Das große Notzeichen - Jens Rusch - E-Book

Das große Notzeichen E-Book

Jens Rusch

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Beschreibung

Kriminalhauptkommissar Sören Madsen und sein Team der Itze­hoer Mordkommission ermitteln in einem seltsamen Fall von ›Schienensuizid‹. Kriminalhauptkommissar Motti Wunderlich hat bereits bei einem vergleichbaren Fall mitgewirkt und trägt mit seinem Hintergrundwissen als Freimaurer entscheidend zur Aufschlüsselung der triftigen Indizien bei. Sie führen Polizisten, Leserinnen und Leser in einen obskuren Kosmos von Raubkunst und Sadismus. Die Vereitelung der Rückerstattung von Raubkunst an deren legitime Besitzer lässt ein makabres Gespinst gegenwärtiger Niederträchtigkeiten erkennen. Die beiden Co-Autoren haben einen Restitutionskrimi erarbeitet, der ein winziges Licht in Deutschlands dunkelste Zeit wirft.

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Ähnliche


Jens Rusch Manfred Eisner

DAS GROSSE NOTZEICHEN

Ein Freimaurer-Krimi

Engelsdorfer Verlag Leipzig 2022

Die Abbildungen auf den Titel- und Rückumschlagseiten stammen aus der spitzen Feder des Co-Autors Jens Rusch aus Brunsbüttel: renommierter Radierer, Maler, Autor, Vater der Wattolümpiade in seiner Heimatstadt, Gründer des ›Freimaurer-Wiki‹ und last but not least, unermüdlicher Unterstützer der Schleswig-Holsteinischen Krebsgesellschaft. Ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz und dem goldenen Verdienstorden der Vereinigten Großlogen von Deutschland.

Bibliografische Information durch die Deutsche

Nationalbibliothek: Die Deutsche

Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Copyright (2022) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei den Autoren Jens Rusch und Manfred Eisner

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

»Für mich ist jeder Versuch die Verbrechen des Nationalsozialismus aus der geschichtlichen Erinnerung auszublenden, letztlich nur eine besondere Form intellektueller Feigheit.«

(Roman Herzog (1934-2017), deutscher Jurist und CDU-Politiker. Er war zwischen 1994 und 1999 der siebte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.)

»Man darf die Beurteilung der Geschichte nicht jenen überlassen, die jede Pfütze gern unter Denkmalsschutz stellen möchten, weil sie möglicherweise von der Sintflut herrühren könnte.«

(Jens Rusch (*1950), Autor).

Inhalt

Vorwort von Guntram B. Seidler

1. Auftakt

2. Der Koffer

Einsamer Gutshof in Rellingen

Trautes Heim

3. Erster Ermittlungstag

Bezirkskriminalinspektion Itzehoe

Klinikum Itzehoe

Arbeitsraum der MoKo II

Begriffsdeutung

4. SOKO Myosotis bekommt Verstärkung

Lagebesprechung

Das Atelier

Susanne Blume

5. Raubkunst und andere Obszönitäten

Ein ominöses Video

Gedankenaustausch

Animal Farm

Über geraubte Kunst und Rückgabeansprüche

Die Höhle des Untiers

Anatomie eines Ungeheuers

6. Angewandte Kryptologie

Kryptische Entwirrung

Logenterminologie

7. Wochenende

Munteres Grillen in Bönningstedt

Dankesmal im Nobel-Restaurant

8. Fünfter Ermittlungstag

Seelenerleichterung

Grausame Dokumentation

9. Restitutionsansprüche und Opponenten

Provenienzforschung

Verbriefte Verschwiegenheit

An der Klagemauer

Die Statuen im Atelier

H. H. Schachts Vita

10. Aufschlussreicher E-Mail-Austausch

Peter Blumes Bestattung

Intermezzo in Jaffa

Bezirkskriminalinspektion Große Paaschburg, Itzehoe

11. Peter Blumes Einsichten

Das Neocorus-Protokoll

Der Bunker im Berner Oberland

Blumes Atelier, Rellingen.

Das Wärmebild

Wunderlichs Telefongespräche

12. Neunter Ermittlungstag

Moderne Satzbildungsanalyse und althergebrachte Klischees

Luzern

Die Berliner Loge

13. Die Loge in Luzern

Präludium

Der ›Bauriss‹

Schlaflos in Luzern

Wer anderen eine Grube gräbt…

14. Kontenabstimmung und Endabrechnung

Kreditoren und Debitoren

Peter Blumes Abschiedstext

Endabrechnung

Finale giocoso

Nachwort von Manuel Pauli

Danksagungen

Quellennachweis und Inspiration

Die Autoren

VORWORT

Seitdem laut Bill Ramsay im Jahre 1962 die Mimi ohne Krimi nie ins Bett geht, sind viele Tausende von Krimis in Buchform oder als Filme verbreitet worden. Und nun liegt hiermit ein weiterer vor, der offenbar aus dem allgemeinen Rahmen fällt. Denn man erfährt sofort, dass es sich um einen Freimaurer-Krimi handelt. Auch ist der Titel ungewöhnlich und das Titelbild mit einem Freimaurer mit ausnahmsweise vier Armen, die ein umgekehrtes Hakenkreuz darstellen und offenbar das Gegenteil zum Faschismus, nämlich Menschlichkeit, symbolisieren sollen. Laut der beiden Autoren kann dieser Krimi kurz als ›Restitutions-Krimi‹ bezeichnet werden, so dass es darin irgendwie um Wiedergutmachung oder Rückgabe gehen muss.

Aber was kann dies mit Verbrechen oder gar mit Morden zu tun haben? Das macht neugierig. Bisher waren es in anderen Freimaurer-Krimis (unlogischerweise) die freimaurerischen Illuminaten, die Böses im Schilde führten. In diesem Krimi sind es nun erstmals jüdische Freimaurer, die zur Verzweiflung getrieben den Verbrechen von Nichtfreimaurern zum Opfer fallen.

Es könnte sein, dass manche Leserin oder mancher Leser durch einige besonders brutal beschriebene Details etwas schockiert sein könnte, doch soll dies wohl den grausamen Umgang mit den Juden im Nationalsozialismus – und nicht zuletzt das nach dem Zweiten Weltkrieg oft an ihnen begangene Unrecht der fehlenden materiellen Wiedergutmachung besonders unterstreichen. Die hier beschriebene fiktive schicksalhafte Geschichte zweier jüdischer Freimaurer vor dem realen historischen Hintergrund der Judenverfolgung dient vor allem dazu, das an ihnen begangene Unrecht zu demonstrieren. Selbst manche Freimaurer blieben leider nicht von der ›braunen‹ Einflussnahme verschont und leugneten dies mitunter später. Beide Autoren haben dankenswerterweise für die Profanen, also für die Nichtfreimaurer und Nichtfreimaurerinnen, entsprechende geschichtliche Zusammenhänge und Erklärungen eingeflochten.

Guntram B. Seidler

(Guntram B. Sailer ist Autor und publizierte über die Geschichte der deutschen jüdischen Freimaurer vor 1935).

1. AUFTAKT

Der echte Norden hatte im Laufe der Zeit wesentlich zu seiner Gemüts-Genesung beigetragen. Heute liebt er wieder die Nachtfahrten und ganz besonders jene auf der Strecke von Hamburg-Altona nach Sylt. Inzwischen genießt er besonders den Streckenabschnitt auf dem Hindenburgdamm, wenn das dunkle Watt zwischen Husum und Morsum die Lichterkette des Zuges wie einen rasenden Tausendfüßler widerspiegelt. Seine Zelte hat er provisorisch in Glückstadt aufgeschlagen, da seine Ehefrau bedauerlicherweise immer noch in Stuttgart weilt. Die Wohnungssuche in der Hansemetropole, auf die sie für ihren endgültigen Umzug immer noch so hartnäckig besteht, gestaltet sich behäbiger als er befürchtet hatte. Nicht nur die exorbitanten Mietpreise sind ihm stets hinderlich, viele Vermieter blicken ungnädig auf die Berufsbezeichnung, die er in der Selbstauskunft vermerkt hat. Die Erinnerung an die äußerst lästigen und wiederholten Streiks sowie die erwiesene Sturheit seiner Gewerkschaftsbosse waren eben noch nicht verblasst.

Nur noch gelegentlich schreckt Lokführer Norbert Breitenbacher aus dem Schlaf hoch und immer seltener hört er in seinen unruhigen Träumen das Geräusch berstender Melonen.

Die herbeigeeilten Spurensicherer hatten die auf dem Gleisbett weit verstreuten Leichenteile akribisch eingesammelt und zu ihrer ›Puzzle-Session‹, wie sie sie nannten, durch ein Bestattungsunternehmen abtransportieren lassen. Anscheinend war der offenbarte Sarkasmus des hinzugezogenen Beamtenteams vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg überhaupt die einzige Möglichkeit, diese grausame Aufgabe zu bewältigen. Breitenbacher hatte sich am Rande des Bahndamms übergeben müssen. Es ist ihm immer wieder unangenehm, wenn er sich daran erinnern muss.

Mit der Psychotherapeutin der Bahn hatte er damals, während der vielen folgenden PTBS-Sitzungen, tiefschürfende Gespräche über den unseligen Unfall geführt, wobei sie sich unisono darüber empörten, dass die DB immer noch von ihren Lokführern verlange, das betroffene Fahrgestell nach solchen Ereignissen selbst zu reinigen. Immerhin beschränkt sich diese widerliche Tätigkeit im Wesentlichen auf den Einsatz eines Hochdruckwasserstrahls, um die blutbefleckten Überbleibsel zu beseitigen.

Seltsam, dass seine damalige Therapeutin nichts vom guten alten ›Totmannschalter‹ wusste, der auch heute immer noch bei Schienenfahrzeugen gebräuchlich ist. Triebfahrzeugführer müssen in regelmäßigen Abständen einen Taster betätigen, um zu bestätigen, dass sie noch wach sind. Bleibt dies aus, weil er oder sie nicht mehr handlungsfähig sind, wird die automatische Zwangsbremsung eingeleitet. Nein, übermüdet war er damals absolut nicht gewesen.

Er hatte jedoch die Behandlungsgelegenheit genutzt, um seiner hübschen Betreuerin eine CD mit dem Titel ›Dead Man’s Handle‹ von Steve Strauß zu schenken. Die wiederholten Termine hatten sie mit der Zeit menschlich nähergebracht und in der Schlussphase ihre Gespräche sogar flirtähnliche Züge angenommen.

Manchmal – aber nur noch dann und wann – hat er noch kurz aufflackernde Visionen. Meistens liegt es an den stroboskopartigen Lichtern am Bahndamm, wenn sie hell erleuchtete Ortschaften passieren. Aber das ist dann immer schnell vorüber und die Nachtlandschaft nimmt erneut ihre Aufgabe als Beruhigungsfaktor in seinem Lokführerdasein ein.

Während Breitenbacher noch seinen Gedanken nachhängt, bemerkt er erschrocken den Schornsteinfeger, der plötzlich wie aus dem Nichts vor ihm mit hoch erhobenen Armen auf den Gleisen steht. Instinktiv betätigt seine verkrampfte Hand in Sekundenschnelle die Nothalttaste. Die Straßenlaternen auf der Brücke im Rücken der seltsamen Erscheinung lassen diese nur schemenhaft erkennen. Mit ihrem merkwürdigen Zylinder ähnelt die Person auf den Gleisen jenem Scherenschnitt, den er seiner Frau auf dem Stuttgarter Weihnachtsmarkt gekauft hatte.

Schrilles Getöse, das ohrenbetäubende Kreischen der Reibung von Stahl auf Stahl, die sprühenden Funken und der ungeheuerlich einsetzende Widerstand gegen die Schubkraft des Zuges, können jedoch das unweigerliche eintretende Unheil nicht verhindern.

Da ist es wieder: das Melonen-Geräusch. Als würde man sie aus dem zweiten Stock auf das Straßenpflaster fallen lassen.

Er weiß, dass seine posttraumatischen Gedankenflüsse völlig naiv und ungefiltert daherkommen, aber er denkt wieder genau dasselbe wie damals: »Das gehört nicht hierher, das gehört einfach nicht hierher!«

2. DER KOFFER

Der stehende Zug und seine Umgebung sind nur spärlich von Scheinwerfern erhellt und erinnern an ein Filmszenario. Dunkle Schattenfiguren und in weißen Tywek-Anzügen vermummte Gestalten huschen umher. Auf dem hochgelegenen Bahndamm vor einer dunklen Waldkulisse, stehen die unvermeidlichen Gaffer hinter der polizeilichen Absperrung mit ihren Smartphones im Anschlag. Ab und zu zuckt ein bläulicher Blitz durch die Dunkelheit und erhellt kurzzeitig das Geschehen. Ein betont männlich und fit wirkender Vierzigjähriger in gepflegtem Anzug leitet hier die Ermittlungen.

Kriminalhauptkommissar Sören Madsen schreitet im Stelzgang über Erbrochenes hinweg. Im Hintergrund werden bereits die entsetzten Fahrgäste zu einem Bereitschaftsbus der Bahn gelotst. Viele sind es zu dieser späten Stunde nicht und für fast jeden von ihnen steht ein helfender Sanitäter parat. »Na, wenigstens darin hat die Bahn Routine«, murmelt Sören verbissen vor sich hin.

Der abwesend wirkende Lokführer sitzt in einem VW-Bus der Bahnpolizei und brabbelt unverständliches Zeug vor sich hin. Seine Hände zittern, der Blick ist in die weite Ferne gerichtet. Auf etwas, was die anderen nicht sehen können. Madsen hat bei Gesprächen mit Menschen unter Schock immer den Mimen Gustav Gründgens vor Augen, der seinen Blick in der Rolle als Mephistopheles so meisterhaft nach innen richten konnte. Ganz so, als gäbe es dort drinnen mehr zu sehen als vor ihren Augen.

»Ist er ansprechbar?«, fragt der Ermittlungsleiter von der geöffneten Seitentür aus. Der daneben sitzende Notarzt schüttelt bedauernd den Kopf. »Er steht offensichtlich unter Schock und hat ein starkes Sedativum erhalten. Wir mussten erst einmal seinen Kreislauf stabilisieren. Ich denke, was immer er Ihnen jetzt vorstammeln würde, könnten Sie später ohnehin nicht verwerten.« Außer »Ein Schornsteinfeger!«, habe er bisher sowieso nichts Eindeutigeres verlauten lassen, bedeutet der Notarzt Madsen und schlussendlich, dass deren einziger Zeuge momentan nicht kontaktfähig sei. »Medikamente dieses Kalibers – doch wohl nur bei Schock oder Trauma. Aber er ist doch überhaupt nicht verletzt?«, sinniert Madsen enttäuscht. Von einer verletzten Psyche mögen Hardliner wie er ungern etwas hören. Ein Sanitäter hakt wenig später den Lokführer unter, um ihn im Halbdunkel stolpernd zum Rettungswagen zu geleiten.

Einer von Madsens Teammitgliedern, von den Kollegen Hannes Lennon genannt, reicht ihm einen Asservatenbeutel, in dem ein blutgetränkter, weißer Handschuh steckt. »Seit wann tragen Schornsteinfeger denn weiße Handschuhe?«, fragt dabei verwundert der jüngere, hagere Kriminaloberkommissar in rotem Sweatshirt und Jeans mit der aufgesetzten runden John Lennon-Brille. Auf ein deutliches Kopfnicken seines Vorgesetzten holt er dann einen abgetrennten Finger mit einer Pinzette aus dem handähnlichen Gemetzel hervor. Daran ist deutlich der Ring mit einem markanten Symbol zu erkennen. Es erinnert ihn an ein altes Handwerkerzeichen, das er einmal über einem Zimmerer-Betrieb gesehen hat. Madsen gräbt in seiner Erinnerung und nickt kurz darauf mehrmals, als glaube er, einen vagen Hinweis gefunden zu haben.

Lennon bemerkt nebenbei: »Übrigens habe ich bei einem Gespräch zwischen zwei Bahnbeamten gehört, dass dieses bereits der zweite ›Schienensuizid‹ für unseren Unglücksraben sei.«

Madsen zweifelnd: »Na, ob das ein Suizid war, steht doch noch überhaupt nicht fest. Allerdings fallen mir im Augenblick dazu auch noch keine Alternativen ein. Was haben SpuSi und der Doc denn bislang zusammentragen können?« Lennon hält sich eine Hand vor den Mund und rülpst: »Eine Hälfte des Schädels lag verkeilt unter dem Triebwagen. Nach der anderen sowie weiteren Körperteilen wird noch in der Dunkelheit gesucht. Die Kieler Gerichtsmediziner haben dann einiges zu tun, um das ganze wieder zusammenzusetzen. Ich befürchte, sie werden wohl dazu ‘ne Menge kreativer Fantasie aufbringen müssen!«

»Lass das mal deren Sorge sein, Lennon. Da sie tagtäglich damit beschäftigt sind, Leichen zu zerlegen, werden sie auch sicherlich genau wissen, wohin jedes der gefundenen Teilchen gehört!«

Madsen blickt vergrellt, als er erneut das Brummen einer winzigen Drohne vernimmt, die mit einem erstaunlich lichtstarken LED-Strahler den Tatort überfliegt, um über ihre Köpfe hinweg den blutverschmierten Triebwagen zu filmen. »Könnt Ihr bitte mal den Pressefuzzis hinter der Absperrung mitteilen, dass wir befugt sind, ihre Spielzeuge für Schießübungen zu nutzen?«, brüllt er in die Nacht hinaus. Das stimmt zwar nicht, aber in der Regel reicht eine solche Warnung für deren geordneten Rückzug. Manchmal wünschte er sich, seine Itzehoer MoKo würde auch über solche nützlichen Helfer verfügen.

In der Zwischenzeit hat man eine fahrtüchtige Rangierlok aus Pinneberg herangeschafft und rückwärts bis kurz vor den blutverschmierten Unglückstriebwagen bugsiert. »Dies ist die Hauptstrecke Hamburg – Westerland und auf Sylt ist morgen Bettenwechsel. Da ist Massenandrang in beiden Richtungen angesagt und es hängen Existenzen in der Luft. Die ganze Insel lebt doch vom Tourismus«, bemerkt der besorgte Streckenleiter der DB. »Was denken Sie, wie lange wir die Bahnstrecke noch sperren müssen?«

»Sorry, bester Mann! Das müssen Sie eher die Kollegen der Spurensicherung fragen. Allerdings befürchte ich, dass bei dieser kleinteiligen Sucherei das Ganze noch einige Stunden in Anspruch nehmen dürfte, bis die Leichendocs alles im Kasten beziehungsweise im Sarg haben. Letzte Teile werden sie ganz sicher erst bei Tageslicht finden. Kunstlicht verzerrt die Wahrnehmung doch erheblich. Tut mir leid, aber wir haben hier einen Tatort und müssen uns zunächst um jenen kümmern, der da so zerfetzt unter Ihrer Lok liegt. Bitte, entschuldigen Sie mich jetzt, ich muss!« Madsen eilt davon. Er hat einfach das Bedürfnis, irgendwo in Ruhe nachdenken zu können.

KOK Hannes Lennons kurze Meldung: »Die SpuSi hat dies soeben gefunden« – unterbricht abrupt seine Gedanken. Aufgeschreckt blickt Madsen auf den schwarzen Aktenkoffer, der ihm hingehalten wird. »Wo war der denn?«, will er wissen. »Am Rande des Bahndamms, in der Nähe der Stelle, an der jener Schornsteinfeger beim Aufprall gestanden haben muss.«

Oberhalb des Bahndamms, in der Dunkelheit des Waldrandes, entfernt sich eine kleinwüchsige Gestalt von der gaffenden Schar und greift zum Smartphone. Sie wählt einen Anschluss, dann spricht sie leise in das Mikro: »Er hat’s gemacht!« Ein merkwürdiger Unterton zwischen freudigem Entsetzen und Ergriffenheit begleitet seine Vollzugsmeldung.

Die weißen Latex-Handschuhe, die Lennon übergestreift hatte, um den schmalen Lederkoffer zu öffnen, erinnern Madsen schlagartig an den eigenartigen Ring im Fingerhackfleisch. Der Oberkommissar legt das Ohr ans Schloss, während er konzentriert an den Rädchen der Zahlenkombination herumdreht. Mit leisem Klick springt es plötzlich auf. »Bingo!« Lennon setzt ein triumphierendes Lächeln auf: »Das sollte man unbedingt schon vor dem ersten Semester auf der Polizeiakademie draufhaben, sonst muss man locker den Kollegen fast jede Runde in der Kantine bezahlen«. Beide blicken neugierig auf den Kofferinhalt. Verblüfft bemerkt Lennon: »Das ist ja ‘ne richtige Wundertüte für ermittelnde Untersuchungs-Absolventen. Was haben wir denn da? Seltsame Abzeichen und Orden. Dazu ein Schlüsselbund. Fahrzeugpapiere, Personalausweis und zwei große Umschläge.«

Madsen stutzt: »Was kann man darauf lesen? Lassen Sie mich mal ans Licht! ›Neocorus-Loge‹« liest er dann laut vor.

Lennon ulkt: »Na, meinetwegen! Hört sich nach einer Studentenverbindung an. Ich geh’ aber mal davon aus, dass sich Mensurschmisse oder andere Gesichtsnarben nicht mehr feststellen lassen. Soll ich die Umschläge öffnen?«

Madsen kontert energisch: »Nix da, Finger weg! Die öffnen wir lieber morgen im Büro.«

Er schaut vergrellt in den schwarzen Himmel. Es hat zu nieseln begonnen. Nun, die meisten Spuren unter dem Triebwagen und den Fahrgastwaggons dürften kaum etwas davon abbekommen. Er hasst es zutiefst, wenn ihre Arbeit durch norddeutschen Regen in Stress ausartet, weil womöglich dadurch etwas fortgespült oder Spuren unkenntlich werden. Wobei ihm ein ordentlicher Regen, der das umständliche Aufbauen von provisorischen SpuSi-Zelten rechtfertigt, fast lieber ist als dieses ›hinterhältige Nassmachen unbescholtener Bürger‹, wie er es nennt. Er gähnt: »Hier ist für uns jetzt Feierabend. Was wir nicht von der Spurensicherung erfahren, wird sich uns hier am Bahndamm heute Nacht auch nicht unbedingt erschließen.«

Er ist genau so müde wie sein Kollege. Sie verabschieden sich vom leitenden Polizeibeamten, der sie zum Ort des Geschehens hinzugerufen hatte und machen sich auf den Heimweg.

*

Einsamer Gutshof in Rellingen

»Reich mir mal den Elektropick!«. Die dünne nadelähnliche Sonde am handlichen Gerät vibriert wenige Augenblicke im Schlosszylinder der Tür am alten Gutshof, dann lässt sich diese mühelos öffnen. Die vier schwarzgekleideten Eindringlinge tragen Latexhandschuhe und Skimasken. »Sucht Euch die Trittleitern, eine müsste im Atelier sein, die zweite ist im Hauswirtschaftsraum!« Obwohl sie niemals zuvor in diesem Haus gewesen sind, scheinen sie sich offensichtlich hier bestens auszukennen. »Nehmt Eure Masken erst ab, wenn alle Kameras demontiert sind. Sofortige Meldung an mich, sobald Ihr den Festplatten-Recorder gefunden habt. Und denkt daran, die Spachtelmasse mit dem Föhn zu trocknen!«

Sein Handy vibriert. Mit einem fiesen Lächeln vernimmt er die geflüsterte Nachricht: »Er hat’s gemacht!«

Es scheint ein guter Tag für seinen Auftraggeber zu werden. Und nun der zweite Erfolg in kurzem Abstand. Wenn sie jetzt auch noch den Festplatten-Recorder finden würden!

Nachdem sie sämtliche Kameras im Atelier, der Diele und im Büro abgebaut und deren Befestigungslöcher zugespachtelt haben, hört man das leise Summen eines Akku-Föhns unter den hohen Decken. Danach pinseln sie etwas vom Umgebungsstaub über die kleinen weißen Punkte an der Decke. »Keine Kabel, kein Recorder«, meldet einer der Männer, die jetzt alle ihre Vermummung abgesetzt haben. »Aber das hier.«

Im Büro zeigt er auf das kleine Gerät auf dem Arbeitstisch neben dem Laptop. »Sieht aus wie eine Fritz-Box, diente aber als Empfänger für die Funk-Kameras. Ich fürchte, wir müssen doch an den Laptop ran. Anscheinend hat er die Kamera-Daten in einer Cloud gespeichert.«

»Auf gar keinen Fall! Um den Laptop kümmern sich dann unsere Schweizer Freunde, die haben das voll im Griff. Dürfte für sie ein Kinderspiel sein, den Zugriff auf die Daten in der Cloud zu erhalten. Aber das sollte umgehend geschehen. Morgen wird es hier von Bullen nur so wimmeln.« Er geht noch einmal durch alle Räume und überprüft die Stellen, an denen die Kameras befestigt waren. Nichts weist mehr darauf hin, dass sich in diesem Haus überhaupt einmal ein Überwachungssystem befunden hat. Und somit könne auch niemand mehr feststellen, wer den Zugang zu diesem System gehabt hatte. Wenig später steigen die vier Gestalten in ihren Mercedes Vito Kastenwagen und fahren direkt zur Autobahn 23 in Richtung Süden.

*

Trautes Heim

Madsens Frau hat stets einen leichten Schlaf, wenn er sich im Einsatz befindet. Sonst schläft sie tief und fest. Obwohl er sich bemüht, ihr gemeinsames Zuhause in Bönningstedt besonders leise zu betreten, sitzt sie aufrecht im Bett und erwartet von ihm zumindest eine kurze Schilderung. Während er sich auszieht, erhält Emily eine summarische Kurzfassung. Dann wirft er Hemd und Unterwäsche in den Korb in der Waschküche, hängt den Anzug auf einen Bügel und diesen hinaus auf die Leine in der Loggia. Jetzt erst beschleicht ihn eine bittere Übelkeit und er geht kurz ins Badezimmer. Während er mit seiner elektrischen Zahnbürste hantiert, blickt er immer wieder verstohlen in den Spiegel. Die Bilder des halben Kopfes würden ihn in seine Träume begleiten.

Nur gut, dass sich üblicherweise beim Frühstück am nächsten Morgen sein emotionaler Aufruhr bereits gelegt hat. Auch das gehört zur Berufsroutine, sonst könnte er kaum diesen Job ausüben.

»Weshalb nennst Du ihn eigentlich immer ›Lennon?‹ Meines Wissens heißt er doch Johann Leonhard«, fragt Emily ihren Gatten, während sie ihm die zweite Tasse Kaffee einschenkt. Er bewundert seine adrette, hübsche und immer noch so jugendlich wirkende Ehefrau, in die er nach wie vor verliebt ist.

»Na, dann solltest Du mal in seinem ehrenwerten Triumph-Oldie mitfahren, wenn er eine seiner Beatles-CDs einlegt und laut mitsingt. Aber er kann immer nur die Stimmlage von John Lennon nachahmen, die anderen schafft er nicht!«, lächelt er verschmitzt. »Wahrscheinlich auch, weil er dessen Brillenmodell trägt.«

Sören weiß genau, dass diese kurzen Augenblicke von Frühstücksvertrautheit mit seiner Frau die einzigen sparsamen Lichtblicke in seinem düsteren Berufsalltag darstellen. Deshalb vermeidet er möglichst, sie mit seinen oft erdrückenden Erlebnisberichten zu belasten. Aber er beantwortet dennoch gewissenhaft ihre Fragen, auch jene bezüglich der laufenden Ermittlungen.

»Was meinst Du Sören, glaubst Du echt daran, dass es Selbstmord gewesen sein kann? Ich meine, aus Deiner Schilderung einen zweifelnden Unterton herausgehört zu haben.« In den fast zwanzig Jahren ihrer gemeinsamen Ehe hatte Emily offensichtlich oft genug Gelegenheit gehabt, sich in die Denkweise des Gatten einzufühlen.

»Ja, Du hast wie immer Recht, mein Schatz! Es ist so wie Du sagst. Da sind wahrlich glühende Fragezeichen in meinen Gedanken aufgetaucht: Ein Mann mit Zylinder auf dem Kopf, einem markanten symbolträchtigen Ring am Finger und weißen Handschuhen darüber, stellt sich freiwillig mit seinem Koffer mit äußerst seltsamem Inhalt in Händen auf das Schienengleis, um sich vom Regio umfahren zu lassen? Dieses Szenario passt doch kaum zum Selbstmord eines Schornsteinfegers! Und völlig blödsinnig erscheint mir, dass jemand anscheinend ein Zeichen setzen will und sich im nächsten Moment zerfetzen lässt. An wen richtet der sich mit seiner blutigen Botschaft? Mal sehen, was wir in dem Aktenkoffer alles finden!« Eilig lehrt er die Kaffeetasse und steht auf: »Ich muss jetzt los und wünsche Dir einen schönen Tag! Bis heute Abend!«

»Viel Glück!«, wünscht sie ihm mit dem Abschiedskuss an der Haustür und winkt dem sich entfernenden älteren VW-Passat, der ihm als Dienstwagen zugewiesen wurde, hinterher, bis dieser außer Sicht ist.

3. ERSTER ERMITTLUNGSTAG

Bezirkskriminalinspektion Itzehoe

Als er sein Büro der MoKo II betritt, sind Madsens Mitarbeiter bereits um die Pinnwand versammelt. Lennon hatte vorab seine Smartphone-Schnappschüsse ausgedruckt und daran chronologisch befestigt. Man musste schon genau hinschauen, um die schemenhaft blutigen Überbleibsel an den rostfarbenen Eisenrädern auszumachen. Einzig der halbe Schädel und das Ringfingerrelikt aus dem weißen Handschuh sind einigermaßen deutlich erkennbar. Lennon muss seinen Kollegen – dem stämmigen Kommissar Otto Göpfert und der gleichrangigen jedoch viel attraktiveren Hilâl Ökzan, die jüngste im Team und nicht zuletzt wegen ihrer Übersetzungskünste besonders geschätzt – die grausigen Fotos erläutern.

»Die restlichen Körperteile fand die SpuSi unter dem achten Waggon – bis dort waren die Bestandteile des Opfers unter dem Zug verstreut. Übrigens, verglichen mit anderen Schienensuiziden, keine Besonderheit. Und das passiert weit häufiger als man vermutet. Ich suche nachher mal die Statistik heraus.«

Göpfert gibt seinen kurzen Bericht: »Die Polizeiwache St. Michaelisdonn hat sich einen Kühltransporter der nahegelegenen Meierei ausgeliehen, um darin die Leichenteile in die Gerichtliche Medizin im UK-SH nach Kiel zu schaffen. Der Unfall-Regio wurde nach Altona abgeschleppt. Dort soll er gereinigt und auf mögliche Schäden untersucht werden. Die Bahnstrecke konnte darauf heute Morgen gegen 08:00 Uhr wieder freigegeben werden.«

»Welcher Leichendoc ist in der Gerichtsmedizin zuständig?«, will Madsen wissen.

»Ruf da jetzt bloß nicht an, Sören, die haben mich gerade so was von abgebügelt!«, warnt Göpfert. »Vor morgen Mittag wird das nichts. Übrigens, zuständig ist angeblich wieder Dein besonderer Freund Moltke.«

»Auch das noch«, seufzt Madsen entmutigt. »Haben wir vielleicht auch was Neues?«

»Durchaus.« Hilâl Ökzan befestigt ein weiteres Foto an der Pinwand. Darauf erkennt man eine Art zerfetzte Lederschürze mit einigem ›Gebammsel‹, wie Göpfert die daran hängenden Applikationen bezeichnet. Ursprünglich müsste sie wohl weiß gewesen sein, davon ist aber jetzt keine Rede mehr, denn sie ist vollständig von bereits dunkel gewordenem Blut überzogen.

»Könnte man vielleicht das Gedöns da, nach der DNA-Analyse und den Archivierungsaufnahmen, reinigen? In diesem Zustand ist kaum zu erkennen, was es sein könnte!« Göpfert bemerkt: »Nicht mehr nötig, Sören. Es gab bereits vor einigen Wochen einen analogen Fall in der Nähe Hildesheims. Das erfuhr ich so nebenbei von Polizeihauptmeister Kreyens von der Dienststelle St. Michaelisdonn bei dessen Anruf. Ich habe sofort unseren Computer in ›Action‹ gesetzt und er spuckte sogleich eine Menge Deckungsinfos aus. Darauf habe ich mir auch noch die Fotos von den Hildesheimer Kollegen mailen lassen. Da gab es kürzlich tatsächlich so einen ähnlichen Fall. Und die hatten das Gedöns genauso gereinigt, wie Du es Dir vorstellst. Schau mal!« Er pinnt das Foto an die Tafel. »Die Kollegen beschrieben es als einen sogenannten ›Schurz‹, den Freimaurer1 tragen.«

Schlagartig fällt Madsen der Ring wieder ein, er klopft sich mit dem Handballen auf die Stirn: »Zirkel und Winkel, natürlich! Jetzt dämmert’s mir!«, verkündet er. »Von wegen Burschenschaft oder schlagende Verbindung, Lennon! Dies ist das internationale Freimaurer-Symbol! Ich hatte es doch gestern Abend an dem matschigen Ringfinger des Opfers bemerkt, konnte es aber nicht gleich unterbringen! Gute Arbeit, Leute!« Er grient zufrieden in die Runde. »Es erhebt sich mir allerdings die brennende Frage, ob da eine mysteriöse Seuche unter den Freimaurern ausgebrochen sein könnte, der sie nolens volens auf die Eisenbahngleise zwingt, um dort auf diese miese Art zu verenden.«

»Da gab es noch eine weitere Besonderheit!« Göpfert legt einen Wagenschlüssel zu den anderen Fundstücken: »Ein VW-Phaeton wurde unabgeschlossen und mit steckendem Zündschlüssel auf einem Waldweg in Christianslust aufgefunden. Hat ein IZ-Kennzeichen. Die Halterabfrage war gemäß dem gefundenen Perso im Koffer übereinstimmend mit der Identität unseres Selbstmörders: Peter Blume, 62 Jahre alt, seines Zeichens Kunstmaler, wohnhaft Schmiedestraße 88 in Glückstadt.«

»Na ja, so besonders finde ich das auch wieder nicht, Otto!«, bemerkt Madsen. »Will ich denn mein Leben beenden, ist es mir sicher nicht mehr so wichtig, ob mir jemand den Wagen klaut oder nicht.« Er überlegt kurz, dann gibt er seine Anweisungen: »Na, dann werden wir uns jetzt wohl mal Herrn Blumes Köfferchen genauer ansehen. Hilâl und Lennon, Ihr fahrt mal gleich zur Wohnung des Toten. Die Schlüssel hat er uns in seinem Koffer jedenfalls freundlich bereitgelegt. Aber noch was: Wohin hat man den Lokführer gebracht und ist er inzwischen vernehmungsfähig?«

»In die psychiatrische Tagesklinik hier in Itzehoe«, erwidert Lennon. »Ich habe dort bereits angerufen, er ist so halbwegs wieder beieinander. Aber sie wollen noch EKG und EEG machen, um sicherzustellen, dass er weder einen Infarkt noch Schlaganfall hatte. Da haben die Rettungssanitäter gestern Nacht freundlicherweise mit uns kooperiert.«

»Inwiefern?«, will Madsen wissen. »Na, eigentlich hätte er in das Westküstenklinikum in Heide verbracht werden sollen, weil der Fall doch in deren Zuständigkeitsbereich fällt. Aber ich bat sie darum, ihn nach Itzehoe zu fahren, weil wir ja von hieraus ermitteln.«

»Hmm, okay. Gut gebrüllt, Lennon! Ich mach mich dann gleich auf den Weg, um mit ihm zu reden. Otto, schau Dir bitte unterdessen mal das Köfferchen genauer an: besonders interessiert mich der Inhalt der beiden Umschläge!«

*

Klinikum Itzehoe

Wie Madsen erwartet hat, sind sämtliche Parkplätze vor der Psychiatrischen in der Robert-Koch-Straße belegt. Aber nach wenigen Minuten hat er Glück und kann seinen Passat in eine freiwerdende Lücke hineinmanövrieren. Nachdem er sich vorgestellt hat und bei einem kurzen Gespräch mit dem zuständigen Facharzt erfährt, dass der Lokführer wieder zu sich gekommen sei, bittet er mit ihm sprechen zu dürfen. Die Nachricht vom grausamen Vorfall hatte anscheinend schnell die Runde gemacht und man geht betont behutsam mit dem Patienten um. Während Sören mit dem Doktor durch die Gänge der Klinik marschiert, ersucht ihn dieser: »Bitte informieren Sie uns, wann wir die Erstbetreuer der Bahn benachrichtigen dürfen, damit Herr Breitenbacher abgeholt werden kann. Für solche Fälle hat die Bahn ein Kriseninterventionsprogramm, das kennen wir bereits. Die haben kompetente Seelsorger in ihrem Team und werden ihn dann weiter betreuen.«

»Demnach ist es für Sie nicht der erste Fall dieser Art?«, vermutet Madsen.

»Keineswegs, aber – so paradox es klingen mag – wir kümmern uns naheliegenderweise in erster Linie um die missglückten Suizidversuche. Hier geht es jedoch um eine akute Belastungsreaktion.«

Man hat Madsen für Breitenbachs Befragung sogar einen kleinen Behandlungsraum zur Verfügung gestellt.

Dieser macht einen konsternierten Eindruck, als er das Zimmer betritt und auf ein Zeichen des Kommissars Platz nimmt. Das Zittern seiner Hände ist jetzt kaum noch zu bemerken, sein Blick hat dennoch etwas Hilfesuchendes.

»Und ich dachte schon, ich wäre damit durch. Das ist nicht das erste Mal, verstehen Sie?«

Madsen nickt. »Ist mir bekannt! Der vorherige Vorfall, war der auch hier bei uns in Norddeutschland?«

»Nein, in der Nähe Stuttgarts. Ich wohnte früher dort, habe mich deswegen hierher versetzen lassen. Ich fühle mich richtig verfolgt, als hätte ich etwas verbrochen, als wäre ich stigmatisiert.« Er seufzt tief und lässt den Kopf herabhängen.

»Sie brauchen sich wirklich keine Vorwürfe zu machen, Sie haben den Suizid ja nicht verursacht«.

»Sicher, aber ja auch nicht verhindert. Dieser verdammt lange Bremsweg! Ich konnte ihn klar und deutlich vor mir sehen: er stand im matten Licht unter einer der Laternen vor der Brücke, mit weit aufgerissenen Augen unter seinem Zylinder und hatte eine undefinierbare Grimasse aufgesetzt. Irgendwie kam mir das Ganze bizarr vor: ein Schornsteinfeger in ›Hände-Hoch-Stellung‹, der seine Rolle aufsagt, wie in einer Inszenierung der Karl May-Festspiele. Was einem da alles rasend schnell durch den Kopf geht. Komisch, so’n Cowboy mit Zylinder, dachte ich noch, aber ich sehe keine Indianer. Nur dummes Zeug, während ich die Notbremsung einleitete, ohne genau zu realisieren, was ich da eigentlich mache. Und der verfluchte Zug, den ich nicht mehr rechtzeitig zum Halten bringen konnte. Dann war’s mit einem Mal vorbei! Und dieser Blick. Ein Bruchteil von Sekunden, aber die Augen waren weit aufgerissen. Wie wird man solch eine Erinnerung nur wieder los?«

»Vielleicht die abgespeicherte Erfahrung dessen, was Sie bereits in Stuttgart erleben mussten?«

»Kann sein. Und dann dachte ich noch: Jetzt kommt gleich das Geräusch der zerplatzenden Melone. Ich kann wirklich nicht sagen, ob ich es tatsächlich wieder so gehört habe oder ob das nur die Erinnerung war. Wirklich nicht. Immerhin sind die Bremsgeräusche der Stahlräder recht laut und kreischend. Aber in meiner Erinnerung hat es auch hier wieder so geklungen.«

Seine Hände beginnen erneut zu zittern und Tränen kullern aus seinen Augen: »Ich habe seit dem wenig geschlafen, aber nun schleichen sich immer wieder solche irren Szenen in meine Träume ein. Ich sehe Freunde und Verwandte mit schweren Bleischuhen, schwarzen Perücken und Zylindern. Sie kommen in Zeitlupe auf mich zu, als wollten sie mir etwas sagen, strecken ihre Hände nach mir aus. Der Schäferhund meines Freundes Rolf trägt ebenfalls einen Zylinder. Total verrückt. Er zieht holpernd einen kleinen Anhänger über die Gleise und bleibt damit immer wieder hängen. Auf dem Hänger sehe ich dann einen Stapel Melonen. Ich kann sogar im Traum ihren Duft riechen. Das habe ich noch nie so empfunden.«

Madsen klopft Breitenbach freundlich auf die Schulter, beschließt sogleich den verstörten Lokführer vorerst nicht mit weiteren Fragen zu belasten und bedankt sich für die Auskünfte. Er notiert seine Anschrift und übergibt ihm seine Visitenkarte – für den Fall, dass dieser ihn noch einmal kontaktieren möchte. Er verabschiedet sich, verlässt den Behandlungsraum und informiert beim Verlassen der Klinik die Stationsleiterin, dass die Bahn-Seelsorger sich nun um ihn kümmern sollen.

*

Arbeitsraum der MoKo II

»Wat für’ne tolle Kaffeemaschine!«, schwärmt Göpfert demonstrativ überbetont und nimmt den Becher Milchkaffee mit an seinen Schreibtisch. Ihm missfallen die stereotypen Filmszenen, in denen unweigerlich störrische, eigenwillige oder kaputte Automaten eine dumme Rolle spielen. Lennon und Özkan haben bereits einen Tisch vor der großen Pinwand aufgestellt. Darauf liegen verschiedene Aktenordner, einige eigenartige Gegenstände mit jener Symbolik, die Madsen und Lennon am Fingerring des Toten bemerkt hatten. Neu angeheftete Fotos zeigen die Wohnung des Toten in Glückstadt. An deren Wände sind Unmengen von engbeschriebenen Notizzetteln, Kopien und Fotos zu sehen.

»Lennon hat die SpuSi gebeten, diese Zettel-Orgie einzusammeln und herzubringen, wenn alle Wände hinreichend dokumentiert wurden«, bemerkt Hilâl. Madsen horcht auf: »Nonsens, Leute! Das halte ich für keine gute Idee! Bitte ruft sofort Lilo Pabst an, die sollen die Zettelwirtschaft unverändert an Ort und Stelle belassen! Möglicherweise könnte sich die Relation der Notizen zueinander als aufschlussreich erweisen. Von wie vielen Zetteln ist denn hier die Rede?«