Das Glück ist einen Flügelschlag entfernt - Stefanie Lahme - E-Book

Das Glück ist einen Flügelschlag entfernt E-Book

Stefanie Lahme

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Beschreibung

Chaotin trifft Erbsenzähler Lukas hat seinen Irlandurlaub minutiös durchgeplant, Josefine lässt sich lieber treiben. Als sie einen gemeinsamen Aufenthalt in einem Ferienhaus gewinnen, steht für beide fest, dass sie sich das Haus nicht teilen können. Auf einem Roadtrip quer durch Irland wollen sie entscheiden, wer das Ferienhaus am Ende bekommt: Wer auch immer die meisten perfekten Tage organisiert, gewinnt. Während ihrer Reise kommen sich die beiden immer näher – doch noch kennt Lukas Josefines Geheimnis nicht.   Ein wunderbares Wohlfühl-Buch! Fantastische Irland-Beschreibungen und liebenswerte Charaktere. (Jennifer081991 auf LovelyBooks) Wie ein Kurzurlaub in Buchform, der zum Träumen und Entdecken einlädt. (coala_books auf LovelyBooks)

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Seitenzahl: 524

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Die AutorinStefanie Lahme, geboren 1970, lebt und schreibt im Münsterland. Sie liebt Bücher, Geschichten und alles was damit zu tun hat, liest was ihr in die Finger kommt und schreibt Liebes- und Fantasyromane. Wenn sie sich vom Schreiben losreißen kann, läuft sie durch den Wald, taucht durch Wracks oder reist durch die Welt, besonders oft in ihr Lieblingsland Irland, wo sie Inspiration für neue Schreibprojekte findet. Sie ist Mitglied bei DELIA-Vereinigung deutscher Liebesromanautorinnen und -autoren und PAN-Phantastik-Autoren-Netzwerk.

Das Buch

Chaotin trifft Erbsenzähler

Lukas hat seinen Irlandurlaub minutiös durchgeplant, Josefine lässt sich lieber treiben. Als sie einen gemeinsamen Aufenthalt in einem Ferienhaus gewinnen, steht für beide fest, dass sie sich das Haus nicht teilen können. Auf einem Roadtrip quer durch Irland wollen sie entscheiden, wer das Ferienhaus am Ende bekommt: Wer auch immer die meisten perfekten Tage organisiert, gewinnt. Während ihrer Reise kommen sich die beiden immer näher – doch noch kennt Lukas Josefines Geheimnis nicht.

Stefanie Lahme

Das Glück ist einen Flügelschlag entfernt

Ein Irland-Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin August 2017 (1)  © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat  ISBN 978-3-95818-205-9  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Kapitel 1

Lukas stand an der Reling und beobachtete, wie die letzten Autos im Bauch der Fähre verschwanden. Er warf einen Blick auf die Uhr. Vor dreiundzwanzig Minuten hatte er zugesehen, wie eine nicht enden wollende Schlange Motorräder, PKW, LKW und erschreckend vieler Wohnmobile nach einem undurchsichtigen System über mehrere auf dem Pier eingezeichnete Spuren auf die Fähre gelotst wurden. Seine Hoffnungen auf eine pünktliche Abfahrt waren in weite Ferne gerückt. Jetzt sah es danach aus, als könnte die »Oscar Wilde« wie vorgesehen um 19 Uhr ablegen. Der Plan gab vor, dass er während des Auslaufens auf dem höchsten für Passagiere zugelassenen Deck ein Getränk zu sich nahm.

Mit der linken Hand tastete er in der Brusttasche seiner Funktionsjacke nach der rechteckigen Form der Schlüsselkarte für die Kabine. Gleichzeitig steckte er die rechte Hand in die Innentasche, bis seine Fingerspitzen das glatte Leder der Brieftasche streiften. Der letzte prüfende Griff galt der rechten Seitentasche, in der sich der Autoschlüssel befand. Alles an seinem Platz.

Vorsichtig stakste Lukas über den feuchtglänzenden Boden auf die nächste Treppe zu. Mit einer Hand immer am Geländer wagte er den Aufstieg. Vier junge Leute kamen ihm entgegen, polterten lachend die Stufen hinunter. Sie hielten Flaschen in den Händen. Nach einer weiteren Treppe erreichte Lukas das Deck, auf dem sich die Bar befand. Stehtische und Girlanden sollten Partystimmung verbreiten. Aus Lautsprecherboxen erklang Loungemusik. Die Passagiere standen in Gruppen beisammen an den Tischen oder lehnten an der Reling. An dem Kiosk, den Leuchtbuchstaben als »Mermaids Bar« auswiesen, hatte sich eine Schlange gebildet.

Lukas stellte sich an und tastete erneut nach Schlüsselkarte, Brieftasche und Autoschlüssel. Er versuchte, auf der Tafel hinter dem Verkaufstresen die Preise der Getränke zu entziffern. Viel zu teuer. Aber nun stand er schon in der Schlange und wollte außerdem nicht von seinem Plan abweichen. Wasser war am billigsten. Hannas Stimme klang ihm ins Ohr, als stünde sie neben ihm. Er sah ihr spöttisches Lächeln vor sich. »So willst du also den Urlaub beginnen? Mit Wasser? Alter langweiliger Geizkragen!«

Er zuckte zusammen, als die Frau hinter der Theke ihn etwas fragte. Auf Französisch. Unsicher zeigte er auf eine Flasche Bier. Wenig später stand er an einem der letzten freien Relingplätze und nippte an der Flasche. Kalt und bitter rann das Bier über seine Zunge. Er überlegte, ob er die Hafenausfahrt filmen sollte. Um die Kamera hervorzuholen, hätte er aber das Bier abstellen müssen, also verzichtete er darauf. Wie in Zeitlupe glitten Lagerhäuser und bunte Container an der Fähre vorbei. Möwen segelten reglos auf Deckhöhe, die Köpfe mit den gelben Augen immer in Bewegung, auf der Suche nach Essensresten. Salziger Wind zupfte an Lukas’ Haar. Die Passagiere in seiner Nähe machten sich gegenseitig auf interessante Hafengebäude aufmerksam, vermutlich auf den kleinen Leuchtturm, jedenfalls schloss er das aus ihren ausgestreckten Zeigefingern und fröhlichem Geplapper. Verstehen konnte er kein Wort. Ihm war nicht klar gewesen, dass auf einer Fähre, die in Frankreich ablegte, die Mehrzahl der Passagiere aus Franzosen bestehen würde. Die fremdklingende Melodie ihrer Worte hüllte ihn in einen Kokon der Einsamkeit.

Hoffentlich konnte er wenigstens die Iren verstehen. Er hatte vor der Reise einen Volkshochschulkurs besucht, um sein Schulenglisch aufzufrischen, und dabei bemerkt, wie schlecht es war. Sprachen hatten ihn nie interessiert.

Die Fähre ließ das Hafenbecken hinter sich. Unter Lukas’ Füßen hob und senkte sich der Boden. Höchste Zeit für eine Reisetablette. Der prüfende Griff zu Schlüsselkarte, Brieftasche und Autoschlüssel fiel positiv aus. Lukas leerte die Bierflasche mit wenigen großen Schlucken und stellte sie auf dem Weg zur Treppe auf einem der Stehtische ab. Langsam füllte das Deck sich mit Reisenden, die Gesichter gerötet von der Vorfreude auf den Urlaub. Die meisten von ihnen lächelten, prosteten sich zu, fotografierten sich gegenseitig. Lukas war froh, als er eine Tür fand und in das Innere der Fähre tauchen konnte.

Seine Freude hielt nicht lange an, da dort hektisches Treiben herrschte. Die Leute liefen wild durcheinander, schleppten Taschen und zerrten Rollenkoffer hinter sich her, den Blick auf kleine Karten in ihren Händen gerichtet. Worte flogen hin und her. Diesmal verstand Lukas, dass sie sich die Nummern ihrer Kabinen und die Buchstaben der Passagierdecks zuriefen, auf der Suche nach den Kojen, in denen sie die Nacht verbringen würden. Gleich nachdem er das Autodeck verlassen hatte, hatte Lukas mit dem Smartphone Fotos von den Lageplänen der Fähre gemacht, um sich im Gewirr der farbig markierten Decks und nummerierten schmalen Gänge zwischen den Kabinentüren nicht zu verirren. Ihm gelang es jedoch ohne diese Hilfe, zunächst das richtige Deck, C, rot, und dann den richtigen Gang zu finden.

Er drückte sich an die Wand, um ein schnaufendes Ehepaar mit einer Armada aus wuchtigen Rollkoffern und Plastiktüten mit Duty-Free-Aufdruck vorbeizulassen, bevor er zu der Tür seiner Kabine taumelte. Die Wände neigten sich schräg zur Seite. Unter Deck, ohne die Möglichkeit, den Horizont zu fixieren, schlingerte sein Magen bedrohlich in der Bauchhöhle. An die Wand gelehnt zog er hastig die Schlüsselkarte aus der Brusttasche und steckte sie in den Schlitz unter der Türklinke. Ein Piepen ertönte, eine winzige Lampe leuchtete rot auf. Lukas atmete tief durch und zog die Karte heraus, um sie ein weiteres Mal einzuführen, langsamer. Schweiß prickelte ihm auf der Stirn. Piep, Grün. Erleichtert drückte er die Klinke nach unten, schob die Tür auf und betrat das schwankende schmale Zimmer.

Er hatte den großen Rollkoffer im Auto gelassen und nur einen kleinen Rucksack mit allem, was er für eine Nacht benötigte, mit in die Kabine genommen. Innenkabine. Kein Fenster. Hanna hatte Lukas’ Bedenken abgeschmettert. »Blödsinn, du wirst sowieso seekrank, ob mit oder ohne Bullauge. Für das Geld machen wir uns lieber einen schönen Abend im Schiffscasino.«

Zwei einander gegenüberliegende Pritschen waren von den Wänden heruntergeklappt worden. Lukas setzte sich auf die linke und zog den Reißverschluss des Rucksackdeckelfachs auf, um die Reisetabletten herauszunehmen. Eine Packung Papiertaschentücher, ein Lippenpflegestift mit Lichtschutzfaktor 50, ein Päckchen Kaugummi. Keine Tabletten. Lukas schluckte mehrmals, um die Übelkeit, die in seinem Hals hochschlich, zurückzudrängen. Das Bier hatte einen pelzigen Belag auf der Zunge hinterlassen. Die Tabletten mussten da sein. Oder lagen sie noch im Auto? Durfte man das Autodeck nach Ablegen der Fähre noch betreten?

Lukas’ Gedanken überschlugen sich. Er zwang sich, tief durchzuatmen. Mit zitternden Fingern zog er den Reißverschluss der langgezogenen Seitentasche des Rucksacks auf. Als seine Fingerspitzen die vertraute kantige Form der Tablettenschachtel ertasteten, stieß er die Luft aus. Nach der Erleichterung kam der Ärger. So etwas durfte nicht passieren. Er musste besser aufpassen, sich konzentrieren. Mit einem Schluck Wasser aus der Flasche, die er aus der anderen, offenen Seitentasche zog, spülte er eine Tablette hinunter. Den Beipackzettel hatte er bereits zu Hause studiert. Trotzdem nicht sicher, ob er vorsichtshalber zwei nehmen sollte, steckte er einen Blister in die Innentasche der Jacke, zu der Brieftasche, die noch da war. Die Packung mit den restlichen Tabletten schob er in die Deckeltasche des Rucksacks. Die Deckeltasche. Das war der Platz für die Reisetabletten, damit er sie stets griffbereit hatte.

Laut Einnahmehinweis empfahl es sich, das Medikament nicht auf nüchternen Magen zu nehmen. Damit war kein Bier gemeint, sondern feste Nahrung. In dem Hauptfach des Rucksacks befanden sich zwei Brötchen. Lukas wollte eigentlich eines zum Abendbrot und das andere zum Frühstück essen, doch jetzt bereitete ihm der Gedanke an den mittlerweile sicher gummiartigen Teig Übelkeit. Sein Magen verlangte nach etwas anderem, am besten etwas sehr Salzigem oder Saurem. Und er musste raus aus der Kabine, die ihm stickig wie ein Sarg vorkam. Er brauchte frische Luft und den Horizont. Möglichst bevor er sich übergeben musste.

Fahrig griff er nach dem laminierten Infoblatt, das auf dem schmalen Bord zwischen den Pritschen lag. Vier Restaurants standen zur Auswahl. In einem hätte man ein Büfett vorbestellen müssen. Hanna war dagegen gewesen. »Das ist viel zu teuer. Wir können genauso gut in dem Selbstbedienungsrestaurant essen.«

Das hatte den originellen Namen Jack Sparrow. Lukas merkte sich das Deck, auf dem es sich befand, und prägte sich mit Hilfe des Lageplans auf der Rückseite des Blattes den Weg ein. Um während des Essens nicht die mitleidigen Blicke der Leute ertragen zu müssen, die ihn bedauerten, weil er allein war, nahm er sich etwas zu tun mit: die Reiseunterlagen. Die grüne Mappe, grün für Irland, befand sich an ihrem Platz, dem Hauptfach des Rucksacks. Vorsichtig zog Lukas sie heraus.

Kaum aufgestanden, spürte er das Schlingern und Rollen der Fähre wesentlich deutlicher. Die Tablette schien zu wirken, diesmal blieb der Brechreiz aus. Lukas tastete sich breitbeinig an der Wand entlang zur Tür und zog die Schlüsselkarte aus dem dafür vorgesehenen Fach. Sorgfältig verstaute er sie in der Brusttasche. Brieftasche und Autoschlüssel waren an ihrem Platz. Bevor Lukas die Tür hinter sich zuzog, fühlte er nach, ob die Schlüsselkarte tatsächlich in der Tasche steckte und nicht etwa versehentlich danebengefallen war. Sie steckte.

Während Lukas durch den Gang schwankte, und abwechselnd die linke und rechte Wand mit den Fingern berührte, fühlte er sich wie betrunken. Aber schlecht war ihm nicht. Er verließ das Kabinenlabyrinth und kehrte über die mit rotem Teppich bezogene Treppe zurück in den Trubel von Deck A. Passagiere rannten hin und her wie aufgescheuchte Hühner. An der Treppe, die zu den Autodecks führte und die mit einer breiten Kordel abgesperrt war, diskutierte ein Herr im Jogginganzug mit einem Mann vom Servicepersonal. Offenbar musste er dringend zu seinem Auto. Der Servicemann hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schüttelte stoisch den Kopf. Lukas war froh, dass er die Tabletten nicht im Auto vergessen hatte. An einem Informationsschalter wiesen Schilder auf Englisch und Französisch auf die Möglichkeit eines Kabinenupgrades hin. Die Aussicht auf eine Außenkabine, mit Fenster, ließ Lukas unschlüssig stehen bleiben. Hanna hatte recht, der Aufpreis lohnte sich nicht für eine Nacht. Er würde ohnehin schlafen und nicht aus dem Fenster sehen. Und gegen die Seekrankheit halfen die Tabletten.

Um der Versuchung nicht doch noch zu erliegen, stieg Lukas rasch die nächste Treppe hinauf zu dem Deck, auf dem sich das Selbstbedienungsrestaurant befand. Eine schlechte Wahl, wie er feststellte. Durch die Glaswände sah er Horden von hungrigen Mitpassagieren, die meisten mit kleinen Kindern, die sich um winzige Plastiktische drängten, oder in einer mehrfach gewundenen Schlange an einer Theke anstanden, Tabletts in den Händen. Magisch angezogen von dem Anblick des Schreckens trat Lukas näher an die Schiebetür heran. Zu nah, denn sie öffnete sich. Sogleich überrollte ihn ein Lärm, den er von früher aus dem Freibad kannte. Kindergekreisch, lautes Schimpfen der Erwachsenen, untermalt vom plärrenden Klang mehrerer Fernsehgeräte, die an der Decke befestigt waren. Lukas prallte zurück und wäre um ein Haar gestürzt. Er fing sich und hastete auf die nächste Tür zum Außendeck zu wie ein Verdurstender auf eine Oase.

Draußen biss ihm Zigarettenqualm in die Nase. Mehrere Raucher standen gemütlich an die Wände links und rechts neben der Tür gelehnt und frönten ihrer Sucht. Lukas unterdrückte ein Husten und eilte weiter, an der Reling entlang. Von oben ertönte das Dröhnen von Bässen. Technomusik hatte die Loungeklänge abgelöst und mischte sich mit dem gleichmäßigen Wummern der Schiffsmotoren. Gierig sog Lukas Luft in seine Lungen, bis der Wind den Rauch in seine Richtung trieb. Er ging weiter und fand eine Bank in einer windgeschützten Ecke, stellte jedoch fest, dass sie klatschnass war. Daneben führte eine Tür zurück ins Fährinnere. Als Lukas die Hand nach der Klinke ausstreckte, flog sie auf und spuckte eine Gruppe kichernder Frauen in pinkfarbenen T-Shirts aus. Den meisten hing schon eine Zigarette aus dem Mundwinkel. Sie drängten sich an Lukas vorbei und wischten die Bank mit einem Handtuch ab.

Lukas stieg über die hohe Schwelle. Er suchte die nächste Treppe. Laut Lageplan gab es auf Deck A einen Pub, Le Capitaine. Bestimmt bekam er dort eine Kleinigkeit zu essen, Pommes oder etwas in der Art. Vorbei an einem verglasten Kinderspielzimmer mit Bällebad und dem Modell der Fähre in einer Vitrine erreichte er über ein paar Stufen den weitläufigen Pub.

Es gab mehrere Theken und unterschiedliche Sitzgelegenheiten, von Kunstledersesseln über Bänke entlang der Fenster bis zu kleinen Polsterhockern, die sich um runde Tische gruppierten. An einigen saßen Gruppen, ins Gespräch vertieft, Bier- und Weingläser vor sich. In einer Ecke des Pubs hockten fünf ältere Herren vor einem Fernseher, in dem eine Sportsendung lief. Der Barkeeper wischte mit einem Tuch über den Tresen und nickte Lukas höflich zu.

Lukas wusste nicht, ob er direkt an der Theke bestellen oder sich an einen Tisch setzen sollte. Schließlich pirschte er sich an die Theke, nahm die Speisekarte vom Tresen und schlug sie auf. Seine nicht vorhandenen Französischkenntnisse reichten aus, um Pommes zu identifizieren. Unsicher hielt er Ausschau nach dem Barkeeper, der sofort zu ihm eilte. Er zeigte auf die Pommes auf der Speisekarte und blätterte weiter zu den Getränken, um auf die unmissverständlichen Worte Coca Cola zu deuten. Dummerweise schlingerte die Fähre in dem Moment, sodass sein Finger stattdessen an einer anderen Stelle landete. Lukas kannte das Wort nicht. Es musste sich um eine Biersorte handeln, da der Barkeeper unverzüglich anfing, ein Bier zu zapfen, bevor Lukas protestieren konnte. Nun ja, ein weiteres Bier schadete sicher nicht. Den französischen Redeschwall des Barkeepers verstand Lukas nicht, wohl aber die Gesten, mit dem er ihm bedeutete, Platz zu nehmen wo er wollte, das Essen und das Bier würden ihm gleich gebracht. Sein Gesicht brannte, als er sich an einem freien Tisch niederließ, mit dem Rücken zur Wand.

Noch war der Pub relativ leer. Vermutlich aßen die meisten Passagiere in einem der Restaurants oder sahen sich an Deck den Sonnenuntergang an. Lukas fiel zu spät ein, dass dies die Gelegenheit für ein erstes Foto gewesen wäre. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass er am nächsten Morgen als Ersatz den Sonnenaufgang filmen konnte. Plakate an den Wänden wiesen auf ein später stattfindendes Pubquiz hin. Der erste Preis war eine Woche Urlaub in einem Ferienhaus an der irischen Nordküste, inklusive einer geführten Tour zu den Schauplätzen von Game of Thrones. Das hätte Hanna gefallen. Lukas hatte nie verstanden, was sie an der Fantasyserie fand. Auf Hannas Drängen hatte er eine Folge mit ihr angesehen, war aber mittendrin eingeschlafen. Danach fragte sie ihn nicht mehr, ob er mitschauen wollte.

Eine Serviererin stellte ein großes Glas schäumendes Bier vor Lukas auf das Tischchen. Dazu zwitscherte sie etwas, lächelte ihn an und eilte mit ihrem Tablett an den nächsten Tisch. Vermutlich hatte sie ihm mitgeteilt, dass die Pommes folgen würden. Lukas’ Magen begann wieder zu rumoren und er spürte den ersten Anflug der dumpfen Schmerzen in den Armmuskeln, die Seekrankheit ankündigten. Vorsorglich spülte er mit einem Schluck Bier eine weitere Tablette hinunter. Er schlug die Mappe mit den Reiseunterlagen auf.

Das Deckblatt zeigte eine Übersicht der geplanten Zielorte, ergänzt mit Stichworten zu den dort möglichen Aktivitäten. Diese hatte Lukas nach Wetterverhältnissen sortiert und Informationen gesammelt, die hinten in der Mappe hefteten. Vorne befanden sich die Dossiers zu den Unterkünften, mit Anfahrtswegen, Kontaktdaten und Ausdrucken der entsprechenden Websites mit Hinweisen zu den Frühstücksmenüs und den Zimmern. Sie hatten sich für die Unterkunftsform Bed & Breakfast entschieden. Ausnahmsweise hatte Lukas sich durchsetzen können und sämtliche Unterkünfte vorgebucht, bei einem Reisebüro, zur Sicherheit. Die Voucher für die B&Bs steckten in einer mit Tesafilm verschlossenen Klarsichthülle in der Mitte der Mappe. Hanna hatte versucht, ihn davon zu überzeugen, dass gerade die Gutscheine für mehr Flexibilität sorgen konnten, da sie diese bei einer ganzen Liste von B&Bs hätten einlösen können. Doch Lukas behagte die Vorstellung nicht, jeden Tag ins Ungewisse zu starten. Darum hatten sie vorab Unterkünfte von der Liste ausgesucht und fest gebucht. Nun graute ihm davor, unter den neugierigen Blicken der Pensionswirte erklären zu müssen, warum er allein anreiste. Einen knappen englischen Text hatte er bereits entworfen und mehrmals vor dem Spiegel geübt.

Die Serviererin stellte einen Teller Pommes und ein volles Glas Bier vor ihm ab. Verwirrt blickte er zu ihr auf und versuchte, auf Englisch zu erklären, dass er das nicht bestellt hatte. Sie deutete lächelnd zu einem Tisch einige Meter weit weg, an dem die pinken T-Shirts Platz genommen hatten und ihm giggelnd zuwinkten. Hitze stieg in Lukas’ Wangen. Er spürte, dass seine Ohren rot anliefen. Abwehrend hob er die Hände und setzte zu einer Ablehnung an, doch die Serviererin lief schon zurück zur Theke. Die pinken T-Shirts prosteten ihm zu. Um nicht unhöflich zu wirken, hob Lukas ebenfalls sein Glas und trank einen großen Schluck. Hoffentlich wollten die jetzt nicht, dass er sich ihnen anschloss. Um jegliche entsprechende Erwartung im Keim zu ersticken, beugte er sich tief über die Mappe und runzelte übertrieben die Stirn, als wäre er in ein schwieriges Problem vertieft. Zum Glück stürmte da eine Horde junger Männer in Fußballtrikots den Pub und gesellte sich sogleich zu den pinken T-Shirts. Lukas war vergessen. Um weiteren Begegnungen dieser Art zu entgehen, kippte er hastig sein Bier hinunter. Die Fähre schlingerte heftiger und es schien ihm ratsam, sich so schnell wie möglich in die Kabine zu begeben und hinzulegen.

Wie aus dem Nichts manifestierten sich zwei volle Biergläser vor ihm.

»Hallo Fremder«, sagte eine rauchige Stimme.

Kapitel 2

Die Erde bebte. Eigentlich war es eher ein Schwanken. In Lukas’ Ohren wummerte es dumpf und seine Zunge lag wie ein verwester Hamster in seinem Mund. Das Bettzeug roch seltsam und das Bett selbst schlingerte hin und her, genau wie Lukas’ Magen. Mühsam hob er die verklebten Lider, drehte langsam den Kopf zur Seite und blickte auf eine Pritsche, auf der sich ein unordentlicher Haufen bunter Decken klumpte.

Drei Dinge fielen ihm ein. Erstens, er befand sich auf der Direktfähre von Frankreich nach Irland. Zweitens, er hatte zu viel getrunken oder war furchtbar seekrank oder beides. Drittens, er musste dringend zur Toilette.

Nachdem er seine wirren Gedankenfetzen auf diese Art sortiert hatte, war er in der Lage, sich von der Pritsche hochzustemmen und durch die schmale Kabine zu der noch schmaleren Tür zu wanken, die in ein winziges Badezimmer führte. Verschwommen erkannte er eine Kloschüssel aus grauem Plastik. Sein Magen hob sich. Stöhnend krümmte er sich zusammen und erbrach braune Flüssigkeit.

Bier. Zu viel Bier.

Er konnte sich nicht erinnern, wie viele genau. Mindestens vier. Und das auf die Reisetabletten. Keine gute Idee.

Es dauerte, bis aus seinem Mund statt Gallenschleim nur noch ein paar letzte Rülpser kamen. Beim Urinieren musste er sich mit der Hand an der Wand abstützen. Alles um ihn schwankte und er war nicht sicher, ob dieser Eindruck auf den Seegang oder den Kater zurückzuführen war. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er vollständig bekleidet war. Angewidert zerrte er sich das verschwitzte T-Shirt und die Jeans vom Leib. Natürlich hatte er bis auf Unterwäsche keine Kleidung zum Wechseln dabei. Dass er sich volllaufen lassen und in den Klamotten einschlafen würde, hatte er nicht eingeplant.

Noch während er unter der lauwarmen Dusche stand, schoss die Hitze von Panik in seinen Unterleib. Ohne sich darum zu kümmern, dass er triefendnass war, stürzte er aus dem Bad. Die Jacke lag auf dem Boden. Er sank daneben auf den fleckigen Teppich und tastete mit fliegenden Fingern die Taschen ab. Brieftasche, Autoschlüssel, keine Schlüsselkarte. Natürlich nicht, er befand sich in seiner Kabine. Keuchend hob er den Kopf und spähte hinauf zu dem Fach neben der Tür. Die Schlüsselkarte steckte. Ein paar Atemzüge gab er sich zittriger Erleichterung hin.

Als er zurück ins Bad wankte, fühlten seine Knie sich puddingweich an. Die beruhigend alltäglichen Tätigkeiten Zähneputzen und Rasieren verlangsamten seinen Puls und mit dem Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein, schüttelte er seine vom Duschen feucht gewordene Kleidung aus und schlurfte zurück in die Kabine. Sein Blick streifte die Pritschen. Auf der linken lag zerwühltes Bettzeug, auf der rechten bunte Decken. Merkwürdig. Er konnte sich nicht erinnern, die am Vorabend bemerkt zu haben. Breitbeinig, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, tastete er sich voran, um sie in Augenschein zu nehmen. Er war einen halben Schritt von der Koje entfernt, da regte sich der Deckenhaufen, richtete sich auf und verwandelte sich in ein Wesen mit blonden Dreadlocks, die in verquollene Augen hingen. Mit angehaltenem Atem blieb er stehen.

Seine Gedanken überschlugen sich. Er hatte nicht abgeschlossen. Jemand hatte nachts die Kabinentür verwechselt. Er selbst hatte die Kabinentür verwechselt und dies war gar nicht seine Kabine. Nein, Unsinn, es sei denn, er hätte vorher noch seinen Kulturbeutel geholt und ins Bad gestellt.

Das Dreadlockwesen riss die Augen auf und grinste. »Guten Morgen, Luke! Gar nicht so übel«, ertönte eine schlafheisere Stimme. Luke? Niemand nannte Lukas Luke. Doch das wurde zum geringsten seiner Probleme, denn ihm fiel auf, welche Richtung der Blick seines Gegenübers nahm. Hastig hielt er sich das mittlerweile zerknüllte Bündel, bestehend aus T-Shirt und Jeans, vor den Unterleib.

Das Wesen winkte ab. »Entspann dich, ich bin schon groß und habe so was schon mal gesehen.« Es gähnte ungeniert, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten.

»Das ist meine Kabine«, stieß Lukas hervor.

»Ja, herzlichen Glückwunsch. Ohne Fenster. Hast du letzte Nacht oft genug betont.«

Um Lukas drehte sich alles. In Kombination mit dem ständigen Geschwanke war das zu viel für ihn. Mit letzter Kraft torkelte er zu seiner Pritsche und sank darauf nieder, ohne das Wesen aus den Augen zu lassen. Das Kleiderbündel drückte er auf seinen Schoß.

»Filmriss, hm? Das liegt vermutlich an deinen Reisepillen. Du wolltest ja unbedingt noch eine nehmen, aber daran erinnerst du dich auch nicht mehr, oder?« Die Stimme seines Gegenübers gewann langsam an Energie und wechselte von heiser zu melodiös. Jedenfalls war sie viel zu laut. Lukas widerstand der Versuchung, die Handflächen gegen die Ohren zu pressen, denn dafür hätte er seinen Feigenblattersatz loslassen müssen. Offenbar hatte er die Nacht mit der blonden Frau verbracht. Als solche hatte er das Wesen mittlerweile erkannt. Nun war er heilfroh darüber, dass er angezogen aufgewacht war.

»An was erinnerst du dich denn noch?«, schnitt die Stimme der Frau in sein Trommelfell. Gute Frage. Er wusste, dass er in den Pub gegangen war. Pinke T-Shirts, Bier, ein Quiz … Gelächter, Applaus, das Gefühl von Euphorie und Triumph. Der Duft nach reifen Pfirsichen. Arme, die sich um seinen Hals schlangen.

Vielleicht wollte Lukas sich doch lieber nicht erinnern.

Widerwillig zwang er seinen Blick zu der blonden Frau. Sie trug ein knallig buntes Shirt mit langen Ärmeln und ein noch farbenfroheres Gewand, von dem nicht zu erkennen war, ob es sich um eine weite Hose oder einen Rock handelte. Ihr Gesicht war blass und schmal, ein silberner Ring zierte den rechten Nasenflügel und die Haare fielen ihr in dicken Filzsträhnen auf die Schultern. Nur der Ansatz sah glatt und nach normalem Haar aus. Sie grinste breit und reckte beide Daumen in die Luft. »Wir haben das Quiz gewonnen! Das weißt du aber noch!«

Nein, wusste er nicht.

»Das Pubquiz?«, fragte er unnötigerweise.

Sie nickte. »Mann, Luke, wir haben ordentlich abgeräumt. Naja, du hast das meiste gewusst, aber wir haben uns super ergänzt. Musik und Filme sind wohl nicht so dein Ding, das habe ich übernommen, dafür hast du den ganzen Rest gerockt. Mr Wikipedia!«

Sie zwinkerte ihm zu und lachte übermütig wie über einen gelungenen Insiderscherz. Bevor Lukas entscheiden konnte, ob die Überraschung eher in die Kategorie gut oder schlecht fiel, grabschte die Frau nach einem DIN-A3-Umschlag auf dem Bord zwischen den Kojen, zog ein paar Blätter heraus und wedelte damit vor seiner Nase herum. »Eine Woche Ferienhaus! Juhu, wie geil ist das denn bitte?«

Lukas riss ihr die Bögen aus der Hand. Französisch, wie nicht anders zu erwarten. Er konnte nur seinen Namen entziffern und darunter einen weiteren. Josefine Sommer. Ein schlanker Zeigefinger schob sich in sein Blickfeld und tippte auf das Blatt.

»Das bin ich, Jo. Übrigens gibt es das auch noch mal auf Englisch, keine Sorge. Da steht, dass wir eine Woche in einem traumhaft schönen Ferienhaus verbringen dürfen. Mit Meerblick! Und zwar in zehn Tagen! Jippie!«

»Das geht nicht«, stotterte Lukas. Die drei Wochen seines Urlaubs waren bereits durchgeplant und gebucht. Ein gewonnenes Ferienhaus hatte darin keinen Platz. Die grüne Mappe fiel ihm ein. Er schob die Blätter zurück in den Umschlag, drückte ihn Josefine in die Hand und beugte sich vor, um seinen Rucksack näher heranzuziehen.

»Tu dir keinen Zwang an, ich gehe mal kurz ins Bad!«, trällerte Josefine und sprang elanvoll auf. Statt wie Lukas unkoordiniert hin und her zu schwanken, hielt sie mit tänzelnden Schritten das Gleichgewicht. An der Badtür drehte sie sich zu Lukas um und warf ihm eine Kusshand zu. »Wir Glückspilze!«

Lukas starrte auf die hinter ihr zufallende Tür, eine Hand im Rucksack, die andere auf dem Kleiderbündel auf seinem Schoß. Verspätet begriff er, dass sie dachte, er suchte nach Kleidung, um sich anzuziehen. Da die grüne Mappe nicht im Rucksack war und er ungern nackt auf die Suche gehen wollte, streifte er hastig das T-Shirt über, gefolgt von einer Unterhose und den Jeans. Die Socken lagen wie schwarze Knäuel zwischen den Pritschen neben seinen Schuhen, die er immerhin ausgezogen hatte, bevor er sturzbetrunken auf das Bett gefallen war. Er spürte, wie ihm Schamesröte ins Gesicht stieg und versuchte, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass nichts passiert war. Bis auf den blöden Gewinn, den er nicht wollte.

Er brauchte sein Dossier.

Fünf Minuten später, begleitet von Josefines lautem Gesang, der sowohl das Plätschern der Dusche als auch das Wummern der Schiffsmotoren mit Leichtigkeit übertönte, sah er ein, dass die grüne Mappe und damit seine gesamte Irlandreiseplanung fort war. Er hatte natürlich alles mehrmals auf seinem Netbook gespeichert, doch das galt nicht für die Voucher. Neunzehn Übernachtungen. Einfach weg. Und er besaß nicht genug Geld, um die B&Bs trotzdem anzufahren und erneut zu bezahlen. Dass er Hanna die Hälfte der Kosten für die Reise hatte erstatten müssen, hatte ohnehin schon ein gewaltiges Loch in seine Kasse gerissen. Zweimal für die Unterkünfte zu bezahlen, konnte er sich nicht leisten. Er musste die grüne Mappe wiederfinden.

Während er krampfhaft überlegte, wo sie sein könnte und immer wieder nur auf den Pub kam, ertönte ein lauter Gongschlag, der ihn zusammenzucken ließ. Aus einem unsichtbaren Lautsprecher schepperte eine Frauenstimme, die in rasendem Tempo und enthusiastischem Tonfall etwas erzählte. Lukas verstand kein Wort. Er konnte nicht einmal erkennen, um welche Sprache es sich handelte. Die Badtür flog auf und Josefine erschien, ein Handtuch um den Kopf gewickelt. Ohne die Dreadlocks wirkte ihr Gesicht noch schmaler, eigentlich eher herzförmig, mit spitzem Kinn und weit auseinanderliegenden großen Augen, die Lukas schalkhaft anblitzten.

»Sie sagt, dass es 8 Uhr ist, die Fähre planmäßig um 10:30 Uhr anlegen wird und das Petit Bistro jetzt Frühstück serviert.« Sie rubbelte mit dem Handtuch auf ihrem Kopf herum. »Hungrig?«

»Wo ist die grüne Mappe?«, fuhr Lukas sie an, als wäre sie schuld an der Misere. Vermutlich war sie das sogar. Sie hatte ihn betrunken gemacht und ihn dazu gezwungen, an dem Quiz teilzunehmen. Von selbst wäre er nie auf so eine Idee gekommen.

Josefine schob die Unterlippe vor und ließ das Handtuch sinken. Von den Dreadlocks tropfte Wasser auf ihre Schultern und den Teppich. »Meinst du das Ding, in dem die Unterlagen für deinen mit der Stoppuhr geplanten Urlaub sind?«

»Ja!«

»Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen? Du hast doch so getan, als wäre die Mappe der heilige Gral.«

Lukas hörte ihr nur noch mit halbem Ohr zu. Er zog sich hektisch Socken und Schuhe an und schnappte sich seine Jacke. Brieftasche, Autoschlüssel, die Schlüsselkarte nahm er aus dem Fach neben der Tür, die er ohne Weiteres öffnen konnte. Er hatte wirklich nicht abgeschlossen! Auffordernd drehte er sich zu Josefine um und hielt die Tür auf. »Du gehst jetzt besser«, sagte er steif.

Josefine starrte ihn an, als hätte er ihr ein unmoralisches Angebot gemacht. »Was ist denn mit dir los? Bist du sauer, weil ich das mit der Stoppuhr gesagt habe? Hey, Luke, wir finden deine Mappe schon. Reg dich ab. Sie kann ja nur im …«

»Nenn mich nicht Luke!«, unterbrach Lukas sie. Ihr Geplapper bereitete ihm Kopfschmerzen. Er brauchte Ruhe zum Nachdenken. Und eine Reisetablette. Josefine musterte ihn, die Stirn gerunzelt. »Du brauchst das Ding doch gar nicht mehr. Wir haben das Haus gewonnen.«

Das Haus. Lukas kämpfte gegen würgende Übelkeit. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mit jemandem wie dir eine Woche unter einem Dach verbringe?«

Verschwommen sah er, wie Josefine einen Schritt zurückwich und die Arme verschränkte. »Wie meinst du das denn, mit jemandem wie mir?«

Mist. Wie kam er aus der Nummer wieder heraus? Mit dem Handrücken wischte Lukas sich Schweiß von der Stirn. Warum konnte diese Frau nicht einfach verschwinden? »Ich meine, dass wir uns überhaupt nicht kennen.«

»Wir haben zehn Tage Zeit, um uns kennenzulernen.«

»Nein. Ich will das nicht.« Lukas merkte, dass er sich wie ein quengeliges Kleinkind anhörte und zwang sich, tief durchzuatmen. Dass er nur seine grüne Mappe und seine Ruhe wollte, verschluckte er.

»Sei nicht so spießig, Luke. Lukas. Das wird sicher lustig. Freust du dich denn gar nicht über unseren Gewinn?«

Spießig. So hatte Hanna ihn genannt, oft. Zuletzt während des großen Krachs, der damit endete, dass sie türenknallend seine Wohnung verließ und ihm später per SMS mitteilte, dass er alleine nach Irland fahren konnte. Dabei war er nicht spießig. Und er musste sich das nicht gefallen lassen, nicht von dieser dreisten, nervigen Person mit den unsäglichen Haaren, die rein gar nichts über ihn wusste, jedenfalls lange nicht genug, um sich ein Urteil anzumaßen. Lukas ließ die Tür zufallen und lehnte sich dagegen. Schließlich musste nicht jeder auf dem Flur mithören.

»Nein, ich freue mich nicht!«, stieß er hervor. »Ich habe keine Lust, zehn Tage mit dir zu verbringen, geschweige denn in ein Ferienhaus mit dir zu ziehen. Ich habe keine Ahnung, was letzte Nacht passiert ist, aber du gehörst bestimmt nicht zu den Leuten, die ich kennenlernen will. Und da du mich für spießig hältst, bin ich ja wohl auch nicht deine erste Wahl für einen gemeinsamen Urlaub.«

Josefine schleuderte ihm das Handtuch vor die Füße. »Darauf kannst du wetten, du überheblicher Sack! Weißt du was, überlass mir das Haus und such deine blöde grüne Mappe alleine!«

Bevor Lukas reagieren konnte, hatte sie ihn schon zur Seite geschubst, riss die Tür auf und stürmte aus der Kabine, in der Hand den Umschlag mit dem Quizgewinn. Lukas hörte empörte Rufe aus dem Flur und entschuldigende Worte von Josefine, die bald in der Ferne verhallten und von dem lauten Gequake der ersten Frühstückerkarawane abgelöst wurden.

Mit zitternden Händen hob er das Handtuch auf. Er hatte überreagiert. Hanna hatte recht. Er konnte einfach nicht mit Menschen umgehen. Neben der Spießerbeleidigung war das ein weiteres ihrer Argumente, warum sie keinen Tag länger in seiner Nähe aushalten konnte. Seine angeblich unsensible, pedantische, selbstbezogene Art. Dabei war er doch gar nicht so schlimm. Er hängte das feuchte Handtuch ordentlich an einen Haken im Badezimmer, nahm eine Reisetablette, die sich beruhigenderweise wie erwartet im richtigen Fach des Rucksacks befand, und verließ die Kabine, nachdem er kontrolliert hatte, ob Brieftasche und Autoschlüssel ebenfalls in den für sie vorgesehenen Taschen steckten. Die Schlüsselkarte kam wie gehabt in die Außentasche.

Noch herrschte wenig Betrieb auf den Innendecks. Lukas schaffte es zügig in den Pub. Auf den Eckbänken lagen schlafende Passagiere, mit ihren Jacken zugedeckt. Ein junger Mann hockte zusammengesunken an einem Tisch, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Vor ihm stand ein halbleeres Glas Bier. Allein der Anblick löste Brechreiz bei Lukas aus. Hastig wandte er den Blick ab und schwankte breitbeinig auf die Theke zu. War das der Barkeeper vom Vorabend? Er konnte sich nicht erinnern. Der Barkeeper aber sehr wohl, denn ein breites Grinsen flog über sein Gesicht, gefolgt von einem Wortschwall. Diesmal auf Englisch. Lukas verstand, dass der Mann ihm zu seinem Gewinn gratulierte. Der Auffrischungskurs hatte sich gelohnt. Die ersten englischen Worte des Urlaubs holperten über Lukas’ Lippen: »Thank you.«

Dann zermarterte er sich das Hirn, was »grüne Mappe« hieß. Map bestimmt nicht, das war der Begriff für Landkarte.

»Green«, begann er und malte mit den Händen ein Rechteck in die Luft. Der Barkeeper sah ihm ratlos zu. Nach ein paar Minuten gab Lukas seine Versuche, ihm zu erklären, was er suchte, auf. Stattdessen stolperte er zwischen den Tischen und Hockern umher, in der Hoffnung, die Mappe irgendwo zu entdecken. Er kroch sogar auf Händen und Knien an den Eckbänken vorbei. Bis auf ein paar heruntergefallene Pommes und andere undefinierbare Essensreste blieb seine Suche erfolglos.

Mit dem hohlen Gefühl des Versagens schlich er zurück in die Kabine. Dort hing Pfirsichduft in der Luft. Bestimmt das Shampoo von Josefine. Die Kabine wirkte seltsam leer und still ohne sie. Ihre Lebhaftigkeit hatte den Raum gefüllt, auf eine Art, von der Lukas jetzt nicht mehr wusste, ob er sie wirklich nur als unangenehm empfunden hatte. Er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Am besten, er nahm die nächste Fähre zurück.

Sein Smartphone dudelte. Bis er es aus der Tasche genestelt hatte, war es bereits verstummt. Während er noch auf das Display starrte und sich keinen Reim auf das »Hanna« machen konnte, klingelte es erneut. Hanna. Zögernd nahm er das Gespräch an und hielt sich das Handy ans Ohr.

»Ja?«

»Hallo Lukas.«

Das war tatsächlich Hannas Stimme, so nah, als säße sie neben ihm. »Wie geht’s dir, bist du seekrank geworden?«

In den leicht spöttischen Klang ihrer Stimme hatte Lukas sich damals verliebt. Er musste schlucken, bevor er antworten konnte.

»Nein, hab doch die Tabletten.«

»Und sonst, alles gut bei dir?«

Hörte Hanna sich ein wenig kleinlaut an? Lukas presste das glatte Display des Smartphones fester ans Ohr.

»Ja, die Fähre wird pünktlich anlegen.«

»Das ist natürlich das Wichtigste. Sonst würde ja dein gesamter Zeitplan durcheinandergeraten.«

Doch nicht kleinlaut. Lukas’ Magen zog sich zusammen. »Der ist sowieso schon durcheinander«, sagte er ohne darüber nachzudenken. »Ich habe etwas Tolles gewonnen. Bei einem Pubquiz. Eine Woche Aufenthalt in einem Ferienhaus an der Nordküste. Mit Game-of-Thrones-Tour.«

Stille. Lukas nahm das Handy vom Ohr und blickte mit grimmiger Befriedigung darauf. Von wegen spießig!

»Du hast an einem Pubquiz teilgenommen?«, ertönte Hannas Stimme, misstrauisch. Lukas hob das Smartphone wieder. »Ja, und gewonnen. Das Haus hat Meerblick. In zehn Tagen kann ich dir Fotos schicken. Warum rufst du an?«

»Ich habe überlegt, ob ich nachkomme. Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast. Dann könnten wir in Ruhe über alles reden.«

»Darüber, wie spießig ich bin?«, rutschte es Lukas raus und er hätte sich sofort dafür ohrfeigen können. Wochenlang hatte er auf diese Worte gewartet, und nun stellte er sich an wie ein beleidigter Idiot.

»Zum Beispiel.« Hannas Seufzen war deutlich zu hören. »Ich finde ja nur, wir sollten uns noch eine Chance geben. Vielleicht ist der Gewinn ein Zeichen.«

»Wie meinst du das?«

»Ich könnte in zehn Tagen fliegen und wir treffen uns an deinem tollen Haus. Wäre das nichts?«

Überrumpelt ließ Lukas den Blick durch die Kabine schweifen, als könnte er dort eine Tafel mit seinem Text finden.

»Naja«, sagte er schließlich.

»Schön! Dann suche ich gleich mal nach billigen Flügen! Ich sage dir Bescheid, wann du mich vom Flughafen abholen kannst. Ich freu mich! Tschüss!«

Mit schweren Gliedern hockte Lukas auf der Pritsche, das Smartphone in den schlaffen Fingern. Seine Probleme hatten sich soeben verdoppelt.

Kapitel 3

»Merci, Philippe.« Jo nahm den großen Rucksack an, den Philippe ihr über den Tresen des Informationsschalters reichte. Er ächzte und stöhnte dabei und machte eine große Show daraus.

»Was hast du denn da drin, Steine?« Er sprach Französisch, eine Sprache, die Jo fließend beherrschte, seit sie in ihrer Kindheit jeden Sommer bei ihrer Großmutter in der Provence verbracht hatte. Lachend zog sie ein Haarband aus dem Rucksack und bändigte damit ihre störrischen Dreadlocks.

»Danke, dass ich meinen Steinerucksack bei dir abstellen durfte. Hat der Pub schon geöffnet?«

»Der hat rund um die Uhr geöffnet. Ziemlich früh für einen Drink, was?«

Philippe musterte Jo besorgt. Sie kannte ihn von früheren Überfahrten und vom Alter her könnte er ihr Vater sein. Sie unterdrückte ein Schmunzeln. »Keine Sorge, ich muss da nur etwas klären. Stell dir vor, ich habe das Pubquiz gewonnen.«

»Herzlichen Glückwunsch, Josefine!« Philippe strahlte über das ganze Gesicht. »Niemandem hätte ich das mehr gewünscht als dir. Wirst du sofort zu dem Häuschen reisen?«

»Nein, zuerst geht es wie immer die Westküste hoch. Der erste freie Termin in dem Haus ist in zehn Tagen.«

Philippe wünschte ihr viel Spaß und einen schönen Urlaub. Bevor sie sich gebührend voneinander verabschieden konnten, trat ein Passagier an den Infoschalter und verlangte in herrischem Ton nach einer neuen Schlüsselkarte, da seine nicht mehr funktionierte. Jo winkte Philippe zu, schulterte den Rucksack und marschierte Richtung Pub. Sie wusste selbst nicht, warum sie Lukas helfen wollte, nachdem er sich benommen hatte wie ein Arschloch. Für was hielt der Kerl sich? Dabei hatten sie sich abends im Pub so gut verstanden. Wohin war der witzige Luke verschwunden, der Jo zum Lachen gebracht und sich mit ihr gemeinsam über den Gewinn gefreut hatte? Vielleicht lag es an der Seekrankheit und dem Kater, dass er an diesem Morgen ein völlig anderer Mensch zu sein schien. Jo brachte es trotzdem nicht übers Herz, ihn seinem Schicksal zu überlassen. Er hatte unter all seiner Arroganz verloren gewirkt. Außerdem fühlte Jo sich in seiner Nähe wohl. Selbst als er sie beleidigt und rausgeworfen hatte. Das war gleichzeitig seltsam und schön und Jo wollte der Sache auf den Grund gehen.

Im Pub stank es nach abgestandenem Bier und Essig. Von Lukas keine Spur. Dafür entdeckte Jo die Serviererin, mit der sie am Vorabend einen kleinen Schwatz gehalten hatte. Sandrine jobbte als Aushilfe auf der Fähre und war in Jos Alter.

»Salut, Sandrine!« Jo winkte ihr zu. Sandrine, die gerade mit Eimer und Lappen von Tisch zu Tisch ging und die klebrigen Reste der feuchtfröhlichen Quiznacht beseitigte, blickte irritiert auf. Als sie Jo erkannte, flog ein Lächeln über ihr Gesicht.

»Jo! Glückwunsch zum Gewinn noch mal. Das habt ihr super gemacht.«

»Danke. Soll ich dir helfen?«

»Nein, besser nicht. Danke für das Angebot, aber mein Chef sieht das nicht gerne. Wir können leider auch nicht länger quatschen, dagegen hat er auch was.« Sandrine verzog das Gesicht und warf rasch einen Blick über die Schulter, als lauerte ihr Chef dort irgendwo und wartete nur darauf, ihr einen Anschiss zu verpassen. »He, dein Freund hat gestern etwas liegen gelassen. Eine Mappe. Ich habe sie genommen, damit sie nicht wegkommt. Warte mal.«

Sandrine flitzte zu einer der Theken, wühlte dahinter herum und tauchte mit der grünen Mappe in der Hand wieder auf. »Hier ist sie. Kannst du ihm die geben?«

»Klar, mach ich.« Jo nahm den Rucksack ab, stopfte die Mappe hinein und bedankte sich bei Sandrine. Sie hätte gerne noch mit ihr geplaudert und nach ihrem Job ausgefragt. Vielleicht wäre das auch mal was für sie. Aber sie wollte Sandrine nicht in Schwierigkeiten bringen und außerdem Lukas die Mappe geben. Ihr Verlust schien ihn ja schwer getroffen zu haben, seiner beinahe panischen Reaktion nach zu urteilen. Allmählich fing ihr Magen an zu knurren. Zeit für ein Frühstück. Lukas konnte sicher auch etwas zu essen vertragen, er hatte ganz schön grün im Gesicht ausgesehen. Jo hüpfte die Treppe hinunter und irrte ein paar Minuten im Gewirr der Gänge auf dem Kabinendeck herum, bis sie einen Fährenmitarbeiter fand, der ihr zeigte, wo sie Lukas’ Kabine finden konnte.

Jo klopfte an die Tür. Keine Reaktion. Bestimmt war er schon frühstücken gegangen. Kein Problem, die Fähre war zwar groß, aber Jo zweifelte nicht daran, dass sie Lukas finden würde. Sie wandte sich zum Gehen, da wurde die Tür aufgezogen. Lukas’ Miene hellte sich bei Jos Anblick auf. Gut, bestimmt tat es ihm leid, dass er so ausgeflippt war.

»Hey, Luke, Lust auf Frühstück?«, fragte Jo ihn. Er blinzelte, als wäre ihm dieses Konzept der morgendlichen Nahrungsaufnahme fremd. Eigentlich war er überhaupt nicht Jos Typ mit den ordentlichen kurzgeschnittenen Haaren und dem Spießeroutfit, doch sie musste zugeben, dass er schöne Augen hatte, ein warmes Braun mit Goldschimmer. Und ein nettes Lächeln, obwohl er das an diesem Morgen noch nicht gezeigt hatte. Auch jetzt kniff er die Lippen zu einer strengen Linie zusammen.

»Wir müssen über den Gewinn reden«, sagte er.

»Klar, das können wir beim Frühstück machen. Los komm, bevor alle Fensterplätze besetzt sind.«

Lukas zögerte, blickte hinter sich in die Kabine und zuckte schließlich die Achseln. Er tastete sämtliche Taschen seiner beigefarbenen Goretexjacke ab, zweimal.

»Na gut.«

Das klang ja wahnsinnig begeistert. Jo verstand ihn aber, sie konnte auch unausstehlich sein, wenn sie Hunger hatte. Nach einem Kaffee und Croissants würde sicher bald der liebenswerte Luke zum Vorschein kommen, mit dem sie sich im Pub so gut amüsiert hatte. Mit mürrischer Miene schlurfte er neben ihr her. Im Gegensatz zu ihr bewegte er sich mit schlafwandlerischer Sicherheit durch das Labyrinth und führte sie in Rekordzeit zu dem Schnellrestaurant. Er blieb abrupt stehen und sie stieß gegen ihn, was ihn zusammenzucken ließ.

»Sieht voll aus.«

Wieder wirkte er verloren, unsicher. Jo unterdrückte den Impuls, den Arm um seine Schultern zu legen. Offenbar mochte er keine Berührungen. Das respektierte sie, schließlich kannten sie sich noch nicht lange und es war nicht jedermanns Sache, sofort auf Tuchfühlung zu gehen.

»Dahinten ist noch ein Tisch am Fenster frei, siehst du?« Sie ergriff die Initiative und betrat das Restaurant durch die Glasschiebetür, um zielstrebig auf den Tisch zuzusteuern. Dort ließ sie den Rucksack von den Schultern gleiten und lehnte ihn vorne an einen der am Boden festgeschraubten Stühle. Immerhin war Lukas ihr gefolgt, obwohl er ein Gesicht zog, als wäre er an jedem anderen Platz auf der Welt lieber.

»Einer von uns hält den Tisch frei und der andere holt Frühstück, okay?«, schlug Jo vor. Lukas blickte unschlüssig zu der langen Selbstbedienungstheke.

»Ich nehme nur einen Tee.«

»Ist gut, nehmen Sie Platz, Monsieur, Ihr Tee wird sofort serviert.« Jo vollführte eine einladende Armbewegung und deutete auf den Stuhl am Fenster. Lukas verzog keine Miene. Ein harter Brocken. Während Jo sich in die Schlange der Wartenden einreihte, versuchte sie sich vorzustellen, zehn Tage mit ihm zu verbringen. Bisher hatte sie die Tour immer allein unternommen. Doch diesmal jagte der Gedanke daran ihr Angst ein. Ihr war jede Gesellschaft recht, und bestimmt würde Lukas mit der Zeit auftauen. Etwas anderes war an einem so wunderbaren Ort wie Irland gar nicht möglich. Dass ein netter Kerl in ihm steckte, hatte sie am Vorabend erlebt. Sie musste ihn nur hervorlocken.

Nachdenklich lud sie Tee, eine Tasse Cappuccino, Croissants und zwei Becher Joghurt auf das Tablett. Sie zahlte einen horrenden Preis, der sie mehrmals schlucken ließ, und tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie ausnahmsweise genug Geld dabeihatte, um sich Extravaganzen wie Frühstück auf der Fähre leisten zu können. Beladen kehrte sie zu dem Tisch zurück. Lukas saß zusammengesunken da und starrte aus dem Fenster. Er sah traurig aus. Jo konnte sich denken, warum. Im Pub hatte er ihr erzählt, dass seine Freundin mit ihm Schluss gemacht hatte und er darum alleine nach Irland reiste. Er schien immer noch an ihr zu hängen. Wer hätte mehr Verständnis dafür haben können als Jo …

»Frühstück!«, rief sie aufmunternd und stellte das Tablett vor ihm ab. Trübsinnig zog er die Tasse Tee zu sich heran. »Was ist denn das?«

»Erdbeertee! Duftet lecker, was?«

»Gab es keinen normalen schwarzen?«

»Doch, aber da du keinen speziellen Wunsch geäußert hast …«

Lukas verzog angewidert den Mund. Jo beschloss, seine schlechte Laune zu ignorieren und biss in das Croissant. Schmeckte besser als erwartet. Sie schob den Teller zu Lukas hinüber. »Bedien dich!«

Er musterte die Croissants, als könnten sie ihn beißen. »Ich habe es mir überlegt«, sagte er zu ihnen. Jo wartete ab. Sie hatte sich schon gedacht, dass er nicht einfach auf das Ferienhaus verzichten würde. Schön, sie hatte kein Problem damit, es mit ihm zu teilen. Schließlich hatten sie es gemeinsam gewonnen. Lukas nahm nun doch ein Croissant und zupfte ein Stück davon ab.

»Du überlässt das Haus mir. Ich habe bei dem Quiz viel mehr Fragen beantwortet als du. Von Rechts wegen steht es mir zu.«

Jo verschluckte sich. Sie hustete würgend und griff hastig nach der kleinen Flasche Orangensaft, für die sie ein Vermögen ausgegeben hatte. Nach ein paar Schlucken bekam sie wieder Luft und musterte Lukas forschend. Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein. Nein, Lukas sah völlig ernst aus. Er erwiderte ihren Blick aus dunklen Augen, die Brauen zusammengezogen, sodass sich zwischen ihnen zwei parallele Falten bildeten.

»Hä?«, machte Jo. »Spinnst du? Wir haben die Fragen zusammen beantwortet! Wir sind ein Team und wir haben als Team gewonnen. Und überhaupt, wie kommt es, dass du dich plötzlich erinnerst?«

»Na gut. Dann bitte ich dich eben, mir das Haus zu überlassen. Ich bezahle natürlich dafür.«

Das klang nicht nach einer Bitte, sondern nach einem Befehl. Jo konnte es nicht leiden, wenn ihr jemand Befehle gab. Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Kommt gar nicht infrage.«

Lukas tastete seine Jackentaschen ab und atmete hörbar durch. »Es ist aber so, dass meine Freundin vielleicht nachkommt und dann ist nicht genug Platz in dem Haus.«

»Tja, dann muss deine Freundin sich eine andere Unterkunft suchen.« Jo wunderte sich über den plötzlichen Sinneswandel von Lukas’ Freundin, bis ihr ein Licht aufging. Na klar, Lukas hatte doch erzählt, dass sie auf Game of Thrones stand. Er hatte ihr von dem Haus und der Tour berichtet, um sie zu ködern. Nicht schlecht. Blöd nur, dass Jo da auch noch ein Wörtchen mitzureden hatte. Nicht dass sie Lukas die Versöhnung mit der Freundin nicht gönnte, aber dass er einfach über ihren Kopf hinweg entschied und sie ausbootete, passte ihr nicht. Was er da versuchte, konnte sie schon lange.

»Übrigens treffe ich mich in zehn Tagen mit meinem Freund, und der will sicher auch in das Haus. Also überlass es mir und such dir was anderes. Die Game-of-Thrones-Tour kannst du haben, die interessiert mich nicht.«

Lukas’ Augen blitzten auf. Das gefiel Jo. Endlich zeigte er Temperament.

»Nein. Ich will das Haus!«

»Ich auch.« Jo grinste. Langsam fand sie Gefallen an dem Geplänkel. Eine Idee formte sich in ihrem Kopf. »Wie wäre es, wenn wir ein Battle starten?«

Lukas zog misstrauisch die Mundwinkel nach unten. »Was für ein Battle? Ich werde mich nicht mit dir um das Haus prügeln.«

Dass er ihr das ernsthaft zutraute, amüsierte und ärgerte Jo gleichzeitig. Sie schüttelte den Kopf.

»Kein körperlicher Kampf. Es ist mehr ein Wettstreit. Weißt du noch, dass wir uns gestern Abend über unsere Art zu reisen unterhalten haben?«

Der leere Ausdruck in Lukas’ Gesicht sagte genug. Jo musste also ein wenig weiter ausholen. Sie nippte am Cappuccino, ignorierte den Spülwassergeschmack und legte los. »Du planst alles von vorne bis hinten durch, ich bin spontan und lasse mich überraschen. Wir sind beide davon überzeugt, dass unsere Art des Urlaubens erholsamer und spaßiger ist.«

Lukas nickte zögernd und sie fuhr fort: »Während der nächsten zehn Tage sind wir abwechselnd für jeweils einen Reisetag verantwortlich. Der andere muss mitmachen, egal, was es ist. Wer am Ende die meisten perfekten Urlaubstage hinbekommen hat, ist Sieger und bekommt das Haus.«

Mit gerunzelter Stirn dachte Lukas nach. Jo fand ihre Idee grandios und seine mangelnde Begeisterung versetzte ihr nur einen kleinen Dämpfer. Bestimmt würden das sehr lustige zehn Tage werden, die ausreichend Ablenkung boten. Liam hätte sich darüber kaputtgelacht. Natürlich stand schon fest, dass sie gewinnen würde. Ein perfekter Urlaubstag ließ sich nun mal nicht planen, das war klar.

»Gut, machen wir es so«, sagte Lukas. Er setzte sich auf und straffte die Schultern, ein Bild der Entschlossenheit. Wieder bildeten seine Lippen die verkniffene Linie. Jo unterdrückte ein Seufzen. Nach Spaß sah das allerdings nicht aus. Sie streckte Lukas über die Croissants hinweg die Hand hin.

»Deal!«

Er schlug ein. »Deal!«

Sein Händedruck war angenehm, fest, aber nicht grob, und seine Finger fühlten sich kräftig und warm an. Als ihre Hände sich voneinander lösten, gab es eine kurze elektrische Entladung. Lukas zuckte zusammen und Jo lachte.

»Gefunkt hat es jedenfalls.«

Lukas zog ein Gesicht, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen.

»Tequila und Salz gefällig?«, neckte Jo ihn und musste über seine ratlose Miene noch heftiger lachen.

»Der heutige Tag zählt aber nicht«, sagte er, ohne auf den Scherz einzugehen. »Das ist ja nur der Ankunftstag.«

»Na und, der Weg ist das Ziel. Willst du kneifen?« Jo amüsierte sich über Lukas’ finsteren Gesichtsausdruck. »Wenn du so feige bist, übernehme ich den heutigen Tag.«

Die grünliche Färbung um Lukas’ Nase war zwar verschwunden, doch jetzt wurde er blass.

»Aber mein Auto fährst du nicht«, stieß er hervor.

»Nein, schon gut. Dafür bestimme ich aber die Route.«

»Wir müssen morgen in der Nähe von Killarney sein. Sonst …«

Jo hob die Hand. »Okay! Verrate es mir nicht. Ich möchte mich von deiner Planung überraschen lassen. Killarney kriegen wir hin. Falls du dich noch erinnerst, ich war schon ein paar Mal in Irland.«

Lukas’ Ohren färbten sich rötlich. Er erinnerte sich also nicht.

»Dann informiere ich dich jetzt über die Regeln für mein Auto«, sagte er steif. »In meinem Auto wird nicht gegessen. Auch nicht geraucht. Der Fahrer, also ich, bestimmt, ob die Fenster geöffnet werden. Was die Musik angeht, können wir abwechselnd eine CD aussuchen, aber es besteht die Möglichkeit, ein Mal pro Fahrt Veto einzulegen und die CD-Wahl des anderen abzulehnen. Der Fahrer bestimmt die Lautstärke. Es wird nicht mitgesungen. Der Beifahrer kündigt rechtzeitig an, wenn er auf die Toilette muss und toleriert eine Wartezeit von bis zu 30 Minuten.«

Jo prustete los. Sie hatte doch gleich gewusst, dass Humor in Lukas steckte. Trockener Humor, aber den mochte sie besonders.

Lukas hob mahnend den Zeigefinger. »Ich bin noch nicht fertig.« Er verzog keine Miene und in Jo keimte der vage Verdacht auf, dass er das alles ernst meinte. Sie riss sich zusammen.

»Darf ich die Schuhe ausziehen während der Fahrt?«, fragte sie mit Grabesstimme. Lukas schien wirklich darüber nachzudenken.

»Wenn deine Füße nicht stinken, ja.«

Jo wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Der Drang zu lachen überwog. Sie konnte nicht anders, als erneut zu kichern.

Lukas’ Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Sehr witzig. Dir wird das Lachen schon noch vergehen.«

Immer noch glucksend wischte Jo sich Lachtränen aus den Augenwinkeln.

»Oder du fängst auch irgendwann damit an? Mann, Luke, du bist echt extra. Ich wette, du hast ein laminiertes Blatt mit diesen Regeln in dein Auto gehängt.«

Lukes’ Ohren nahmen jetzt die Farbe reifer Tomaten an. »Nein, habe ich nicht! Du scheinst das ja nicht sehr ernst zu nehmen. Umso besser. Du hast keine Chance. Willst du doch aufgeben und mir das Haus geben?«

Er klang so arrogant, so selbstgefällig, dass Jo das Lachen tatsächlich verging. »Mir fällt da noch etwas ein«, sagte sie sanft. »Jeder von uns kann jederzeit aufgeben. Aber ich verrate dir jetzt schon mal, dass du derjenige sein wirst, der das Handtuch schmeißt. Zehn Tage mit mir sind nämlich nur was für Abenteurer, für Leute mit Mumm in den Knochen. Und nicht für Muttersöhnchen, die sich ohne Stundenplan nicht vor die Tür trauen. Du bist längst in deinen tausend Regeln und Vorschriften erstickt, während ich das Leben in dem Ferienhaus genieße.«

»Ich bin kein Muttersöhnchen«, protestierte Lukas lahm. Jo musterte ihn mitleidig. »Jedenfalls bist du ein kleiner Schisser. Du hast so viel Angst vor der Welt, dass du ohne deine Rüstung aus Planungszwängen keinen Schritt tun kannst. Du suchst nach hundertprozentiger Sicherheit, doch die gibt es nicht. Du machst dir etwas vor und verpasst dabei das Wichtigste. Nämlich dein Leben.« Jo merkte, dass ihre Stimme immer lauter geworden war, als die Leute an den umliegenden Tischen sich interessiert zu ihnen umdrehten. Erschrocken hielt sie inne. Sie hatte das nicht sagen wollen. Sie kannte Lukas überhaupt nicht. Wie hatte er es geschafft, sie zu diesen Worten zu provozieren? Worte, die ihn trafen, das sah sie an dem verletzten Ausdruck in seinen Augen.

»Es tut mir leid«, sagte sie reumütig. »Jetzt bist du dran. Wirf mir was an den Kopf. Beleidige mich!«

Einen Augenblick erkannte sie ein Stück von Luke, dem Mann, mit dem sie sich im Pub gut verstanden hatte, hinter der kontrollierten Maske. Ein Aufblitzen von Leidenschaft, von Sehnsucht nach mehr als einem Alltag in einem Panzer aus Plänen und Regeln. Doch der Augenblick verflog und sein Gesicht verschloss sich. Er zog die Brieftasche aus der Jackentasche und zählte Münzen auf den Tisch.

»Für das Frühstück«, sagte er tonlos. »Ich hole jetzt meine Sachen. Wir treffen uns an der Treppe zu Fahrzeugdeck A. Es ist gelb. Du kannst es nicht verfehlen.«

Kapitel 4

Lukas schaute auf die Uhr. Nachdem er mehrmals von anderen Wartenden angerempelt worden war, hatte er sich in die trügerische Sicherheit des Windschattens der Vitrine verzogen, in der das Fährenmodell durch ein Meer aus Plastikschaum pflügte. Trügerisch, weil ihn dennoch immer wieder ein während des Aufsetzens wüst durch die Luft geschleuderter Rucksack an der Schulter traf oder ein schlecht gesteuerter Rollkoffer seine Waden rammte. Mehrere klirrende Durchsagen hatten darauf hingewiesen, dass zunächst nur Passagiere, die auf das gelbe Autodeck wollten, auf das Lobbydeck durften. Das hatte sogar Lukas verstanden. Er zweifelte daran, dass sich alle an die Anweisung hielten, denn das Deck war gerammelt voll und es standen verdächtig viele Leute an der Treppe zum roten Autodeck. Sämtliche Treppen waren mit Stricken abgesperrt und zur Sicherheit mit je einem Aufsichtsmann besetzt. Lukas warf noch einen Blick auf die Uhr.

Wo blieb Jo? Allein den unsäglichen Namen zu denken ließ ihn erschauern. Das war doch kein Name für eine Frau. Er würde sie Josefine nennen. Wenn er überhaupt mit ihr sprechen musste. Suchend spähte er in die Menge, konnte ihren filzigen Haarschopf jedoch nirgends entdecken. Halb hoffte er, dass sie nicht rechtzeitig auftauchte. Leider befanden sich die Gewinnunterlagen in ihrem Besitz. Ohne Josefine kein Ferienhaus. Schweiß trat Lukas auf die Stirn. Er hätte sich nicht auf das hirnverbrannte Battle, wie Josefine es nannte, einlassen sollen. Aber ihm blieb keine Wahl. Der Gedanke, Hanna beichten zu müssen, dass es doch kein Haus an der Nordküste gab, ließ seinen Magen nervös grummeln. Damit hätte er Hanna wieder einmal bestätigt, was er für ein Versager war. Selbst Josefine, die ihn überhaupt nicht kannte, hatte es geschafft, mit wenigen Sätzen, scharf wie Klingen, genau die Punkte zu treffen, die Hanna ihm in den letzten Wochen ihrer Beziehung ständig vorgeworfen hatte. Er biss die Zähne zusammen. Was war falsch daran, Pläne zu machen, organisiert zu sein, alles im Griff zu haben, statt sich konfus treiben zu lassen? Wären alle Menschen wie er, gäbe es weniger Probleme. Wie zum Beispiel, zu spät auf das Autodeck zu gelangen und einen Stau zu verursachen, nur weil jemand unpünktlich war.

Es kam Bewegung in die Menge. Eine Reisetasche schlug gegen Lukas’ Knie. Ein kurzer Blick zur Treppe zeigte ihm, dass der Aufpasser das Seil entfernt hatte. Hektisch drängten die Passagiere auf die beängstigend schmal wirkende Treppe zu. Dass einige von ihnen plötzlich kehrtmachten, weil ihnen vermutlich auffiel, dass sie sich an der falschen Treppe angestellt hatten, trug zum chaotischen Gedrängel bei. Lukas schluckte und wich zur Wand zurück. Er sah auf die Uhr. Zur Not würde er eben ohne Josefine von der Fähre fahren. Er könnte draußen auf sie warten. Falls sie überhaupt noch mitfahren wollte. Vielleicht hatte sie es sich anders überlegt, sie schien eine erschreckend spontane Person zu sein. Schweiß rann prickelnd über Lukas’ Nacken.

»Juhu, Luke!« Josefine fuchtelte vor seinem Gesicht herum. »Hallo Träumer!« Abwehrend hob Lukas die Hand. »Wo warst du so lange?«

Josefine grinste fröhlich. Lukas merkte, dass ein automatisches Lächeln an seinen Mundwinkeln zupfte und presste die Lippen aufeinander.

»Hab mich verquatscht. Ist sowieso besser, wenn man erst später zum Autodeck hinuntergeht, dann ist das Gedränge nicht so groß.«

Wider Willen musste Lukas ihr recht geben. Der erste Ansturm war vorüber, sodass sie ohne Rempeln und Drängeln die Treppe hinuntergehen konnten. Lukas hatte ein rotes Band an die Autoantenne gebunden, damit er es leichter finden konnte. Das war ihm nun peinlich. Hastig drängte er sich zwischen den Autoreihen hindurch, um es zu entfernen, bevor Josefine es entdeckte. Zu spät. Er hörte sie schon hinter sich losprusten.

»Ist das niedlich! So was hatte ich auch mal, an meinem Fahrrad, als ich im Kindergarten war.«

Lukas kratze die Reste seiner Würde zusammen, entfernte das Band und steckte es in die Hosentasche. »Du kannst deinen Rucksack auf die Rückbank legen«, sagte er knapp.

»Zu Befehl!« Josefine salutierte, immer noch schmunzelnd. Mit einem erleichterten Seufzer rutschte Lukas hinter das Lenkrad. Die erste Hürde war genommen, er hatte das Auto gefunden. Josefine glitt auf den Beifahrersitz, streifte die Schuhe ab und stemmte die bloßen Füße gegen das Handschuhfach. Ihre Nägel waren türkis lackiert.

»Gefällt dir der Lack?«

Lukas zuckte ertappt zusammen. Erst Josefines Frage hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er wie hypnotisiert auf ihre Füße starrte.

»Das Navigationsgerät ist im Handschuhfach«, sagte er lahm.

Josefine musterte ihn mit hochgezogenen Brauen. »Und da bleibt es auch. Heute ist mein Tag. Wir fahren ohne.« Sie blickte sich übertrieben suchend um. »Na so was, wo ist denn das laminierte Blatt mit deinen Autoregeln? Ich war mir sicher, dass du eins aufgehängt hast.«

Lukas hätte gerne eins gehabt, nur um es ihr um die Ohren zu hauen. Erschrocken über den Gedanken richtete er den Blick hastig auf das Lenkrad. Er war doch sonst nicht so aggressiv. Josefine hatte etwas an sich, das ihn zur Weißglut brachte. Schöne Aussichten für die nächsten zehn Tage.

Das stotternde Jaulen startender Autos erfüllte das Autodeck. Langsam setzten sich die ersten Fahrzeuge in Bewegung. Lukas startete den Wagen und atmete auf, als der Motor sofort ansprang. Reifen quietschten über den gummierten Fährenboden. Das Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Das graue Rechteck, die Ausfahrtluke, näherte sich. Josefine hatte seine CD-Box gefunden und blätterte darin herum.

»Simple Minds? Nicht dein Ernst!«

»Kannst du das später machen? Ich muss mich hier konzentrieren.«

Lukas kaute an seiner Unterlippe und achtete darauf, den korrekten Abstand zu dem PKW vor ihm zu halten und nirgendwo anzuecken. Rumpelnd fuhr sein Vordermann auf die Rampe auf. Die sah erschreckend schmal und wacklig aus.

»Ich mach doch gar nichts. Wie war das noch mit den Musikregeln? Wir dürfen abwechselnd aussuchen?«

»Ja, such dir was aus«, murmelte Lukas und lenkte den Wagen über die Rampe in den Regen. Mit schweißfeuchten Fingern schaltete er den Scheibenwischer ein. Hanna hatte recht gehabt. In Irland regnete es immer. Über den Hafengebäuden duckte sich der farblose Himmel. Alles Grau in Grau.

»Wir können heute mal deinen Musikfundus plündern«, erklärte Josefine. »Meine CDs sind irgendwo im Rucksack, da komme ich jetzt nicht ran.« Sie schob eine der silbernen Scheiben in den Player.