Das Judaskreuz - William Boehart - E-Book

Das Judaskreuz E-Book

William Boehart

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Beschreibung

Oktober 1879: Auf dem Sockel eines halbfertigen Kriegerdenkmals auf dem Möllner Marktplatz liegt ein Toter. In seinem Rücken steckt ein Dolch, doch alles deutet darauf hin, dass er erwürgt wurde. Der Hamburger Kriminalinspektor Jakob Hundt steht vor einem Rätsel: Fiel der Kaufmann seiner jüdischen Herkunft zum Opfer? Hundt begibt sich auf die Suche nach dem Mörder, und schon bald führt ihn eine Spur nach Hamburg. Dort versucht ein antisemitischer Geheimbund, das Judaskreuz, den Bau eines Denkmals zu Ehren des Aufklärers Lessing zu verhindern, während sich eine Gruppe von Spekulanten mithilfe vertraulicher Informationen aus Senatskreisen an einem Wohnungsbauprojekt eine goldene Nase verdienen will. Und im scheinbar undurchdringlichen Labyrinth der Gängeviertel taucht zur gleichen Zeit auch der Möllner Winkeladvokat Sprewitz unter, um die Wahrheit über seine ehemalige Geliebte, die Schriftstellerin und Revolutionärin Recha Mendelssohn, herauszufinden. Wie hängen all diese Begebenheiten zusammen? Gelenkt von den politischen Entwicklungen im Land, aber auch getrieben von Rachsucht und Machthunger, von Liebe und Tatendrang, geraten die Akteure dieser unheilvollen Vorgänge in ein Netz aus Verstrickungen. Diese reichen weit in die Vergangenheit, bis zur gescheiterten Revolution 1848 zurück. Boehart entspinnt eine atmosphärisch dichte, bestechende Kriminalgeschichte, die das Hamburg des ausgehenden 19. Jahrhunderts zum Leben erweckt. Zugleich ist dieser Roman eine Hommage an das geistige Erbe des großen Aufklärers Gott­hold Ephraim Lessing und seinen zeitlosen Appell an die Menschlichkeit.

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Ähnliche


William Boehart

Das Judaskreuz

 

 

Gotthold Ephraim Lessing

William Boehart

DAS JUDASKREUZ

Roman

Osburg Verlag

Frontispiz:

Scherenschnitt Gotthold Ephraim Lessing

Lessing-Museum Kamenz

Frontipiz aus: Erich Schmidt, Geschichte seines Lebens

und seiner Schriften Bd. 2, Berlin 1899, Inventarnummer LM 75 I

Erste Auflage 2018

© Osburg Verlag Hamburg 2018

www.osburgverlag.de

Alle Rechte vorbehalten,

insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Anna Hilgenstöhler, Hamburg

Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg

Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-95510-169-5

eISBN 978-3-95510-174-9

Für Claudia und Sara

 

 

… how life, from being made up of little separate incidents which one lived one by one, became curled and whole like a wave which bore one up and threw one down with it, there, with a dash on the beach.

Virginia Woolf, To the Lighthouse (1927)

 

… wie das Leben, das aus kleinen, in sich abgeschlossenen Ereignissen bestand, die man eines nach dem anderen erlebte, sich wölbte und ganz wie eine Welle wurde, die einen aufhob und dann hinunterwarf, dort, mit einem Aufprall auf den Strand.

(frei nach William Boehart)

Inhalt

Hauptpersonen

Prolog

1. Uriah Heep

2. Notwendige Maßnahmen

3. Das Judaskreuz

4. Mord am Denkmal

5. »Ich habe nur eine kleine Wohnung.«

6. Trompe d’oeil

7. Ermittlungen

8. Man nehme viel Geld in die Hand.

9. Contrabande

10. Eine Verabredung

11. Ein Damoklesschwert

12. Eine Brandrede

13. Ein Treffen in Gresse

14. Vorzeichen

15. Ein schwarzes Kleid

16. Unter Raubvögeln

17. Der Lumpensammler Alexander Daveson

18. Von Lessing ist keine Notiz zu nehmen.

19. Die Hasen im Kohlfeld

20. Begegnungen

21. Spurensuche

22. Von Dur bis Moll

23. Nathan der Weise

24. Auf der Jagd

25. Ein Seiltänzer

26. Ein undeutsches Schauspiel

27. Beginn eines Abenteuers

28. Da lässt sich gut sitzen.

29. Ein Gespräch und eine Flucht

30. Eine Hochschule für das weibliche Geschlecht

31. Es gibt doch Beweise.

32. Im Conventgarten

33. Wem die Glocken läuten.

34. Wir sehen uns wieder.

35. Rosas Geschichte

36. Zwei Morde, ein Täter, keine Beweise

37. Der Dolch gehört Ihnen.

38. Eine Gefangennahme

39. Recha Mendelssohn

40. Danse Macabre

41. Eine Widmung

42. Sapere Aude

Epilog

Danksagung

Anhang

Hauptpersonen

in der Reihenfolge ihrer Erscheinung

FRIEDRICH SPREWITZ – Advokat in Mölln; Veteran der Revolution 1848; hat eine Verabredung in Hamburg.

MOSCHE NORDHEIM – Schüler der Israelitischen Stiftungsschule von 1815, der ein Abenteuer erleben will.

BONAFIDES – Kirchendiener an der Michaeliskirche in Hamburg; ein Gutgläubiger.

FREIHERR KLAUS ALBRECHT VON SCHOSSIN – Eine raumfüllende Gestalt; Mecklenburgischer Gutsherr und Reichstagsabgeordneter; seine Droge ist die Macht.

WILHELM MARR – ruhelose Person; Verfasser von antisemitischen Hetzschriften.

JOHANN JÖRG ZIMMERMANN – Hauptpastor an der Michaeliskirche in Hamburg; ein Verfechter des wahren Glaubens; er erinnert sich an den Namen Alexander Daveson.

DOKTOR ERNST HENRICI – Gymnasiallehrer und Radau-Antisemit aus Berlin; ein Redner mit demagogischer Ausstrahlung, der einen Brand auslöst.

MÜCKE – ein Möllner Bettler, der einen brisanten Gegenstand entdeckt.

HERMANN GOLDSCHMIDT – Hamburger Kaufmann; konvertierter Jude mit Zweitwohnsitz in Mölln; er führt ein Doppelleben – aus guten Gründen.

HEDDA SVENSSON – Tochter von Ole Svensson; eine junge Frau, die in Hamburg ungeahnte Wege einschlägt.

OLE SVENSSON – Schriftsetzer; Wortführer der SPD in Mölln. Er wird des Mordes beschuldigt.

RECHA MENDELSSOHN – Schriftstellerin; Aktivistin während der Revolution 1848; sie raucht Zigarren und glaubt nicht an Gott.

THEODOR ROHDANTZ – Untergerichtsadvokat in Mölln; später Staatsanwalt am Kreisgericht Ratzeburg; ein Musterbürger mit einer dunklen Seite.

MAX GOLDSCHMIDT – Jurastudent; Theaterliebhaber; Sohn von Hermann Goldschmidt. Er muss eine Entscheidung treffen.

JAKOB HUNDT – Hamburger Kriminalinspektor und Bewohner der Gängeviertel, der mit Hilfe einer schwarzen Kladde seine Fälle löst.

MARTHA GOLDSCHMIDT – Ehefrau von Hermann Goldschmidt und Mutter von Max; sie hat zum Glauben gefunden.

MICHL – Gastwirt des Lokals Mylius in Mölln; ein aufmerksamer Beobachter.

DIE GEBRÜDER GIERLING – Rechtsanwalt Doktor Alfons, Ingenieur Ludwig und Architekt Friedrich-Wilhelm; Spekulanten in Hamburg, denen die Korruption nicht fremd ist.

JULIUS STÖTER – Sergeant der Kriminalpolizei in Hamburg und Untergebener von Jakob Hundt. Er liebt Zigarren, ein gepflegtes Bier, Frauen und die Eisenbahn.

BERNHARD POLLINI – Direktor des Stadttheaters in Hamburg; ein erfolgreicher Impresario mit einem auffälligen Bart.

LOUISE TESDORPF – Tante und Vormund von Hedda Svensson; eine geschickte Zeichnerin von Straßenszenen in der Neustadt.

ROSA – Prostituierte im Ebräergang, die ein schwarzes Kleid tragen muss.

MISS SARA – Inhaberin der gleichnamigen Gastwirtschaft in der Neustadt; eine scharfsinnige Zuhörerin, die sich an Recha Mendelssohn erinnert.

ALEXANDER DAVESON – Ein Name, der ein Geheimnis birgt.

DOKTOR MEYER ISLER – Direktor der Hamburger Stadtbibliothek; Sammler verbotener Schriften.

DIOGENES – ein schwarzer Hund, den Alexander Daveson in Hamburg adoptiert. Oder ist es umgekehrt?

DOKTOR ANTON RÉE – Direktor der Israelitischen Stiftungsschule von 1815 und Veteran der Revolution 1848; er hat ein gutes Gedächtnis.

EMMA ISLER – Ehefrau von Doktor Meyer Isler; Mitbegründerin einer ungewöhnlichen Hamburger Hochschule.

Prolog

Schwarzenbek, Dienstag, d. 12. Mai 1848

Am Horizont erblickte eine in bunte Flicken gekleidete Person, die eine schmale Karre schob und von einem großen, schwarzen Hund begleitet wurde, eine Gestalt, die langsam die Chaussee entlang auf sie zukam.

Mit dem grauen Gehrock über die Schulter geworfen, denn es war ein schwüler Tag, hatte die Gestalt, wohl ein Mann, die ersten Häuser des kleinen Dorfes erreicht. Als der Mann sich der bunt gekleideten Person, sie könnte ein Lumpensammler gewesen sein oder ein Wahrsager, vielleicht aber auch beides zugleich, näherte, sagte diese: »Ich kenne dich, Advokat Sprewitz.«

Der Angesprochene erwiderte: »Ich meine, mich auch zu kennen, guter Mann, aber dich kenne ich nicht.«

»Ich bin ein wandernder Philosoph.«

»Aha, ein Schüler des Aristoteles. Guten Tag, lieber Herr Peripatetiker. Ich nehme an, dein Hund heißt Diogenes?«

Der Lumpensammler zeigte zum wolkenlosen Himmel, der Hund schaute seiner Geste nach. Ein Rabe flog gerade über sie hinweg. Der Mann sagte: »Der Wind kommt seit Tagen von Westen, aber nicht mehr lange. Ich fühle es, bald kommt der Ostwind.« Die beiden Männer schauten sich schweigend an, bis der Lumpensammler (oder doch ein Wahrsager?) sagte: »Es wird anders kommen, ganz anders, als du dir denkst, Advokat Sprewitz.«

Der Advokat zeigte auf ein großes Bauernhaus, hinter dem ein Kirchturm hervorlugte, und erwiderte: »Ich muss zur Wahlversammlung.«

»Ich weiß, du gehst zu den Menschen. Seitdem ich die Menschen kenne, liebe ich die Hunde.« Mit diesen Worten drehten sich der Lumpensammler und sein geliebter Hund um und verschwanden zwischen den Bauernhäusern.

1 Uriah Heep

Hamburg, Donnerstag, d. 16. Oktober 1878

In der Dämmerung leuchtete das kleine Augenpaar hell und böse auf, aber vielleicht war das Tier auch nur verängstigt. Dem Jungen war es egal, er wollte nur die Prämie. Er hatte die Ratte in eine Nische am Ende des Ganges getrieben. Der finale Kampf stand kurz bevor. Die Ratte entschied sich für Angriff. Der Junge blieb gelassen stehen und schwang seinen Knüppel zum geübten und sicheren Schlag. Die Ratte quiekte hell auf und starb; Blut tropfte aus ihrem Maul, die Augen wurden glasig. Der Junge stopfte das Tier in eine Ledertasche, verließ die schmale Gasse und bog in die Marktstraße in Richtung Großneumarkt ein. Auf dem Weg schaute er an den hohen, dicht aneinandergereihten Fachwerkhäusern hinauf und konnte einen schmalen Streifen Himmel ausmachen. Es war ein klarer, kühler Abend, und die hellen Sterne grüßten ihn aus weiter Ferne. Er dachte an die große Welt, die sich jenseits der engen Gänge und Höfe seiner Heimat erstreckte. Er kannte sie nicht, seine Füße hatten den Boden der Gängeviertel erst selten verlassen. Es gab aber Bücher, die von fernen Welten erzählten. Aus der kleinen Bücherei seiner Schule, der Israelitischen Stiftungsschule von 1815, hatte er schon viele Bücher ausgeliehen. Abenteuerromane, Seemannsgeschichten, so etwas liebte er. In ihm war längst der feste Entschluss gereift, dass er – sobald sich die Gelegenheit bot – von hier fortgehen würde.

Die Marktstraße eröffnete sich auf den Großneumarkt. Als er den Platz betrat, streifte das Licht einer Gaslaterne sein Gesicht und ließ dunkle, aufmerksame Augen, volle Lippen und markante Gesichtszüge erkennen; kein Junge mehr, noch nicht ganz ein Mann. Er trug eine Ballonmütze, die nur unvollständig die schwarzen, lockigen Haare verdeckte. In den frühen Abendstunden herrschte noch reger Verkehr auf dem Platz und in den vielen kleinen Läden. Der Junge achtete kaum auf die Betriebsamkeit, sondern setzte seinen Weg über den Platz schnell fort. Als er vor einem vorbeifahrenden Pferdeomnibus der Firma Basson anhielt, sprach ihn von hinten eine bekannte Stimme an: »Hey Mosche, hast du einen guten Fang gemacht?«

Mosche drehte sich um. »Grüß dich, Benjamin. Ich habe zehn dabei, bin auf dem Weg zur Wache.«

»Zehn von sagen wir fünfzehntausend Ratten in Hamburg, ist ja nur eine Schätzung. Das macht … mal sehen … 0,0005 Prozent. Wir machen Fortschritte!« Benjamin war Klassenbester und kannte sich besonders in Mathe gut aus.

»Mir egal«, sagte Mosche.

»Hast du deine Hausaufgaben schon erledigt? Der Rée hat uns ordentlich zu tun gegeben.« Benjamin schien froh darüber zu sein.

»Mach dir um mich keine Sorgen«, erwiderte Mosche, verabschiedete sich und setzte seinen Weg zügig fort. Er bog bald in die Schlachterstraße ein und erreichte die große Michaeliskirche. Die Turmuhr zeigte gerade 7 Uhr am Abend, als die Glocken läuteten. Durch das Kirchenportal kam gerade ein Mann, der deutlich hinkte; er zog ein steifes linkes Bein nach.

Die Strecke bis zum Schaarmarkt ließ sich im Nu zurücklegen. Als der Junge an der Ecke zum Venusberg eine kurze Pause einlegte, schaute er über den Markt Richtung Hafen. Hier fing das Gängeviertel der Hafenarbeiter an: harte Männer, die eine harte Arbeit erledigten. Ihre Söhne waren genauso hart; sie hatten sich zu Banden zusammengetan, die ihr Revier verteidigten. Großer und Kleiner Bäckergang, Lieschengang, Brauerknechtgraben, Schaarsteinweg, Schaarhof, Matthiasstraße, Druvenhof, Eichholz, Bleichergang, Neuer Weg und Vorsetzen – die Gänge und Höfe betrat ein fremder, gar ein jüdischer Junge am besten nicht, auf gar keinen Fall alleine. Mosche hatte keine Angst, sah aber keinen Grund, unnötig zu provozieren. Über den Hausdächern glomm ein fahles Licht vom Hafenbereich, in dem es seit einem Monat elektrische Lampen gab. Trotz des Straßenlärms war die ihm bekannte Hafen-Symphonie zu hören: Die Schiffspfeifen und Sirenen heulten und brüllten, zischten und kreischten, bald dumpf und tief, bald schrill und grell. Die Hauptschlagader der Handelsmetropole pulsierte vernehmbar.

Die Polizeiwache Venusberg lag an der Ecke zum Schaarmarkt. Mosche ging die paar Stufen hinauf zum Eingang des kleinen, einfachen Gebäudes. Als er den Empfangsbereich betrat, erhob sich ein Mann hinter der Theke, dessen Polizeiuniform etwas zu klein geraten war, oder der Mann hatte seit der Uniformzuteilung an Umfang zugelegt. »Na Mosche, was bringst du diesmal?«

Der Junge öffnete die Tasche: »Zehn Viecher, Herr Wachmeister.«

»Wie oft muss ich dir noch sagen, Mosche, dass ich Konstabler bin«, brummte der Ordnungshüter und streifte mit seiner Hand demonstrativ die Pickelhaube, die vor ihm auf dem Pult lag, als ob diese Kopfbedeckung seinen Titel bestätigen würde.

»Tut mir leid, Herr Konstabler«, sagte Mosche kleinlaut und erlaubte sich dabei ein Grinsen, das dem Polizisten jedoch entging.

»Schmeiß sie mal da hinten in die Tonne. Der Abdecker kommt gleich.« Der Konstabler nahm fünfzig Pfennige aus der Kasse und notierte den Vorgang in einem schwarzen Heft. »Deine Einnahmequelle versiegt, Mosche. Ab nächster Woche gibt es keine Prämie mehr für tote Ratten. Man sagt, dass ihr Juden angefangen habt, Ratten zu züchten, um zu kassieren. Die Gesundheitsdeputation setzt diesem Frevel endlich einen Riegel vor.«

Der Junge nahm das Geld, verbeugte sich leicht und sagte, als er eilig aus der Tür ging: »Auf Wiedersehen, Herr Wachmeister.«

Mosche verließ die Wache und tauchte wieder in die Herbstfrische des Oktoberabends ein. Die Sache mit der Prämie störte ihn weiter nicht; er war sicher, dass ihm etwas anderes einfallen würde. Er beschloss, nach Hause einen anderen Weg zu nehmen. Er lief den Venusberg hinunter bis zur Ecke Jacobstraße, wo er in Richtung Zeughausmarkt einbog. Zu seiner Linken erhob sich die große Holländer Windmühle hinter der Mühlenbrücke. Sie befand sich in der alten Wallanlage, die sich im Halbbogen von der Elbe bis zur Außenalster erstreckte und die Grenze der Neustadt bildete. Allmählich verebbte die Geschäftigkeit auf den Straßen; die Menschen machten es sich in ihren Wohnungen bequem (sofern das in den meist kleinen Verliesen hier überhaupt möglich war) oder, zumindest die Männer, flüchteten in eine der zahlreichen Gastwirtschaften. Am Zeughausmarkt angelangt, bemerkte Mosche zu seiner Verwunderung so etwas wie ein Heimatgefühl in ihm aufkeimen. Er stand vor der Englischen Kirche und blickte auf ein großes Gebäude, das bereits mehrfach erweitert worden war – die Stiftungsschule, die 1815 von der israelischen Reformgemeinde gegründet worden war. Im Großen und Ganzen ging er gerne zur Schule, seine Lieblingsfächer waren Geografie und Geschichte. »Noch zwei Jahre Schule und dann nehme ich mein Leben selbst in die Hand«, sagte er leise zu sich. Vom Zeughausmarkt aus, gegenüber dem Millerntor, nahm er den Neuen Steinweg bis zur Kreuzung mit der Elbstraße, in die er links einbog. Die Elbstraße bildete das Zentrum des jüdischen Viertels der Neustadt. Hier befand sich die über die Stadt hinaus bekannte Judenbörse. Entlang der Straße wurden täglich alle erdenklichen Waren auf Holztischen und -gestellen angeboten. Inzwischen waren die Stände und Tische weitgehend abgebaut worden. Die jüdischen Händler wie auch die Stadt selbst bereiteten sich auf den Abend vor. Von hier aus war es nur ein kurzer Weg zur Poolstraße, an der das Wohnhaus seiner Eltern stand. Mosche verspürte jedoch noch keine Lust, nach Hause zu gehen zu seinen Eltern und den drei Geschwistern, die sicherlich gerade das Abendessen vorbereiteten. Er meinte, noch eine Viertelstunde Karenzzeit zu haben. Kurz entschlossen schlenderte er die Straße hinunter und erreichte bald die Kreuzung Martenstraße. Seine Füße trugen ihn schnell zur Kreuzung mit den Kohlhöfen, wo er rechts abbog. Er ging an der Synagoge der Orthodoxen vorbei und bog in die Neustraße ab. Von dem Bäckerbreitergang erreichte er bald über den Dragonerstall den Holstenplatz. Er konnte das große im Bau befindliche Justizgebäude sehen. Ginge man weiter an der alten Wallanlage entlang, erreichte man den Botanischen Garten. Der Junge spürte, wie übersichtlich, irgendwie klein alles innerhalb der alten Wallanlage wirkte. Er kannte das Gebiet wie seine Westentasche; hier konnte er sich kein neues Abenteuer mehr vorstellen. Er erinnerte sich an ein Buch, das er jüngst gelesen hatte, David Copperfield von Charles Dickens. Er hatte mit dem jungen Helden mitgefiebert, hatte ihn bei seinen zahlreichen Abenteuern begleitet bis zum glücklichen Ende. Man musste sich mit den Menschen, auch mit einem wie Uriah Heep, messen lernen, dachte der junge Pennäler.

Es war nun wohl doch Zeit, nach Hause zu gehen. Er nahm den schnellen Weg zur Poolstraße und erreichte das Wohnhaus, ein dreistöckiges Fachwerkgebäude mit Hinterhaus, das sich schräg gegenüber des Tempels der Reformgemeinde befand. Über dem Laden im ersten Stock wohnte seine Familie. Sein Vater hatte das Haus vor ein paar Jahren gekauft, zusammen mit dem Hinterhof. Seit 1861 durften Juden Grundbesitz in der Stadt erwerben. Das Lederwarengeschäft im Erdgeschoss lief gut, sein Vater war ein geübter Sattler und ein umsichtiger Geschäftsmann, und seine Mutter, stets gut gelaunt, bot die Ware feil. Es gab wenige Lederwarengeschäfte in der Neustadt, und sein Vater war als geschickter Handwerker über die Grenzen der Neustadt hinaus in der ganzen Stadt bekannt. Die Familie hatte sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet. Neben dem Geschäft gab es Mieteinnahmen von den Wohnungen. Sein Vater, Marcus Nordheim, gehörte zum Gemeindevorstand des Tempel-Verbandes. Mosche war das älteste von vier Kindern.

Es war nach 8 Uhr, als Mosche die Wohnung betrat. Seine Mutter hatte gerade die Familie zum Esstisch gerufen, als er eintrat. Es gab Steckrübensuppe. Der Vater sah auf und grummelte: »Siehe da, der verlorene Sohn kehrt heim.«

»Ich habe Ratten zum Venusberg gebracht, dafür habe ich fünfzig Pfennige verdient.« Seine Geschwister schauten den älteren Bruder ehrfürchtig an; Mosche genoss in der Familie so etwas wie Narrenfreiheit.

Der Vater nickte, und seine Lippen zeigten ein feines Lächeln unter seinem Schnurrbart. »Du bist spät, aber nicht zu spät. Lasst uns essen.« Die sechsköpfige Familie nahm Platz an dem einfachen Holztisch und der Vater sprach das Tischgebet: »Baruch atta adonai, elohenu melech ha-olam, sche-ha-kol nihje bidwaro.« In Gedanken sagte Mosche das ihm bekannte Gebet auf Deutsch auf: »Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott; du regierst die Welt: Alles entsteht durch dein Wort.«

Die Familie Nordheim bekannte sich zu der liberalen jüdischen Reformgemeinde und pflegte einen lockeren und offenen Umgang. Für die Eltern zählten vor allem eine gute Erziehung und Ausbildung der Kinder. Der Vater erzählte gerne und die Mutter konnte lebhaft über die Menschen berichten, die ihr bei Ein- und Verkäufen begegneten. Die Kinder hörten zu oder sprachen von der Schule und ihren Freunden. Heute erzählte der Vater von einem Gespräch, das er nach der letzten Sitzung des Gemeindevorstandes geführt hatte. Ein Freund, der häufig größere Geschäfte in der Stadt tätigte, hatte Gerüchte gehört, dass sich ein Konsortium gegründet habe, das einen Sanierungsplan für das Gebiet nördlich des Großneumarkts realisieren wollte. Man hätte schon Kontakte mit der Baudeputation, mit Banken und weiteren Investoren aufgenommen. Weitere Einzelheiten waren aber nicht zu erfahren. Es war nicht das erste Mal, dass solcherart Gerüchte in der Hamburger Kaufmannschaft kursierten. Selbst der Senat hatte eingesehen, dass eine Sanierung wünschenswert wäre, unternahm aber selbst keinerlei Anstrengungen; dies sollte die private Wirtschaft tun, wie damals, als vor über zehn Jahren die erste Durchbruchstraße, die Wexstraße, entstand. »Mal sehen, was diesmal kommt«, sagte der Vater mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Vielleicht ist einer wie Uriah Heep unter ihnen«, meinte Mosche.

Seine Mutter sah ihn fragend an: »Das musst du uns erklären. Wer ist das? Wer ist dieser Uriah Heep?«

»Er war ein geldgieriger Schieber und Bösewicht im Roman David Copperfield, der allerhand krumme Geschäfte machte. Zum Schluss versuchte er, die Bank von England zu betrügen. Er wurde aber entlarvt und endete im australischen Gefängnis.«

»In Hamburg kannst du viele Uriah Heeps finden«, erwiderte sein Vater und lachte.

2 Notwendige Maßnahmen

Berlin, Samstag, d. 19. Oktober 1878

Ein Mann ging mit schnellen Schritten die Jerusalemer Straße in Berlin entlang. Er war klein und untersetzt und trug einen weiten, dunklen Mantel und eine abgewetzte Ledertasche. Obwohl das Viertel um die Leipziger Straße, auf die er zuging, seit der Reichsgründung eine bauliche Verdichtung erlebt hatte, gab es noch Freiflächen, die eine Heimat für Bäume boten, vor allem für Linden. Ein Dorf auf dem Wege zur Stadt, ja zur Weltstadt, dachte der Mann. Es war Ernst Günter Kiehn, Redakteur des Berliner Tageblatts. Als er in die Leipziger Straße einbog, verschaffte ihm der Anblick des neuen Konzerthauses Genugtuung. Deutsche Kultur!

Er war auf dem Weg zum Leipziger Platz. Der Wohncharakter der Straße war trotz der vielen neuen Geschäfte nicht gänzlich verloren gegangen; in den oberen Stockwerken logierten noch viele Familien des Bürgertums, denen es hier offensichtlich behagte. In großer Zahl hatte man die Gärten hinter den Häusern erhalten, einige waren in Wirtsgärten umgewandelt worden – so auch der des Lokals Leipziger Garten, in das der Redakteur später einkehren wollte. Kiehn kannte den Straßenzug gut, sozusagen wie seine Westentasche. Die Straße gefiel ihm, er freute sich auf das neue Zeitalter, dessen Anbruch mit der Reichsgründung fühlbar geworden war. Als störend empfand er lediglich die neuen Geschäfte, die von Juden betrieben wurden. Auch Rudolf Mosse, der Herausgeber des Berliner Tageblatts, war jüdischer Abstammung. Kiehn fand es erniedrigend und ungerecht, dass Mosse sein Chef war. »Die Juden dringen überall ein«, dachte er laut. Etwas zu laut, denn eine ältere Frau mit einem krummen Rücken, die gerade an ihm vorbeischlurfte, stimmte ihm unverhohlen zu: »Dit is’ wohl wohr, wa«, krächzte sie und verschwand.

Es war ein kühler Oktobertag, doch in der Stadt pulsierte das Leben. Menschen tummelten sich auf der breiten, gepflasterten Straße und den Gehwegen. Ein Pferdeomnibus fuhr gerade die Straße hinunter; an der großen Kreuzung bei der Wilhelmstraße verkauften jungen Burschen lautstark Zeitungen, Flaneure und Geschäftsleute liefen aneinander vorbei, ältere Männer saßen auf Bänken und schauten den jungen Dienstmägden hinterher, ein Milchhändler bugsierte seinen Wagen, der von einem Hund gezogenen wurde, durch die Menge, Marktfrauen schoben kleine Karren vor sich her, Hunde tollten herum und bellten, junge Männer in ihren Offiziersuniformen stolzierten herum, offenbar bestrebt, die Blicke der jungen Frauen auf sich zu ziehen. Ordnungshüter mit Pickelhelmen schritten durch die Menge und beobachteten das rege Treiben mit Argusaugen. Die wichtigsten Einrichtungen des neuen Reiches befanden sich in unmittelbarer Nähe. Kiehn sah die Reichspost, das Kriegsministerium, das Ministerium für öffentliche Arbeit, das Reichsjustizamt, die Kaiserliche Admiralität sowie das Preußische Herrenhaus. Er steuerte das Gebäude daneben an: das Provisorium des Deutschen Reichstages. Ernst Günter Kiehn wollte eine Plenarsitzung besuchen. An diesem Tag sollte das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom Reichstag verabschiedet werden. Redakteur Kiehn bahnte sich seinen Weg durch die Menge zur Zuschauertribüne. Von seinem Platz aus hatte er eine ausgezeichnete Sicht auf den Plenarsaal. Die 397 Abgeordneten saßen dicht gedrängt in Hufeisenform um das zentrale Rednerpult, rechts davon saß auf der Regierungsbank bereits Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck. Die Tribüne war gut gefüllt, denn die Sitzung wurde mit Spannung erwartet. Es hatte heftige Kontroversen zwischen den Parteien gegeben, über die in der Presse berichtet worden war. Kiehn öffnete seine Tasche und entnahm ihr Papier und Schreibfeder. Obwohl ihm die Ereignisse der letzten Monate noch frisch im Gedächtnis waren, überflog er seine Notizen. Die Macht der Gewohnheit.

Am 11. Mai hatte der Klempnergeselle Max Hödel ein Attentat auf Kaiser Wilhelm verübt, als dieser in einer offenen Kutsche die Straße Unter den Linden entlangfuhr; glücklicherweise verfehlte der Attentäter sein Ziel. Man ging davon aus, dass Hödel sich von den Sozialdemokraten hatte aufstacheln lassen. Unmittelbar danach legte Reichskanzler Fürst von Bismarck einen Gesetzesentwurf vor, um die Gefahren, die nach Ansicht der Regierung von der Agitation aus den Kreisen der Sozialdemokraten ausgingen, einzudämmen. Der Reichstag wies den Entwurf nach lebhafter Debatte zurück. Es bedurfte eines zweiten Attentatsversuchs auf Seine Majestät am 2. Juni – der Kaiser wurde diesmal schwer verletzt –, bevor der Reichstag sich den Ernst der Lage eingestand. Zünglein an der Waage, das waren die National-Liberalen Abgeordneten, die den ersten Entwurf abgelehnt hatten, immerhin waren sie die größte Fraktion. Beim Wahlkampf im Juli hatten sie sich aber dem Rechtsruck der Konservativen angepasst, um ihre Wiederwahl zu sichern. Das neue, verschärfte Gesetz sah das Verbot von Unterverbänden, Druckschriften und Versammlungen der Sozialdemokraten und ihr nahestehenden Organisationen, vor allem Gewerkschaften, vor. Kiehn beeindruckte es, wie Bismarck die Hysterie um die Attentate nutzte, um sein Gesetz durchzubringen, das einen kräftigen Schlag gegen die Sozialdemokratie wäre. Bisher war überhaupt nicht bewiesen, dass sie im Zusammenhang mit den Attentaten stand. Eine Nebensache, dachte er. Als Kiehn, damals ein Unteroffizier im gesamtdeutschen Heer, vor Sedan lag, wollte er sein Leben nicht dafür aufs Spiel gesetzt haben, ein vereintes Deutschland zu gründen, in dem Sozialdemokraten eine Rolle spielen sollten! Kiehn richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Plenum. Das Schauspiel sollte beginnen.

Um Punkt 10:30 Uhr eröffnete Reichstagspräsident Maximilian Franz August von Forckenbeck die sechzehnte Sitzung des Deutschen Reichstages. »Wir treten in die Tagesordnung ein. Erster und einziger Punkt ist die Fortsetzung der dritten Beratung des Gesetzentwurfes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie.« Der Redakteur notierte. Es folgten überwiegend langweilige Reden und schließlich eine Abstimmung. Die längste Rede hielt der Abgeordnete August Bebel. Babel wäre treffender, dachte der Redakteur belustigt. Das Gesetz wurde wie erwartet mit 221 Ja-Stimmen, also mit großer Mehrheit beschlossen. Zum Schluss ergriff Reichskanzler Otto von Bismarck das Wort. Kiehn notierte. Der Bundesrat habe bereits zugesichert, das Gesetz einstimmig anzunehmen, es werde unverzüglich in Kraft treten. Die Regierung werde alles unternehmen, »die Krankheit zu heilen, die unser Gemeinwesen ergriffen hat.« Zufrieden mit sich, denn sein Bericht war so gut wie fertig, machte Kiehn sich auf den Weg zu seinem bevorstehenden Treffen, in seinen Augen dem weitaus wichtigeren Termin an diesem Tag.

Im Gasthof Leipziger Garten herrschte eine heitere Betriebsamkeit. Die Spätnachmittagssonne war noch kräftig genug, so dass einige Gäste die Tische im Vorgarten besetzten. Kiehn ging an den schwatzenden und lachenden Berlinern vorbei in den Innenraum der Gaststätte. Ein Kellner begleitete ihn zu einem Raum im hinteren Teil des Hauses, wo bereits eine Gruppe von zwölf Männern auf ihn wartete. Die Versammelten begrüßten den Neuankömmling kurz mit ernster Miene. Von ausgelassener Stimmung war hier rein gar nichts zu spüren, als hätte sie es nicht durch die verschlossene Tür geschafft.

Ein dicker, großer Mann, der sich trotz seines Gewichts überraschend leicht in seinem gut geschneiderten, schwarzen Anzug bewegte, stand auf und richtete das Wort an die Versammlung. Kiehn kannte ihn bereits: Freiherr Klaus Albrecht von Schossin, Gutsherr von Gresse und Reichstagsabgeordneter aus dem Mecklenburgischen. Eine große, raumfüllende Gestalt mit weichen Gesichtszügen, einem Doppelkinn und einem bemerkenswerten Schnurrbart, dessen sorgfältig frisierte Enden spitz nach oben zeigten. Wenn er lächelte – es war kein angenehmes Lächeln – zogen die Spitzen sich weiter nach oben und verliehen seinem Gesicht ein fratzenhaftes Aussehen.

»Meine Herren, wir sind jetzt vollständig zu unserem informellen Treffen versammelt. Wie Sie wissen, haben wir absolute Vertraulichkeit vereinbart. Es geht darum, gewisse Maßnahmen in die Wege zu leiten, die notwendig sind, um die Zukunft des neuen Reiches zu sichern. Wir haben gerade ein Gesetz gegen die gefährlichen Auswüchse der Sozialdemokratie verabschiedet. Das Gesetz ist notwendig, auch wenn es nach meiner Ansicht noch schärfer hätte formuliert werden müssen. Aber das allein reicht aber nicht aus! Seine Durchlaucht Reichskanzler von Bismarck ist ein großer Staatsmann, er verkennt jedoch eine akute Gefahr für unser Reich …« Schossin machte eine rhetorische Pause und blickte in die Runde, um dann energisch fortzufahren: »Ganz richtig: die Juden. Seit der Gleichstellung durch den Norddeutschen Bund im Jahre 1869 sind Juden in alle Bereiche der Wirtschaft, Wissenschaft und der Politik eingedrungen. Nach nicht einmal zehn Jahren beherrschen sie einige wichtige Machtstellen im Reich. Widerstand gegen das Judentum beginnt sich aber zu formieren. Domprediger Adolf Stoecker hat die Gründung einer neuen Partei initiiert – die Christ-Soziale, die sich gegen den verjudeten Großkapitalismus wie gegen die verjudete Sozialdemokratie richtet. Ich denke, wir sind uns alle einig, dass diese Bewegung zu schwach und rückwärtsgewandt ist, um ein wirksames Bollwerk gegen das Judentum zu bilden.« Der Redner pausierte erneut und musterte die Versammelten, seine Bartspitzen zuckten. »Wir haben heute einen neuen Kampfgenossen. Mitglied darf ich nicht sagen, ein Verein sind wir noch nicht, und zwar den Schriftsteller und Journalist Herrn Wilhelm Marr.« Der Angesprochene deutete eine leichte Verbeugung an, wobei er seinen durchdringenden Blick weiter in die Zuschauermenge richtete und dabei keine Miene verzog. Herr von Schossin fuhr fort: »Er hat sich seit langem mit dem Judenthema befasst, vielleicht erinnern Sie sich an seinen öffentlichen Streit mit dem jüdischen Juristen Gabriel Riesser aus Hamburg über die rechtliche Gleichstellung der Hebräer vor etwa fünfzehn Jahren. Herr Marr schreibt derzeit an einem Buch. Ich habe ihn gebeten, uns heute seine Gedanken mitzuteilen, denn ich glaube, wir sind auf einem gemeinsamen Weg.«

Alle Augen richteten sich auf einen Mann fortgeschrittenen Alters mit einer noch vollkommen schwarzen Haarpracht und einem Henriquatre-Bart, der etwas behäbig von seinem Stuhl aufstand. »Meine Herren! Ich bedanke mich für die Gelegenheit, Ihnen meine Ansichten vortragen zu dürfen. Mein Buch befindet sich derzeit im Druck und wird Anfang des Jahres erscheinen. Es trägt den Titel: Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum – vom nichtconfessionellen Standpunkt aus betrachtet. Wenn wir vom Juden reden, handelt es sich dabei um eine fremde Rasse, dessen müssen wir uns bewusst sein. Es geht nicht um eine Konfession, eine Gottesverehrung – wie sie sich auch immer äußern mag –, sondern um eine Rasse. Das Judentum bezeichnet keine Glaubensrichtung, sondern ein Volk. Mann oder Frau sind als Juden geboren und sie bleiben Juden, auch wenn sie zum Christentum konvertieren, oder gar Atheisten werden. Die Juden sind eine fremde Rasse von Parasiten, die erfolgreich die Ausbeutung Deutschlands betreiben.« Der Redner hielt kurz inne, seine Augen begannen zu leuchten. Er war offenbar von seiner eigenen Rede ergriffen. »Die Alliance israélite universelle hat ihre Filialen in jedem Lande, auch hier in Berlin, der Hauptstadt des Deutschen Reiches. Seit 1792 gibt es die sogenannte Gesellschaft der Freunde – man merke sich den Namen! Es ist eine jüdische Einrichtung, die unweit von dieser Stätte in der Neuen Friedrichstraße ihren Sitz hat, und von dort aus das Programm des Judentums verwirklicht. Agenten und Helfershelfer sind überall aktiv, manchmal in geheimer Tätigkeit. Sie fragen: Welches Programm? Die Association israéliste strebt nach der …«, Marr machte erneut eine theatralische Pause, »… Weltherrschaft! Sie besitzt mehr Geld als alle Kaiser und Könige, und durch die Investition für ihre Zwecke vermehrt sie diesen Reichtum. Wer beherrscht die Presse, wer die Banken, wer die Industrie in unserem Deutschen Vaterland? Die Juden! Im Reichstag reden sie mit, in allen Fraktionen. Es gibt die goldenen und roten Juden, also die reichen Kapitalisten und die Sozialdemokraten. Sie arbeiten aber Hand in Hand an der Übernahme der Weltherrschaft.«

»Herr Marr, Sie malen ein pessimistisches Bild. Gibt es ein Mittel dagegen? Wir sind nicht hier versammelt, um uns Vorträge anzuhören, sondern um eine Strategie zu entwickeln«, bemerkte ein Teilnehmer vorlaut.

»Öffentlichkeit, das ist die Antwort! Wir müssen das Programm der Juden, die angestrebte Weltherrschaft, öffentlich entlarven. Propaganda und Agitation sind notwendig. Wir müssen das deutsche Volk wachrütteln«, erwiderte Marr und gestikulierte dazu wild mit den Armen.

Freiherr von Schossin ergriff das Wort: »Wir haben bereits über die Gründung einer Vereinigung, einer Antisemiten-Liga, gesprochen. Das Buch von Herrn Marr zeigt deutlich: Wir, die Deutschen, müssen uns zur Wehr setzen. Ich denke, es ist Zeit zum Handeln.«

Nach Beendigung der Sitzung gingen Redakteur Kiehn und Reichstagsabgeordneter von Schossin gemeinsam die Leipziger Straße entlang. »Was halten Sie von Marr?«, fragte Kiehn seinen Begleiter.

»Ein ziemlich armer Schreiberling, zu schrill für meinen Geschmack. Er muss Geld verdienen und liebt daher Skandale und Krach. Sein Standpunkt ist aber richtig, und er kann uns behilflich sein. Sein Buch wird ein Erfolg sein, davon bin ich überzeugt. Die Zeit ist reif für uns, es gärt im Deutschen Reich.« An der Ecke Jerusalemer Straße trennten sich ihre Wege und die beiden Männer versicherten sich, dass sie sich bald wieder treffen würden.

Der arme Schreiberling war auch seiner Wege gegangen. Er steuerte auf den Verlag Otto Hentze in der Friedrichstraße zu, wo sein Werk erscheinen sollte. Er war mit sich zufrieden, was wahrlich selten der Fall war in seinem unsteten Leben. Er war inzwischen fast sechzig Jahre alt und hatte sich seinen Lebensunterhalt als Journalist sein Leben lang mehr schlecht als recht verdienen können – in Deutschland, in der Schweiz, sogar in Costa Rica hatte er gelebt. Er hatte sich als Politiker in Hamburg versucht und war kläglich gescheitert. 1862 veröffentlichte er einen antisemitischen Beitrag im Courier an der Weser, in dem er den damaligen Präsidenten der Hamburger Bürgerschaft, Gabriel Riesser, scharf attackierte. Er warf den Juden vor, die Emanzipation zu missbrauchen, um sich wirtschaftliche und politische Machtpositionen innerhalb der Hamburger Kaufmannsoligarchie zu sichern. Der Protest gegen den Artikel führte zur Aufgabe seiner politischen Ämter. Die Zeit war noch nicht reif gewesen.

Wilhelm Marr war im Kern ein Radikaler, ein Anarchist, der den Untergang zugleich fürchtete und ersehnte. Im Antisemitismus witterte er ein neues, lukratives Betätigungsfeld, das außerdem seiner persönlichen Neigung entsprach. Es sollte weitergehen: Neue Veröffentlichungen hatte er sich vorgenommen, die Gründung einer Antisemiten-Liga würde die Sache nur befördern. Als er endlich das Verlagshaus erreichte, betrachtete er die nüchterne Fassade und sagte leise: »Am Anfang ist das Wort.«

3 Das Judaskreuz

Rittergut Gresse, Sonntag, d. 26. September 1879

Feine, schwarze Stiefeletten stiegen die ausgetretenen Steintreppen hoch, die zum Eingangsbereich des im neugotischen Stil erbauten Herrenhauses des Rittergutes Gresse in Mecklenburg führten. Der Mann, der die Stiefel trug, wurde von Freiherr Klaus Albrecht von Schossin, dem Gutsherrn, an der Eingangstür empfangen. Gutsherr von Gresse war er streng genommen gar nicht, denn sein Vater, inzwischen ein seniler Greis, der die meiste Zeit auf einer Gartenbank saß und den Dienstmägden nachschaute, lebte noch. Aber er zählte nicht. Freiherr Klaus Albrecht war ein Erfolgsmann und leitete das Gut mit eiserner Hand. Sein Besitz war weitgehend schuldenfrei, was man von den meisten Gütern in Mecklenburg nicht sagen konnte. Sie gehörten den Hamburger Banken, und gehörten die nicht ohnehin fast alle den Juden?! Mit zäher Beharrlichkeit hatte er sich in der Politik durchgesetzt, seit 1874 saß er für die Deutschen Konservativen im Reichstag. Sein Ehrgeiz entsprach seinem leiblichen Umfang – er wollte mehr.

Das Gefühl der Macht war für ihn wie eine Droge.

Die beiden Herren begrüßten sich förmlich mit einem festen Händedruck. Wortlos führte von Schossin seinen Besucher durch eine Tür rechts vom Eingang in einen kleinen Salon. Zigarren wurden angezündet und ein edler Portwein eingeschenkt. Der Gutsherr brach das Schweigen: »Mein lieber Herr Gierling, ich freue mich, dass Sie heute kommen konnten. Nachher habe ich noch eine Verabredung, aber dieses Gespräch ist mir genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Fahrt. Der Weg von Hamburg ist weit, aber dank der guten deutschen Eisenbahn kann man ihn bequem an einem Tag hin und zurück fahren.« Gierling nickte und lächelte zufrieden. Von Schossin fuhr fort: »Wir wollen über das Projekt in Hamburg sprechen. Wie ich höre, sind Sie auf einem guten Weg. Können Sie mich bitte über den aktuellen Stand informieren?«

Gerling räusperte sich: »Der Plan ist inzwischen von der Baudeputation zur Beratung angenommen worden. Wir haben schon erste Gespräche geführt. Mein Bruder, Herr Rechtsanwalt Doktor Alfons Gierling – Sie haben ihn in Berlin kennengelernt –, verfügt über ausgezeichnete Kontakte zum Senat. Es herrscht in den politischen Gremien inzwischen Konsens, dass die gegenwärtigen Zustände in der Neustadt, allgemein als Gängeviertel bekannt, unhaltbar sind.«

Von Schossin nickte, er hatte bereits einen Bericht zu diesem Thema gelesen. Auf einem kleinen Areal zwischen der Altstadt und Altona, einer Art Labyrinth aus unzähligen Gassen, lebten zehntausende von Menschen, Hafenarbeiter, Gelegenheitsarbeiter, Ganoven, Dirnen, Juden und weiteres Gesindel, zusammengepfercht in mehrstöckigen Fachwerkhäusern. Ein funktionierendes Abwassersystem gab es nicht. Es herrschten Armut, Kriminalität und Prostitution. Er hatte von einer Viehzählung gehört, die eine Vielzahl von Ziegen, Rindern, Schafen, Gänsen und natürlich Hühnern auflistete. Schweine waren hingegen verboten, da ihr Gestank Ratten anziehen konnte. Die Ratten kamen trotzdem. Die Behörden hatten dafür eine Gegenmaßnahme erlassen: Für jede gefangene Ratte wurde eine Prämie von fünf Pfennigen gezahlt. Für die Kinder im Gängeviertel ein lukratives Spielchen!

Ludwig Gierling setzte wieder an: »Unser Plan sieht eine großräumige Sanierung des Gebietes im Norden des Großneumarkts vor. Obwohl der Plan noch nicht angenommen worden ist, wollen wir anfangen, Grund und Boden zu erwerben. Wir brauchen dafür mehr Kapital. Ein gewisses Risiko ist zwar vorhanden, der Gewinn kann jedoch beträchtlich ausfallen.«

Von Schossin lächelte seinen Besucher vielsagend an, seine Bartspitzen zogen sich steil nach oben. Die Vorstellung, den Spieß einmal umzudrehen, gefiel ihm. Bisher waren es vornehmlich Hamburger Pfeffersäcke, die Mecklenburger Güter aufkauften, nun hatte er die Möglichkeit, sich endlich selbst ein Stück Hamburg unter den Nagel zu reißen. Und er war kein Tagträumer: »Lieber Herr Gierling, wenn ich Sie richtig verstehe, suchen Sie nach weiteren Investoren.« Sein Besucher nickte und nahm einen Schluck Portwein. »Nun«, sagte von Schossin, »ich könnte mir eine Beteiligung vorstellen, muss aber noch mehr Details über den Plan und das Finanzkonzept in Erfahrung bringen. Wir Mecklenburger sind zwar etwas behäbig, aber dafür solide und gründlich. Vielleicht können Sie mir einige Unterlagen überlassen, und wir unterhalten uns bald wieder. Ich könnte nach Hamburg kommen, um das Areal auch einmal in Augenschein zu nehmen.«

»Herr Reichstagsabgeordneter von Schossin, das lässt sich machen. Meine Brüder und ich würden Sie gerne in unserem Büro begrüßen. Es gibt allerdings noch eine Kleinigkeit, die Sie wissen sollten.« Gierling hielt kurz inne und schaute seinen Gesprächspartner fest an. »Es gibt einen Konkurrenten, den vermögenden Kaufmann Hermann Goldschmidt, der ähnliche Pläne hegt; allerdings möchte er Wohnraum für die Menschen schaffen, die dort bereits ansässig sind. Ich für meinen Teil halte dies für illusorisch. Unser Plan sieht eine Sanierung vor, die bessergestellte, sprich potentere Mieter ansprechen soll. Wir sehen damit die Gewinnaussichten erheblich verbessert.«

»Wie ernst ist das Problem?«

»Herr Goldschmidt ist ein wohlhabender Geschäftsmann, der über gute Beziehungen verfügt, insbesondere zur jüdischen Geschäftswelt. Er ist selbst konvertierter Jude, hieß früher Salomon Goldschmidt.«

»Jude bleibt Jude«, sagte Freiherr Klaus Albrecht von Schossin.

Im Garten des Herrenhauses betrachtete ein alter, nachlässig gekleideter Mann, der mit seinem Gehstock vor sich auf einer hölzernen Bank saß, eine Gruppe junger Dienstmägde, die gerade auf dem Weg zur Gutsscheune waren; er achtete nicht auf die Besucher, die einer nach dem anderen grußlos an ihm vorbeigingen und das Gutshaus betraten. Sie wurden von einem ältlichen Diener empfangen, der ihnen mit gebeugter Haltung Hut und Mantel abnahm, sie dann durch eine massive Flügeltür begleitete und sie in einen großen Raum führte. Nach und nach versammelten sich fünfzehn Männer um einen langen, hölzernen Tisch, der Raum wurde sonst offenbar als Speisezimmer genutzt. Er war zur Hälfte mit dunklen Wandhölzern getäfelt, an den gelben Putzflächen darüber hingen Gemälde, Jagdszenen, die erkennbar nicht von einem alten Meister stammten. Am Kopfende des Tisches, unter einem Geweih hing ein Ahnenporträt. Ein Mann mittleren Alters schaute mit strenger Miene in den Raum hinein, gekleidet im Habitus eines Gutsbesitzers des 18. Jahrhunderts. Er trug den gleichen Schnurrbart wie Klaus Albrecht von Schossin. Dieser saß am Kopfende, denn er war der Gastgeber und damit inoffizieller Vorsitzender. Berechnend musterte er seine Gäste. Am langen Tisch hatten bereits Platz genommen der Redakteur Kiehn (ein braver Diener der Sache), der Schriftsteller Wilhelm Marr (ein Phantast, aber sein Buch war – wie vorausgesehen – ein Verkaufserfolg), der Hauptpastor der großen Michaeliskirche in Hamburg, Johann Jörg Zimmermann (ein wortgewaltiger Gegner von allem, was dem Wort Christi aus seiner Sicht widersprach), Staatsanwalt Theodor Rohdantz aus Ratzeburg (ein verschlossener, ehrgeiziger und eitler Mensch und radikaler Judenhasser), der Verleger Friedhelm Mast aus Schwerin (er besaß einen Kleinverlag, der expandieren sollte) und der Geschichtsprofessor Doktor Eduard Topitz (ein Schwätzer zwar, doch es war immer vorteilhaft, einen Professor in der Runde zu haben).

Gerade, als von Schossin das Wort ergreifen wollte, ging die Tür nochmals auf. Der Berliner Gymnasiallehrer Doktor Ernst Henrici betrat den Raum mit ausladenden Schritten, grüßte die Anwesenden kurz und nahm Platz am Ende des Tisches. Von Schossin zeigte sein spitzbärtiges Lächeln: »Meine Herren! Wie Sie wissen, sind wir heute versammelt, um einen Verein, die Antisemiten-Liga, zu gründen. Erlauben Sie mir einen kurzen Rückblick. Der glorreiche Sieg über Frankreich bildete die Geburtsstunde für das Wiedererwachen des deutschen Volkes, für die Gründung des Deutschen Reiches. Unser Volk stand vor einer neuen Epoche, seine ungeheure Schaffenskraft, die so lange durch äußere Mächte gehemmt und unterdrückt gewesen war, versprach eine leuchtende Zukunft. Deutschland setzte an, seinen Platz an der Sonne zu erobern. Es gab – und gibt – jedoch einen geheimnisvollen, aber mächtigen Feind des neuen Reiches, den Feind im Inneren. Er zeigte sich 1873 bei dem großen Börsenkrach, der in unsere gegenwärtige, das deutsche Volk lähmende Wirtschaftskrise mündete. Es waren jüdische Bankiers und Finanziers, die aus Raffgier den Börsenkrach herbeiführten. Ehrbare deutsche Fabrikanten und Handwerker wurden von blutsaugenden, jüdischen Finanzkapitalisten in den Ruin getrieben. Einige Wenige haben damals die wahren Ursachen erkannt. Der Journalist Otto Glagow veröffentlichte bereits 1874 in der Zeitschrift Gartenlaube einen Artikel, in dem er den Nachweis erbrachte, dass es das verjudete Finanzkapital war, welches den Börsenkrach verursachte. Der Widerstand formierte sich langsam, aber stetig, als immer weitere Teile des deutschen Volkes die Gefahr durch die Verjudung erkannten. Wohlgemerkt, hier geht es nicht um den jüdischen Ritus, einen Glauben, sondern es geht um eine Rasse, ein orientalisches Volk.« Der Redner hielt kurz inne und musterte seine Zuhörer, die schweigend anhörten, was ihnen längst bekannt war. »Die Reden und Aktivitäten des Hofpredigers Stoecker sind bekannt. Es gibt immer mehr deutsche Männer, die ihre Stimme erheben. Unter uns ist heute Herr Studienrat Doktor Ernst Henrici, der gleich einige Worte an uns richten wird. Herr Journalist Wilhelm Marr wird über sein Buch und weitere Projekte berichten. Die Idee mit der Antisemiten-Liga kam uns bei unserem letzten Treffen in Berlin. Die Zeit ist reif dafür. Die Zeit wird kommen, in der das deutsche Volk erkennen wird, dass alles Jüdische aus der Volksgemeinschaft eliminiert werden muss. Zuerst bitte ich Herrn Professor Doktor Eduard Topitz um eine kurze Erläuterung des aktuellen, sogenannten Antisemitismusstreits in Berlin.«

Der Angesprochene sortierte einige vor ihm liegende Papiere, räusperte sich vernehmlich und begann zu dozieren, ohne seine Zuhörer auch nur eines Blickes zu würdigen: »Der geschätzte Kollege Herr Prof. Doktor Heinrich von Treitschke veröffentlichte jüngst in der Zeitschrift Preußische Jahrbücher einen Artikel über Deutschlands Aussichten, in dem er die Gefahren durch die Juden nachdrücklich erläuterte. Die Bestrebungen der Gleichberechtigung quittieren die Juden mit Undank und Egoismus, nur zum Schein die Sitten und Gebräuche des deutschen Volkes angenommen. Die natürliche Reaktion des germanischen Volkes auf das fremde Element hat folgerichtig die Judenfrage in der Öffentlichkeit aufgeworfen. Über unsere Ostgrenze dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen osteuropäischen Wiege eine Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen; die Einwanderungsrate nimmt drastisch zu. Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf. Unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmutes mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: Die Juden sind unser Unglück! Natürlich wurde der Artikel von der liberalen, von Juden beherrschten Presse scharf angegriffen.« Der Redner erging sich in Wiederholungen, keiner der Anwesenden hörte mehr wirklich zu. Von Schossin nickte pflichtbewusst, als Professor Topitz endlich ein Ende fand.

Der Gastgeber forderte Wilhelm Marr auf, das Wort an die Runde zu richten: »Meine Herren! Mit meinem Buch, das mittlerweile bereits einige Auflagen erfahren hat, habe ich den Sieg des Judentums über das Germanentum vorausgesagt. Es sollte wachrütteln. Wir wählen die Fremdherrschaften in die Parlamente, wir machen sie zu Gesetzgebern und Richtern, zu Diktatoren der Staatsfinanzsysteme, wir haben ihnen die Presse überantwortet. Der Sieg ist aber nicht gottgewollt. Es gilt, alle Bekenntnisse, alle Parteien, alle Verbände zu einer gemeinsamen, engen Verbindung zu bringen, die nach einem Ziele streben wird! Nach dem Ziele, das deutsche Vaterland vor der vollständigen Verjudung zu bewahren. Wir hassen nicht den Glauben der Juden, wie sie uns vorwerfen, sondern die hässlichen Besonderheiten dieser Asiaten, die nicht mit der Taufe abgelegt werden können: Ihre Schamlosigkeit und Arroganz, ihre Unanständigkeit und Frivolität, ihr vorlautes Wesen und ihre schlechte Grundeigenschaft. Mein neues Buch Der Weg zum Siege des Germanenthums über das Judenthum erscheint im kommenden Jahr.«

Ohne Aufforderung stand Ernst Henrici auf und sah eindringlich in die Runde. Mit seinen leuchtenden Augen, der aufgetürmten Haarpracht, seinem wilden, ungepflegten Bart und seinen ausladenden Gesten sah der junge Lehrer wie der geborene Agitator aus. »Meine Herren! Meine Vorredner haben die Lage beschrieben, jetzt gilt es zu handeln. Einen Verein gründen, gut. Aber das ist unzureichend. Wir müssen das Volk erreichen. Ich werde demnächst in Grevesmühlen eine Kundgebung halten, zeigen auch Sie in den Dörfern und Städten unseres Reiches Präsenz. Außerdem habe ich mit weiteren Aufgeweckten aus Berlin eine Antisemitenpetition entworfen, die wir im kommenden Jahr zur allgemeinen Unterschrift im Deutschen Reich verteilen. Darin fordern wir die Entfernung von Juden aus dem Staatsdienst und dem Heer, ein Verbot der Anstellung jüdischer Lehrer an Volksschulen, nur in Ausnahmen ihre Zulassung an höheren Schulen und Hochschulen, die Wiederaufnahme der amtlichen Statistik über die jüdische Bevölkerung und die Einschränkung der Einwanderung von Juden aus Österreich-Ungarn und Russland.«

Nach weiteren Reden und Wortmeldungen rief von Schossin die Versammlung zur Gründung der Antisemiten-Liga auf, die ohne Weiteres vollzogen wurde. Zum Vorsitzenden wählten die Anwesenden auf Vorschlag des Gastgebers den Redakteur Kiehn.

Als die Versammelten sich verabschiedeten, blieben einige Herren zurück, die im kleinen Salon Platz nahmen. Neben dem Hausherrn waren es Staatsanwalt Rohdantz, Lehrer Henrici und Hauptpastor Zimmermann, die es sich um einen kleinen, runden Kaffeetisch gemütlich machten. Von Schossin sagte: »Meine Herren, ich habe mit Ihnen in Einzelgesprächen über mögliche Maßnahmen gesprochen, die über das hinaus gehen, was wir mit unserer Antisemiten-Liga vorhaben. Die Liga ist gut und notwendig, aber sie reicht nicht aus. Die Juden verfolgen ihr Ziel im Verborgenen, wir tun es ihnen nach. Es ist Zeit, denke ich, dass wir uns gemeinsam treffen, um gewisse Ziele zu erörtern. Als Zeichen unserer Verbundenheit und Entschlossenheit habe ich einen Talisman erstellen lassen.« Schossin hielt einen kleinen, metallischen Gegenstand in die Höhe, er ähnelte einem Kreuz, dessen kurze Arme leicht nach oben gebogen waren. Es verjüngte sich zur Spitze hin, fast wie ein Dolch. »Dies soll unsere Waffe sein«, in seinen Augen blitzte Freude auf. »Unsere Waffe gegen das Judentum. Ich nenne es: das Judaskreuz.«

4 Mord am Denkmal

Mölln, Mittwoch, d. 22. Oktober 1879

»Advokat, Advokat!«, Die hohen Knabenstimmen trillerten über das Kopfsteinpflaster des Möllner Marktplatzes. Ein hagerer, hochgewachsener Mann, besonders jung wirkte er nicht, eingehüllt in einem abgenutzten Mantel, drehte sich langsam um, als er jäh von einem Schlammball ins Gesicht getroffen wurde. Der schwarze Matsch klebte an seiner hohen Stirn und tropfte über seine Nase zu Boden. Die Übeltäter rannten lachend und johlend davon. Der Angegriffene holte ein löchriges, aber sauberes Taschentuch aus seinem Rock und wischte sich den Schlamm aus dem Gesicht. Er verzog dabei keine Miene. Die Marktfrau, an dessen Stand er gerade ein paar Möhren hatte erstehen wollen, schien die Szene genossen zu haben; als er sie ansah, um seine Bestellung aufzugeben, schaute sie schnell weg.

Mit seinem mageren Einkauf nahm Advokat Friedrich Sprewitz, der frühmorgendlichen Herbstfrische zum Trotz, Platz an einem der Außentische der Gastwirtschaft Mylius, die sich zum Marktplatz hin öffnete. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, an Markttagen einen Außentisch zu besetzen und ein braunes Bier zu trinken. Dieser Stammplatz hatte sich zum zweiten Standort seiner Kanzlei entwickelt, denn es kam zuweilen vor, dass Marktbesucher, gerade diejenigen, die über wenig finanzielle Mittel verfügten, ihn um einen Rat baten oder ihm mit dem Verfassen einer Petition oder eines anderes Schreibens an die Behörden beauftragten – gegen ein geringes Honorar selbstverständlich. Seine Kanzlei warf nicht viel ab, aber es genügte dem Advokaten. Was in der Stadt über seine Person erzählt wurde, zumeist wenig Schmeichelhaftes, kümmerte ihn nicht. Er lebte für sich, er genügte sich selbst.

Sprewitz nahm gerade einen Schluck Bier, als ein Mann, seinem Habitus nach zu urteilen ein Landmann, der wegen des Markttages in der Stadt unterwegs war, ihn ansprach: »Herr Advokat, ich habe ein Schreiben vom Gericht erhalten, das ich nicht verstehe. Man sagte mir«, er machte eine ausladende Handbewegung, die den Markplatz und die anwesenden Händler einschloss, »das Sie sich mit solchen Dingen auskennen … was muss ich für einen Ratschlag berappen?«

»Setzen Sie sich, guter Mann«, antwortete Sprewitz trocken. »Für unser kleines Gespräch geben Sie uns einen Branntwein aus. Um mehr sagen zu können, muss ich mir das Schreiben erst einmal ansehen.« Der Bauer nickte erleichtert, ließ sich in einem der Stühle nieder und überreichte dem Advokaten ein Dokument, das durch die offenbar längere Reise in die Stadt deutlich gelitten hatte. Sprewitz bestellte zwei Gläser Branntwein und überflog das Dokument. Es war ein Schreiben des Möllner Amtsgerichts an den Kätner Carl Otto Lübcke aus Lehmrade. Nach einigen kräftigen Schlucken Branntwein sagte Sprewitz: »Es geht um eine Erbschaftssache mit der Interessentenschaft Lehmrade. Sie haben von Ihrem Onkel eine Bauernstelle geerbt. Die Rechte und Pflichten der Bauernstelle gegenüber der Interessentenschaft müssen neu geregelt werden. Es geht vor allem um den Grundbesitz. Sie wissen, Interessentenschaften sind uralte, bäuerliche Einrichtungen, die die gemeinsame Nutzung von Ackerflächen, Wiesen und Waldstücken betreffen. Früher hätten Sie das wahrscheinlich unter sich regeln können. Heute muss so etwas im Grundbuch des Amtsgerichts festgehalten werden. Ich kann in Ihrem Namen einen Schriftsatz für das Gericht aufsetzen. Ich denke, die Sache lässt sich schnell regeln.«

Der Bauer nickte: »Was kostet es?«

Sprewitz überlegte kurz: »Den Vorschuss haben Sie mit dem Branntwein geleistet. Wenn wir die Sache mit einem Schreiben regeln können, kostet das vier Mark. Hinzu kommt die Stempelsteuer seitens des Gerichts natürlich.«

»Das geht. Wann kann ich das Schreiben abholen?«

»Nächste Woche am Markttag«, erwiderte Sprewitz. Als sich der Bauer verabschiedet hatte, steckte Sprewitz das Dokument in eine abgewetzte Mappe und holte einen Stoß Papiere und eine Schreibfeder heraus. Scheinbar gedankenversunken nippte er an seinem Bier und ließ seinen Blick über den Marktplatz schweifen. Die Schreibfeder rührte er nicht an.

Von seinem Platz aus hatte er gute Sicht auf die Nikolaikirche, einen gotischen Bau, der sich auf einer Anhöhe oberhalb des Marktplatzes befand. Er kannte die Kirche, den unebenen, etwas oberhalb der Zugängergassen gelegenen Marktplatz und das gegenüberliegende Rathaus – ebenfalls ein gotischer Bau – sehr gut. Er war in Mölln aufgewachsen, sein Vater war Stadtsekretär des Möllner Rates gewesen. Die Familie hatte ihm ein Jurastudium in Rostock ermöglicht und ihm so den Weg in eine vielversprechende, erfolgreiche Zukunft geebnet. 1847 hatte er eine Kanzlei in der Schifferstadt Lauenburg gegründet, die sich als Wirtschaftsstandort gerade im Aufschwung befand. Doch dann kam das Jahr der Revolution, die sein Leben in ungeahnte Bahnen lenkte – Aufstieg und Niedergang, Glück und Trauer, Liebe und Verlust, all das innerhalb kürzester Zeit. Er zog wieder nach Mölln, erbte bald darauf das väterliche Haus in der Seestraße, das er jedoch verkaufte, da es ihm zu groß erschien, ganz für sich allein. Er behielt sich jedoch die Option vor, das obere Stockwerk als Wohnung und Kanzlei auf Lebzeiten bewohnen zu dürfen, und richtete sich schließlich dort ein. Ein Winkeladvokat in einer winkligen Wohnung. Über die Vergangenheit dachte Sprewitz selten nach. Damit hatte er abgeschlossen. An eine Zukunft dachte er wiederum auch nicht. Blieb also nur die Gegenwart. Er ergriff die Feder und setzte an, etwas zu schreiben, vielleicht, sich etwas zu erschreiben. Doch ließ man Vergangenheit und Zukunft außen vor, wurden die Themen rar. Sollte er einfach das beschreiben, was er vor sich sah, was ihn umgab? Die nackte, simple Gegenwart? Er schaute wieder auf das Marktgeschehen. Ein Schauspiel über einen Markttag in Deutschland? Dieser Tag bot sich sogar an, der Platz war außerordentlich belebt. Die Bauern aus der Umgebung hatten offenbar eine gute Ernte gehabt. Die Marktfrauen verhandelten lebhaft mit den Käuferinnen – ja, es waren die Frauen, die den Markt beherrschten. Am Rande des Marktes zur Kirchenmauer hin und neben dem Spritzenhaus zeigten einige Trödler ihre Ware, Kinder liefen lärmend zwischen den Verkaufsständen hindurch. Nahe dem alten Richtplatz mit dem noch sichtbaren Pranger bot eine Bäuerin junge Ziegen feil. Die kleinen Tiere schauten unglücklich drein und meckerten laut. Einige Hunde schwänzelten vor den Ständen umher, die Schnauzen am Boden auf der Suche nach etwas Essbarem. Ja, dachte Sprewitz, man, oder Hund, konnte nie wissen, ob irgendwo ein Häppchen herumlag. Einer von vielen, ganz gewöhnlichen Markttagen, wie es sie überall im Deutschen Reich gab. Menschen, die schwatzten, lachten und ihren alltäglichen Geschäften nachgingen. Und er selbst? Er saß müßig am Rande des Geschehens, und keiner konnte mit ihm etwas anfangen, er selbst am allerwenigsten. Sprewitz legte die Schreibfeder nieder, mit einem leichten Schwung aus dem Handgelenk, ohne sie eingesetzt zu haben. Seine Bewegung hatte fast etwas Rituelles, als wäre sie Teil einer kleinen, privaten Zeremonie, die auch zu einem Harlekin gepasst hätte. Ein müdes Lächeln überflog seine fein geschwungenen Lippen. Obwohl er auf den ersten Blick eher ungepflegt aussah, konnte ein Beobachter – eine Beobachterin? – bei genauerem Hinsehen ein glattrasiertes und ebenmäßiges Gesicht erkennen. Seine dunklen Augen schauten unter buschigen Brauen hervor, auf eine Welt, die ihm fremd geworden zu sein schien; sein Haupthaar war noch voll, wenn auch mit vielen grauen Strähnen durchsetzt. Seine Kleidung war sichtlich getragen, aber auch erkennbar sauber.

Etwas drang durch den Schleier seiner Tagträumerei, und der Advokat sah sich aufmerksam um. Wie kleine Wellen, die von einem Stein ausgingen, den man in einen Teich hineinwarf, breitete sich eine Bewegung in der Menge aus. Köpfe wurden zusammengesteckt, aufgeregte Worte gewechselt. Die Nachricht, welcher Art auch immer sie sein mochte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer, die Menschen schauten sich mit Entsetzen oder vielleicht auch nur Neugier an. Sprewitz schnappte einige Worte auf, die ihn neugierig machten: »Leiche … Denkmal … Mord.« Über den Marktplatz humpelte eine armselig aussehende Gestalt, die offenbar den Stein geworfen hatte, es war der stadtbekannte Bettler Mücke, den jeder nur unter diesem Namen kannte. Der Advokat spendierte ihm einen Branntwein, und nachdem Mücke sein Glas eilig geleert hatte, erzählte er Sprewitz, was er Ungeheuerliches in Erfahrung gebracht hatte. Am Morgen hatte man die Leiche eines Mannes am Sockel des Denkmals auf dem Bauhof gefunden. Der Tote hatte einen Dolch im Rücken, es handelte sich also offenbar um Mord. Auch den Namen hatte Mücke parat: Hermann Goldschmidt. Den Namen kannte Sprewitz, er gehörte einem wohlhabenden Hamburger, der eine Villa auf den Dämmen als Zweitwohnsitz erbaut hatte.

Sprewitz verließ die Gastwirtschaft und ging an der aufgeregten Menge vorbei die Marktstraße in Richtung Hauptstraße hinunter. An der Ecke Grubenstraße trat er in die Bäckerei Mahnke ein. Der Laden war voll, wie an Markttagen üblich, und es gab wie erwartet nur ein Gesprächsthema: Den Mord am Denkmal. Die Frauen tauschten aufgeregt tuschelnd Gerüchte aus.

»Auf dem Bauch lag er, mit einem Messer im Rücken.«

»Dolch, nicht Messer.«

»Wie sieht so ein Dolch aus?«

»Es soll kaum Blut gegeben haben …«

»Für die Ehefrau eine schlimme Geschichte.«

»Er soll für das Denkmal viel Geld gestiftet haben.«

»Ich habe mich immer gewundert, was der Hamburger hier bei uns macht.«

Eine untersetzte, vornehm gekleidete Dame mittleren Alters äußerte die Vermutung, dass die Sozialdemokraten dahintersteckten. Sie wären Gegner des neuen Denkmals, ja Gegner des neuen Deutschen Reiches, behauptete sie. Eine andere Frau erinnerte an das Attentat auf den Kaiser. Als er endlich an der Reihe war, kaufte Sprewitz ein Schwarzbrot, verließ die Bäckerei, ging die Grubenstraße hinunter und bog dort in die Seestraße ab, wo er bald ein Haus erreichte, vor dem er für einen kurzen Moment stehen blieb. Er bewohnte das obere Stockwerk, drei kleine Zimmer mit schrägen Wänden. Der Abort befand sich hinten im Garten, der sich bis zum Stadtsee erstreckte. Im Erdgeschoss hatte der Besitzer, ein Fischer, seinen Laden eingerichtet, darüber seine Wohnstuben. Sprewitz betrat das Haus, ging die hölzerne Treppe hinauf, öffnete seine Wohnungstür und setzte sich an einen massiven Holztisch. Aus seiner Mappe holte er das Dokument des Lehmrader Bauern. ›Meine Aufgabe für morgen‹, dachte er, als sein Blick auf die unbeschriebenen Blätter fiel; ›meine Aufgabe für, ja‹ – wann?

Am Abend des Markttages ging eine junge Frau, sie konnte etwa zwanzig Jahre alt sein, denselben Weg von der Grubenstraße zur Wohnung des Advokaten in der Seestraße. Sie trug unter einem anthrazitfarbenen Mantel ein grau-schwarz gestreiftes, bis fast zu den Knöcheln reichendes Kleid und ein rotes Halstuch, ihre blonden Haare hatte sie hochgesteckt und unter einer kleinen, schwarzen Kapuze versteckt, an ihren Füßen trug sie Holzpantoffeln, die rhythmisch auf dem Kopfsteinpflaster klapperten. Bald stand sie vor dem Haus und gleich darauf vor der Wohnungstür des Advokaten. Sie klopfte. Eine hohe, und doch männliche Stimme antwortete: »Introite!« Sie wusste zwar nicht, was das Wort bedeutete, fasste es dennoch als Aufforderung zum Eintritt auf. Im schummrigen Licht einer Gaslaterne, die neben einer Branntweinflasche auf dem Tisch stand, erblickte sie den Advokaten, der von einem Buch aufschaute, in das er offenbar gerade vertieft gewesen war. Sie sagte mit brüchiger Stimme: »Guten Abend, Herr Advokat.«

Der Angesprochene schaute das Mädchen zunächst etwas verwundert an. »Ich kenne dich, du bist die Tochter des Schriftsetzers Ole Svensson. Du heißt Hedda, nicht wahr?« Er erhob sich von seinem Stuhl und ging auf sie zu. »Was ist los? Du siehst bestürzt aus.«

»Ich brauche Ihre Hilfe, Herr Advokat.«

»Setz dich, im Sitzen lässt es sich besser reden.«

»Sie haben meinen Vater verhaftet … wegen des Mordes an Hermann Goldschmidt«, brachte das Mädchen mühsam hervor. Sprewitz schenkte etwas Branntwein in ein kleines Glas, forderte sie zum Trinken auf und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Stockend erzählte Hedda die ganze Geschichte. Sie war bei der Arbeit gewesen, Backwaren ausliefern für die Bäckerei Mahnke. Als sie nach Hause gekommen war, fehlte von ihrem Vater jede Spur. Auf seiner Arbeitsstelle, der Druckerei der Möllner Zeitung, sagte man ihr, ihr Vater wäre verhaftet worden. Weswegen, das wusste man nicht. Sie war zur Arrestzelle am Bauhof gelaufen und dort hatte sie ihren Vater gefunden: hinter Gittern, in einer Arrestzelle. Er habe ihr versichert, dass er mit dem Mord nichts zu tun hatte, nicht einmal etwas davon gewusst habe er, bis sie ihn auf der Arbeitsstelle abgeholt hatten. »Reinste Klassenjustiz!« waren seine letzten Worte gewesen. Sprewitz ließ das Mädchen noch einen Schluck Branntwein trinken und überlegte indes. Ole Svensson kannte er natürlich, ein Schriftsetzer und Sozialdemokrat, ja, der Wortführer der Sozialdemokraten in der Region. Er hatte ein aufbrausendes Temperament und ließ sich gerne in Streitereien verwickeln. Dass er ein Gegner des pompösen Heldendenkmals war, das zu Ehren der Gefallenen des Krieges und zur Erinnerung an den Sieg gegen den Erzfeind Frankreich in Mölln errichtet werden sollte, war allgemein bekannt. Als führender Sozialdemokrat stand Svensson ohnehin unter Beobachtung. Das Sozialistengesetz hatte die Stimmung im Land verändert, Misstrauen und Verunsicherung hatten sich breitgemacht. Sprewitz konnte sich aber nicht vorstellen, dass Svensson den Kaufmann umgebracht hatte. Was sollte er für einen Grund gehabt haben? Er schaute das Mädchen wieder an, in ihrem Blick lag etwas Bittendes, sie war sichtlich verzweifelt. Abrupt stand der Advokat auf und sagte barsch: »Ich glaube nicht, dass ich der Richtige für so eine Aufgabe bin. Du brauchst einen erfahrenen Anwalt, der sich zudem mit der neuen Strafprozessordnung auskennt. Ich kümmere mich seit Jahren nur um kleine Angelegenheiten.« Natürlich hatte sie ihn auch aus monetären Gründen aufgesucht, dachte Sprewitz mit einem Anflug von Bitterkeit. Einen ordentlichen Anwalt konnte sich ihr Vater nicht leisten.

Hedda Svensson zuckte kurz zusammen, sammelte sich dann jedoch rasch wieder und sagte, nun mit festerer Stimme: »Vater sagte mir, dass Sie auf der richtigen Seite standen, Herr Advokat. Damals, 1848 …«

»Wenn es nur so einfach zu wissen wäre, welche Seite die richtige ist«, erwiderte Sprewitz nüchtern.

Das Mädchen sah sich in der Stube um, nie zuvor hatte sie so viele Bücher und Druckschriften an einem Ort gesehen. Ihr Vater hatte zwar auch viele Pamphlete und Flugblätter in seiner Stube, ausschließlich sozialdemokratischer Inhalt, aber nicht annähernd so viele wie dieser merkwürdige Advokat. Unverhohlen tat sie ihre Verblüffung kund: »Sie haben aber viele Bücher!«

»Seitdem ich die Menschen kenne, liebe ich die Bücher«, erwiderte der Advokat. Dann fragte er spitz: »Kannst du überhaupt lesen?« Die Augen des Mädchens blitzten auf, ihre Lippen spannten sich und sie griff nach einem Pamphlet im Quart-Format, das zuoberst auf einem Bücherstapel neben dem Tisch lag. Sie funkelte den Advokaten an. Sprewitz streckte seine Hand instinktiv nach dem Heft aus, hielt jedoch inne, als er die Entschlossenheit und das Feuer in den Augen des Mädchens erblickte. Er schwieg. Sie schaute sich das Titelblatt an: Die Frau und die Revolution – Ein Manifest von Recha Mendelssohn, Hamburg 1848, dann schlug sie das Heft auf und begann vorzulesen, zunächst schnell, dann immer stockender:

»Die Geschichte aller Zeiten, und die heutige ganz besonders, lehrt: dass diejenigen auch vergessen werden, welche an sich selbst zu denken vergaßen! Sapere aude! Wir Frauen werden uns von unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien. Mitten in den großen Umwälzungen, in denen wir uns alle befinden, werden sich die Frauen vergessen sehen, wenn sie selbst an sich zu denken vergessen! Wohlauf denn vereinigt Euch mit mir, wir haben nichts zu verlieren als unsere Ketten. Wir wollen auch unser Recht fordern und verdienen an der großen Umwälzung, welche die ganze Menschheit, deren eine Hälfte wir sind, endlich erfahren muss. Wir wollen unseren Teil fordern: das Recht, das Menschliche in uns in freier Entwicklung aller unserer Kräfte auszubilden, und das Recht der Mündigkeit und Selbständigkeit im Staat. Wir fordern eine neue Gesellschaft, in der