Das Geheimnis der Apfelblüte - Christine Rath - E-Book

Das Geheimnis der Apfelblüte E-Book

Christine Rath

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Beschreibung

Nach einer bitteren Enttäuschung und einem Unfall, bei dem sie ihr Gedächtnis verlor, verließ die junge Ärztin Amanda vor Jahren ihre Heimat am Bodensee. Nun kehrt sie zurück, um sich um ihren schwerkranken Vater und dessen Landarztpraxis zu kümmern. Noch heute kann sich Amanda nicht erinnern, was damals wirklich geschah. Als die Apfelbäume blühen und sie ihrer verbotenen Liebe Lukas begegnet, kehren die Erinnerungen zurück. Doch Amanda hütet ein Geheimnis und die Wahrheit über die Nacht des Unfalls bringt nicht nur ihr neues Glück, sondern auch ihr Leben in Gefahr.

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Christine Rath

Das Geheimnis der Apfelblüte

Roman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Johannes Rigg / shutterstock und pure-life-pictures / Fotolia

ISBN 978-3-8392-7064-6

Gedicht

Die schönen Augen der Frühlingsnacht

Die schönen Augen der Frühlingsnacht,

Sie schauen so tröstend nieder:

Hat dich die Liebe so kleinlich gemacht,

Die Liebe, sie hebt dich wieder.

Auf grüner Linde sitzt und singt

Die süße Philomele;

Wie mir das Lied zur Seele dringt,

So dehnt sich wieder die Seele.

Heinrich Heine (1797 – 1856)

Widmung

Für meine Mutter Rosemarie, die die große Liebe zu Büchern in mir geweckt hat,und die beste Tochter der Welt, Sandrina, die diese Liebe mit mir teilt.

Prolog

Apfelblütenfest in Kressbronn am Bodensee

Sie hatte noch immer den Duft der herrlichen Blumen aus dem Vorgarten des Rosenhauses in der Nase. Ein herrlicher Duft nach Hyazinthen, Maiglöckchen und Veilchen, die ihre Mutter gepflanzt hatte und seither sorgsam hegte und pflegte. Doch nun verursachte der Geruch der Imbissbude, an der sie gerade vorüberging, plötzlich ein Gefühl von Übelkeit. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, zum Apfelblütenfest zu gehen. Um sie herum schlenderten die Festbesucher an den Marktständen vorbei, eine Coverband mit dem klangvollen Namen Seamusic spielte gut gelaunt die neuesten Hits, und die Tanzfläche, auf der die Tanzenden herumwirbelten, war ebenso brechend voll wie die zahlreichen Bierbänke und -tische. Suchend sah sie sich um. Sie musste ihn sehen, mit ihm sprechen! Vor allem musste sie selbst Gewissheit haben. Die Gewissheit, dass all die Dinge, die er ihr ins Ohr geflüstert hatte, wahr waren. Wenn ihr nur nicht so furchtbar schlecht wäre! Sie hatte die flehende Bitte ihrer Mutter, zu Hause zu bleiben, ignoriert, obwohl es ihr schlecht ging. Weil sie ihn dringend sehen musste!

»Atemlos durch die Nacht …« Glockenhell erklang die Stimme der Sängerin über den Platz, und viele der Besucher, die vermutlich schon einige Gläser des aromatischen Bodenseeweins intus hatten, sangen mit. Wie in dem Lied schien tatsächlich auf einmal die Nacht über ihnen hereinzubrechen, obwohl es doch eben noch so hell gewesen war. Sie sah zum Himmel. Dunkle Wolken türmten sich über dem Festgelände auf, ein Gewitter war im Anzug.

Den ganzen Tag schon war es unerträglich heiß gewesen. Dabei war doch erst der 30. April! Sie konnte sich nicht erinnern, wann es an einem Frühlingstag einmal derart drückend schwül gewesen war. Vielleicht war ihr auch deshalb so schwummerig. Sie hatte tagsüber viel zu wenig getrunken für diese Wetterverhältnisse. Irgendwo musste sie unbedingt ein Glas Wasser ergattern, sonst würde sie noch aus den Latschen kippen. Und sich einen Moment hinsetzen, dann würde es bestimmt wieder gehen.

Auf einmal sah sie ihn. Mit seiner ganzen Familie saß er inmitten der feiernden Gesellschaft, und alle schienen sich prächtig zu amüsieren.

Sie hielt sich einen Moment an dem Stehtisch neben dem Imbiss fest, weil ihr schon wieder schwindelig war. Sie atmete tief durch. Sie würde zu ihm gehen, sich hinsetzen und ein Glas Wasser trinken. Alles würde gut. Doch gerade, als sie sich in Bewegung setzen wollte, erschien SIE. In hautengen weißen Jeans und einem knappen roten Oberteil. Ihre Absätze, auf denen sie sich wiegenden Schrittes dem Tisch näherte, mussten schwindelerregend hoch sein.

Hatte sie es doch geahnt: SIE würde nie aufgeben, nie lockerlassen.

Sie kämpfte mit den aufsteigenden Tränen. Doch noch war das Spiel nicht aus. Wieder atmete sie tief durch und beobachtete die Menschen am Tisch. SIE setzte sich ganz nah zu ihm und flüsterte ihm verführerisch ins Ohr. Würde er etwa wieder auf sie hereinfallen? Seine Miene schien sich zu verfinstern, als seine Eltern ihn überrascht anblickten. Es sah so aus, als würde seine Mutter etwas fragen. Doch seine immer noch ernste Miene verzog sich nicht.

SIE dagegen lachte und schien auf die Frage zu antworten. Sowohl sein Bruder als auch seine Eltern sahen ihn erstaunt an, doch dann erhoben sie ihr Glas und prosteten sich fröhlich zu. Nur er war nicht fröhlich, das war deutlich zu sehen.

Er stand auf und ging … genau in ihre Richtung. Was sollte sie tun? Auf diesen Moment hatte sie doch gewartet, und nun? Sie holte tief Luft. Es war ihr klar, dass sie kurz davor war umzukippen. Noch immer hielt sie sich am Tisch fest, als sie plötzlich von starken Armen gepackt und ganz weit nach hinten auf die Tanzfläche gezogen wurde.

»Ich muss mit dir reden«, sagte er ernst, und seine Augen sahen traurig aus.

»Ich auch mit dir«, flüsterte sie. »Später!«

Noch wollte sie diesen Moment genießen und ihn ganz dicht bei sich spüren. Er zog sie fest an sich und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Ein leises Lied, ein Frühlingsabend … auf einmal fühlte sich alles so leicht an. Doch schon nach wenigen Minuten drehten sich nicht nur ihre Füße, sondern vor allem und viel schlimmer noch ihr Kopf. Sie blickte nach oben. Die Wolken, die über ihnen hingen, wirkten dunkel und bedrohlich. Schon spürte sie den ersten Tropfen. Plötzlich kam Wind auf … der sogenannte »Anblaser«, wie man ihn hier in der Region nannte … dieser Wind, welcher ankündigte, dass ein Gewitter unmittelbar bevorstand. Ihr Magen drehte sich. Sie musste hier weg, sonst würde sie sich gleich hier auf der Tanzfläche übergeben müssen. Ruckartig löste sie sich von ihm, worauf er sie irritiert ansah. Seine Lippen formten die Worte »Was ist los?«, doch sie konnte nicht antworten. Sie würde ihm gleich alles erklären. Erst musste sie versuchen, zur Toilette zu kommen, der Brechreiz war zu stark. Hastig stolperte sie durch die Menschenmenge, was sich als sehr schwierig erwies. Denn genau wie sie hatten viele Menschen den »Anblaser« gespürt und wollten sich nun vor dem Unwetter in ihren Autos und Häusern in Sicherheit bringen. Auf einmal spürte sie: Sie würde es nicht zur Toilette schaffen. Der Brechreiz war auf einmal so stark, dass sie sich gleich hinter einem Baum übergeben musste. »Meine Güte, immer diese besoffenen Weiber!«, hörte sie eine ärgerliche Stimme. Viele Menschen hasteten an ihr vorbei. In ihr drehte sich alles. Sie hielt sich am Baum fest. Die Äste über ihr schwankten bedrohlich. Wo war nur ihre Vespa? Sie hatte sie doch hier irgendwo abgestellt? Plötzlich wurde sie wieder heftig am Arm gepackt, doch diesmal war es nicht liebevoll, sondern wütend. Auch das noch! ER stand neben ihr. Was wollte ER denn noch? Sie hatte ihm doch alles gesagt, was gesagt werden musste. Nein, sie hatte keine Nerven mehr, mit ihm darüber zu reden.

Sie fühlte sich unendlich schwach und wollte nur noch nach Hause … fort von diesem Ort, diesem Unwetter, den vielen Menschen. Sie riss sich von ihm los, lief davon und fingerte in ihrem Täschchen nach dem Schlüssel ihrer Vespa, der prompt zu Boden fiel. Als sie ihn aufheben wollte, wurden ihre Knie auf einmal so weich, dass sie zusammensackte. Ein greller Blitz erhellte den Himmel, dicht gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag. Die Nässe des einsetzenden Regens spürte sie schon nicht mehr. Tief in ihr drin hatte die Dunkelheit gesiegt.

1. Kapitel

Berlin-Charlottenburg Sieben Jahre später

»Amanda, kannst du am Wochenende meine Schicht übernehmen? Ich muss meiner Mutter beim Umzug helfen«, fragt Leni und schlüpft in ihre neuen Stiefeletten. Ich pfeife anerkennend durch die Lippen.

»Die müssen ein Vermögen gekostet haben«, sage ich mit einem Blick auf das teure Leder.

»Nun, ich würde sagen, nach all dem Stress in der letzten Zeit habe ich mir die wohl mehr als verdient, nicht wahr?«, lächelt sie und dreht sich kokett im Kreis.

»Natürlich. Niemand arbeitet so hart wie du«, antworte ich grinsend. »Aber um deine Frage zu beantworten: Die Antwort lautet Nein! Denn wie du weißt, habe auch ich hart gearbeitet und morgen … tatata, Trommelwirbel … beginnt endlich mein Urlaub!«

»Als ob ich das nicht wüsste. Du redest seit Wochen von nichts anderem. Ich wollte dich nur ein bisschen foppen!« Leni grinst. Wir arbeiten als Assistenzärztinnen im DRK Klinikum im Berliner Westend und haben in den letzten Jahren wirklich bis zum Umfallen geackert, nicht nur in der Klinik. Wir kennen uns schon seit unserem Studium an der Charité, auf welcher mich die ehrgeizige Leni stets zu mehr Fleiß inspirierte.

»Wo soll die Reise denn hingehen? Bestimmt hat dich dein gut verdienender Anwalt zu einer herrlichen Traumreise eingeladen. Schließlich mussten wir in Corona-Zeiten lange genug zu Hause bleiben und konnten von Urlaub nur träumen!«, plappert Leni weiter und schlüpft in ihren alten dunkelblauen Dufflecoat, der irgendwie nicht so recht zu den neuen coolen Stiefeletten passen will.

»Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen. Bis jetzt war von keiner Traumreise die Rede. Vincent arbeitet gerade an einem großen Fall von Versicherungsbetrug. Ich denke, ich werde mit Tina einfach ein paar Tage aufs Land fahren. Oder an die Ostsee. Und endlich einmal ausschlafen!«

Ein Blick auf meine Uhr sagt mir, dass ich schon wieder viel zu spät dran bin. »Arbeitet er nicht immer an einem ›großen Fall‹, dein lieber Vincent?«, antwortet Leni grinsend.

»Das kann schon sein. Aber für mich ist das absolut in Ordnung. Ein anderer Mann hätte doch überhaupt kein Verständnis für meine Lebenssituation.«

»Hat er denn Verständnis für deine Lebenssituation?« Lenis Augenbraue ist misstrauisch hochgezogen, als sie mich fest an sich drückt. Ich denke nicht, dass sie eine Antwort erwartet, deshalb sage ich nichts, sondern drücke sie ebenfalls fest. »Erhole dich gut, Süße. Du hast es mehr als verdient! Und falls du doch zu einer Traumreise aufbrechen solltest, vergiss nicht, mir ein Foto zu schicken. Ich bin ja schließlich kein neidischer Mensch.« Leni grinst mich an.

»Eine Traumreise wird es auf jeden Fall. Auch wenn diese nur aus Ausschlafen und Spielen mit Tina besteht! Bis bald, und nimm dich vor dem neuen Kollegen auf der Inneren in Acht. Der sieht unverschämt gut aus, alle Schwestern sind schon verliebt in ihn.«

Ich zwinkere Leni zu und husche aus der Tür. Wie ich es bei diesem Verkehr pünktlich zum Kindergarten schaffen soll, ist mir ein Rätsel. Dabei bin ich wirklich froh, dass ich für mein Tinchen vor vier Jahren einen Platz im Kindergarten Sonnenschein, der sich ganz in der Nähe von unserem Zuhause befindet, ergattert habe. Um jederzeit, auch zu meinen manchmal unmöglichen Schichtzeiten, problemlos zur Klinik, zum Kindergarten und nach Hause hin- und herfahren zu können, gönne ich mir den Luxus eines kleinen VW Polos, mit welchem ich mich jetzt in den dichten Berliner Freitagabendverkehr einfädle.

Fieberhaft überlege ich, was ich auf die Schnelle zum Abendessen zubereiten kann. Fischstäbchen und Kartoffelpüree? Nein, lieber Spaghetti Napoli. Tina liebt sie so sehr, und heute soll es zum Ferienauftakt auch ein leckeres Mahl für sie sein, auch wenn wir dafür noch kurz in dem kleinen Supermarkt bei uns um die Ecke einkaufen müssen.

Meine Güte, das darf doch nicht wahr sein! Ich habe das Gefühl, dass ausgerechnet heute jede Ampel rot ist. Mein Handy klingelt. Bestimmt ist es Elke Braun, die Leiterin des Kindergartens, die mich fragt, wo ich bleibe. Doch nein, es ist Vincent, mein »gut verdienender Anwalt«, wie sich Leni eben ausgedrückt hat. Es stimmt, Vincent ist Anwalt in einer der renommiertesten Kanzleien, die sich in Berlin auf Wirtschaftsrecht spezialisiert hat. Er verdient im Gegensatz zu mir einfach unfassbar viel Geld und verfügt nicht nur über einen neuen Porsche, sondern darüber hinaus über ein sehr edel und schick möbliertes Apartment in Berlin-Mitte, welches er meinetwegen nicht aufzugeben gedenkt, da er in einem Haushalt, in dem ein Kind permanent Unordnung verbreitet, seinen eigenen Worten zufolge nur sehr schlecht leben und arbeiten kann. Wir haben uns vor zwei Jahren im Bodemuseum kennengelernt und treffen uns seither regelmäßig zweimal die Woche, meist mittwochs und samstags, manchmal sogar inklusive Übernachtung und anschließendem Frühstück. Ich denke an Lenis Worte. Ist Vincent der Mann, der »Verständnis für meine Lebenssituation hat«? Darüber habe ich noch nie ernsthaft nachgedacht. Er arbeitet genauso viel wie ich, sehr wahrscheinlich sogar viel mehr. Allerdings hat er kein Kind, um das er sich nach Feierabend kümmern muss, denn Tina ist nicht seine Tochter. Wir streiten uns oft, weil er der Meinung ist, dass ich die wenige Zeit, die mir zur Verfügung steht, lieber mit Tina als mit ihm verbringe. Und damit hat er weiß Gott nicht so ganz unrecht. Natürlich wäre es mir am liebsten, wir könnten mehr Zeit zu dritt verbringen, doch ich spüre weder von seiner noch von Tinis Seite den Wunsch danach. Ich wundere mich, dass sich Vincent um diese Zeit meldet. Er müsste noch im Büro sein, außerdem ist Freitag und kein Vincent-Tag. Somit kann es bei dem Festessen mit Tina und den Spaghetti Napoli bleiben. Ich könnte Vincent dazu einladen, doch er isst keine Pasta wegen der Kohlenhydrate, weswegen wir meist in irgendeinem Steakhouse landen, wenn wir zusammen essen gehen.

»Liebling, bist du schon angezogen?«, höre ich nun seine tiefe, männliche Stimme über die Freisprechanlage in meinem Auto.

»Ob ich schon angezogen bin?«, erwidere ich lachend. »Weißt du, wie spät es ist? Ich habe gerade Feierabend gemacht und bin auf dem Weg zum Kindergarten, um Tina abzuholen.«

»Du hast jetzt erst Feierabend gemacht? Armer Schatz«, antwortet Vincent, und ich höre ihn nebenbei in irgendwelchen Unterlagen rascheln. »Du wirst doch aber trotzdem in einer Stunde fertig sein?«, hakt er nach.

Fertig sein? Wozu? Ich versuche fieberhaft, mich zu erinnern. Wie immer, wenn ich in Stress gerate, fällt es mir schwer, meine Gedanken zu ordnen.

»Amanda, sag jetzt nicht, du hast vergessen, dass wir heute mit der Kanzlei den Ausgang des Kögel-Prozesses feiern wollen? Ich bin in einer Stunde bei dir, das wird knapp genug, wenn wir um 19 Uhr im Hugos sein wollen.«

Verdammt, verdammt, verdammt. Diese Feier habe ich wirklich vergessen. Dabei weiß ich, wie viel sie ihm bedeutet. Seine beiden Chefs sowie die beiden Kollegen und Kolleginnen werden anwesend sein, nebst Partner/innen. Kürzlich habe ich noch daran gedacht, ich wusste nur das genaue Datum nicht mehr. Warum habe ich nicht nachgefragt? Andererseits hätte Vincent es am Mittwoch erwähnen können, als er nach Feierabend kurz bei mir vorbeikam, aber wahrscheinlich hat er selbst nicht mehr daran gedacht, und jemand im Büro hat ihn heute daran erinnert. Jedenfalls kann ich das unmöglich absagen, auch wenn mir so gar nicht nach langweiliger Anwalts-Fachsimpelei und steifem Herumgesitze ist.

»Du hast es vergessen, stimmt’s?« Vincent klingt verstimmt.

»Keineswegs«, lüge ich, »ich habe mir extra ein Kleid dafür gekauft.« Ich lege ein Lächeln in meine Stimme, damit er meine Müdigkeit und mein Desinteresse nicht bemerkt.

Was das Kleid angeht, werde ich improvisieren und in Tante Hildas Schrank herumstöbern müssen. Zum Glück ist sie ein totaler Modefreak und besitzt eine wirklich ausgezeichnete Auswahl an besonderen Kleidern, von denen Vincent die meisten noch nicht kennt. Sie ist nur ein klein wenig dicker als ich, sodass mir ihre Sachen in der Regel passen oder ich sie jederzeit problemlos mit einem Gürtel auf Figur bringen kann.

»Das klingt toll!«, erwidert er mit einem Seufzer der Erleichterung. »Dann also bis gleich!«

Schon hat er aufgelegt.

So ein Mist! Jetzt blockiert auch noch ein Lieferwagen die Straße. Seelenruhig steigt der Fahrer aus, öffnet die Heckklappe und beginnt, mehrere große Pakete auszuladen. Ich drücke auf die Hupe. Das darf doch nicht wahr sein! Wie soll man denn jetzt hier durchkommen? Ich sehe mich um. Hinter mir sind jede Menge Autos, die ebenfalls hupen. Der Lieferant lässt sich trotzdem Zeit. Ich verstehe ja, dass er irgendwo anhalten und seine Ware abliefern muss, aber er blockiert wirklich die ganze Straße. Vorsichtig setze ich den Polo zurück. Dann wieder ein Stückchen vor … ich schlage die Lenkung ein. Noch einmal zurück und es gelingt mir zu wenden. Welch ein Glück, ein so kleines Auto sein Eigen zu nennen! Nun muss ich die ganze Straße zurückfahren, und natürlich ist die Ampel an der Kreuzung wieder rot. Das ist ein Riesenumweg, und ich fühle mich total gestresst. Jetzt noch pünktlich zum Kindergarten zu gelangen, ist ausgeschlossen. Ganz zu schweigen von der Verabredung mit Vincent. Mit quietschenden Reifen biege ich in die Straße zum Kindergarten ein. Während ich nach einem Parkplatz in der Nähe Ausschau halte, frage ich mich, wie ich diesen für Vincent so wichtigen Termin einfach so vergessen konnte. In den letzten Jahren hatte ich mir angewöhnt, mein Gedächtnis täglich zu trainieren und darüber hinaus alles, was wirklich wichtig war, in meinem Handy auf Erinnerung zu setzen. Warum hatte ich das diesmal versäumt? In der nächsten Querstraße entdecke ich plötzlich eine kleine Parklücke. Schon, als ich den kleinen Polo in die winzige Lücke zwänge, wird mir klar, dass Tina und ich klitschnass werden. Der Regen, der uns schon den ganzen Tag begleitet hat, hat merklich zugenommen und der Wind ordentlich aufgefrischt. Als ich um die Ecke biege, geht mir auf einmal das Herz auf. Die kleine blonde Tina, die eigentlich Valentina heißt, sich aber selbst nur als Tina bezeichnet, seitdem sie ein Kleinkind ist, steht in ihrem roten Mäntelchen mit ihrer Pippi-Langstrumpf-Pausentasche vor dem Kindergarten, neben ihr die Kindergärtnerin, die ihr fürsorglich einen Schirm über den Kopf hält und mir gerade einen ärgerlichen Blick zuwirft. Demonstrativ blickt sie auf ihre Uhr und verdreht die Augen.

»Frau Fischer, so geht das nicht weiter …«, beginnt sie vorwurfsvoll. »Das ist nun schon das dritte Mal in dieser Woche, dass Sie zu spät kommen. Die anderen Eltern schaffen es auch irgendwie, ihre Kinder pünktlich abzuholen. Ich kann und will nicht jedes Mal Ihretwegen Überstunden machen!«

»Ich weiß, es tut mir auch so leid, Frau Braun. Es wird nicht wieder vorkommen, versprochen!«, antworte ich atemlos und nehme Tinas kleine Hand. Mir ist bewusst, dass dies eine dreiste Lüge ist, denn ich komme selten genug pünktlich aus dem Krankenhaus. Aber die nächsten drei Wochen habe ich ja nun erst einmal frei, und somit steht einem pünktlichen Feierabend der Kindergartenbelegschaft nichts im Wege.

»Vielen Dank noch einmal und einen schönen Abend!«, rufe ich Frau Braun zu, und schon sind Tina und ich unterwegs zu unserem Auto.

»Mami, warum rennst du denn so?«, fragt mich Tina, obwohl ihr anzusehen ist, dass ihr der kleine Sprint merklich Spaß macht. Sie lächelt breit und zeigt ihre Zahnlücke, auf die sie besonders stolz ist.

»Na, wir wollen doch nicht nass werden, oder?«, antworte ich grinsend.

Meine ohnehin nicht vorhandene Frisur wird durch den Regen total zerstört, und ich habe keine Ahnung, wie ich es schaffen soll, heute Abend einigermaßen passabel auszusehen.

Insgesamt war der Frühling in Berlin, was das Wetter betrifft, bisher eine einzige Enttäuschung. Nachdem in den ersten drei Monaten des Jahres nur graues, nasskaltes Wetter vorgeherrscht hat, hatten wir uns auf den April und die ersten warmen Sonnenstrahlen gefreut. Doch obwohl sich dieser Monat bereits dem Ende zuneigt, müssen wir immer noch unsere warmen Jacken tragen und können von einem Cappuccino oder einem Eis im Straßencafé nur träumen.

»Mami, die Lilli wurde heute von ihrem Papa abgeholt«, plaudert meine Kleine jetzt munter los. »Ihr Papa will mit ihr ein neues Fahrrad kaufen gehen.«

»Das klingt ja toll«, antworte ich geistesabwesend, während ich versuche, mich in den dichten Verkehr einzufädeln.

»Warum hab ich eigentlich keinen Papa?«, fragt Tina nun unvermittelt, obwohl sie mir diese Frage schon einige Male gestellt hat. Vermutlich war die Antwort nicht recht befriedigend, weswegen das Thema immer wieder auftaucht.

»Das weißt du doch, mein Schätzchen. Dein Papa und ich … wir haben einfach nicht zusammengepasst und uns deshalb getrennt. So wie die Eltern von deiner Freundin Anni. Die haben sich ja ganz oft gestritten, und deshalb wohnt Annis Papa jetzt woanders.«

»Ja, aber Annis Papa holt sie trotzdem manchmal ab! Warum kommt mich meiner denn nie besuchen? Ich hab doch keinen Streit mit ihm!«

Tinas Logik ist einfach unübertrefflich.

»Weißt du, dein Papa wohnt gaaaaanz weit weg und muss immer sehr viel arbeiten. Da kann er nicht mal schnell kommen und mit dir ein Eis essen gehen.«

Ich werfe einen Blick in den Rückspiegel und sehe Tina an, dass auch diese Antwort für sie nicht zufriedenstellend ist.

»Auch nicht, wenn er Urlaub hat?«, hakt sie nach.

Ich atme tief durch.

»Er hat nie Urlaub. Aber dafür fahren wir beide bald zusammen weg!«

»Ehrlich? Au ja!«

Glücklicherweise lässt sich Tina immer schnell ablenken.

Das Haus, in dem wir wohnen, ist vom Kindergarten aus schnell erreicht, weswegen Tina und ich an meinen freien Tagen meist zu Fuß gehen. Denn auch hier gilt das gleiche Parkplatzproblem wie eben vor dem Kindergarten. Obwohl wir eine Anwohner-Parkkarte besitzen, findet sich nur selten auf Anhieb ein freier Platz. Das ist einer der großen Nachteile Berlins, auch wenn ich inzwischen durchaus die Vorzüge zu schätzen weiß. Als Landei war ich vor vielen Jahren zuerst erschlagen gewesen von den vielen Menschen, dem Lärm und der Hektik der Großstadt. Schnell hatte ich mich jedoch daran gewöhnt, auch an die vielen Ablenkungen und Zerstreuungen, die Berlin zu bieten hat. Leider ließen mir mein Studium und mein kleines Töchterchen in den vergangenen Jahren nicht wirklich viel Zeit, um die unglaublich spannenden kulturellen Angebote zu genießen. Seitdem ich jedoch Vincent kenne, habe ich mehr Theateraufführungen und Ausstellungen besucht als in den Jahren zuvor.

Unsere kleine charmante Dreizimmerwohnung befindet sich in einem hübschen Altbau und verfügt über hohe Stuckdecken und ein ganz reizendes, mit Rosenkacheln gefliestes Bad.

Das Beste daran ist jedoch, dass meine Tante Hilda nur ein Stockwerk über uns wohnt. Als ich vor sieben Jahren in Berlin ankam, bot sie mir wie selbstverständlich ein Zimmer in ihrer Wohnung an, welches ich zuerst allein und später mit Tina bewohnte. Ich weiß nicht, ob und wie ich ohne Tante Hildas Hilfe mein Studium geschafft hätte. Etwa ein Jahr nach meinem Einzug bei Hilda wurde die Wohnung unter ihr frei. Dank Hildas unglaublichem Charme und ihrer Überredungskunst gegenüber dem Vermieter bekamen Tina und ich den Zuschlag, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch Studentin war und nebenbei das Geld für die Miete durch Aushilfsjobs in der Hotellerie verdienen musste. Natürlich war es ein Segen, mein kleines Mädchen von einer nahestehenden Verwandten im selben Haus betreut zu wissen. Auch jetzt noch, da Tina schon sechs Jahre alt ist und bald in die Schule gehen wird, ist Hilda für uns beide unersetzlich. Gerade an Tagen wie heute, wenn Vincent mit mir ausgehen möchte, kann ich Tina problemlos bei ihr abgeben und muss dazu nicht einmal das Haus verlassen. Natürlich war die Kleine zuerst enttäuscht zu erfahren, dass ich den heutigen Abend nicht mit ihr verbringen konnte, doch kaum, dass wir bei Hilda geklingelt haben, grinst sie über das ganze Gesicht. »Oma, kann ich bei dir schlafen?«, ruft sie fröhlich. Tina nennt Hilda Oma, auch wenn sie eigentlich ihre Großtante ist. Tina hat keine richtige Großmutter, und so war eben Hilda von Anfang an ihre Oma. Hilda ist die Schwester meiner Mutter Gunilla und vor vielen Jahren aus Schweden der Liebe wegen nach Berlin gekommen. Den Mann dazu gibt es schon lange nicht mehr, aber Hildas Liebe zu Berlin ist geblieben. Hier fühlt sie sich nach eigenen Angaben frei, hier kann sie ihre Kunst ausleben und sich mit Leuten treffen, die mindestens genauso verrückt sind wie sie. In ihrer Wohnung riecht es immerzu nach frischer Farbe, weil sie ständig mit einem neuen Bild beschäftigt ist. Hilda ist Malerin, nicht sonderlich erfolgreich, aber zumindest kann sie einigermaßen davon leben, nicht zuletzt seitdem sie Malkurse an der Volkshochschule gibt und auf Märkten für Touristen ihre selbst gemalten Bilder von Berlin anbietet. Tina liebt das Malerzimmer ihrer »Oma« und hat ständig selbst einen Pinsel in der Hand, wenn sie dort ist.

»Natürlich kannst du bei mir schlafen! Wir backen Pfannkuchen und danach …«, Hildas Stimme wird leise, »… schauen wir noch ein bisschen Märchen im Fernsehen an. Das braucht die Mami ja nicht zu wissen!«

»Au ja!« Tina ist begeistert, wirft ihre Kindergartentasche in den Flur und verschwindet im Malerzimmer.

»Danke, du bist ein Schatz!« Ich umarme Hilda. »Wenn ich dich nicht hätte! Bevor ich gehe, bringe ich noch Tinis Schlafanzug und ihre Hausschuhe hoch, und den Teddy natürlich. Sag mal …«

Gerade will ich Hilda fragen, ob sie etwas Hübsches zum Anziehen für mich hat, da antwortet sie schon: »Bedien’ dich! Was ist denn der Anlass für diesen spontanen Oma-Einsatz … heute ist doch erst Freitag? Zum Glück habe ich Hajo abgesagt, der mich ins Kino einladen wollte. Jeden Tag will ich ihn auch nicht sehen!« Hilda lacht.

Hajo ist Hildas Freund, aber es sieht beinahe so aus, als ob sie ihn schon ein wenig über hätte. Kein Wunder, denn Hajo, oder Hans Joachim, wie er eigentlich heißt, ist ein sehr bodenständiger, zuweilen etwas langweilig anmutender Mann, und Tante Hilda ist nun einmal eine lebenslustige Künstlerin und mit ihren 61 Jahren, den hellblonden Haaren und blauen Augen, die wir Frauen alle bis auf Tina in der Familie haben, immer noch eine sehr attraktive Frau.

»Ach, so ein langweiliges Arbeitsessen mit den Kollegen von Vincent. Sie feiern den erfolgreichen Abschluss eines wichtigen Prozesses und werden sicher den ganzen Abend von nichts anderem reden. Glaub mir, ich würde lieber mit euch Pfannkuchen essen und Märchen anschauen!«, sage ich, während ich in Hildas Kleiderschrank herumstöbere.

»Wow … was ist denn das hier?« Ich ziehe ein schwarzes schlichtes Minikleid heraus, welches einen mit Perlen bestickten hochgeschlossenen Kragen besitzt.

Hilda setzt ihre Brille auf. »Ach das … das ist noch aus den 70ern. Das steht dir bestimmt super mit deinen langen Beinen!«

»Es ist einfach traumhaft … und für den Anlass perfekt. Schlicht, aber wirkungsvoll. Darf ich es ausleihen?«

»Welche Frage? Und jetzt schwirr ab. Ich nehme mal an, der Herr Anwalt wird nicht so gerne auf dich warten wollen.« Hilda verdreht die Augen.

Wie recht sie doch hat. Mir bleiben noch 20 Minuten für das Make-up und um die Haare hochzustecken, denn die Zeit, sie zu waschen, habe ich nicht mehr. Dadurch wird der tolle Kragen noch viel besser zur Geltung kommen. Um das schlichte Kleid ein wenig aufzupeppen, suche ich meine schwarzen Lackpumps mit den hohen Absätzen heraus und trage knallroten Lippenstift auf. Mein blondes hochgestecktes Haar ziert die Perlenhaarspange, die mir einst meine Mutter zum Abiball geschenkt hat, ebenso wie die schlichten Perlenohrringe. Zeit zum Lackieren der Nägel habe ich nicht mehr, aber ich bin fertig! Bereits eine Viertelstunde später stehe ich mit Tinas Schlafutensilien und ihrem Teddy erneut vor Hildas Tür.

»Donnerwetter«, ruft Hilda begeistert aus. »Er wird dir einen Heiratsantrag machen, wenn er dich so sieht!«

Bei diesen Worten äugt Tina misstrauisch aus der Küche. Offenbar haben die beiden schon mit den Pfannkuchen angefangen. Irre ich mich, oder scheint ihr dieser Gedanke an eine mögliche Heirat ihrer Mami und Vincent nicht so zu gefallen? Nur gut, dass daran beim besten Willen im Moment nicht zu denken ist. Weder glaube ich, dass Vincent auf diese Idee käme, noch kann ich mir im Moment vorstellen, unser Leben in irgendeiner Form zu verändern. Ich drücke Tina einen Kuss auf die Backe und streiche ihr die blonden Fransen aus der Stirn. »Viel Spaß, ihr beiden. Ich komme nicht spät!«

»Auch dir einen schönen Abend, mein Liebes!«, antwortet Hilda, und Tina wirft mir eine letzte Kusshand zu. »Amüsiere dich … man ist nur einmal jung!«

Schon piept mein Handy, es ist das Signal, dass Vincent mit laufendem Motor vor der Tür steht.

*

»Das ist also das neue Kleid? Sehr chic … wenn auch ein wenig hochgeschlossen«, begrüßt mich Vincent, ohne zu lächeln. So viel zum Thema: »Er wird dir einen Heiratsantrag machen, wenn er dich in diesem Kleid sieht.«

»Danke. Du siehst auch ganz nett aus«, antworte ich daher, und es ist kein bisschen spaßig gemeint. Vincent jedoch grinst, und wir brausen los in den verregneten Frühlingsabend.

»Ich hätte ja nicht gedacht, dass du pünktlich fertig wirst«, setzt er das Gespräch fort. Als ich darauf nicht antworte, wird ihm möglicherweise bewusst, dass er die falschen Worte gewählt haben könnte. Seine Stimme wird versöhnlicher.

»Ich habe eine Überraschung für dich«, beginnt er geheimnisvoll.

Mit Überraschungen habe ich es eigentlich nicht so. Meist läuft es darauf hinaus, dass ich zu Aktionen verdonnert werde, zu denen ich keine Lust habe. Ich versuche dennoch, mich darauf einzulassen, und lächle Vincent herzlich an. »Eine Überraschung? Was ist es denn?«

»Nun, eigentlich wollte ich dir erst später davon berichten. Aber wer weiß, wie lange der Abend dauern wird. So lange kann ich es einfach nicht für mich behalten.«

Vincent grinst. »Stell dir vor: Mark hatte für sich und seine Frau eine Reise auf die Malediven gebucht. Da er aber derart mit dem Fall Krohn beschäftigt ist, kann er unmöglich weg. Und nun hat er mir beziehungsweise uns diese Reise zu einem Spottpreis angeboten! Zwei Wochen Traumstrand, Tauchen, Pina Colada unter Palmen … was sagst du?«

Erwartungsvoll sieht er mich an, während er den Porsche durch den dichten Verkehr in Berlin-Mitte steuert.

»Die Malediven …?« Meine Freude ist verhalten.

»Ja, ist das nicht fantastisch? Endlich einmal Sonne, Strand und nur wir beide.«

»Nur wir beide? Und was ist mit Tina?«, hake ich nach.

»Tina kann doch bei Hilda bleiben, da ist sie doch so gerne. Es ist nur eine Reise für zwei Personen, und das Hotel ist ein Fünf-Sterne-Luxus-Resort mit kleinen Bungalows am Strand, leider nur für Erwachsene. Die wollen wahrscheinlich kein Kindergeschrei am Pool. Am Montag geht’s los!«

»Moment, Vincent. Du weißt, wie lange ich mich schon auf meinen Urlaub gefreut habe. Und das klingt auch erst einmal nicht schlecht mit Sonne und Strand und so. Aber du weißt auch, dass ich mich darauf gefreut habe, endlich einmal etwas mehr Zeit für Tina zu haben.«

»Für Tina? Und was ist mit mir? In letzter Zeit haben wir uns immer nur auf einen Sprung gesehen. Deine Schichtdienste haben es ja leider unmöglich gemacht, dass wir auch nur hin und wieder einmal ein ganzes Wochenende zusammen verbringen konnten. Also, ich muss schon sagen, etwas mehr freuen könntest du dich schon! Auch wenn diese Reise vergünstigt angeboten wurde, so ist sie immer noch schweineteuer.«

Vincent gibt Gas, der Motor des Porsches heult auf, und ich werde in den Sitz gepresst. Sein aggressives Fahrverhalten zeigt mir, dass er sauer ist.

Auf einmal fühle ich mich unendlich müde. Mein Kopf tut weh, ich bin überarbeitet und möchte nach Hause.

Vincent hat recht. Wir sehen uns kaum, und wenn, dann habe ich ein schlechtes Gewissen wegen Tina. Andererseits ist sie nun einmal mein Kind, für das ich Verantwortung trage und das ich über alles liebe. Wieder fallen mir Lenis Worte ein, ob Vincent wirklich der Mann ist, der Verständnis für mein Leben hat. Im Moment sieht es nicht danach aus.

Da ich weiß, wie wichtig ihm der heutige Abend ist, und auch weil ich Angst habe, dass wir uns richtig streiten und ich am Ende mit verweinten Augen das noble Restaurant Hugos betreten muss, schlage ich versöhnlichere Töne an.

»Lass uns später darüber reden, Liebling. Erst einmal machen wir uns einen ganz schönen Abend, ja?« Auch wenn mir mehr nach Couch und Märchenstunde ist.

*

Das Ambiente im Hugos ist unbeschreiblich schön. Hoch über den Dächern Berlins hat man einen fantastischen Ausblick auf den Zoo mit seinen vielen Teichen und den Tiergarten. Sanftes Abendlicht beleuchtet in der Ferne die hohen Gebäude am Potsdamer Platz. Unten tobt das Großstadtleben, doch hier oben bekommt man davon so gut wie nichts mit. Man kommt sich vor wie in einer anderen Welt, so ruhig ist es hier. Gedämpftes Licht und sanfte Barmusik verstärken den Wohlfühleffekt. Ein Kellner bringt uns höflich zum Tisch der Kanzlei von Friedrich & Partner. Stefanie von Friedrich, eine gepflegte Frau in den 50ern, lächelt mir freundlich zu. Ihr Mann Hubertus, einer der Chefs von Vincent, erhebt sich, um uns zu begrüßen. Auch Vincents anderer Chef Jürgen Elsner begrüßt uns freundlich und stellt uns seine erheblich jüngere Frau Anja vor. Anja ist mindestens ebenso hübsch wie Paulina, Vincents neue Kollegin, welche offenbar alleine hier ist, im Gegensatz zu Mark, Vincents Kollege, welcher seine Frau Iris mitgebracht hat. Wie es zu erwarten war, sind alle anwesenden Damen perfekt und teuer gekleidet und frisiert. Nach einer kurzen Begrüßung seitens der Geschäftsführer unterhalten sich alle, als würden sie sich ewig kennen. Außer Mark und Iris, mit denen wir schon des Öfteren das Vergnügen hatten, essen zu gehen, was im Wesentlichen nichts anderes bedeutete als eine Fortsetzung der Kanzleigespräche nach Feierabend, kenne ich niemanden näher. Natürlich habe ich alle Kollegen – bis auf Paulina – und die beiden Chefs schon einmal in Vincents Büro gesehen, als ich ihn abgeholt habe.

Schon ist auch der Sommelier zur Stelle, der die entsprechenden Weine zum ausgewählten Menü empfiehlt. Die Herren scheinen sich in der Auswahl übertreffen zu wollen und geben ihr Wissen über die einzelnen Rebsorten und Jahrgänge zum Besten, während die Damen sich nahezu einig sind, dass sie am liebsten beim Champagner, mit dem wir auf den erfolgreichen Prozessausgang angestoßen haben, bleiben würden.

»Wie wäre es mit einem schönen Bodenseewein?«, frage ich unvermittelt.

Die Herren sehen mich an, als sei ich verrückt geworden.

»Bestimmt gibt es am Bodensee auch leckeren Wein. Aber ich dachte doch eher an einen Chateau Petit Village aus dem Bordeaux oder einen Châteauneuf-du-Pape aus dem Rhonetal, alternativ dazu einen guten Riesling von der Saar«, antwortet Hubertus von Friedrich. Ich lächle, obwohl ich trotzdem gerne fragen würde, ob überhaupt einer der Weinkenner hier am Tisch jemals einen der leckeren Bodenseeweine, die aus den wunderbaren Trauben, die auf den sonnigen Hängen meiner Heimat gereift sind, gekostet hat.

So langsam setzt die Wirkung des Champagners ein und beginnt, für einen gewissen Moment meine Müdigkeit zu vertreiben und meine Stimmung leicht zu heben.

Dennoch kann ich den Gesprächen kaum mehr folgen.

Die Anwälte hören nicht auf, sich gegenseitig zu beweihräuchern und auf den gewonnenen Prozess sowie auf alle weiteren Fälle, die sie zu gewinnen denken, anzustoßen.

Überwiegend unterhält man sich über Klienten, Verträge und deren Klauseln. Kommt das Gespräch doch einmal zu etwas Privatem, so scheinen Golf, Tennis und Autos das Gespräch zu bestimmen. Die Damen, außer Paulina natürlich, welche offenbar die Spielregeln in der Kanzlei trotz ihrer Jugend bereits bestens zu beherrschen scheint, plaudern über die neueste Designermode im KaDeWe oder Lafayette sowie die fast aussichtslose Chance, einen nur annähernd so guten Friseur wie Udo Waltz (Gott hab ihn selig!) zu finden. Beides Themen, zu denen ich als alleinerziehende, berufstätige Mutter keinen Beitrag leisten kann. Während ich die tolle Aussicht aus dem Fenster betrachte, denke ich daran, wie anders doch mein Leben als das der anderen hier am Tisch ist. Ich denke an den Tag, der hinter mir liegt … an die gesamte Woche, an all die Monate, in denen mein Leben im Wesentlichen daraus bestand, dem Klinikalltag einigermaßen gerecht zu werden. An die vielen Menschen mit Schmerzen nach ihren Operationen, an Angehörige, die still vor sich hin weinten, weil sie die Krebs- oder sonstige schwere Diagnose ihrer Mutter oder ihres Vaters nicht verkrafteten, an die Krankenschwestern, die Tag für Tag, Nacht für Nacht und an Sonn- und Feiertagen ihr Bestes gaben, um für die vielen Kranken da zu sein. Und am Ende des Monats vermutlich weniger als das, was heute Abend auf der Rechnung für das Essen stehen würde, zu verdienen. Ein Verdienst, der gerade reicht, um die normalen Lebenshaltungskosten zu bestreiten. Jede von ihnen würde sich vermutlich glücklich schätzen, bekäme sie das Angebot eines Malediven-Urlaubs. Als könne er meine Gedanken lesen, spricht mich Hubertus von Friedrich plötzlich an: »Sie sind ja so nachdenklich, meine Liebe? Arbeitet unser Vincent ein bisschen zu viel? Nun, wie ich hörte, haben Sie beide ja nun erst einmal einen wohlverdienten Urlaub vor sich.«

Mark strahlt mich an. »Ich freue mich total, dass ihr so spontan eingesprungen seid. Wir hatten keine Reiserücktrittsversicherung …«

»Und das als Anwalt!«, unterbricht ihn seine Frau Iris lachend.

»… somit hätte uns die Stornierung ganz schön was gekostet. Dafür könnt ihr euch nun auf die Malediven freuen, während wir hier weiterschuften!« Es ist kein Vorwurf, Mark grinst über das ganze Gesicht und bedankt sich beim Kellner, der gerade eine neue Runde Wein eingießt.

»Ich glaube, Amanda freut sich gar nicht richtig«, fällt Vincent ihm ins Wort. »Die Aussicht auf Tauchen im Meer und Sonnenbaden an einem Traumstrand ist natürlich auch etwas sehr Unangenehmes!« Vincent will es wie einen Witz klingen lassen, doch der Gag verpufft. Alle sehen mich erstaunt an. Besonders Paulina. Sie streicht sich das lange dunkle Haar zurück, sodass ihre funkelnden rubinroten Ohrringe zur Geltung kommen.

»Also, ich hätte nichts gegen ein paar Tage im Bikini am Strand einzuwenden«, sagt sie mit einem Lächeln zu Vincent. Sicher hätte sie nichts dagegen. Es ist ohnehin offensichtlich, dass sie Vincent anhimmelt, während sie mir einen giftigen Blick zuwirft. Ihre schlanke Figur steckt in einem hautengen schwarzen Overall, und ich kann mir gut vorstellen, wie sie den Männern in der Kanzlei und den Klienten gleichzeitig den Kopf verdreht.

»Im letzten Jahr habe ich einen Tauchurlaub auf Mauritius verbracht. Das war einfach himmlisch. Ach, ich beneide euch ja so!«, flötet Paulina erneut in Vincents Richtung.

»Also, ich glaube, Tauchen wäre auch nicht so meins«, kommt Stefanie von Friedrich mir zu Hilfe. »Allerdings ist die Vorstellung, an einem Traumstrand zu liegen und endlich Zeit für all die Bücher zu haben, die man schon ewig lesen wollte, doch sehr verführerisch!«

»Und ein wenig Zweisamkeit auch«, kommt es von Anja mit einem Seitenblick auf ihren Mann, der mit Sicherheit ebenso viel arbeitet wie der Rest der Anwälte in der Kanzlei.

Ich habe das Gefühl, der Champagner und der Wein steigen mir bereits zu Kopf. Dadurch, dass ich den ganzen Tag nicht viel gegessen habe, merke ich bereits, wie der Alkohol mein Gesicht glühen lässt. Ich muss von dieser Tischrunde weg, weg von diesen inhaltslosen Gesprächen. Um mich ein wenig mit kaltem Wasser abzukühlen und auch, weil ich nicht weiß, was ich zu diesem vermaledeiten Malediven-Urlaub sagen soll, zu dem ich ohne mein Tinchen absolut keine Lust habe, entschuldige ich mich kurz und gehe zu den Waschräumen. Dort lasse ich erst einmal etwas kaltes Wasser über meine Handrücken laufen, dann nehme ich mein Handy aus der Tasche, um zu sehen, ob zu Hause alles in Ordnung ist, selbst wenn ich weiß, dass Hilda mich nur im äußersten Notfall anrufen würde.

Zwei Anrufe in Abwesenheit. Beide von Hilda.

Ich rufe sofort zurück, es muss etwas passiert sein, da bin ich ganz sicher. Wäre ich nur nicht fortgegangen!

»Hör mal, Amanda … du weißt, ich störe dich nur äußerst ungern, aber kannst du bitte baldmöglichst nach Hause kommen?« Hildas Stimme klingt ernst.

»Hilda, was ist los? Ist etwas mit Tina?« Mein Herz rast. Valentina ist der wichtigste Mensch in meinem Leben, es darf einfach nichts passiert sein.

»Beruhige dich, Liebes. Mit Tinchen ist alles in Ordnung. Sie schläft tief und fest seit dem Sandmännchen. Es ist …«

»Nun sag schon, was los ist! Ich mache mir Sorgen …«

»Die Sache ist die: Es gab einen Anruf. Aus dem Rosenhaus. Du sollst sofort nach Hause kommen.«

2. Kapitel

Heimat

Ich hätte mir nie träumen lassen, dass der Schmerz der Erinnerung so rücksichtslos zuschlagen kann. Doch nun ist er da, in meiner Brust, und ich weiß, er wird so schnell nicht wieder gehen. Jahre habe ich gebraucht, um all das zu verdrängen, was mich einst glücklich und zugleich unglücklich gemacht hat, bis zu jenem Tag, der mein Herz und mein ganzes Leben in Stücke riss. Doch nun klopft die Vergangenheit an die Tür meines jetzigen Lebens, das ich mir so mühsam aufgebaut habe, und ich weiß nicht, ob ich es schaffen werde, sie zu öffnen.

Ich brauche einige Minuten, um mich zu sammeln. Als ich die Tür zur Damentoilette öffne, steht Vincent davor. »Ist alles in Ordnung, Liebes?« Er sieht besorgt aus, doch ich bemerke auch die roten Augen, die von zu viel Arbeit und zu vielen Drinks berichten.

»Ich muss nach Hause. Es gibt schlechte Nachrichten«, sage ich.

»Oh Gott, ist etwas mit Tina?« Vincents Betroffenheit ist echt.

»Nein, mit Tini ist alles in Ordnung. Es gibt schlechte Nachrichten von zu Hause, von dort, wo ich herkomme.«

»Vom Bodensee?«

Vincent weiß so gut wie nichts von meiner Vergangenheit, ich habe ihm nur das Nötigste erzählt. So weiß er beispielsweise nur, dass ich am Bodensee geboren und aufgewachsen bin und wegen des Studiums nach Berlin gekommen bin. Es ist nicht so, dass ich ihm bewusst verschwiegen habe, was vor dieser Zeit geschehen ist. Es hat sich vielmehr nicht ergeben, sei es nun, weil er mich nie danach gefragt hat oder ich eben manche Dinge einfach weggelassen habe. Ganz zu schweigen von dem Teil meiner Vergangenheit, zu dem ich selbst keinen Zugang habe. Den Teil, den mein Unterbewusstsein fein säuberlich in Pakete gepackt, weggestellt und vor mir selbst verborgen hat.

Ich nicke. »Eine Nachbarin meines Vaters hat bei Hilda angerufen. Es scheint etwas passiert zu sein. Ich soll mich dort sofort melden.«

»Das kannst du ja gleich vom Handy aus!« Vincent scheint besorgt, dass wir möglicherweise die Feier verlassen müssen.

Ein tiefer Seufzer kommt aus meinem Inneren, als würde ich ahnen, dass dieser Anruf nichts Gutes bedeuten wird. Ich kann das unmöglich von hier aus erledigen, zwischen all den Menschen, die bei Essen und Wein einen unbeschwerten Abend verleben wollen.

»Es tut mir leid, Vincent … ich weiß, wie viel dir dieser Abend bedeutet … aber ich muss nach Hause.«

Vincent atmet tief durch. Die Enttäuschung ist ihm deutlich anzusehen. Heute Abend scheine ich alle zu enttäuschen, erst Tina und nun Vincent bereits zum zweiten Mal.

»Ich komme mit«, schlägt er plötzlich vor. Doch ich schüttle den Kopf.

Mein Blick fällt auf die heitere Gesellschaft. Paulina sieht direkt in unsere Richtung. Vermutlich fragt sie sich schon, wo wir so lange bleiben.

»Nein, Vincent, bitte nicht. Das ist euer Abend heute. Ich möchte ihn dir nicht kaputt machen. Hör zu, ich nehme mir ein Taxi, fahre nach Hause und kläre die Lage. Je nachdem, was passiert ist, kann ich ja vielleicht noch einmal wiederkommen. Bitte entschuldige mich bei den anderen!«

»Also gut. Soll ich nicht doch lieber mitkommen?«, bietet er mit ernster Miene an.

Ich schüttle wieder mit dem Kopf.

»Danke, das ist sehr lieb von dir. Aber es wäre unhöflich, wenn wir jetzt beide verschwinden. Ich melde mich, sobald es geht, bei dir.«

Nach einer kurzen Umarmung eile ich nach unten und bitte die Rezeptionistin, mir ein Taxi zu rufen.

Während das Taxi an der blau erleuchteten Gedächtniskirche, am bunten Zoopalast und am quirligen Bahnhof Zoo vorbeisaust, kreisen meine Gedanken um das, was mir Hilda eben gesagt hat. Ihre Stimme klang ernst, und das ist ebenso ungewöhnlich wie die Tatsache, dass sie mich überhaupt anruft, wenn ich mit Vincent unterwegs bin. Es muss etwas Wichtiges passiert sein. Mit meinem Vater, den ich seit sieben Jahren nicht gesehen habe.

Wenig später werfe ich einen kurzen Blick auf mein schlafendes Kind mit seinem Teddy im Arm. Dann wähle ich die Nummer, die Hilda für mich notiert hat. Das wäre nicht nötig gewesen, denn es ist die Telefonnummer des Rosenhauses, meines Elternhauses, welche ich selbstverständlich im Kopf habe.

Es klingelt nur einmal, dann ist Marianne, unsere Nachbarin und Mamas ehemalige Freundin, am Apparat.

»Amanda, es tut mir so leid … ich wollte dich nicht stören … aber dein Vater …«

Ich versuche, ruhig weiter zu atmen.

»Was ist mit Papa?«, frage ich. Dem ernsten Ton ihrer Stimme zufolge kann es nichts Gutes sein.

»Er ist im Krankenhaus. Um ehrlich zu sein, sieht es nicht gut aus. Es wäre besser …«

Marianne macht eine kurze Pause. »Es wäre besser, wenn du kommst. Am besten, so schnell wie möglich.«

»Was ist passiert?«, frage ich, während mein Herz rast. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater jemals krank war, und selbst wenn, dann hat er sich als Landarzt stets selbst kuriert.

»Er hatte einen Schlaganfall. Genaues kann man noch nicht sagen. Die Ärzte meinten, es sei gut, dass ich ihn rechtzeitig gefunden habe, sonst wäre es vielleicht zu spät gewesen. Aber es sieht auch so nicht gut aus, glaube ich …« Mariannes Stimme bricht.

»Ich komme. Allerdings ist es fraglich, ob ich heute Nacht noch einen Flieger bekomme …«

»Aber nein, Kindchen … jetzt bleib mal ganz ruhig und versuche, ein paar Stunden zu schlafen. Morgen früh setzt du dich ins Auto oder in die Bahn und kommst ausgeruht hier an. Dein Vater ist in guten Händen. Sie haben ihn nach Friedrichshafen gebracht, weil sie dort im Krankenhaus eine sogenannte ›Stroke Unit‹ haben.«

Ich atme tief durch. Das ist gut.

»Falls sich etwas ändert, melde ich mich sofort bei dir. Ich habe dem Krankenhaus meine Handynummer gegeben. Im Moment bin ich im Rosenhaus, weil ich nicht weiß, was wir mit Pepe machen sollen …«

Pepe ist unser Berner Sennenhund. Mama hatte ihn gekauft und sehr geliebt. Er muss jetzt zehn oder elf Jahre alt sein.

»Kannst du im Rosenhaus bleiben oder Pepe mit zu dir nehmen?«, frage ich. »Ich kümmere mich morgen um alles«, verspreche ich.

»Natürlich, ich übernachte im Gästezimmer. Es ist besser, wenn Pepe in seinem gewohnten Zuhause ist. Also, dann sehen wir uns morgen, ja? Ich werde hier sein und auf dich warten. Ach, Amanda … es ist gut, dass du kommst!«

Als ich aufgelegt habe, sieht Hilda mich mit großen Augen an.

»Ist was mit deinem Vater?«

Ich nicke. »Er hatte wohl einen Schlaganfall. Zum Glück hat ihn Marianne rechtzeitig gefunden.« Auf einmal wird mir bewusst, dass meine Hand, in der ich Hildas Festnetztelefon halte, zittert.

»Du musst nach Hause«, stellt Hilda fest.

Wieder nicke ich. Nach Hause … sieben Jahre war es mir gelungen, genau das zu vermeiden.

Natürlich hatten Vater und ich zuweilen Kontakt, wobei ich gestehen muss, dass der Wunsch nach diesem zumeist von ihm ausging. Bei dem Gedanken, dass er mich in den letzten Jahren mehrfach gebeten hatte, einmal wieder nach Hause zu kommen, und ich immer neue Ausreden gefunden hatte, um genau das zu vermeiden, kommen mir die Tränen.

Nun ist es vielleicht zu spät für ein Wiedersehen. Für eine Versöhnung.

Hilda nimmt mich stumm in die Arme.

»Ich fahre sofort los«, verkünde ich.

»Das wirst du nicht«, widerspricht Hilda energisch.

»Nach dem anstrengenden Arbeitstag und einem Abend im Hugos kannst du dich unmöglich ans Steuer setzen und 800 Kilometer weit fahren.«

Sie hat recht. Schließlich habe ich auch Prosecco und Wein getrunken. Ein paar Stunden Schlaf werden sicher hilfreich sein, auch wenn ich so aufgewühlt bin, dass ich nicht weiß, ob ich überhaupt ein Auge zubekommen werde.

»Lass die Kleine erst mal hier«, schlägt sie vor.

»Ich soll Tina hierlassen?«, schniefe ich. Eigentlich wollte ich doch etwas ganz anderes, nämlich Zeit mit meinem Kind verbringen.

»Erst einmal musst du sehen, was da überhaupt passiert ist und wie es deinem Vater geht. Die lange Fahrt und dann die Umstände im Krankenhaus, das ist doch nichts für ein kleines Kind. Nein, du fährst morgen früh in aller Ruhe los, und in ein paar Tagen sehen wir weiter. Dann kannst du Tina immer noch holen oder ich bringe sie dir, einverstanden?«

Wieder nicke ich. »Vielleicht bin ich ja schnell wieder hier.«

Ich bin Hilda so dankbar. Nicht nur, dass sie immer für mich und Valentina da ist. Sondern hauptsächlich dafür, dass sie nie Fragen stellt, vor allem jetzt nicht. Sie weiß einfach, wie schwer das alles für mich ist. Und dass es wirklich besser ist, wenn Tina hierbleibt.

Stundenlang liege ich grübelnd im Bett. Ich sehe auf mein Handy, bestimmt hat Vincent schon ein paar Mal versucht, mich zu erreichen. Doch es gibt keine Nachricht von ihm. Mir fällt ein, dass ich versprochen hatte, mich sofort zu melden, sobald ich wüsste, was passiert war. Das ist Stunden her. Ich wähle seine Nummer, und es klingelt ewig.

Schließlich nimmt er ab. Im Hintergrund höre ich Gelächter und Barmusik.

»Alles in Ordnung, Liebling?« Vincent klingt angetrunken.

»Leider nein. Mein Vater hatte einen Schlaganfall. Ich muss nach Hause an den Bodensee.«

»Was soll das heißen, du musst nach Hause? Ich denke, wir fliegen am Montag auf die Malediven?«

Im Hintergrund höre ich Paulina kichern: »Wenn sie nicht mitwill, komme ich gerne mit!«

»Seid ihr immer noch im Hugos?«, frage ich genervt von der Lautstärke im Hintergrund.

»Mehr oder weniger. Wir sind inzwischen an der Hotelbar.«

»Alle?«

»Nein, nur Mark, Iris, Paulina und ich lassen es ausklingen, die anderen sind schon nach Hause gegangen.«

Ich atme tief durch. Warum ärgert mich das jetzt? Vincent hatte mir schließlich angeboten, mit nach Hause zu kommen, und es war mein Wunsch, dass er mit den anderen weiterfeiert.

»Was ist denn jetzt mit den Malediven?«, hakt Vincent nach. Er ist eindeutig betrunken, und zwar mehr als reichlich. Was mit meinem Vater geschehen ist, scheint ihn nicht allzu sehr zu interessieren.

»Ich glaube, du hast mich nicht richtig verstanden. Mein Vater hatte einen Schlaganfall, und ich muss nach Hause«, antworte ich gereizt.

»Musst du dich jetzt um ihn kümmern? Als Ärztin oder als Tochter?« Sein Ton klingt mindestens ebenso gereizt, und er setzt hinzu: »Meines Wissens hast du dich in den letzten Jahren nicht allzu sehr um deinen Vater bemüht. Um ehrlich zu sein, habe ich so gut wie nie von ihm gehört. Hast du mir nicht sogar einmal erzählt, ihr hättet Streit?«

Ja, das habe ich. Das war der Teil meiner Vergangenheit, den ich bereit war zu erzählen. Schließlich musste es ja einen Grund geben, warum ich nie an den Bodensee fuhr.

»Das ist richtig. Aber nun, da es ihm schlecht geht …«

»… fällt dir auf einmal ein, dass du noch einen Vater hast. Na ja, besser spät als nie«, erklärt er sarkastisch.

Ich hasse es, mich mit betrunkenen Menschen zu unterhalten. Besonders, wenn sie mir nahestehen.

»Du hast recht. Besser spät als nie. Deshalb fahre ich auch morgen an den Bodensee. Es handelt sich immerhin um meinen Vater, auch wenn wir Streit hatten. Es tut mir sehr leid, Vincent, aber ich fürchte, ich kann nicht mitkommen auf die Malediven.«

»Als ob dir das leid tut! Du hattest doch sowieso keine Lust auf diesen Urlaub, gib es doch zu!« Ich höre ihn heftig atmen, vermutlich ist er richtig wütend. Im Hintergrund höre ich Paulinas silberhelles Lachen. Sicher hat Mark unser Gespräch mitbekommen und gescherzt, dass sie ja nun mitkommen kann.

»Ich melde mich morgen bei dir, wenn ich am Bodensee angekommen bin und Näheres weiß, ja?«, sage ich, statt auf seinen Vorwurf zu antworten.

»Na, dann: gute Reise!«, antwortet Vincent und legt auf.

*