, alle vom Sperrmüll und alle intakt. Bender hatte jeden einzelnen von ihnen liebevoll geputzt und repariert. Solche Funde sind selten, aber es gibt sie.

Entlang der Hindenburgstraße konnte er heute mehrere sperrige Stapel ausmachen, die ihm auf den ersten Blick durchaus verführerisch erschienen. Einen Toaster konnte Bender nach grober Sichtung nicht entdecken, aber zwischen Pappkartons, Brettern, aufgerollten Teppichen und abgebauten Lattenrosten lugten einige Koffer und Kartons hervor, deren Inhalte möglicherweise von größtem Interesse sein könnten. Bender hielt inne. Nach einem Blick auf seine Armbanduhr rief er sich seine Bürozeit und vor allem seine Vorsätze, nicht mehr so regelmäßig Beute in den Bau zu tragen, ins Bewusstsein. Nun gut, heute unterwerfe ich mich einem Gottesurteil, beschloss er spontan. Wenn die Müllabfuhr die Schätze bis nach Dienstschluss noch nicht abgeholt hat, dann sehe ich mir alles genau an.

Bender widerstand. Er fühlte sich wie ein Spieler, der den einarmigen Banditen ignoriert, wie ein Pyromane, der das Feuer löscht und wandte sich tapfer von all den Versuchungen ab und seiner Behörde zu.

Kurz vor halb neun kam Bender im Kommissariat an, eine Zeit, die er trotz der Gleitzeitregelung seiner Behörde als seinen persönlichen Dienstbeginn betrachtete. Und von der er erwartete, dass alle seine Mitarbeiter sich danach richteten und pünktlich am Platz waren. Britta, die Sekretärin, tippte im angrenzenden Geschäftszimmer mit fliegenden Fingern bereits ein Protokoll in den Computer. Auf der kleinen Anrichte hinter ihr gurgelte frischer Kaffee aus der Maschine in die Glaskanne. Kaffeeduft erfüllte den kleinen Raum und Bender zog es zur Kaffeemaschine, aber auch zu Britta.

Die junge Frau hatte sich in den wenigen Jahren, die sie für Bender und seine Kollegen arbeitete, als unentbehrliche Mitarbeiterin etabliert. Britta war immer gut gelaunt und nicht nur hübsch anzusehen, sondern auch fachlich eine Spitzenkraft, fand Bender.

„Britta, gibts Kaffee?“, rief er aufgeräumt und strebte zur Anrichte, um nach seiner Cheftasse zu greifen. Die hatten ihm die Kollegen am letzten Weihnachtsfest geschenkt. ‚I am the Boss’ war in dicken Lettern auf den Becher gedruckt, den Bender seitdem exklusiv benutzte. Nicht wegen des Aufdrucks, sondern weil fast schon unanständig viel Kaffee in den Pott hineinging.

Britta, die ihren Chef erst jetzt bemerkte, blickte von ihrem Computer auf. „Vergiss den Kaffee, Charlie“, antwortete sie. „Ich glaube nicht, dass du dafür Zeit hast.“ Britta zupfte einen kleinen Zettel vom Schreibblock und entzifferte ihre Notizen. „Notruf aus Weisenau. Bewaffnete nachbarschaftliche Auseinandersetzung. In der Keltenstraße soll geschossen worden sein – irgendjemand hat angeblich einen Papageien abgeknallt.“ Sie runzelte die Stirn. „Und ein Rasenmäher soll auch angeschossen worden sein. Keine Ahnung, was die meinen, aber jemand sollte sofort hin.“

Bender stellte seinen Chefbecher wieder ab. Da eine Waffe im Spiel war, war es tatsächlich erforderlich, unverzüglich Ermittlungen aufzunehmen. Dazu kam, dass Karl Bender nicht nur der Leiter der Mainzer Mordkommission war. Nach der Erkrankung seines Kollegen Beckenbach hatte man ihm vor einem Monat zusätzlich noch den Bereich „Verstöße gegen das Tierschutzgesetz“ zugewiesen.

„Sie als Hundehalter sind geradezu prädestiniert für diese Aufgabe“, hatte ihm Kriminalrat Hohl die Mehrarbeit schmackhaft machen wollen. „Sie können sich ja dann bei Ihren Mordfällen wieder entspannen“, hatte Hohl hinzugefügt und sich dabei offensichtlich für witzig gehalten.

Aber teilweise hatte sein Vorgesetzter sogar recht behalten. Karl Bender nahm diese zusätzliche Aufgabe tatsächlich sehr ernst. Bei Delikten gegen Tiere und schon beim geringsten Verdacht auf Tierquälerei war mit ihm absolut nicht zu spaßen. „Ist Kittel schon da?“, fragte er dennoch, in der leisen Hoffnung, seinen Kaffee trinken und seinen Assistenten nach Weisenau schicken zu können.

„Ach Charlie“, grinste Britta vielsagend und blickte auf die große Wanduhr über der Tür. „Es sind doch noch fünf Minuten bis halb neun …“

Bender runzelte verärgert die Stirn und warf einen Blick auf den leeren Schreibtischsessel im Nebenzimmer. Marc Kittel, sein ihm kürzlich zugeteilter Assistent, war natürlich noch nicht da. Ein winziger Minuspunkt mehr, den Bender dem Neuen innerlich verpasste. „Na gut, ich fahre raus“, teilte er Britta mit, schnappte sich seinen Notizblock vom Schreibtisch und ging zur Tiefgarage, um einen Dienstwagen zu nehmen.

Bender ertappte sich immer wieder dabei, dass er dem Neuen nicht verzeihen konnte, dass er den Platz seines langjährigen Partners eingenommen hatte. Seit Kurt Oehlers ein eigenes Kommissariat bekommen hatte und nach Trier versetzt worden war, vermisste Bender ihn fast täglich. Oehlers und Bender waren Freunde gewesen, aber vor allem ein Ermittlerduo, das sich perfekt ergänzt hatte. Ein Dream-Team, erinnerte Bender sich wehmütig und quälte sich durch den Mainzer Berufsverkehr nach Weisenau.

In dem kleinen Vorort fand er zielstrebig die Keltenstraße und musste nicht lange nach dem Tatort suchen. Am Gartenzaun zwischen zwei benachbarten Einfamilienhäusern standen zwei Männer und schrien sich an. Hier muss es sein. Bender parkte seinen Dienstwagen und stieg aus.

Ein prüfender Blick die Straße hinunter ließ ihn erahnen, wie man hier lebte. Eine Brutstätte für Gartenzaunkriege. All die neuen Reihen- und Einfamilienhäuser lagen in gedrängter Dichte nebeneinander, streng durch Zäune und Hecken voneinander getrennt. Nur wenige alte Bäume waren beim Bau der Siedlung stehen geblieben, die Gärten wurden dominiert von perfekten Rasenflächen, pflegeleichten Büschen und Blumenbeeten, von Kinderschaukeln und Sandkästen.

Die Hecken um die Vorgärten waren sauber gestutzt und die Rabatten akkurat abgezirkelt, von den Hausherrinnen mit Schnickschnack aus den Baumärkten dekoriert. Bunte Windräder, Keramikenten und getöpferte Maulwürfe, Engelchen und mediterrane Pinienzapfen aus Beton belebten Beete und Gehwege. Vor den Haustüren lagen Fußmatten mit Willkommensgrüßen, auf den Vortreppen standen blau glasierte Blumentöpfe mit liebevoll arrangierten Saisonblumen. An den Türen hingen jahreszeitliche Kranzgestecke und die meisten Türschilder waren selbst getöpferte Kacheln, die verkündeten, dass hier die Eltern, die Kinder, oft sogar noch die Haustiere lebten, stritten und sich wieder vertrugen. An Weihnachten klettern hier die Nikoläuse aus den Fenstern, seufzte Bender in sich hinein und trat zu den beiden Streithähnen, die sich zornentbrannt am Zaun gegenüber standen. Während der eine ein rotes Federbündel im Arm hielt, fuchtelte der zweite mit einem Gewehr.

„Kriminalhauptkommissar Bender, Polizei Mainz.“ Bender zückte seinen Dienstausweis. „Geben Sie mir sofort Ihre Waffe.“

Die beiden Männer verstummten schlagartig und schauten Bender erwartungsvoll an. „Gut, dass Sie da sind!“ Der Mann mit der Waffe übergab Bender widerspruchslos das Gewehr. Mit einem kurzen Blick auf die Flinte stellte Bender fest, dass es sich nur um ein Kleinkalibergewehr handelte.

„Ist die Waffe gemeldet?“, fragte er streng. „Haben Sie eine Waffenbesitzkarte?“

„Ja, selbstverständlich“, nickte der Mann.

„Dann zeigen Sie sie mir“, forderte Bender ihn knapp auf.

„Jetzt werden wir sehen, wer hier recht hat“, knirschte der Mann und verschwand über die Terrasse im Haus, aber nicht, ohne einen letzten, wütenden Blick auf seinen Nachbarn zu werfen.

„Was war hier los?“, wandte sich Bender an den Mann mit dem Federbündel.

„Das ist der Peter! Mein Papagei!“, rief der und hielt Bender die sterblichen Überreste des Vogels hin. „Er hat mein Peterle ermordet! Er hat ihn einfach abgeknallt!“, schrie er mit überschlagender Stimme. Passt ins Dezernat, dachte Bender. Auch ein Papageienmord ist ein Mord.

„Bitte erzählen Sie, was passiert ist“, forderte er den Papageienbesitzer beruhigend auf.

„Das ging alles ganz schnell“, sprudelte der heraus. „Mein Nachbar war Kameramann beim ZDF. Der hat schon im Vietnamkrieg und in Afghanistan und in allen Kriegsgebieten gedreht und irgendwie hat der dadurch jetzt einen Knall. Ich meine, wer hat denn heutzutage eine Waffe im Haus? Darf der das überhaupt? Der kann doch nicht einfach so damit rumballern, oder?“

„Nun mal der Reihe nach. Erzählen Sie mir, was hier und heute passiert ist.“ Benders Stimme war freundlich und vermittelte seinem aufgelösten Gegenüber, dass da jemand bereit war, ihn anzuhören.

„Ja, also mein Peterle ist ja schon ziemlich alt, fast vierzig Jahre. Ich habe ihn erst seit vier Jahren. Vorher war er jahrelang in einer Spielhölle. Stellen Sie sich das mal vor, den ganzen Tag saß das arme Tier im Halbdunkel zwischen den rauchenden Spielern auf einem Flipperautomaten. Ich habe ihn da rausgeholt und jetzt hatte er ein schönes Gnadenbrot bei mir. Im Sommer habe ich ihn jeden Tag in den Garten gelassen. Und weil das Peterle die Federn gestutzt hatte, konnte ich ihn auch mal fliegen lassen. Er flatterte ja nicht weit, höchstens über den Zaun.“

„Und wie wurde er erschossen?“

„Das Vieh hat auf meinem Kirschbaum gesessen und rumgegrölt“, warf der pensionierte Kameramann ein, der mittlerweile mit der Waffenbesitzkarte aus dem Haus gekommen war. Bender warf zuerst dem Kameramann einen warnenden Blick zu, dann prüfte er kurz das Dokument. Dabei hörte er weiter dem Papageienbesitzer zu.

„Das Peterle ist nur kurz über den Zaun geflogen. Er wäre gleich zurückgekommen. Das hat er immer so gemacht. Deshalb knallt man ihn doch nicht ab!“, schrie der Papageienbesitzer mit schriller Stimme.

„Das macht der jeden Tag so! Und immer, wenn ich mal ausschlafen will, hockt das Vieh in meinem Kirschbaum und kreischt ins Schlafzimmerfenster!“, brüllte der Kameramann zurück.

Bender wischte sich ein weißes Spuckeflöckchen von der Stirn. Hier ist ein seit Langem schwelender Nachbarschaftsstreit eskaliert, erkannte er. Eine Verurteilung bringt da gar nichts. Aber das Geballere auf dem Grundstück muss aufhören.

„Meine Herren, jetzt mal Ruhe“, unterbrach Bender die beiden. Die Streithähne wichen zurück und atmeten tief durch. Aber sie starrten sich weiterhin schweigend mit wütenden Blicken an.

„So, eines nach dem anderen. Ihre Waffenbesitzkarte ist in Ordnung. Danke.“ Bender gab dem Kameramann das Papier zurück und klappte sein kleines Notizbuch auf. „Jetzt nehme ich zuerst einmal Ihre Personalien auf.“ Er sah den Kameramann fragend an.

„Saur, mein Name“, murmelte der und schob die Waffenbesitzkarte in die Hosentasche.

„Winkelhuber“, stellte sich der Expapageienbesitzer leise vor. Und während die beiden Männer ihre Angaben zur Person machten, kamen immer mehr kleine Details ans Tageslicht. Grundsätzlich waren sich beide bei der Beschreibung des Tathergangs einig. Der unglückselige Papagei hatte an diesem Schicksalsmorgen wie so oft den Garten des Herrn Winkelhuber verlassen und war auf den Kirschbaum des Herrn Saur geflattert. Dort hatte er, fröhlich in den blauen Sommerhimmel jubilierend, sein Repertoire zum Besten gegeben. Und der Kameramann hatte dann zu seiner Waffe gegriffen und den Vogel mit einem einzigen Schuss erlegt. Rein rechtlich ist das schnell geklärt, dachte Bender. Aber hier muss ich vermitteln.

„Da sich der Kirschbaum auf dem Grundstück des Herrn Saur befindet“, klärte der Kommissar die beiden Streithähne offiziell auf, „ist ein strafbares Waffendelikt nicht gegeben, aber eine Ordnungswidrigkeit. Dazu kommt noch“, fügte er mit strengem Blick auf den Kameramann hinzu, „der Verstoß gegen das Tierschutzgesetz wegen Tötung eines Tieres ohne vernünftigen Grund. Und das ist durchaus eine Straftat. Warum haben Sie das Tier überhaupt erschossen?“

„Herr Kommissar, das können Sie sich nicht vorstellen, welchen Psychoterror dieser Vogel ausgeübt hat. Jeden Tag saß er da draußen und hat einen Rasenmäher nachgemacht. Oder einen Flipperautomaten. Haben Sie schon mal versucht, sich neben einem knatternden Rasenmäher oder einem jodelnden Flipperautomaten zu entspannen oder zu telefonieren?“

Ersteres hatte Bender in der Tat schon versucht, aber nie geschafft. Auch in seinem Viertel wurde samstags zur Zeit des Mittagsschlafs großflächig gemäht. Bender konnte sich ein gewisses Verständnis für den Mann abringen, allerdings ließ ihn das bedauernswerte Schicksal des Papageien nicht ungerührt. Schließlich fiel dieser Fall ja in sein neu zugeteiltes Tierschutzreferat.

Der Kameramann hielt einen Kassettenrekorder hoch, den er vorsorglich mit seiner Waffenbesitzkarte aus dem Haus mitgebracht hatte.

„Herr Kommissar, hören Sie sich das mal an. Ich habs mal aufgenommen, als Beweismittel.“ Er drückte auf ‚Play’ und das Band lief an. Bender erlebte ein Stimmvolumen und eine Ausdrucksstärke, die er dem kleinen Brustkorb eines Papageien niemals zugetraut hätte. Das Tier gab von sich, was es in der Spielhölle und später im sommerlichen Garten gelernt hatte. Im Wechsel knatterte ein dieselbetriebener Rasenmäher und wimmerte, wummerte, dengelte und jodelte ein Flipperautomat. Bei aller Tierliebe, dachte Bender insgeheim und starrte auf das rote Federbündel, das hätte ich auch nicht ausgehalten.

„Ach, mein Peterle“, seufzte der Papageienbesitzer wehmütig, aber dann gab er kleinlaut zu, dem Vogel selbst hin und wieder ein wenig Valium ins Futter gegeben zu haben, da er langfristig um die Gesundheit seiner Nerven gefürchtet habe. Frau Winkelhuber, fügte er bedauernd hinzu, sei seit vier Jahren schon voll auf Valium.

Angesichts dieses Geständnisses hatte Bender das Gefühl, eine gewisse Erleichterung bei Herrn Winkelhuber zu spüren. Die Situation war zwar brutal, aber nachhaltig beendet. Und in diesem Moment hatte Bender, wie aus dem Nichts, einen seiner berühmten Gedankenblitze, die sein alter Partner Oehlers immer so bewundert hatte. Gegen die Trauer über den Verlust des unglückseligen Peterle wüsste ich schon was …

Nachdem er handschriftlich die Aussagen des Geschädigten und des Beschuldigten aufgenommen hatte, begann Bender behutsam, seinen frisch gefassten Plan in die Tat umzusetzen. „Hören Sie mal zu“, wandte er sich an den Kameramann, „ich kann mich beim zuständigen Staatsanwalt dafür verwenden, dass das Verfahren gegen Sie wegen rechtswidriger Tötung eines Tieres gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt wird.“ Der Kameramann nickte zustimmend.

„Billig wird das allerdings nicht. Und die Ballerei hört mir auf. Ist das klar?“

Erneutes Nicken. Dann wandte Bender sich mit weicher Stimme an den Besitzer des erschossenen Papageien.

„Herr Winkelhuber, das Peterle fehlt Ihnen jetzt sicher …“ Bender legte ein wenig mitfühlenden Schmelz in seine Stimme und Herr Winkelhuber blinzelte, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. „Sagen Sie mal, Herr Winkelhuber, warum schaffen Sie sich nicht einen kleinen Hund an? Der nachbarschaftlichen Harmonie wäre das sicher zuträglich. Und möglicherweise Ihrer Ehe und der Gesundheit Ihrer Frau auch …“

Ein Vorschlag, dem der Papageienbesitzer spontan einiges abgewinnen konnte. Das Verreisen mit dem Papagei habe sich immer sehr schwierig gestaltet, gab er unumwunden zu.

„Hören Sie mal …“ Bender zupfte Herrn Winkelhuber am Arm und versuchte mühsam, seine Aufregung zu unterdrücken. „Ich hätte da was für Sie. Ich habe einen wunderschönen Hundewelpen, ein kleines Golden-Retriever-Border-Collie-Mädchen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ganz lieb und ich könnte sie Ihnen vermitteln …“

Der Expapageienbesitzer starrte Bender fasziniert an. Ein winziger Funke glitzerte in seinen Augen, bemerkte Bender zufrieden.

„Sie heißt Lilly und ist sechs Wochen alt“, legte er schnell nach. „Und so süß! In zwei Wochen könnten Sie das Hundebaby schon haben“, lockte Bender und bemerkte nicht ohne Genugtuung das aufkeimende Leuchten in den Augen des Mannes.

„Ich rede mit meiner Frau und rufe Sie an“, murmelte der und legte endlich die Papageienleiche aus der Hand.

„Das brauchen Sie nicht!“ Bender blieb dran. „Ich komme morgen ausnahmsweise mal selbst vorbei und lasse mir von Ihnen beiden das Protokoll unterschreiben. Überlegen Sie es sich bis morgen.“ Bender wandte sich um und warf einen scharfen Seitenblick auf den Kameramann.

„Ja. Hund ist in Ordnung“, murmelte der zustimmend. „Retriever sollen ja auch keine Kläffer sein.“

Bender ging wie auf Wolken zurück zu seinem Dienstwagen. Vielleicht hatte er jetzt einen seiner beiden Hundewelpen untergebracht und damit eine Sorge weniger!

Während er den Autoschlüssel ins Schloss des Dienstwagens schob, schaute er sich noch einmal prüfend um. Schönes Wohnviertel… Hier wird es das Bommelkind gut haben …

Bender machte sich, zufrieden mit sich und der Welt, auf den Rückweg ins Kommissariat.

Karl Bender fuhr in die Tiefgarage des Polizeipräsidiums. Dabei fiel ihm schon von Weitem das Auto seines Assistenten auf. Da es rund um das Polizeipräsidium keinen Dienstparkplatz für die Polizeibeamten gab, waren in der Tiefgarage neben den polizeilichen Dienstfahrzeugen auch Parkplätze für die privaten Pkw von Beamten reserviert. Das kostete zwar etwas, aber manchen Kollegen war es das wert, denn nicht jeder wollte jeden Morgen in den Straßen rund um den Valenciaplatz nach einem freien Parkplatz suchen.

Offenbar hatte sein Assistent sich gleich zu Beginn seiner Einstellung um einen der bewachten und wetterfesten Tiefgaragenplätze für sein Cabrio bemüht, denn sein quietschgelber Alfa Romeo Spider 3.0 V6 leuchtete aus der Masse der Dienstwagen und privaten Pkw wie ein Stern am Nachthimmel.

Strunzerzitrone, murmelte Bender abfällig in sich hinein und nahm die Treppe ins Büro.

Marc Kittel saß im Internet versunken an seinem Schreibtisch. Der junge Mann fuhr ein wenig erschrocken auf, als Bender hereinkam. „Da war ein Stau, wegen eines Verkehrsunfalls“, murmelte er ungefragt. Wenn ich nicht so gut gelaunt wäre, würde ich das jetzt überprüfen. Bender war nach der gelungenen Befriedungsaktion in Weisenau, vor allem aber wegen der erfolgreichen Welpenvermittlung in Hochstimmung. Allerdings ließ er es sich nicht nehmen, seinen Assistenten zwei Sekunden länger als nötig mit hochgezogener Augenbraue anzuschauen. Dann wandte er sich dem Kaffee zu, den Britta ihm bereits in seinen Bossbecher eingeschenkt hatte.

„War ein Papageienmord“, murmelte Bender mit leisem Grinsen und griff nach dem Milchkännchen. „Britta, bist du so nett und schreibst das Protokoll?“ Er reichte Britta seine Notizen und balancierte seinen vollen Chefpott vorsichtig in sein Büro.

„Ach Charlie, was hast du wieder für Hieroglyphen gemalt!“, seufzte Britta und blickte auf das Gekrakel. „Ich lege dir dein abgetipptes Protokoll später ins Körbchen.“

Bender nahm einen Schluck heißen Kaffee und lehnte sich im Schreibtischsessel zurück. Durch die geöffnete Tür konnte er seinen Assistenten am Computer sehen. Marc Kittel starrte konzentriert auf den Monitor, die Maus in seiner rechten Hand klickte in regelmäßigen Abständen. Marc Kittel surfte im Internet.

Eigentlich hatte der siebenundzwanzigjährige Kittel recht gute Beurteilungen, aber nach Benders Einschätzung erstaunlich kurze Beförderungszeiten hinter sich, die auf ein gewisses Maß an Vitamin B hindeuten könnten. Ob der junge Mann oder seine Familie tatsächlich über entsprechende Beziehungen verfügten, das wusste er nicht. Aber er hegte zumindest den Verdacht. Und das genügte. Denn Beziehungsklüngelei konnte Bender auf den Tod nicht leiden.

Aber nicht nur aus diesem Grund wurde er einfach nicht warm mit dem jungen Mann. Zu gegensätzlich waren die Charaktere und vor allem die Arbeitsweisen. Obwohl Marc Kittel in den wenigen Wochen in Mainz noch keine nennenswerte Gelegenheit gehabt hatte, sich zu beweisen, hatte Bender dennoch festgestellt, dass seine Arbeitsauffassung eher von den einschlägigen Kinohelden geprägt war, anstatt von Menschenkenntnis und Intuition. Und gerade darauf baute Kriminalhauptkommissar Bender seine Ermittlungen auf. Im Gegensatz zu seinem ehrgeizigen Assistenten, der nie ohne seine Walter P5 Dienstpistole zum Einsatz ging, trug Bender im Dienst niemals eine Waffe. Bender lebte nach dem Neuen Testament, genauer nach Matthäus 26, 52: ‚Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.’

Oder einfacher, nach der alten Film-noir-Maxime ‚Wer keine Pistole trägt, der wird auch nicht erschossen.’ Benders Waffe befand sich zu Hause in einem kleinen Schranktresor, den er, wie sollte es anders sein, mit dem zugehörigen Schlüssel aus dem Sperrmüll gezogen hatte.

Kriminalkommissar Bender und Kommissar Kittel waren so verschieden wie Sherlock Holmes und Jerry Cotton, wie Maigret und Schimanski, wie Hercule Poirot und Lemmy Caution. Während Bender gerne in seinem Lieblingssessel seine grauen Zellen anstrengte, einen Fall und alle involvierten Personen präzise analysierte und sich dabei in Mordopfer und mögliche Verdächtige hineinversetzte, träumte Marc Kittel von aufsehenerregenden Schießereien, wilden Verfolgungsjagden und spektakulären Schlägereien. Aber wenn es um die Einhaltung von Dienstzeiten und die Abrechnung von Überstunden ging, war er absolut korrekt. Kittel kam nie zu früh und ging keine Minute zu spät.

Der Nachmittag verging für Bender wie im Fluge. An diesem wunderbaren Tag klappte einfach alles. Er arbeitete fast sein ganzes Ablagekörbchen ab und als zwischen zwei Vernehmungen sein Handy klingelte, war Herr Winkelhuber am Apparat.

„Herr Kommissar“, jubelte der Expapageienbesitzer aus Weisenau, „wir nehmen das Hundchen! Meine Frau ist schon ein Körbchen kaufen gegangen und ich habe den Papageienkäfig bereits bei Ebay verkauft. Für fünfzig Euro! Dafür kriegt das Hundekind Spielzeug. Meine Frau lässt noch fragen, ob ihr ein rosafarbenes Halsbändchen stehen würde. Welche Farbe hat sie denn?“

Bender überlegte kurz. „So eine Mischung aus Braun und Weiß, ähm … champagnerfarben“, gab er an. „Sehr apart.“

„Ach, das wird meine Frau aber freuen. Da passt rosa gut“, entschied der Expapageienbesitzer und Hundeherr in spe zufrieden. „Wir freuen uns. Und Welpenfutter haben wir auch schon besorgt.“ Lächelnd legte Bender auf. Welch ein perfekter Tag! Und das Schönste kommt noch …

Als Bender pünktlich um fünf Uhr das Präsidium verließ, konnte er es kaum erwarten, das am Morgen angerufene Gottesurteil auszuprobieren: Ist der Sperrmüll noch da?

Der Sperrmüll war noch da. Allerdings war die Konkurrenz nicht untätig gewesen. Die Sperrmüllstapel waren längst nicht mehr so ordentlich arrangiert wie am Morgen. Bender ließ seinen Blick konzentriert über alte Matratzen, abgebaute Bettgestelle und ausrangierte Kühlschränke gleiten. Die Schätze, die ihn interessierten, waren nur selten auf den ersten Blick zu entdecken. Er schob mit der Fußspitze ein zerbrochenes Regalbrett beiseite. Da! Das alte Fußbänkchen dahinten ist bestimmt schon sechzig Jahre alt. Kiefer massiv, und wenn ich es nur ein bisschen schleife, grundiere und lackiere, wäre es wieder ein Schmuckstück. Man könnte es benutzen, um besser ans obere Regal im Küchenschrank oder die Toastersammlung zu kommen. Bender griff zu.

Ein paar Passanten gingen langsamer vorbei, einige blieben stehen und warfen prüfende Blicke auf die ausgestellte Ware. Sperrmüll, sinnierte Bender, das ist etwas ganz anderes als Müll und Unrat. Sperrmüll, das ist eine Lebensauffassung. Es ist die Zuneigung zu schönen Dingen, die gedankenlos der Vernichtung anheim gegeben werden, obwohl es sie aufzubewahren lohnt. Dinge, die alle irgendeine Geschichte erzählen, die es zu entdecken und zu bewahren gilt.

Dabei war Bender kein Messie. Er selbst sah sich als einen Archäologen der Moderne, der all die vielen Hilferufe aus dem Sperrmüll hörte. „Wie kann man mich wegwerfen, der ich doch jahrzehntelang meinen Besitzern gedient habe und auch weiterhin dienen könnte?“, riefen all die schönen Dinge ihm zu.

„Nimm mich mit!“, hatte das Fußbänkchen gefleht, das Bender jetzt unter dem Arm trug. Karl Bender hatte das Bedürfnis, diesen weggeworfenen Gegenständen ein neues Zuhause zu geben. Was, praktisch gesehen, in seinem eigenen Häuschen mittlerweile zu einer gewissen Enge führte.

Auf der anderen Straßenseite stöberte ein älterer Herr im dunklen Anzug herum. Es war Dr. Dornbusch, ein pensionierter Richter, von dem Bender wusste, dass er Militaria und alte Bücher sammelte.

„Guten Tag, Herr Bender“, rief der Pensionär fröhlich, „auch auf der Jagd? Schauen Sie mal, was ich entdeckt habe!“ Er eilte auf Bender zu und wedelte triumphierend mit einem abgegriffenen Lederbändchen. „Ein Kriegstagebuch, schauen Sie nur, von 1915. Was die Leute so wegwerfen, das ist doch unglaublich. So was gehört doch ins Museum und nicht in den Müll! Da haben doch Menschen ihre Geschichte erzählt, ihr ganzes Leben offengelegt und dann endet es hier. Gut, dass ich es gefunden habe.“

Später am Abend, das wusste Bender, würde der alte Richter alles über den jungen Soldaten wissen, der da seine Erlebnisse und vielleicht sogar seine Hoffnungen und Ängste festgehalten hatte.

„Toll, Herr Dornbusch, wieder ein Stück Erinnerung gerettet, nicht? Bei mir ist es ein Fußbänkchen, das ist praktisch, damit ich besser an meine Toastersammlung auf dem Regal komme.“

„Schön, schön, Bender“, wandte sich Dr. Dornbusch desinteressiert ab und einem zerfledderten Lederkoffer zu, „einen schönen Feierabend noch. Grüßen Sie die Kollegen.“

Bis Bender die Straßenbahn am Mainzer Hauptbahnhof erreichte, hatte er außer dem Fußbänkchen noch eine holzgeschnitzte Engelsfigur ohne Flügel gefunden und eine nur wenig zerbeulte Märklin-Lok. Schätze, denen er sich irgendwann widmen würde.

Gemütliche Abende, auf die sich Bender schon freute und die mit Bluesmusik und einem Glas Rotwein perfekt werden würden. Und genau so einen Abend würde er sich heute machen, nahm er sich zufrieden vor.

Auch Marc Kittel verließ in bester Laune das Präsidium. Er warf sich unternehmungslustig in sein offenes Cabrio, zog die Ray Ban Sonnenbrille aus der Brusttasche seines Armanijacketts und brauste zügig aus dem Dunkel der Tiefgarage ins Sonnenlicht. Zu Hause würde er sich ein wenig aufbrezeln, um diesen herrlichen Abend mit einem ausgiebigen Kneipenbummel zu beschließen.

Das Mainzer Nachtleben war zwar nicht mit dem von Berlin, Hamburg, München oder Köln zu vergleichen, aber auch in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt sollte man solch eine laue Sommernacht nicht ungenutzt verstreichen lassen, fand Kittel. Und was er im Vorbeifahren so sah, bestätigte seinen Entschluss. Überall flanierten junge Frauen, in leichten Sommerkleidern, Miniröcken und luftigen Sommertops, manche sogar in knallengen Shorts, die mehr verhießen, als sie verhüllten. Kittel überlegte, wohin er gehen sollte, denn das war bestimmend für sein Outfit. Vielleicht ins Citrus oder ins Bootshaus? Oder an den Rheinstrand?

Marc Kittel beschloss, es gemächlich anzugehen und den frühen Abend in der Andau zu beginnen, mit einem kühlen Bier und Mettbaguette. Wenn er Glück hatte und draußen einen freien Tisch erwischte, dann konnte er die vorbeischeppernden Straßenbahnen und das Leben auf dem Schillerplatz beobachten.

Früher, lange vor Kittels Zeit, war die Andau ein beliebtes Studentenlokal gewesen, in dem sich vor allem Medizin- und Jurastudenten der Mainzer Universität trafen. Bis heute hatte sich in der Andau nichts verändert, sogar die Gäste waren die gleichen geblieben. Nur waren sie eben älter geworden. Aus den Studenten von damals waren heute gut situierte Ärzte und etablierte Juristen geworden. Nicht wenige Staatsanwälte und Richter waren dabei, viele erfolgreiche Rechtsanwälte und Stadträte, sogar hohe Beamte und Minister aus den rheinland-pfälzischen Ministerien und der Staatskanzlei trafen sich dort zum Feierabendbier. Für Kittel eine durchaus interessante Kneipe, in der es sich lohnte, hin und wieder vorbeizuschauen. Denn die eine oder andere Bekanntschaft hatte er hier schon geschlossen, war sogar mit einigen der trinkfreudigen Juristen beim biergetauften ‚Du’ angelangt. Kontakte, die man immer mal wieder brauchen kann, fand er.

Während Marc Kittel sich in seinem kleinen Apartment für einen langen Abend zurechtmachte, war Karl Bender zu Hause angekommen. Nachdem er seine Schätze in den Bau getragen hatte, ging er hinüber zum Beckerjean, um Bommel abzuholen. Und während er höflich Beckers perfekt gestutzte Hecke bewunderte, verkündete er dem Nachbarn die frohe Botschaft seiner erfolgreichen Welpenvermittlung.

„Hm“, brummelte der Beckerjean misstrauisch und schaute mit gerunzelter Stirn zu den vier pummeligen Welpen, die auf der Terrasse durch den Laufstall wuselten. „Die Leute muss ich mir aber vorher angucken. Ich geb die Lilly nicht jedem dahergelaufenen Typen, der mal einen Hund haben will und ihn dann ins Tierheim steckt, wenn er ihn nicht mehr brauchen kann.“ Bender versicherte ihm, dass die Familie Winkelhuber ihm durchaus vertrauens- und kreditwürdig genug erschien, um dem Hundebaby ein angemessenes Zuhause und eine gesicherte Zukunft zu bieten. „Na gut“, knurrte der Beckerjean. „In zwei Wochen können sie sich bei mir vorstellen. Wenn sie in Ordnung sind, kriegen sie die Lilly. Für Emil und Henry hab ich schon nette Familien. Bleibt nur noch der Watson …“ Watson wird wohl noch meine Verantwortung sein, seufzte Bender. Aber zur Not bleibt der kleine Bengel einfach bei Bommel und mir, beschloss er spontan und kraulte den rosafarbenen Speckbauch des Welpen, der sich wohlig schnaufend auf dem Rücken rollte.

Nachdem er mit dem alten Becker noch ein paar fachmännische Bemerkungen über die neue Kettensäge ausgetauscht hatte, trollte sich Bender nach Hause, in die Küche. Bommel folgte seinem Herrn erwartungsvoll, denn der warf den Backofen an. Bender stellte das Thermostat auf 180 Grad Umluft, dann begann er, sein berühmtes Zitronenhuhn mit frischem Thymian zuzubereiten.

Bender liebte es, zu kochen und dabei seinen Gedanken nachzugehen. Seine Lieblingsrezepte sammelte er in einem Notizbuch, das er ausnahmsweise einmal nicht auf dem Sperrmüll, sondern in einem Antiquariat gefunden hatte. Es war eines dieser legendären, mit Gummiband versehenen Moleskine-Notizbücher, in denen bereits Hemingway, Oscar Wilde und Bruce Chatwin ihre Gedanken festgehalten, in die van Gogh und Matisse ihre ersten Skizzen gezeichnet hatten und in dem bis heute Donna Leon ihre venezianischen Krimis skizziert. 1986 hatte das Familienunternehmen aus Tours die Produktion eingestellt. Jetzt wurden die schwarzen Büchlein zwar wieder neu aufgelegt und in China produziert, aber Bender hatte es tatsächlich geschafft, noch eines der alten, weichledernen Originale mit dem elfenbeinfarbenen Papier zu finden. Zwischen Fettflecken und Eselsohren bewahrte er darin seine Kochrezepte auf.

Benders Küche war alles andere als eine funktionale Junggesellenküche. Sie war das Herz seines Häuschens und der Raum spiegelte deutlich wider, dass er gerne kochte, aber nicht gerne aufräumte. Und vielleicht war es genau das kulinarische Durcheinander, das Benders Küche so gemütlich machte.

Auf dem Fensterbrett standen Töpfe mit frischen Kräutern, in dem alten Tortenschrank und auf den Regalen drängten sich Gewürzdosen, Essig- und Ölflaschen, Schälchen mit frischem Knoblauch, Chili und Ingwer neben allerlei Kochgeschirr. Auf dem großen Holztisch in der Mitte der Küche lagen Kochbücher, Zeitungen und all die Schätze herum, an denen Bender noch herumbasteln wollte. In einer riesigen Obstschale legte Bender all die kleinen Dinge ab, die Männer ständig brauchen: Inbusschlüssel, Korkenzieher, Schraubenzieher, Schräubchen, diverse Bits für seinen Elektroschrauber, eine alte Trillerpfeife, Chips für Einkaufswagen und nicht zuletzt sein geliebtes Schweizer Messer. Das einzig Ordentliche in der Küche war Benders legendäre Toastersammlung auf dem meterlangen Wandregal, das er selbst gebaut hatte und das über drei Küchenwände lief.

Während Bender Hähnchenkeulen, Kartoffelstücke, Zitronenschnitze und sehr viele Knoblauchzehen auf dem Backblech verteilte, hielt er sein abendliches Schwätzchen mit Bommel. Bommel spitzte die Ohren und wartete geduldig ab. Irgendwann fiel immer was runter. Der versteht jedes Wort, da war sich Bender sicher. Besser als jede Ehefrau.

Benders Frau war vor sieben Jahren überraschend an einem Krebsleiden gestorben. Seitdem hatte er sich sein Leben alleine eingerichtet. Im Haus erinnerte ihn noch vieles an sie und eigentlich hatte er sich vorgenommen, auch nichts daran zu ändern. Aber irgendwie hatten die Dinge dann doch ein Eigenleben bekommen.

Benders Schätze vom Sperrmüll, die er früher nur in der Garage und in seinem Hobbykeller horten und reparieren durfte, waren mehr und mehr zu einem Teil seines Lebens geworden und hatten sich im ganzen Haus ausgebreitet. Seine Frau hatte seine Sammelleidenschaft zwar nie geteilt, aber sie hatte sie weitgehend toleriert. Sie hatte ihn nur hin und wieder in seine Grenzen verwiesen, wenn er sich auch noch in Küche und Wohnzimmer ausbreiten wollte. Eine wunderbare Zeit, über der noch keine Schatten von Krankheit und Abschied lagen.

Bender würzte die Hühnerkeulen großzügig mit frischem Thymian, Kampotpfeffer und Fleur de Sel, schob das Blech in den Backofen und stellte die Garzeit auf fünfundvierzig Minuten ein. Dann griff er nach einer Flasche St. Nicolas de Bourgeuil, schenkte sich ein Glas ein und ging damit ins Wohnzimmer.

Er schob eine CD von Big Jay McNeely in den CD-Player und unter den sanft pulsierenden Saxophonklängen des wunderbaren ‚There´s something on your mind’ zog er sich mit dem Rotwein und dem vom Sperrmüll geretteten flügellosen Engel auf die abendkühle Terrasse zurück.

Während das Zitronenhuhn im Backofen vor sich hinschmurgelte, lehnte Bender sich zurück und schaute in die über dem Gonsenheimer Wald untergehende Abendsonne. Er sah den schwirrenden Sommermücken zu und beobachtete den wachsenden Schatten seines Nussbaumes. Von irgendwoher wehte der Duft von Jasmin zu ihm herüber. Bender trank einen Schluck Rotwein, lauschte dem Blues und genoss den Abschluss dieses Sommertages mit allen Sinnen. Carpe diem …

Morgen, so nahm er sich vor, würde er alles geruhsam angehen. Aber da irrte Bender sich ganz gewaltig …

Anders als für Kommissar Bender fing für seinen jungen Assistenten der Mainzer Sommerabend gerade erst an. Marc Kittel hatte in der Andau ein Mettbaguette gegessen und dazu zwei Glas Bier getrunken. Der ältere Staatsanwalt, der neben ihm an der Theke lehnte, langweilte ihn schon den ganzen Abend. Bei irgendeiner rheinland-pfälzischen Weinpanscherei hatte er irgendetwas herausgefunden, was irgendwelchen Leuten nicht gepasst hatte. So viel hatte Kittel verstanden. Und jetzt war der Mann wohl irgendwie kaltgestellt und saß auf dem Abstellgleis. Wen interessiert das?

Dieser Jurist war für Kittel wirklich nicht das, was er eine gute Beziehung nannte. Kittel schaute sich angelegentlich in der Andau um. An einem großen Ecktisch saß eine fröhliche Gruppe und plante ein gemeinsames Fest, so viel konnte er von seinem Tresenplatz aus verstehen. Die Kreuznacher Landgerichtspräsidentin war dabei, ein Ministerialdirigent, verschiedene Richter, Anwälte und Ärzte, die Kittel vom Sehen her kannte. Ein Rechtsanwalt im Lodenjäckchen pries seinen Hirschbraten an, den er pünktlich zum Fest selbst erlegen wollte, während einer der Ärzte starrsinnig auf seinem selbst gebrutzelten Grillgut bestand. Die Landgerichtspräsidentin votierte für mediterrane Küche, mit Pasta, Panzanella und ihrer berühmten Parmigiana di Melanzane, was immer die beiden Letzteren sein sollten. Der Ministerialdirigent zählte verschiedene italienische Weingüter auf, in denen er den Rotwein höchstpersönlich für das Fest beziehen wollte. Diese Leute waren schon interessanter, fand Kittel, aber da konnte er keinen Stich landen. Für die bin ich doch bloß ein kleiner Kommissar, dachte er neidisch, wenn sie mich überhaupt bemerken. Er nickte geistesabwesend zu den Ausführungen des Staatsanwalts neben ihm und winkte dem Kellner zum Bezahlen. Es wäre nicht schlecht, wenn ich jetzt noch ein paar Mädels in meinem Alter zu Gesicht bekäme. Immerhin hatte Marc Kittel sich ja nicht umsonst in Schale geworfen.

Kittels Gehalt gab zwar nicht viel her, aber er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, zum Schlussverkauf in Boutiquen zu gehen, die sonst weit über seinem finanziellen Limit lagen. Dann kaufte er sich all die Markenklamotten, die er so liebte, zu Schnäppchenpreisen. Wie die schwarze Boss-Jeans und das helle Abercrombie & Fitch-T-Shirt, die beide prächtig mit seinem schwarzen Armanijackett korrespondierten, fand er. Und sie passten hervorragend zu seinem blonden Kurzhaarschnitt, den er regelmäßig mit ein wenig Gel in eine pfiffig-strubbelige Form stylte.

Er könnte jetzt noch in die ‚Citrus Bar’ gehen und dort sein Glück versuchen, überlegte Kittel. Oder ins ‚Lomo’ am Ballplatz, da saßen meist viele Studentinnen herum. Aber irgendwie war er aufgedreht und so entschloss er sich zu einem Abstecher in seine Lieblingsbar. Da war alles zwar ein bisschen teurer, aber dort war auch garantiert immer was los. Jedenfalls, was junge und schöne Mädchen betraf. Marc Kittel verabschiedete sich mit einem müden Nicken von dem geschwätzigen Staatsanwalt, dann ging er die Gaustraße hinauf und bog in die Breidenbacherstraße ein, zur Anatomica Bar.

„Hi Sonny, gimme five!“ Der Engländer, Türsteher und Zuhälter der Bar, ließ den jungen Kommissar mit großzügiger Geste ein und Marc Kittel schob sich erwartungsvoll durch den rotsamtenen Türvorhang in den kleinen Barraum.

Noch waren nicht viele Gäste da, denn es war noch viel zu früh am Abend. Joe Cocker röhrte Randy Newmans ‚You Can Leave Your Hat On’ auf halber Lautstärke aus den Lautsprechern, ein paar junge Frauen schlangen sich gelangweilt um die Stangen, andere saßen in den roten Plüschmöbeln zusammen und plauderten miteinander. Olivia, die Bardame, ging ganz hinten im Barraum auf und ab und telefonierte leise. Der Shaker sortierte hinter der Bar die Flaschen. Als er Marc Kittel eintreten sah, griff er automatisch nach einem Cocktailglas.

„Sonny, auch mal wieder da? Wie immer, ein Mojito?“

„Yep, wie immer.“ Kittel kletterte auf den Barhocker. „Mit viel Minze. Noch nicht viel los, was?“ Er sah sich im Raum um.

Die Anatomica Bar war in ihrer Art einzigartig in Mainz. Sie war eine Mischung aus Bordell und Kneipe, in der man sich jeden erotischen Wunsch erfüllen lassen, wo man aber auch einfach nur etwas trinken konnte. Im Obergeschoss lagen die Stundenzimmer, im Schankraum tanzten die Mädchen und die Bar war vom späten Nachmittag bis zum frühen Morgen geöffnet.

Und so kamen in die Anatomica Bar nicht nur Männer, die ein erotisches Abenteuer suchten. Hier trafen sich, wenn alle anderen Lokale geschlossen hatten, viele Mainzer Nachtschwärmer. Dazu gehörten Taxifahrer ebenso wie Stadträte nach langen Sitzungen, Besucher und Künstler aus dem Mainzer Stadttheater und Kabarettisten aus dem Unterhaus, die nach den Vorstellungen viel zu aufgekratzt waren, um nach Hause oder ins Hotel zu gehen. Es war durchaus nichts Ehrenrühriges, sich als Gast der Anatomica Bar zu bekennen. Schließlich wusste ja niemand, ob man hier nur trank oder sich mit den Mädchen vergnügte.

Kittels Blick blieb an einer Gruppe schwäbischer Versicherungsvertreter hängen, die an einem großen Tisch in einer Ecke des Barraums saßen. Einer der Gruppe hatte sich offenbar zum Anführer ernannt. Er bestellte gerade lautstark eine neue Runde.

„Aschtrittle, mir habbet Durscht!“, grölte er kichernd der Bedienung hinterher. Dann wandte er sich der Gruppe plaudernder Mädchen im Hintergrund zu. „Nataschasche, uns isch langweilig!“, rief er hinüber und seine Kollegen klatschten begeistert in die Hände. Typische freigelassene Ehemänner, dachte Kittel verächtlich. Alleine sind sie Pantoffelhelden, aber in der Gruppe sind sie stark. Dass sie alle noch schwäbelten, ließ sie in seiner Achtung nicht steigen, denn er verstand kaum ein Wort.

Der Shaker zapfte ungerührt eine neue Ladung Bier und schaute einem Mann im blauen Overall hinterher, der mit einem Werkzeugkasten zum Hinterausgang ging. „Kurtie“, rief der Shaker dem Mann nach, „im Schwarzen Salon wackelt die Folterwand. Kannst du da mal nachschauen?“

Kurt nickte stumm und änderte die Laufrichtung. Er eilte nach oben, zu den Stundenzimmern.

„Wenn wir den Kurt nicht hätten“, meinte der Shaker, „gings hier drunter und drüber. Seine Frau arbeitet jetzt übrigens auch hier, die Angelika. Die brauchen Geld, seit der Kurt arbeitslos ist. Und vor allem wegen dem Kind. So ein Unglück aber auch. Aber hier gibts immer was zu tun. Vor allem für die Angelika. Angelique heißt sie hier. Sauberes Mädchen, was?“ Der Shaker deutete auf eine zierliche Frau, die in seidener Unterwäsche durch die Bar ging und die Aschenbecher leerte. „Die Angelique soll nicht nur bedienen, sondern jetzt auch für den Engländer arbeiten“, fuhr er fort. „Aber der Kurt will das nicht. Und sie ist auch noch ein bisschen scheu. Aber das wird schon.“ Der Shaker stellte die vollen Biergläser für die Vertretergruppe aufs Tablett und winkte einem der Mädchen zum Servieren.

Während Marc Kittel an seinem Mojito nippte, hatte Olivia ihr Telefonat beendet und gesellte sich zu ihm an die Bar. „Na Sonny, alles klar bei dir?“ Die Bardame nahm sich ein Küchentuch und trocknete gelangweilt ein paar Gläser ab.

„Hm, alles supi, Olivia“, murmelte Kittel. Er wusste nicht, wie Olivia mit bürgerlichen Namen hieß, aber es war ihm klar, dass sie hier nicht nur als Bardame arbeitete. Olivia war die Geschäftsführerin der Anatomica Bar und sie hatte ihren Laden ziemlich gut im Griff, fand er. Auch der Engländer trat jetzt herein. „Noch nix los da draußen.“ Er schob sich an die Bar. „Olivia, mach mir mal ein Bier.“

Marc Kittel, der Shaker, Olivia und der Engländer kannten sich schon lange. Der Shaker, das wusste Kittel, war ein Spieler. Wenn er nicht in der Bar arbeitete, saß er regelmäßig im Mainzer Casino oder in der Wiesbadener Spielbank und vertickte alles, was er hatte. Auch an der Bar war er zu später Stunde nie einem kleinen Würfelspiel oder einer Wette abgeneigt. Er hatte Kittel schon einiges an Geld abgenommen und der junge Kommissar bezweifelte, dass es immer mit rechten Dingen zuging, wenn der Shaker gewann. Auch wie der Shaker und der Engländer wirklich hießen, das wusste Kittel nicht. Und es war ihm auch letztlich egal.

Vom Engländer war allgemein nur bekannt, dass der Mann kein Brite, sondern ein aus Ostfriesland stammender Zuhälter war, den es auf dubiosen Umwegen über Südafrika nach Mainz verschlagen hatte. Seinen Spitznamen hatte er wegen seiner Begeisterung für den FC Liverpool. Die Vorliebe für einen englischen Verein unterschied den Engländer deutlich von all den Mainz 05-Fans hier. Man munkelte über ihn, dass er auch eine Zeit lang in der Fremdenlegion gewesen wäre.

Brutal genug dafür wäre er. Man sah dem schmalen und sehnigen Mann nicht an, welche Kräfte er besaß und vor allem nicht, wie hart und blitzschnell er zuschlagen konnte. Der Engländer war immer für eine Schlägerei zu haben, seine Aggressionsschwelle lag gefährlich niedrig. Das hatte Kittel mehr als einmal erlebt. Und man sieht ihm an, dass er gerne zuschlägt.

Aber obwohl unberechenbar und gefährlich, eiskalt und jähzornig, seine Mädchen schienen den Engländer zu lieben. Für sie war er ein guter Beschützer und ging mit ihnen freundlich, ja fast sogar fürsorglich um. So, als wäre jede Einzelne von ihnen seine eigene Freundin. Vielleicht sind sie das ja alle auch, dachte Kittel neidisch.

Seit Marc Kittel sich in der Anatomica Bar als Kriminalkommissar eingeführt hatte, trug er selbst hier den Spitznamen „Sonny Crocket“. Vor allem, weil er mit Vorliebe ein T-Shirt zum Jackett trug, wie der berühmte blonde Cop aus Miami Vice. Wie immer, wenn Kittel in die Anatomica Bar kam, fragte ihn der Engländer auch heute ein wenig aus, was es denn so Neues im ‚Copland’ gäbe. Und wie immer ließ Marc Kittel sich nicht lange bitten. Er wollte gerade ein wenig von seinem gefährlichen Polizeijob im mörderischen Mainz erzählen, da unterbrach ihn Lärm aus der Ecke der schwäbischen Versicherungsgruppe.

„Mädle, setz dich zu uns!“ Einer der Vertreter winkte Angelique an den Tisch. Die junge Frau, die gerade die letzten Aschenbecher auf die Tische stellte, blickte erschrocken auf. Sie sah zögernd zum Shaker hinüber und auf sein Nicken hin ging sie zu der Gruppe.

Der Anführer der schwäbischen Herrengesellschaft zog die junge Frau auf seinen Schoß und wollte sich ganz offensichtlich vor seinen Kollegen produzieren. Obwohl Angelique sich sichtlich unwohl fühlte, wurde seine Umarmung immer zudringlicher und grober. Er zupfte an Angeliques seidenem Höschen und starrte begierig auf das, was unter der Spitzenwäsche verbogen war. Olivia, die Bardame, runzelte verärgert die Stirn.

„Angelique, komm her, bitte!“, rief sie der jungen Frau zu. Und mit einem Blick zu den schwatzenden Mädchen im Hintergrund befahl sie mit schneidender Stimme zwei andere Mädchen herbei. „Lenka, Swetlana, kümmert euch bitte mal um die Herren!“

Männer wie diese Vertretergruppe gehörten für die Mädchen der Anatomica Bar zum Tagesgeschäft. Anders als Angelique arbeiteten alle jungen Frauen hier nicht nur als Bedienungen und Tabledancerinnen, sondern unter dem ‚Protektorat’ des Engländers auch als Prostituierte. Lenka und Swetlana seufzten gelangweilt auf, aber immerhin beendeten sie ihr Schwätzchen und erhoben sich. Die beiden waren Profis, sie wussten sehr gut, was nun ihr Job war. Die jungen Frauen zupften routiniert ihre spitzenbesetzten Push-up-Büstenhalter zurecht, dann spielte ein leises Lächeln um ihre verheißungsvoll geschürzten Lippen. Im Rhythmus zu Tom Jones ‚Sex Bomb’ schlenderten sie hüftschwingend zu der Vertretergruppe. Die Männer starrten ihnen fasziniert entgegen.

Angelique versuchte, den Moment zu nutzen und sich dem festen Griff des Anführers zu entwinden. Aber während seine Kollegen begehrliche Blicke auf Lenka und Swetlana warfen, legte der seinen Arm nur noch fester um Angeliques Hüften.

„Mädle, der Papi zeigts dir jetzt mal“, keuchte er und versuchte, einen feuchten Kuss auf Angeliques Dekolleté zu drücken. „Mir sind schließlich nicht zum Schwätze hier!“

Der Engländer hatte die Situation von der Bar aus beobachtet, aber jetzt war es an der Zeit, sich einzumischen, fand er. Er drehte sich auf seinem Barhocker um.

„Hör zu, Angelique serviert nur“, sagte er ruhig. „Du kannst dich mit einem anderen Mädchen amüsieren.“