Das Geheimnis der weißen Insel - Sarah Sommerhäuser - E-Book
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Das Geheimnis der weißen Insel E-Book

Sarah Sommerhäuser

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Beschreibung

Matti ist nach dem Tod ihres Großvaters am Boden zerstört. Lediglich ein kleines Kästchen mit einem Ring und einem Namen hat er ihr hinterlassen. Die junge Frau versucht, die Bedeutung hinter dem Nachlass zu entschlüsseln, und findet ein altes Notizbuch - darin merkwürdige Schriftzeichen und Fotos.

Die Hinweise führen Matti nach Kreta, wo ihr Großvater aufwuchs - bis er die griechische Insel eines Tages Hals über Kopf verließ und nach Deutschland auswanderte. Einige Inselbewohner tuscheln, er habe ein schreckliches Verbrechen begangen. Doch kann das sein? In einer kleinen Tauchschule trifft Matti auf den nervigen, aber unverschämt attraktiven Anestis und versucht mit dessen Hilfe, das Geheimnis um ihren Großvater aufzudecken. Gemeinsam tauchen sie ab - in gefährliche Gewässer und widersprüchliche Gefühle ...

Eine junge Frau auf den Spuren ihres Großvaters; ein junger Mann, der für seine Liebe kämpft; und ungeahnte Geheimnisse, die seit Jahrzehnten auf dem Meeresboden schlummern. Ein mitreißender Familiengeheimnis-Roman für Fans von Carolin Rath und Kate Morton.

Alle Romane der Familiengeheimnis-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.

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Seitenzahl: 422

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kreta, August 1951

Kapitel 3

Kreta, Oktober 1961

Kapitel 4

Kapitel 5

Kreta, April 1964

Kapitel 6

Kreta, April 1964

Kapitel 7

Kreta, Mai 1964

Kapitel 8

Kreta, Mai 1964

Kapitel 9

Kreta, Mai 1964

Kapitel 10

Kreta, Mai 1964

Kapitel 11

Kreta, Mai 1964

Kapitel 12

Kreta, Mai 1964

Kapitel 13

Kapitel 14

Kreta, Mai 1964

Kapitel 15

Kreta, Mai 1964

Kapitel 16

Kapitel 17

Kreta, Mai 1964

Kapitel 18

Kapitel 19

Kreta, Mai 1964

Kapitel 20

Kreta, Mai 1964

Kapitel 21

Kreta, Mai 1964

Kapitel 22

Kapitel 23

Kreta, Mai 1964

Kapitel 24

Danksagung

Über dieses Buch

Ein altes Notizbuch, eine Reise nach Kreta und das Geheimnis der weißen Insel

Matti ist nach dem Tod ihres Großvaters am Boden zerstört. Lediglich ein kleines Kästchen mit einem Ring und einem Namen hat er ihr hinterlassen. Die junge Frau versucht, die Bedeutung hinter dem Nachlass zu entschlüsseln, und findet ein altes Notizbuch – darin merkwürdige Schriftzeichen und Fotos. Die Hinweise führen Matti nach Kreta, wo ihr Großvater aufwuchs – bis er die griechische Insel eines Tages Hals über Kopf verließ und nach Deutschland auswanderte. Einige Inselbewohner tuscheln, er habe ein schreckliches Verbrechen begangen. Doch kann das sein? In einer kleinen Tauchschule trifft Matti auf den nervigen, aber unverschämt attraktiven Anestis und versucht mit dessen Hilfe, das Geheimnis um ihren Großvater aufzudecken. Gemeinsam tauchen sie ab – in gefährliche Gewässer und widersprüchliche Gefühle ...

Über die Autorin

Sarah Sommerhäuser, geboren 1983 in Köln, studierte nach dem Abitur drei Semester Rechtswissenschaften, bevor sie zum Lehramt wechselte. Heute arbeitet sie als Grundschullehrerin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in der Nähe von Köln. Wenn sie nicht gerade fantastische Geschichten erfindet, entdeckt sie die Welt zu Pferd oder taucht durch die sieben Meere.

Sarah Sommerhäuser

Das Geheimnis der weißen Insel

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Ulrike Gerstner

Covergestaltung: Guter Punkt GmbH Co. KG unter Verwendung von Motiven © adisa / iStock / Getty Images Plus; eugenesergeev / iStock / Getty Images Plus; Karel Stipek / iStock / Getty Images Plus;

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-1574-4

be-heartbeat.de

lesejury.de

Für Opa Paul – den besten Geschichtenerzähler im Himmel

Prolog

Den Sonnenaufgang betrachtete er auf einer Bank mit Blick auf das imposante venezianische Fort. Die kühle Luft roch nach Salz und frischem Fisch; die Möwen glitten schwerelos über den Kaimauern dahin. Schon komisch, wie schön einem alles erschien, wenn man es das letzte Mal sah. Die Morgensonne glitzerte auf den sanften Wellen, und für einen Moment schloss er die Augen. Sofort sah er Tallys Gesicht vor sich, ihr Lächeln, das Funkeln in ihren Augen, wenn sie sich ärgerte. Doch dann wurde das Bild von einem anderen abgelöst: Erasmos. Und wie ihm das Blut aus dem Mund lief.

Mit zitternden Händen öffnete er die Augen. Die Schönheit, um die er eben noch getrauert hatte, war nun verwandelt in etwas Hässliches und Bösartiges.

Auf seinem Schoß lag sein Notizbuch. Nie hätte er für möglich gehalten, dass dieses Büchlein alles sein würde, was ihm von seinem Leben geblieben war. Liebevoll strich er über den Einband. Er war froh, dass er es schon so lange führte und sogar Fotos eingeklebt hatte. So würde er seine Freunde und seine Familie immer bei sich haben. Es brach ihm das Herz, wenn er daran dachte, dass er seine Eltern ohne ein Wort zurückließ, doch es war besser, sie wussten nichts. Besser, niemand wusste etwas. Sobald er irgendwo angekommen war, würde er ihnen einen Brief schreiben, um seinen plötzlichen Fortgang zu erklären.

Immerhin waren seine Eltern nicht alleine. Sie hatten Matteo. Und ein hungriges Maul weniger zu stopfen. Ein tröstlicher Gedanke. Einen Moment wunderte er sich, wie sich das alles so fügte. Vielleicht hatte Lisias ja doch recht, wenn er sagte, dass alles aus einem bestimmten Grund geschah.

Seufzend schlug er die letzte Seite auf und starrt auf die vielen Namen, die er dort notiert hatte. Den ganzen Morgen schon suchte er nach einem neuen Namen; jetzt glaubte er, ihn gefunden zu haben.

Gabriel.

Eine Unterschrift hatte er bereits eingeübt. Es gab kein Zurück. Er hatte keine Vergangenheit, nur eine Zukunft.

Seufzend stand er auf und streckte die steifen Glieder. Er wusste nicht, wie lange er auf dieser Bank gesessen hatte. Als Lisias ihn abgesetzt hatte, war es noch tiefe Nacht gewesen.

Inzwischen kam Leben in die Stadt. Das Klimpern der Segelmaste wurde von Stimmengemurmel untermalt. Kisten mit dem tagesfrischen Fang wurden gestapelt und Rollos wurden scheppernd geöffnet. Obwohl noch keine Hauptsaison war, schlurften die ersten Touristen in die Cafés. Er drehte das Gesicht in die Sonne und nahm einen tiefen Atemzug. Trotz der Schmerzen in seiner Seite hielt er die Luft so lange wie möglich in seiner Lunge. Heimat. Ein letztes Mal Heimat.

Dann machte er sich auf den Weg.

Keine Vergangenheit, nur Zukunft.

Kapitel 1

Konzentriert streiche ich über den Degen. Meine ledernen Handschuhe knirschen, als ich den Griff fester darum schließe, bevor ich die Waffe zum Gruß erhebe. Mein Gegenüber grüßt ebenfalls, nickt mir noch einmal zu und stülpt sich den Gesichtsschutz über den Kopf. Ich schlucke und ziehe mir die Maske vor das Gesicht. In diesem Moment macht die Welt einen Schritt zurück. Obwohl ich durch das Gitter der Maske alles sehr gut sehen kann, fungiert es doch ein wenig wie ein Trenngitter. Etwas, das mir vor der Welt Schutz bietet, und nicht nur vor der Waffe des anderen. Mein Herz klopft fest und regelmäßig gegen meine Brust. Ich atme tief aus.

Angespannt gehe ich in Aufstellung und fixiere an der Waffe vorbei mein Gegenüber. Auch er hat den Degen erhoben. Ab jetzt ist er mein Gegner, ein Kämpfer, genau wie ich. Und will gewinnen, genau wie ich.

Und dann geht es los. Wir tänzeln zunächst eine Weile vor und zurück, es ist fast wie ein Spiel. Ich führe ein paar Scheinangriffe durch, um ihn zu testen und seine Reaktionen zu prüfen. Das Blut rauscht jetzt in meinen Ohren. Auch wenn es nur ein Trainingskampf ist, schießt das Adrenalin in Höchstgeschwindigkeit durch meinen Körper. Ich muss gewinnen.

Schließlich gibt er sich eine Blöße, die ich ausnutze und einen sicheren Treffer setze. Nachdem der Angriff beendet ist, geht mein Blick zum Melder. Die aufleuchtende grüne Lampe schreibt mir den Punkt zu.

Kurz gestatte ich mir ein Grinsen, doch der Kampf ist noch nicht vorbei. Konzentration.

Als hätte er meine Gedanken gehört, schießt mein Gegner mit einem Ausfallschritt nach vorne, und ich kann seinen Angriff gerade noch parieren, indem ich seinen Degen zur Seite stoße. Das war knapp. Schweiß läuft mir die Schläfe hinunter.

Ich täusche einen Angriff an, und er antwortet mit einem Gegenschlag – so wie ich es erhofft hatte. Ich schlage seinen Degen beiseite und lande selbst einen Treffer, doch zu spät. Er trifft mich auch, das kann ich deutlich spüren. Selbst durch den Anzug hindurch. Vermutlich wird das wieder einen blauen Fleck geben.

Erneut nehme ich Aufstellung. Meine Beine zittern vor Anspannung. Zwei zu eins. Ein Punkt noch.

Mein Gegner verliert keine Zeit und versucht mich zu überrumpeln. Er hat längere Arme als ich und dadurch einen klaren Vorteil. Nur schneller als ich ist er nicht. Im letzten Moment kann ich zur Seite springen und von oben einen Treffer setzen.

Wie aus weiter Ferne höre ich Applaus. Das erlösende Piepen ertönt, und das Duell ist beendet. Ich ziehe mir die Maske vom Kopf und verabschiede mich von meinem Gegner, der etwas zerknirscht die Planche verlässt.

»Sehr gut, Matti!« Michael, mein Trainer kommt zu mir und klopft mir auf die Schulter. »Bist du sicher, dass du am Wochenende keine Zeit hast? Wir könnten dich beim Turnier wirklich brauchen.«

Ich presse die Lippen aufeinander. »Tut mir leid, diesmal nicht.« Onkel Ferdinand ist im Ausland, und so habe ich die Gelegenheit endlich einmal nicht mitkämpfen zu müssen.

»Nächstes Mal wieder.« Er nickt, und ich kann die Enttäuschung in seinem Gesicht erkennen. Dann erhebt er die Stimme: »So, jetzt noch fünf Runden auslaufen, danach wird aufgeräumt.«

Zufrieden stöpsele ich das Kabel ab und beginne mit den anderen entspannt durch die Halle zu joggen. Dabei lasse ich die Arme kreisen, erst rechts, dann links. Ich liebe das Auslaufen nach dem Training. Diese wohlige Erschöpfung stimmt mich zusammen mit der gleichmäßigen Laufbewegung irgendwie friedlich. Was an sich ganz schön paradox klingt, sind wir doch hier beim Kampfsport.

Mich beflügelt die Aussicht auf ein freies Wochenende, ein Wochenende ohne Kampf. Ohne die Argusaugen meines Onkels und schlimmstenfalls noch meiner Großmutter, die jede meiner Bewegungen genau analysieren. Anstrengender noch als mein Trainer.

Es dauert eine Weile, bis wir schließlich die Fechtbahn weggeräumt haben und uns duschen können. Ich fechte schon seit meiner Kindheit; in meiner Familie tun das alle. Nur mein Großvater hatte Probleme mit der Sehnenscheide und konnte daher nie wirklich trainieren. Ansonsten ist es schon lange Tradition bei uns und ein wirklich großes Thema. Es stand nie zur Debatte, dass ich etwas anderes hätte machen können, Ballett zum Beispiel. Ich habe mich damit arrangiert, in meiner Jugend hatten die Jungs in meiner Klasse immer ein bisschen Respekt vor mir, da sie genau wussten, dass ich sie im Zweifelsfall einfach verhauen konnte. Aber mich hat es noch nie zu den Turnieren gedrängt, auf denen sich mein Onkel und dessen Söhne immer so gerne mit anderen gemessen haben.

Seufzend nehme ich meine Tasche und verlasse die Halle. Heiko lehnt draußen an der Wand und lächelt mir zu.

»Was brauchst du eigentlich immer so ewig zum Umziehen? Haltet ihr noch ein Kaffeekränzchen da drin?«

»Neidisch? Ich werde nächstes Mal fragen, ob du nicht dazukommen kannst.«

»Das würde mich sehr freuen, vielen Dank, mein Herz.« Er stößt sich ab und wirft sich die Tasche über die Schulter. »War ein guter Kampf gerade!«

»Gekonnt ist gekonnt.« Mein Lachen klingt hohl.

Heiko nickt, er kennt die Wahrheit. Hauptsächlich liegt es am häufigen Training und jeder Menge Drill. Weniger am Können.

»Bist du wirklich sicher, dass du nicht mitfahren willst zum Turnier? Wir brauchen dich in der Mannschaft. Letztes Mal haben die Lackaffen bereits gewonnen, und ich kann deren überhebliche Gesichter nicht ertragen. Bitte.« Er zieht eine Schnute und ein bitteres Lächeln zeigt sich auf meinem Gesicht.

»Tut mir leid, Heiko. Du wirst dich diesmal selbst anstrengen müssen. In meiner Familie weiß niemand von dem Turnier, und ich werde es ihnen sicherlich nicht auf die Nase binden.«

»Ich verstehe nicht, warum du überhaupt mitmachst, wenn du keine Lust auf Wettkämpfe hast.«

Seufzend binde ich mir die noch feuchten Haare in einen unordentlichen Pferdeschwanz.

Heiko scheint zu merken, dass ich meine Meinung nicht ändern werde, und wechselt das Thema. »Wir wollen noch was trinken gehen, hast du Lust?«

Mit einem schiefen Lächeln schüttele ich den Kopf. »Ich kann heute leider nicht mehr.«

Heiko verdreht die Augen, doch ich sehe den Schalk dahinter. »Weil Damian auf sein Frauchen wartet?«

»Blödmann!« Ich boxe ihn gegen die Schulter. »Wir bekommen heute Abend Besuch. Freunde von früher.«

Heiko zieht eine Grimasse. »Gut, dann beim nächsten Mal ... wenn er dich lässt.« Er drückt mir einen Kuss auf die Wange und schlendert in Richtung Innenstadt davon.

Seufzend schultere ich meine Tasche und gehe zum Auto.

***

Sofort als ich die Haustür aufschließe, steigt mir der Geruch nach Béchamelsoße in die Nase. Genau, wir haben zum Lasagne-Essen eingeladen. Ich liebe Lasagne.

Lächelnd lege ich meine Schlüssel in die Schale, ziehe Schuhe und Mantel aus und stelle die Tasche in die Ecke. Ausräumen werde ich sie später. Leise schleiche ich in die Küche und pikse Damian in den Rücken. »Guten Abend, der Herr.«

Wie ich es erwartet habe, fährt er erschrocken herum. Doch es ist nicht Spaß, der in seinen Augen zu funkeln beginnt, sondern Ärger. »Gott, hast du mich erschreckt. Muss das sein?« Damit dreht er sich wieder zum Herd um und rührt kopfschüttelnd in der blubbernden Mehlschwitze herum.

Enttäuscht wende ich mich ab. Was hat er denn heute für eine schlechte Laune? Schweigend beginne ich den Tisch zu decken.

»Wieso bist du überhaupt so spät? Wir hatten doch abgemacht, dass du heute pünktlich kommst, damit wir zusammen alles vorbereiten können.«

»Tut mir leid«, antworte ich automatisch und werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. So spät bin ich gar nicht.

Am Geklapper höre ich, dass er nun die Auflaufform in den Ofen schiebt. Kurz danach kommt Damian aus der Küche und lächelt mich flüchtig an. »Ich gehe eben duschen.« Dann gibt er mir einen Kuss auf die Wange. In der Zwischenzeit räume ich meine Sporttasche aus und lege mir ein leichtes Make-up auf. Die vom Sport geröteten Wangen überschminke ich nicht, hätte sowieso keinen Zweck. Meine Haut braucht immer ewig, um nach dem Training wieder ihre normale blasse Farbe anzunehmen.

Es klingelt in dem Moment, als Damian zurückkommt. Der Geruch seines Aftershaves legt sich über den Essensduft. Er hat das dunkelblaue Hemd angezogen, das ich ihm letzten Winter in Bern gekauft habe. Ohne mich noch einmal anzusehen, öffnet er die Tür und begrüßt überschwänglich unseren Besuch.

»Ah, hallo Matti! Gott, es ist wieder viel zu lange her!«

Henni fällt mir mit einer Flasche Wein in der Hand um den Hals.

»Und immer noch in der alten Bruchbude. Wann wollt ihr denn endlich aus diesem Loch ausziehen?« Karsten schiebt sich an unserer gemeinsamen Freundin vorbei und drückt mich ebenfalls fest. »Ich liege Damian damit schon ewig in den Ohren. Ein eigenes Haus ist einfach viel sinnvoller.«

Ich nicke, keine Ahnung, was ich dazu sagen soll. Eigentlich fühle ich mich in dieser »Bruchbude« ganz wohl, wohingegen mir bei dem Gedanken an ein eigenes Haus mulmig wird.

Damian legt Karsten den Arm um die Schultern und steuert ihn ins Wohnzimmer. »Ob du es glaubst oder nicht, aber ich habe da schon etwas ins Auge gefasst, schau mal.« Auf dem Handy zeigt er ihm offensichtlich eine Immobilie, die Karsten direkt mit einem leisen Pfiff kommentiert.

Ich kann spüren, wie sich eine Falte zwischen meinen Augen bildet. Mir hat er noch nichts von diesem Haus erzählt.

In der Zwischenzeit hat Henni den Wein geöffnet und hält mir ein gefülltes Glas hin. Ich finde es großartig, dass sich unsere Freunde bei uns wie zu Hause fühlen und einfach wissen, wo alles steht. »Auf dich, Sonnenschein.«

Lächelnd stoße ich mit ihr an.

»Wie geht es dir denn? Fehlt er dir?«

Fast verschlucke ich mich an meinem Getränk. Das Piepsen des Ofens unterbricht uns, und mit einer gemurmelten Entschuldigung fliehe ich in die Küche. Hektisch wische ich eine Träne weg, die einfach so aus meinem Auge kullert. Als ich die Lasagne heraushole, kommt Damian in die Küche.

»Was ist denn das für ein Haus?«, frage ich schnell, um nicht weiter an Opa denken zu müssen.

»Das ist wirklich super! Und gar nicht weit von hier, du wirst es lieben!«

»Hmm.«

»Was ist denn? Bist du jetzt sauer, weil ich es Karsten zuerst gezeigt habe?« Er stöhnt auf. »Du bist aber auch empfindlich heute.«

»Nein, das ist es nicht. Nur waren wir doch noch gar nicht sicher, ob es jetzt schon der richtige Zeitpunkt ist.«

»Wann soll der denn sein? Wenn etwas Passendes auf dem Markt ist, sollten wir zuschlagen, bevor es jemand anderes tut. Ich dachte, darüber hätten wir gesprochen?«

Haben wir nicht, da bin ich sicher. Zumindest nicht mit klaren Worten, möglicherweise hat er etwas angedeutet, und ich habe es überhört.

Aber Damian schnappt sich die Salatschüssel und marschiert zurück ins Esszimmer, ehe ich noch etwas erwidern kann.

Ich atme ein paarmal tief ein und reibe mir über die Falte, die noch immer zwischen meinen Brauen sitzt. So habe ich mir den Abend nicht vorgestellt.

Wir setzen uns um den dunklen Holztisch, und Henni vertreibt direkt die trübe Stimmung, indem sie eine lustige Geschichte von unserem gemeinsamen Urlaub vor zehn Jahren zum Besten gibt. Damals sind wir gemeinsam auf Menorca gewesen. Henni war meine beste Freundin zu der Zeit und Karsten ihr Freund. Karsten hatte irgendwann Damian mitgebracht, und so war aus uns eine lustige Vierertruppe geworden.

Ich war bereits leidenschaftliche Taucherin, und die drei hatten in diesem Urlaub ihren Tauchschein gemacht, damit wir endlich auch zusammen das Mittelmeer unter Wasser erkunden konnten.

In diesem Urlaub haben Damian und ich uns zum ersten Mal geküsst. Ein Lächeln stiehlt sich in mein Gesicht, ich weiß noch genau wie unfassbar verliebt ich gewesen war.

»Wisst ihr noch, wie Karsten vom Schlauchboot gerutscht ist?« Sie kichert und steckt uns damit ebenfalls an.

Karsten hebt abwehrend die Hände. »He, ganz ehrlich, der Einstieg mit dem ganzen Tauchgedöns war auch eine Zumutung. Außerdem sah das bei Matti nicht viel eleganter aus.«

»Sie ist aber nicht ins Hafenbecken geplumpst.« Damian grinst und zwinkert mir zu. Ich erwidere sein Lächeln. Das ist wirklich eine schöne Zeit gewesen.

»Wir müssten das wieder machen.« Henni schaut nachdenklich in die Runde.

»Was? Ins Brackwasser fallen?«

»Nein, zusammen in den Urlaub fahren.« Sie verschränkt die Arme. »Im Ernst, wir sehen uns viel zu selten. Warum sollten wir nicht nochmal zusammen wegfahren?«

Kapitel 2

Frustriert starre ich aus dem Fenster und sehe den Regentropfen zu, wie sie gegen die Scheibe trommeln. Es schüttet schon den ganzen Tag, und heute versetzt mich das in eine besonders trübe Stimmung. Offensichtlich hat das Wetter noch nicht mitbekommen, dass wir Mitte Juni haben und eigentlich Sonnenschein angesagt wäre. Der Abend hatte sich noch als sehr lustig erwiesen, und beim Verabschieden haben wir uns wie immer geschworen, dass bis zu unserem nächsten Treffen nicht wieder so viel Zeit verstreichen soll.

Das Bild des wunderschönen Sonnenunterganges, das ich vor Jahren in meinem letzten Urlaub aufgenommen habe, taucht auf, als der Bildschirm in den Ruhemodus schaltet. Ich erinnere mich noch so gut an diesen Urlaub. Damian und ich haben eine Tauchsafari gemacht und dabei unglaublich viele schöne Orte gesehen. Über und unter Wasser. Und ich erinnere noch, wie ich meinem Großvater die Fotos gezeigt habe und wie seine Augen dabei geleuchtet haben. Dumpf pocht mein Herz gegen die Brust, und ich tippe seufzend auf die Maus. Ist lange her.

Ein Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken.

»Ja, bitte?«

Jessica steckt den Kopf zur Tür hinein. »Alles klar?«

Ich nicke. So klar, wie es eben sein kann.

»Gut, deine Großmutter erwartet dich.« Sie zieht eine Grimasse, und ich muss kurz grinsen. Nur kurz. Dann erinnere ich mich, dass heute die Testamentseröffnung ist. Alles in mir sträubt sich dagegen, dorthin zu gehen, aber meine Großmutter besteht darauf.

Seufzend steige ich in die hohen Schuhe, die unter dem Schreibtisch stehen, und erhebe mich. Mein eng anliegendes und ziemlich unbequemes Kostüm streiche ich mit knappen Bewegungen glatt. Es ist immer der schönste Moment des Tages, wenn ich nach Hause komme und in gemütliche Sachen schlüpfen kann.

»Ach ja«, Jessica schaut den Stapel an Unterlagen durch, der auf ihrem Arm liegt. »Hier, sehr gut. Kannst du ihr das bitte geben, dann muss ich nicht zu ihr rein.« Sie grinst gequält. Lächelnd nehme ich die Papiere. Wenn ich jemals eine persönliche Assistentin einstellen muss, werde ich mir eine suchen, die mich auch leiden kann.

Das Büro meiner Großmutter befindet sich am gegenüberliegenden Ende des Flures. Insgesamt hat die Firma sechs Büros auf diesem Stockwerk. Das Gebäude ist ein ehemaliger Landsitz meiner Familie, der schon vor ewigen Zeiten modernisiert und so umgebaut wurde, dass er für die Geschäfte genutzt werden kann. Zu Beginn hat mein Urgroßvater noch von unserem Familiensitz aus gearbeitet, aber als die Firma sich entwickelte und immer größer wurde, musste etwas anderes her. Und so arbeite ich in den Räumlichkeiten, in denen vor hundert Jahren noch meine Vorfahren Urlaub gemacht haben. Manchmal tröstet mich der Gedanke, aber wohler fühle ich mich hier trotzdem nicht.

Als ich vor dem Büro ankomme, streiche ich noch einmal über mein Kleid und klopfe an. Nachdem das herrische »Herein!« ertönt, öffne ich die Tür.

Hinter einem modernen, gläsernen Schreibtisch sitzt sie. Ihre schlohweißen Haare sind zu einem strengen Dutt zusammengebunden. Die Lesebrille an der goldenen Kette in die Frisur gesteckt, als gehöre sie genau dorthin, strahlt sie eine Würde aus, die nur von ihrer Strenge übertroffen wird. Großmutter blickt auf und schaut mich mit ernstem Blick an. »Hallo, Martha. Wie schön, komm herein. Bevor wir losgehen, müssen wir noch etwas besprechen.«

Innerlich seufze ich auf und ignoriere ihre Begrüßung mit meinem Geburtsnamen. Es bringt ja doch nichts.

Sie deutet auf den Stuhl, der vor ihrem Schreibtisch steht und ich lasse mich darauf nieder. Bevor sie spricht, richtet sie kurz ihr perfekt sitzendes Kostüm. Zwar sieht sie wie immer elegant und makellos aus, doch die dunklen Ringe unter ihren Augen zeugen von einem Schmerz, den sie tief in ihrem Inneren versteckt.

»Ich weiß, dass du deinem Großvater sehr nahe standest.« Sie schenkt mir ein Lächeln, das tieftraurig wirkt. »Gerne würde ich dir mehr Zeit geben, aber wir können uns das leider nicht leisten.« Sie atmet tief durch. »Du hast schon vor einer Weile immer mehr Aufgaben übernommen, doch ich möchte es gerne offiziell machen. Es liegt nun an dir, unsere Firma in die Zukunft zu tragen.«

Das klingt ernst. Ist sie krank? Eine Gänsehaut überzieht mich bei dem Gedanken – nun auch noch Oma zu verlieren und die Firma zu leiten. Ja, seit Wochen arbeite ich Tag und Nacht. Ich weiß natürlich, was sie von mir will, schließlich ist schon immer klar gewesen, dass ich die Firma irgendwann übernehmen muss, aber es ist mir noch nicht gelungen, mich mit dem Gedanken anzufreunden. Und warum die Eile?

»Dein Vater ist mir natürlich auch eine Stütze, aber ich kann ihn nicht zurückholen«, seufzt sie. Mein Vater leitet unsere Firma in Dänemark und hat dort vor ein paar Jahren eine neue Frau kennengelernt und mit ihr bereits zwei Kinder bekommen. Der wird sicherlich nie wieder nach Deutschland zurückkehren. »Und dein Onkel wird sehr wahrscheinlich Immobilien in Belgien ankaufen und dort die Leitung übernehmen.«

Ich knete meine Finger und fühle die Verantwortung mit jedem ihrer Worte stärker auf meinen Schultern lasten.

»Natürlich habe ich nicht vor in der nächsten Zeit aufzuhören, aber der Tod deines Großvaters hat mich nachdenklich gestimmt.« Sie legt eine kurze Pause ein, und ihre Worte hängen bedeutungsschwer in der Luft. »Du benötigst ein größeres Büro. Ich wünsche, dass du das alte deines Großvaters übernimmst.«

Unbehaglich rutsche ich auf dem Stuhl herum. Ich soll in Opas Büro? Ich kann nicht genau sagen, ob ich darüber froh oder traurig sein soll. Es ist natürlich eine Ehre, in seine Fußstapfen zu treten, doch ich komme schon nicht mit den Aufgaben klar, die ich jetzt bearbeiten muss. Was ist denn mit Charlotte? Meine kleine Schwester studiert noch und kann es kaum erwarten, hier endlich anzufangen. Warum können wir nicht auf Charly warten?

»Gut, und jetzt müssen wir los, sonst kommen wir noch zu spät.«

Während des Gesprächs habe ich keinen Ton von mir gegeben, was hätte ich auch sagen sollen? Aber Großmutter schien das wie immer nicht zu stören. Also nicke ich nur und stehe unwillig auf. Ich verstehe nicht, warum ich unbedingt mit zum Notar muss. Wahrscheinlich will sie nur nicht alleine dorthin, kann das aber nicht zugeben.

***

Wir erreichen den Notar in letzter Minute, doch meine Großmutter lässt sich nicht dazu hinreißen auch nur eine Spur schneller zu gehen als üblich. Sie ist die Ruhe selbst. Vorsichtig werfe ich ihr einen Seitenblick zu. Sie ist immer so beherrscht und strahlt ein Selbstbewusstsein aus, um das ich sie oft beneide. Niemals lässt sie jemanden hinter die Fassade blicken. Selbst ich weiß nie, was in ihr vorgeht.

Die Tür steht bereits offen und gibt den Blick auf einen Mann mittleren Alters frei. Mit seinen dunklen, leicht fettigen Haaren, den dicken Pausbacken und den stechenden Augen entspricht er genau meiner Vorstellung eines typischen Notars. Er sitzt an einem klobigen, dunklen Schreibtisch und trommelt mit den Fingern darauf. »Wie schön, dass Sie kommen konnten«, säuselt er, doch seine Freundlichkeit klingt aufgesetzt.

Großmutter nimmt meinen Arm und zieht mich mit einem Ruck in das Innere des Raums. Kalter Zigarettenrauch und ein unangenehmes Herrenparfüm schlagen mir entgegen, und ich muss husten. Energisch zieht Großmutter die Tür zu. »Guten Tag, Herr Dr. Sarger. Wollen wir direkt beginnen? Wir sind ein wenig in Eile.« So typisch für sie, direkt die Dominanzverhältnisse des Gesprächs zu klären. Und das, obwohl wir streng genommen ihn haben warten lassen.

Seine Lippen verziehen sich, aber dann nickt er. Wir setzen uns auf zwei Stühle mit roten Samtkissen. Schließlich verschränkt er die Hände und setzt ein unechtes Lächeln auf. »Wunderbar. Willkommen zur Testamentseröffnung von Gabriel von Wehrstein.«

Er liest mit monotoner Stimme noch eine Weile weiter vor, aber meine Gedanken schweifen ab. Es ist so seltsam, hier zu sitzen und auf die Anteile zu warten, die mein Großvater wohl vererbt haben mag. Als wären wir Geier, die auf die nächste Mahlzeit gieren.

Schließlich zählt er genau auf, wer von uns welchen Anteil erhält. Charlotte wird sich freuen, sie will in den nächsten Semesterferien Asien bereisen, und der Geldsegen wird ihr da gerade recht kommen. Doch mich interessiert das Geld nicht, ich würde alles verschenken, wenn ich dafür noch einen einzigen Tag mit meinem Großvater verbringen dürfte.

Großmutter zeigt keine Regung, stocksteif sitzt sie da, mit zusammengepressten Lippen. Doch an ihren verkrampften Fingern kann ich ihren Aufruhr ablesen.

»Zusätzlich«, in diesem Moment zuckt sie unmerklich zusammen, »vererbe ich meiner Enkeltochter Martha Luise von Wehrstein, ein braunes Holzkästchen, das sich zur Aufbewahrung bei meinem Notar Dr. Sarger befindet.«

Damit überreicht er mir ein kleines Holzkästchen. Es scheint handgeschnitzt zu sein, wirkt etwas grob, möglicherweise hat Opa es selber hergestellt. Eine eigenartige Rührung überkommt mich, und ich muss gegen die Tränen anschlucken. Opa wollte, dass ich dieses Kästchen bekomme. Mist, jetzt rollt mir doch eine Träne aus dem Augenwinkel, die ich hastig wegwische.

Nachdem alle Unterschriften getätigt sind, verlassen wir den Notar.

»Was ist das für eine Kiste?«, frage ich meine Großmutter.

»Ich habe sie noch nie gesehen. Beim besten Willen kann ich dir nicht sagen, was er sich dabei gedacht hat, aber dein Großvater war manchmal etwas eigen.« Sie wirft mir einen Seitenblick zu. »Aber es freut mich, dass er dir etwas von sich hinterlassen hat.«

Ich nicke und umklammere die kleine Kiste, als wäre sie mein wertvollster Besitz.

»Und nun statten wir seinem alten Büro einen Besuch ab und überlegen, was du darin verändern möchtest.«

Sofort spüre ich wieder diesen Druck auf meiner Brust, der mir das Atmen schwer macht. Trotzdem folge ich ihr zum Wagen und fahre zurück in die Firma.

***

Zögernd öffne ich die Tür und trete ein. Ein tröstlicher Duft nach Lavendel liegt in der Luft. Mein Blick huscht zum Bücherregal, wo ein getrockneter Strauß der unverwüstlichen Pflanze steht. Getrocknete Blumen im Büro – es wundert mich, dass Großmutter ihm das hat durchgehen lassen.

Bei dem Geruch tauchen Erinnerungen vor meinem inneren Auge auf:

Opa, wie er am Fenster steht und in den Garten schaut.

Opa, wie er am Schreibtisch über den Büchern brütet, aber immer ein Zwinkern im Auge für mich übrighat.

Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen.

Mit einem Seufzer gleite ich hinter seinen Schreibtisch. Das Holz der vollkommen leeren Arbeitsplatte glänzt dunkel, so als würde es täglich poliert. Zärtlich streiche ich darüber. Dann stelle ich das kleine Kästchen auf die Platte und betrachte es gründlich. In Gegenwart meiner Großmutter und des unsympathischen Notars habe ich es nicht öffnen wollen, aber ich bin gespannt, ob sich etwas darin befindet. Vorsichtig hebe ich den Deckel an. Tatsächlich, da ist etwas. Ich greife hinein – ein kleiner Zettel und ein silberner Ring befinden sich nun in meiner Hand. Überrascht schaue ich mir beides genauer an.

Der Ring ist ein wenig angelaufen, offensichtlich besteht er aus echtem Silber. Ein dunkler Stein ist in einer schlichten Fassung eingearbeitet. Vorsichtig streife ich ihn über, er passt mir am Mittelfinger. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn jemals an Opas Hand bemerkt zu haben.

Nachdenklich nehme ich den Zettel in die Hand. Da ist etwas in einer Sprache notiert, die ich für Griechisch halte. Es könnte sich vielleicht um eine Adresse handeln. Warum sollte er mir so etwas hinterlassen?

Opa hat nie durchscheinen lassen, dass er sich sonderlich für Griechenland interessieren würde. Im Gegenteil, dieses Land haben wir in unseren Reiseplanungen stets ausgelassen. Warum also hinterlässt er mir einen Zettel in griechischer Sprache? Gedankenverloren ziehe ich die Unterlippe ein und starre noch einen Moment auf das kleine Blatt Papier.

Schließlich überwinde ich mich und suche im Internet nach dem griechischen Alphabet und versuche mein Glück. Tatsächlich, es ist eine Adresse in Griechenland, genauer gesagt auf Kreta. Er wollte, dass ich diesen Zettel mit dieser Adresse bekomme. Ich und niemand sonst. Es schmeichelt mir ein wenig, dass er der Meinung war, ich hätte einerseits etwas Besonderes vom ihm verdient und andererseits, dass er glaubte, ich würde verstehen, was ich damit anfangen soll. Eine Mischung aus Hilflosigkeit, Enttäuschung und leichter Verzweiflung macht sich in mir breit. Er wird mir nicht ohne Grund diese Adresse aufgeschrieben haben, irgendetwas hat er sich davon erhofft. Zu gern würde ich ihm den Gefallen erweisen, den er damit bezweckt.

Wieder drehe ich den Zettel zwischen meinen Fingern. Zu der Adresse steht da auch ein Name, der mir ebenfalls nichts sagt:

Lisias Pavlidis.

Wer soll das sein? Google konnte mir auch nicht weiterhelfen. Was wollte Opa mir bloß mitteilen?

Ich lehne mich auf dem Stuhl zurück und starre auf die kurze Notiz. Ein Zettel mit einer Adresse auf einer griechischen Insel. Warum wollte er, dass ich diesen Zettel bekomme? Was soll ich damit anfangen? Der Druck hinter meinen Augen verstärkt sich. Was immer er von mir gewollt haben mag, ich würde ihm seinen Wunsch gern erfüllen. Aber dafür müsste ich erst einmal wissen, worin dieser Wunsch bestand. Wäre er doch gern einmal auf die griechische Insel geflogen? Möchte er, dass ich das für ihn nachhole? Mein Herz wiegt tonnenschwer in meiner Brust und so lege ich den Zettel zurück in die Kiste.

Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen. Alles hier atmet seine Gegenwart, es wirkt, als würde er jeden Moment hereinkommen und einen seiner Witze machen. Großmutter hat recht, ich muss hier etwas ändern, wenn ich hier arbeiten soll. Sofort drückt auf meine Schultern dieser riesengroße Sack Verantwortung. Wenn meine Großmutter sich zurückzieht, liegt es an mir.

Wenn es nach meiner Familie geht, werde ich diesen riesigen Komplex leiten. Na ja, zumindest ist das der Wille meiner Großeltern gewesen, auch wenn mein Onkel oft genug seinen eigenen Namen in den Hut geworfen hat. Aber so war es immer geplant ... nur ich könnte die Firma in die Zukunft führen. Neu aufstellen, erweitern oder verkleinern, sie schließlich zu meinem Eigenen machen – aber wäre sie das wirklich jemals? Wer in die Fußstapfen anderer Tritt, hinterlässt keine eigenen Spuren, kommt mir da ein blöder Postkartenspruch in den Sinn.

Seufzend atme ich aus, und um auf andere Gedanken zu kommen, schaue ich mich um und gehe im Kopf neue Einrichtungsmöglichkeiten durch.

Das uralte Bücherregal, das wie ein dunkler Klotz eine Wandseite vollständig einnimmt, muss raus. Es ist vollgestellt mit ebenso alt aussehenden Büchern.

»Oh, du machst dich schon vertraut mit deinem neuen Wirkungsbereich?« Jessica steht in der Zimmertür und schaut sich prüfend um. »Ich schätze, hier werden wir etwas umräumen müssen.«

»Das sehe ich auch so. Mit dem Regal hier fangen wir an. Kannst du mir Kartons besorgen? Einige der Sachen können direkt in den Müll, aber ein paar Bücher werde ich bestimmt behalten.«

Jessicas kritischer Blick lässt mich schmunzeln.

»Und da bist du sicher? Die sehen uralt aus. Was willst du damit?«

»Nur weil der Einband alt ist, muss es die Geschichte nicht auch sein.«

Sie zuckt die Achseln. »Wenn du meinst. Ich suche dir ein paar Kartons raus.« Sie wirft einen kritischen Blick durch den Raum. »Und einen Möbelkatalog.«

Mit den Fingern fahre ich über die Buchreihe. Hier stehen Bücher über Statistik, Rechnungswesen und Personalwirtschaft. So, wie die aussehen, sind die zwanzig Jahre alt oder noch älter. Die werde ich sicher nicht benötigen.

Ein wenig später kommt Jessica bereits mit den Kartons zurück.

»Hier, bitte sehr. Brauchst du Hilfe?«

»Danke, das ist lieb, aber ich schaffe das schon.«

Jessica lächelt mir noch mal zu und verlässt schwungvoll den Raum.

Die veraltete Fachliteratur stapele ich in einem der Kartons, dann gehe ich die Reihe weiter durch und räume alles an überholter Literatur heraus. Die neueren Werke kommen in einen zweiten Karton, die kann ich noch brauchen. Schließlich stoße ich auf ein paar Gedichtbände. Kurz bildet sich ein Kloß in meinem Hals. Ich erinnere mich noch genau, wie er mir Gedichte vorgetragen hat. Opa liebte Lyrik. Er konnte unfassbar viele Gedichte auswendig. Seine Art, sie zu rezitieren, hat diese Liebe auch in mir verankert. Die kann ich auf keinen Fall wegtun, aber hier kann ich sie ebenfalls nicht brauchen. Also baue ich einen dritten Karton auf und lege die Bücher hinein. Dabei fällt aus einem ein kleiner Zettel heraus. Vielleicht ein Notizzettel?

Doch als ich ihn aufhebe, stelle ich fest, dass es sich um ein Foto handelt. Es zeigt einen kleinen Jungen, der frech in die Kamera grinst. Die Farben sind verblichen, es muss ein ziemlich altes Bild sein. Der Junge ist etwa acht Jahre alt, hat eine Zahnlücke und steht vor einem bunt angemalten Boot, das an einem weißen Sandstrand vor türkisfarbenem Meer liegt. Seltsam, warum bewahrte mein Opa denn Fotos in Gedichtbänden auf?

Ich schaue mir die Bücher, die ich gerade in die Kiste gelegt habe, nochmal genauer an.

Mein Blick fällt auf Schiller, sämtliche Gedichte zweiter Teil, Sang und Klang. Ein Hausschatz deutscher Lyrik und ein schmales Buch mit einem braunen, unscheinbaren Lederumschlag. Es ist mit einer ledernen Schnur umwickelt und wirkt eher wie ein Notizbuch als ein Gedichtband. Ob Opa selbst Gedichte geschrieben hat?

Neugierig, aber sehr vorsichtig entwirre ich die Schnur, die ganz schön bröselig wirkt, und öffne das Buch.

Die Seiten sind vollgeschrieben, und mein Nacken beginnt zu kribbeln. Die Schrift sieht wie Griechisch aus, genau wie die Adresse. Auf einigen Seiten sind Fotos oder möglicherweise auch Bilder aus Prospekten eingeklebt. Sie alle zeigen verschiedene Urlaubsansichten. Bilder von türkisblauem Wasser, Sandstränden und urigen Felsformationen. Jedes einzelne ist wunderschön.

Ich blättere weiter. Da sind alte Fotografien von mir unbekannten Menschen. Eine Familie, die vor einem Fischerboot posiert. Manche zeigen eine wunderschöne junge Frau, zuweilen zusammen mit einem oder zwei Männern. Einer dieser Männer zeigt Ähnlichkeiten mit meinem Opa, und ein mulmiges Gefühl macht sich in meinem Magen breit. Ob er mit seinen Eltern früher immer dort Urlaub gemacht hat? Es ist doch ein wenig erschreckend, wie wenig ich eigentlich über ihn und seine Familie weiß.

Die Linie meiner Großmutter hingegen bildet sich wahnsinnig viel auf unsere Ahnentafel ein, die ziemlich weit zurückreicht.

Verwundert blättere ich weiter. Ob es sich vielleicht doch um Verwandte meines Opas handelt? Vielleicht hat er entfernte Cousins dort oder so?

Unter einem Bild, das drei junge Erwachsene lachend vor einem Café oder Geschäft zeigt, ist eine kleine handschriftliche Notiz. Ein Wort. Sofort schaue ich im Internet nach und mir wird flau. Es ist derselbe Ort, der auch auf dem Zettel steht. Himmel, was soll das alles?

Dann entdecke ich auf dem Foto etwas, und ich halte das Foto nah an mein Gesicht, um die Details erkennen zu können. Da stehen Flossen herum. Flossen, Tauchmasken und Schnorchel.

Bilder blitzen vor meinem geistigen Auge auf. Erinnerungen an längst vergangene Wochenendausflüge mit meinem Opa zu den nächstgelegenen Seen. Wie wir lachend aus dem Wasser auftauchen und uns in der Sonne trocknen. Wie wir eigene Apnoe-Rekorde aufgestellt haben. Wie er mir das erste Mal eine Sporttaucher-Ausrüstung mitgebracht hat.

Mein Herz zieht sich schmerzvoll zusammen, und als ich die letzte Seite aufschlage, setzt es für einen Wimpernschlag ganz aus.

Hier hat jemand in der Handschrift meines Opas die ganze Seite vollgekritzelt, anders kann ich es nicht bezeichnen, mit verschiedenen, ähnlich klingenden Namen.

Glaukos – Glen – Goswin – Gerhard – Gregor – Gabriel

Mit einem ganz schlechten Gefühl im Bauch stecke ich das Buch ein. Irgendetwas stimmt hier nicht.

Kreta, August 1951

Es war ein heißer Sommertag, und Glaukos war den ganzen Nachmittag mit seinem besten Freund unterwegs gewesen. Zuerst hatten sie bei seiner Mutter ein paar Bifteki stibitzt und sie am Meer sitzend verspeist. Danach waren sie ins Meer gegangen und hatten um die Wette getaucht. Wie immer hatte Ras gewonnen, er konnte einfach unheimlich gut die Luft anhalten.

»Komm schon, Glaukos, wir wollten doch zum Spielplatz!«, rief Ras jetzt und seine Stimme klang gestresst.

»Ja, sofort.« Glaukos lag noch immer im Sand und ließ sich die heiße Sonne ins Gesicht scheinen. Er hatte keine Lust aufzustehen und irgendwo anders hinzugehen.

»Glaukos«, jammerte Ras und nun sah er doch auf.

Ras schaute gar nicht zu ihm, sondern zu dem kleinen Durchlass zwischen den Felsen, durch die gerade ein paar Jugendliche traten. Als er erkannte, wer da zum Strand kam, sprang er schnell auf.

»Ich habe doch gesagt, wir sollen gehen«, maulte Ras.

Glaukos zuckte mit den Achseln. »Schau sie nicht an, dann lassen sie uns schon vorbei. Komm.« Er griff nach Ras' Arm und zog ihn nah an den Felsen entlang zum Ausgang. Doch die Jungs hatten sie entdeckt. Natürlich.

»Na, wenn das nicht mein kleiner süßer Bruder Erasmos mit seinem kleinen süßen Freund ist.« Der Spott in der Stimme des Älteren war nicht zu überhören. »Was machen denn zwei siebenjährige Bengel wie ihr hier?«

»Wir müssen nach Hause, meine Mutter wartet schon.« Glaukos versuchte, mit Ras an ihm vorbeizugehen, doch ein fester Griff hielt ihn zurück.

»Ach ja? Und was habt ihr gemacht?«

»Wir waren schwimmen, Pedro.« In Ras' Stimme schwang etwas Flehendes mit, und Glaukos spürte, wie Wut in ihm hochkochte.

»Lass mich los. Wir gehen jetzt«, versuchte er es nochmal und riss seinen Arm los.

Pedro lachte und gab Glaukos einen kräftigen Stoß, so dass er zu Boden ging. Dann beugte er sich zu ihm hinunter und drückte ihm das Knie in den Rücken. Schmerz zuckte durch Glaukos, doch er biss so fest die Zähne zusammen, wie er konnte. Er würde ihm nicht die Genugtuung geben, indem er anfing zu weinen.

»Du hältst dich ja für so klug, kleiner Glaukos. Aber Überraschung: Das Glück ist selten auf der Seite der Klugen, merk dir das!«

Kurz erhöhte er nochmal den Druck, dann stand Pedro auf. »Verzieht euch! Und wehe du petzt, Erasmos, dann setzt es was«, zischte er und ging lachend mit seinen Freunden zum Wasser.

Glaukos rieb sich über den Mund und stand auf. »Dein Bruder ist ein echter Sonnenschein.«

»Ich weiß«, seufzte Ras.

Gemeinsam verließen sie den Strand und schlugen den Weg in Richtung Spielplatz ein. Glaukos kickte einen kleinen Stein vor sich her, und Ras pfiff irgendein Lied, das dauernd im Radio zu hören war.

Der Spielplatz war eigentlich nur ein großer Sandhaufen, auf dem immer mal wieder dürre Grashalme wuchsen. Doch Glaukos und Ras reichte das vollkommen aus. Hier waren sie ungestört und konnten tun und lassen, was sie wollten. Sie hatten hier schon die größten Burgen gebaut und verzwickte Schlachten geschlagen. Aber heute war etwas anders.

Da saß ein Mädchen. Mitten in der Burg, die sie am Tag zuvor gebaut hatten.

»Wer ist das denn?« Ungläubig starrte Glaukos das Mädchen an, das so versunken in ihr eigenes Spiel war, dass es die Neuankömmlinge noch nicht bemerkt hatte.

Sie hatte kurzes, buschiges braunes Haar und einen Leberfleck an der Nase. Er konnte sich nicht erinnern, sie hier schon mal gesehen zu haben.

»Hallo!«, rief Ras bereits.

Sofort schaute sie auf. Ihre Augen waren von einem sanften Braun, doch in ihrem Blick lag etwas Wildes, Ungezähmtes, das Glaukos direkt für sie einnahm.

»Wer seid ihr und was wollt ihr hier?«, gab sie patzig zurück und verschränkte die Arme.

»Du sitzt in unserer Burg«, brummte Ras.

»Die habt ihr gebaut?«

»Allerdings.« Ras warf sich in die Brust und grinste stolz.

Sie legte den Kopf schief. »Ihr habt da ganz falsch angefangen. Wenn ihr Tunnel grabt, dann muss man das weiter nach unten machen, sonst geht er zu schnell kaputt.«

Ras starrte sie mit offenem Mund an. Glaukos konnte nicht anders und warf lachend den Kopf in den Nacken.

»Hi! Ich bin Glaukos, und das ist mein Freund Erasmos«, stellte er sie beide vor und fing an, auf den Sandhaufen zu klettern. »Zeigst du uns, was du meinst?«

Sie schaute ihn einen Moment nachdenklich an, dann lächelte sie. »Klar, ich bin Eftalya.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Aber eigentlich nennen mich alle Tally.«

»Hallo Tally.« Er griff ihre Hand und schüttelte sie.

»Komm schon, Ras!«

Grummelnd und noch immer etwas beleidigt, kam Ras zu ihnen.

Und dann bauten sie zusammen eine richtig beeindruckende Burg mit mehreren Tunneln und richtigen Zinnen.

Kapitel 3

Nachdem ich die halbe Nacht wach lag, bin ich sehr zeitig aufgestanden. Doch auch eine heiße Dusche konnte meine kreisenden Gedanken nicht stoppen. Immer wieder tauchte mein Opa vor meinem inneren Auge auf. Ich durchsuchte meine Erinnerungen nach jedem kleinen Fetzen, der mir erklären würde, warum mein Opa mir eine griechische Adresse vererbt und ebenfalls griechische Notizbücher verwahrte. Doch der einzige Erfolg waren pochende Kopfschmerzen.

Damian ist noch lange unterwegs gewesen und hat daher auf dem Sofa geschlafen. Als ich ins Wohnzimmer komme, liegt er noch tief und fest schlafend da. Einen kurzen Augenblick betrachte ich ihn und versuche, mich daran zu erinnern, wie ich ihn früher gesehen habe. Aber dieses Bild von einem charmanten und attraktiven Mann will nicht so recht mit dem des Kerls auf dem Sofa übereinanderpassen. Zwei Flaschen Bier stehen vor dem Sofa und vereinzelte Chipskrümel liegen auf dem Sofa und auf dem Boden davor verstreut. Als wir uns kennenlernten, hat er stets sehr viel Wert auf sich und seinen Körper gelegt. Doch irgendwann fanden die täglichen Joggingrunden nur noch wöchentlich statt und wandelten sich schließlich in monatliche Biergelage mit Karsten.

Meine Augen wandern über sein vom Schlaf entspanntes Gesicht, auf dem sonst dieser angespannte Zug, der in letzter Zeit immer häufiger zu sehen ist, fehlt. Früher hat er viel öfter gelacht, und ich war in seiner Gesellschaft stets gelöst und entspannt. Nun bemerke ich regelmäßig, dass sich das geändert hat; ich bin nicht mehr so locker, wenn er dabei ist. Dann der Gedanke an ein gemeinsames Haus – er schnürt mir die Kehle zu, und ein drückendes Gefühl lastet auf mir. Als ob mich etwas in eine bestimmte Richtung zieht, in die ich nicht möchte, mich aber nicht richtig wehren kann.

Was sagt das über mich? Und was über uns?

Vielleicht wäre ein lustiger Urlaub, wie Henni das vorgeschlagen hat, doch genau das Richtige für uns?

Seufzend wende ich meinen Blick ab und verlasse unsere Wohnung.

Die Straße wirkt wie leer gefegt. Vereinzelt sind Autos bereits unterwegs, doch von dem Verkehrschaos, das hier in spätestens einer Stunde herrschen wird, fehlt noch jede Spur. Daher gelange ich zügig zu unserem Firmensitz.

Nachdem ich mein Auto in der Tiefgarage abgestellt habe, mache ich mich auf den Weg zu den Aufzügen. Meine Schuhe klappern unangenehm laut auf dem Asphaltboden, wie das rhythmische Klappern von Kastagnetten.

Das Büro liegt dunkel vor mir, heute betrete ich es als Erste. Ich mag diese Ruhe, vielleicht sollte ich häufiger so früh anfangen. Die Stimmung ist so besonders und regt zum Nachdenken an. Kurz schiebt sich Damian wieder vor mein inneres Auge, und ich frage mich, wie ich es schaffen kann, dass wir wieder so zwanglos miteinander umgehen können ohne diese unausgesprochenen Wahrheiten zwischen uns. Ein kleiner Knoten bildet sich in meinem Magen.

Nach wenigen Schritten erreiche ich mein neues Büro und starre einen Moment auf das Namensschild.

Es wurde bereits ausgetauscht. Jetzt steht da mein Name. Ich weiß, dass Opa das sicher gefreut hätte, aber mich stimmt es einfach nur traurig. Es ist, als wäre er einfach gelöscht worden. Ersetzt, so als ob es ihn nicht gegeben hätte.

Kurz balle ich meine Hände zu Fäusten und drücke dann mit festem Griff die Klinke herunter und betrete mein Reich. Mein Laptop steht bereits hier und auch eine Kiste mit Ordnern hat Jessica neben den Schreibtisch gestellt. Dennoch erinnert jedes Ding hier an meinen Opa. Ich muss mich nur einmal umdrehen, um in jeder Kleinigkeit eine Erinnerung an ihn heraufzubeschwören. Als Erstes muss ich seine Sachen hier rausbringen, damit ich mich nicht mehr so fremd fühle. Als ob ich hier nicht wirklich sein sollte.

Eine Stunde später ist das große Regal endlich leer geräumt und alles auf verschiedene Kartons verteilt. Dabei habe ich mehrmals innegehalten, weil ich durch Bücher blättern oder Erinnerungsstücke betrachten musste. Es ist ein seltsames Gefühl, seine Sachen, die ihm vielleicht auch viel bedeutet haben mögen, in einen Karton zu packen und zu verschließen. Immer wieder kam mir der Gedanke, dass ich meinem Opa so nahestand und doch so wenig von ihm weiß. Wer waren seine Eltern? Hatte er ein gutes Verhältnis zu ihnen? Und warum hat er so ein sonderbares Verhältnis zu Griechenland? Aber diese Fragen kommen einfach zu spät. Als ich sie noch hätte stellen können, waren irgendwie immer andere Dinge wichtig gewesen.

Ein Seufzer entweicht mir und ich nehme einen dicken, schwarzen Stift, um kurze Vermerke auf die Kartons zu schreiben, was darin ist und wo es hin soll. Ermattet lehne ich mich zurück und ich spüre eine gewisse Erleichterung in mir aufsteigen. Ich habe viel geschafft und wenn ich mich umsehe, fällt mein Blick nicht mehr ständig auf etwas, das mich an meinen Opa denken lässt. Jetzt habe ich mir einen Tee verdient. Zufrieden stehe ich auf, streiche meine Kleidung glatt und mache mich auf den Weg.

In der hervorragend ausgestatteten Küche steht neben einer überdimensionierten Kaffeemaschine ein pinker Wasserkocher, der irgendwie nicht so richtig hierhin passt. So wie ich. Kurz muss ich schmunzeln, denn ich kann mich noch genau daran erinnern, wie Großmutter dreingeschaut hat, als Jessica das bunte Ding angeschleppt hat, als der alte, superschicke Wasserkocher den Geist aufgegeben hat.

»Huch, du bist auch schon da?« Jessica steht mit müden Augen an der Kaffeemaschine und wartet darauf, dass die letzten Tropfen in die Tasse fallen.

»Tut mir leid, ich habe nicht gehört, dass du gekommen bist. Ich dachte, ich wäre noch allein hier.« Ich befülle die pinke Kanne mit Wasser und stelle sie auf die Station. Dann suche ich meine Lieblingstasse heraus und nehme aus dem Körbchen die durchsichtige Tüte mit meiner eigenen Teemischung. Sorgsam befülle ich das silberne Teeei und lasse es in die Tasse gleiten. Sogleich erfüllt der Duft nach frischem Pfefferminz den Raum.

»Seit wann bist du denn hier?«

Ich zucke die Achseln. »Ich konnte nicht mehr schlafen und habe schon etwas geräumt. Kannst du gleich jemanden schicken, der die Kartons und das Regal rausbringt?«

Sie nickt. »Klar, und dann schau dir die Kataloge mit den Büromöbeln an. Ich habe sie auf den Schreibtisch gelegt.«

»Danke dir.«

»Wir wollen heute Abend diesen neuen Club ausprobieren, hast du vielleicht Lust mitzukommen?« Trotz ihrer offensichtlichen Müdigkeit zieht ein Leuchten über Jessicas hübsches Gesicht.

»Ich muss heute früh nach Hause und mit Damian etwas besprechen.«

»Oh, etwas Ernstes?«

Ich zucke kurz die Achsel. »Eigentlich nicht, ich möchte mit ihm über unseren Urlaub sprechen. Unsere Freundin hatte da eine tolle Idee.«

Jessica runzelt kurz die Stirn. »Ich dachte schon, du willst dich von ihm trennen.«

»Was? Nein! Wie kommst du darauf?«

Jessica lächelt wieder, doch es wirkt nicht richtig echt. Das könnte allerdings auch an den Schatten unter ihren Augen liegen.

»Ich dachte nur, du wirkst immer einer wenig angespannt, wenn du von ihm sprichst.«

»Aha. Keine Ahnung, das muss täuschen. Nun ja, ich muss dann weitermachen.«

»Dann viel Spaß beim Meeting«, erwidert sie und verlässt mit dem Kaffee in der Hand die Küche.

»Meeting« ist in diesem Falle einfach ein wichtig klingendes Wort für ein Gespräch mit meiner Großmutter. Ich sehe auf die Uhr, noch eine halbe Stunde, bis ich bereitstehen muss. Als das Wasser kocht, übergieße ich meinen Tee und wandere zurück in mein Büro.

Dort setze ich mich an den Schreibtisch und stelle die Tasse neben dem Laptop ab. Das war ein merkwürdiges Gespräch. Jessica hat eigentlich ein sehr gutes Gespür für Menschen und Stimmungen. Aber habe ich nicht heute Morgen selbst gedacht, dass Damians Gesellschaft mich verändert? In meinen Kopf beginnt es zu pochen, und ich massiere mir den Nacken. Dann nehme ich meine Tasse, und mein Blick fällt auf das braune Notizbuch.

Wenn mein Opa es aufbewahrt hat, muss es ihm wichtig gewesen sein. Aber warum? Warum fühlte er sich Griechenland so verbunden? Wie gut, dass wir in modernen Zeiten leben, denn das Internet vergisst nichts und niemanden. Der Laptop surrt leise, als ich ihn antippe und aus dem Sleep-Modus wecke. In die Suchmaschine gebe ich den Namen meines Großvaters ein. Sofort öffnen sich mehrere Seiten, in denen es um die Firma und um die Stiftungen geht, die er unterstützt hat. Dann natürlich auch die Todesanzeige. Ich scrolle schnell weiter. Es gibt keine Einträge, die weiter zurückgehen als zwanzig Jahre. Ich halte inne und tippe mir gegen die Oberlippe. Bei der Hochzeit mit meiner Großmutter hat er den Namen gewechselt. Wie hieß er noch gleich vorher? Hermen? Ermann? Nein, Hermann. Er hieß Hermann.

Also tippe ich Gabriel Hermann ein. Doch scheinbar hat er ein sehr unauffälliges Leben geführt, bevor er meine Großmutter getroffen hat, es gibt keine hilfreichen Beiträge.

Ein Klopfen lässt mich aufschrecken.

Jessica steckt den Kopf zur Tür hinein. »Süße, schau mal auf die Uhr. Wenn du die Eminenz nicht verärgern möchtest, solltest du jetzt deine Aufwartung machen.«

Mist! Sofort springe ich auf, und Jessica fängt an zu lachen.

»Entspann dich, ich habe nicht gesagt, dass du wie von der Tarantel gestochen losstürzen musst. Bis über den Flur schaffst du es auch noch ganz gesittet.«

»Danke.«

Wenn meine Großmutter etwas hasst, dann Unpünktlichkeit. Unpünktlichkeit – und noch tausend andere Dinge. Vor ihrer Bürotür bleibe ich einen Moment stehen, streiche meine Bluse glatt und atme tief durch. Dann erst klopfe ich an und betrete nach ihrer Aufforderung das Zimmer.

Sie steht am Fenster, mit dem Rücken zu mir.

»Guten Morgen, Großmutter.«

»Guten Morgen, Martha.« Sie dreht sich zu mir und schenkt mir ein knappes Lächeln. »Hat Frau Erling dir die Kataloge gegeben?«

»Sie lagen heute früh bereits auf meinem Schreibtisch.«