Das Leben im Grabe - Stratis Myrivilis - E-Book

Das Leben im Grabe E-Book

Stratis Myrivilis

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Beschreibung

Das Leben im Grabe erschien zum ersten Mal 1924 auf Lesbos und gehört zum Kanon der neugriechischen Literatur. Bereits im Titel, der sich auf einen populären Psalm aus der Orthodoxen Karfreitagsmesse bezieht, deutet sich die Programmatik des Romans an: Die 57 Kapitel – ›Manuskripte‹ bzw. ›Briefe‹ des Feldwebels Antonis Kostoulas an seine Frau auf Lesbos, die von einem fiktiven ›Herausgeber‹ präsentiert werden, beschreiben das monotone Leben und die Brutalität der Kämpfe in den Schützengraben des Ersten Weltkrieges und Patriotismus und stellen zugleich die nationalen Mythen sarkastisch infrage; lyrische Erinnerungen an das Leben auf der nordägäischen Insel fungieren als Intermezzi, aber auch als Kontrast, um die Grausamkeit der Schlacht noch plastischer zu schildern. Dass man von Anfang an weiß, die Tagebuchseiten werden die geliebte Frau, für die sie aufgezeichnet wurden, nie erreichen, stärkt die dramatische Ironie. Der Roman, der in einer Reihe mit den antimilitaristischen Werken von Barbusse und Remarque steht, wurde durch die faschistische Diktatur 1936 sowie während der deutschen Besatzung Griechenlands auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Mittlerweile ist er zum Klassiker geworden und wurde in zahlreichen Sprachen übersetzt.

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Seitenzahl: 563

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Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG von Niki Lykourgou: Zur Entstehungsgeschichte des Romans

DAS LEBEN IM GRABE

Anstelle eines Prologs

Ein Ende, das ein Anfang ist

Wenn die purpurgeborenen Toten sterben

Balafaras

Die Schiffe

Thessaloniki

Marschieren

Die Blinden

Konstantinos Palaiologos

Der Mohnblumenhügel

M’chajilus

Die Gespensterstadt

Polyphems Auge

Kadaver

Beim Graben

Die Tiere

Im Wald

Das Stundenglas

Die Asketen der Lust

Die Schlingpflanze des Krieges

Todesmüdigkeit

Zwölftausend Seelen

Artilleriegefecht

Aus der Tiefe

Barba-Stylianos, der Jäger

Mondschein im Graben

Die geheime Mohnblume

Jakop

Balafaras in der Kampflinie

Drei Nächte

Das Lied des Lebens

im Haus der Güte

Das Urteil des Herrn

Zavali majko

Ein Brief von der Insel

Sehnsucht nach der Ägäis

Von Angesicht zu Angesicht

Kriegsgericht

Die drei Verurteilten

Der »Hellene«

Herbstregen

Assimakis Garoufalis, der »hübsche Bursche«

Wie Zafiriou starb

Die Parade

Die Mütter des Krieges

Im Schlamm

Eine Stimme ist verstummt

Zwei Helden

Opfer an die Sonne

»Coup de main«

Die Deserteure

Aliberis verlernt die Furcht vor Granaten

Der Meister

Gas

Bis Viertel nach zwei – I

Bis Viertel nach zwei – II

Bis Viertel nach zwei – III

NACHWORT des Übersetzers

ANMERKUNGEN

Stratis Myrivilis

Das Leben im Grabe

Das Buch vom Krieg

Roman

Übersetzung aus dem Griechischen von Ulf-Dieter Klemm

Mit einer Einleitung von Niki Lykourgou

und einem Nachwort des Übersetzers

Originaltitel: Η ζωή εν τάφω (1955) Hestia-Verlag, Athen

Aus dem Griechischen übersetzt von Ulf-Dieter Klemm

Überarbeitete Übersetzung des 1986 im Romiosini-Verlag, Köln, erschienenen Textes

Übersetzung der Einleitung: Lulu Bail

Anmerkungen: Kostas Kosmas

© 2016 Edition Romiosini/CeMoG, Freie Universität Berlin.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

Vertrieb und Gesamtherstellung: Epubli (www.epubli.de)

Satz und E-Book-Umsetzung: Nikos Kaissas, Kostas Kosmas, Bart Soethaert

Gesetzt aus Minion Pro

Umschlaggestaltung: Freie Universität Berlin, Center für Digitale Systeme

E-Book ISBN 978-3-946142-12-6

Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978-3-946142-07-2

Made in Germany

Online-Bibliothek der Edition Romiosini:

www.edition-romiosini.de

Stratis Myrivilis

(eigentlicher Name: Efstratios Stamatopoulos) wurde 1892 auf Lesbos geboren. Schon ab 1909 veröffentlichte er kleinere literarische Texte; 1912 wurde er an der Universität Athen immatrikuliert, doch durch den andauernden Kriegszustand konnte er sein Philologie- und Jurastudium nicht abschließen. Als er 1923 auf die Insel zurückkehrte, gründete er die Wochenzeitung »Kampana«, wo er in mehreren Folgen seinen Roman Das Leben im Grabe veröffentlichte; der Text wurde weiterhin von ihm überarbeitet bis zur siebten, endgültigen Fassung von 1955 und wurde in dreizehn Sprachen übersetzt. Myrivilis starb 1969 in Athen.

INHALT

Einleitung von Niki Lykourgou

Das Leben im Grabe

Nachwort des Übersetzers

Anmerkungen

DAS LEBEN IM GRABE:Zur Entstehungsgeschichtedes Romans

Meiner Frau

ANSTELLE EINES PROLOGS

Ich durchstöberte heute die graue, kleine Feldkiste auf der Suche nach einer offiziellen Urkunde meines Wehrdienstes, die ich nach so langen Jahren einmal brauchte. Es ist ein fester deutscher Militärkoffer, ein Jahre altes Ding, in den ich einen Haufen Erinnerungsstücke aus dem Krieg geworfen hatte. Als ich das verrostete Schloss öffnete, knarrte der Deckel, als bräche ich einen alten, vergessenen Reliquienschrein auf. Drinnen war ein bronzener Halbmond, der auf einen schwarz angelaufenen Stern biss, abgebrochen vom Schaft einer türkischen Fahne. Weiterhin lagen da mein Säbel, mein Stahlhelm, eine deutsche Gasmaske wie eine Schweineschnauze, mein Entlassungsschein mit den verblichenen Buchstaben der Schreibmaschine, eine lederne Schreibmappe, einige Fotografien, zwei, drei Handgranaten und eine Menge anderer Kleinkram. Dann lag auch noch ein dickes Paket aus Packpapier darin, mit Bindfaden kreuzweise verschnürt, von dem ich vergessen hatte, was es enthielt. Ich schnitt die Knoten auf, und mit einem traurigen Rauschen glitten ein Haufen Hefte und Bögen von verschiedenstem Papier heraus, die alle dicht beschrieben waren mit einer flüssigen und sehr engen Schrift. Da erinnerte ich mich, und ich las auf dem Packpapier meine alte, halbverlöschte Notiz mit dem Kopierstift:

Die Aufzeichnungen des Feldwebels Antonis Kostoulas.

All diese Papiere nahm ich heraus und ließ den Deckel der länglichen Kiste wieder zurückfallen. Wahrhaftig, ein richtiger Totenschrein war diese Truhe, und die vergilbten alten Papiere, die die Schnur an den Seiten gezeichnet hatte, ein armer Leichnam. Ein Leichnam, der zu sprechen drängte. Ich breitete die Papiere auf meinem Schreibtisch aus und als ich sie der Reihe nach las, entsprechend ihrer Nummerierung, fand mich allmählich, ohne es zu merken, um Jahre zurückversetzt.

Diese Hefte aus billigem Papier mit den gedrängt mit Bleistift beschriebenen Seiten hatte ich nach der fürchterlichen Schlacht an der Höhe 908 in einem Tornister vom vierten Regiment der Inseldivision gefunden. Zu jener Zeit war ich noch Unteroffizier, und wir sortierten gerade die Habseligkeiten der Lebenden, der Verwundeten und der Toten. Diese Hefte steckten im Tornister des Antonis Kostoulas, eines freiwilligen Feldwebels, Zugführer des dritten Zuges der siebten Kompanie. Ich erinnerte mich so lebhaft und genau an jenen hochgewachsenen Studenten mit dem schmalen Gesicht, dunklen Teint und buschigen Haar! Er war ein echter Mann, aber reserviert und wohlerzogen wie ein Mädchen.

Er ist aus Versehen in den bulgarischen Schützengräben verbrannt, die wir gestürmt hatten, als das Säuberungskommando, Seitengewehre in der Faust, zusammen mit dem Flammenwerfer-Trupp die letzten Feinde vernichtete, die sich aus Angst oder Verwegenheit noch in den Unterständen der überrannten Frontlinie verborgen hielten. Ein Franzose, Korporal und Spezialist für das flüssige Feuer, verbrannte ihn. Diesen Trupp hatte man an jenem furchtbaren und außergewöhnlichen Tag unserer Kompanie angehängt, weil wir Balkanvölker damals noch nicht über derartige westeuropäische »Spezialitäten« verfügten.

In einem Moment, als jener Franzose mit dem Rüssel seines Gerätes eine Zunge fließenden Feuers in einen bulgarischen Unterstand schickte, erhielt er von einem versteckten Bulgaren einen Messerstich in den Unterleib. Er zappelte wie ein Fisch. Bis er verendete, verschüttete er noch mit heraushängenden Gedärmen (der Mechanismus seines Gerätes arbeitete weiter), die Finger um das Mündungsrohr gekrallt, den feurigen Springbrunnen, wohin er traf. In jenem Moment sprang Feldwebel Kostoulas zufällig in den Graben und verbrannte. Wir fanden ihn mit vom Feuer zerfressenem Gesicht. Die ganze Vorderseite seines Kopfes war eine schwarzrote Wunde, aus der sich nur drei weiße Stellen abhoben. Die Reihe seiner Zähne, von den Kiefern fest aufeinander gepresst, völlig entblößt von Fleisch, und die Augäpfel, angeschwollen wie zwei elfenbeinerne Billardkugeln. Der rechte untere Eckzahn glänzte, von einer Goldkrone bedeckt.

Wir begruben ihn an derselben Stelle zusammen mit dem Franzosen und drei Bulgaren. Als ich viele Tage später dort vorbeikam, und die Erde unter meinen vorsichtigen Schritten nachgab, durchfuhr mich ein kalter Schauer. Aber es ging nicht anders, denn es war völlig unmöglich, sie woanders zu verscharren. Der Feind begann nämlich, die Befestigungslinie, die in unsere Hände gefallen war, tagelang mit Granaten umzupflügen, um uns daran zu hindern, sie zu »organisieren«.

Jene, die zufällig in den Gräben oder hinter den Verschanzungen gestorben waren, hatten sozusagen noch Glück. Denn die anderen, die im Freien fielen, vermoderten unbegraben draußen vor den Drahtverhauen, und jeden Augenblick rissen die Explosionen ihnen die Bäuche auf und ließen die Kadaver hochspringen. Danach kam der Regen und schlug tagelang in ihre schwarz gähnenden Münder und auf die starren Augen. Und die Granaten, die sich mit sinnloser Wut auf die armen Leichen stürzten, wälzten sich wie Schweine im Lehm, bespritzten sie erbärmlich, ließen sie manchmal durch die Erschütterung sich aufrichten, als seien sie für eine Weile zum Leben erwacht, ließen sie plötzlich mit den Gliedern zappeln, mit den Beinen ausschlagen und obszön die Schenkel öffnen.

Wie ein widerliches Rudel Mäuse umringen mich jetzt all diese Erinnerungen wieder, da ich hier sitze und mit Fingern und Augen die vergilbten, alten Blätter abtaste, die ich so lange Jahre ganz und gar vergessen hatte. Heute, da sie wieder ans Tageslicht gekommen sind, habe ich mich entschlossen, sie drucken zu lassen. Sie sind als eine Art Briefe an eine junge Frau geschrieben, deren Name nirgendwo erscheint. Wenn es sie gibt und sie lebt, mag sie mir diese Kühnheit verzeihen. Doch ich glaube, dass es fast eine Pflicht ist, der ich hier nachkomme. Denn in diesen Papieren wispert eine gequälte Seele, die Teil der Weltseele ist. Ich meine, dass diese Gespräche hier, die nicht das Glück hatten, die Frau zu erreichen, für die sie geschrieben wurden, irgendwie allen Frauen gehören, die der Krieg berührt hat, ja letztlich jedem menschlichen Wesen, das, vom Widersinn des Kriegs erfüllt, seine Hände bettelnd ausstreckt nach der allumfassenden Liebe.

Und außerdem (warum sollte ich den Aberglauben verbergen, der mich quält) habe ich das Gefühl, mit der Publikation dieser Papiere den getöteten Jüngling zum Leben zu erwecken, ihn an der Hand aus seinem unbezeichneten Grab zu ziehen, ihm seine Sprache und sein bisschen Geist wiederzugeben, der sich zusammen mit dem Gehirn zersetzt hat. Es ist keine leichte Sache, einen Toten in sich zu spüren, der zu sprechen sucht, und ihm mit der Hand den Mund zu verschließen. Er winkt und richtet aus dem Jenseits bittende Zeichen an das Herz. Er will sich ausdrücken. Mag mir dieses Buch verziehen sein, denn es ist mir eine persönliche Erlösung.

Stratis Myrivilis

Schlussbemerkung: Den Titel des Buches und die Überschriften der Kapitel habe ich gesetzt, um den Leser zu orientieren. Im Manuskript stehen nur die Zahlen, die die Hefte nummerieren. Aber welche Bedeutung haben diese Spitzfindigkeiten, die ich hier auseinander klaube …

Ein Ende, das ein Anfang ist

Endlich haben wir angehalten, Gott sei Dank. Wir sind im Schützengraben. Ein Ende. Und zugleich ein Beginn. Ende des qualvollen Lebens der endlosen Märsche, Beginn des neuen unbekannten Grabenlebens. Es gab Tage, an denen ich dachte, dass diese Lauferei ganz bestimmt nie mehr aufhört. Ich werde alt werden, dachte ich, und immer noch marschieren. Und wenn ich anhalte, wird es sein, um zu sterben. Von Einsamkeit erschöpft, habe ich mir überlegt, Dir ab und zu meine Eindrücke aus diesem neuen Leben zu schildern. Ich werde Dir – sofern mir Zeit und Mut bleiben – schreiben, einfach um mich mit Dir zu unterhalten. Es ist tröstlich zu wissen, dass ein vertrauter Mensch bei einem ist, wenn man die kritischsten Momente im Leben durchlebt. Jemand, der einen versteht, der mit einem kommuniziert. Er lauscht nachdenklich deinen Gedanken, auch wenn er sich noch gar nicht vorstellen kann, dass er sie hört. Du wirst es auch schon mal bemerkt haben. Man sitzt irgendwo mit dem geliebten Menschen. Man sitzt mit ihm in einer kleinen Stube, in der sonst niemand ist; nur ein paar gute Bücher, ein, zwei Bilder an den Wänden, eine Lampe, die mit klopfendem Herzen die Nacht erwartet, ein Tintenfass (wie wichtig das ist, ein Tintenfass) und die Stühle geduldig in einer Runde. Keiner von beiden spricht. Jeder gibt sich seinen Gedanken hin. Vielleicht denkt er auch bewusst an gar nichts. Das ist dann der wichtigste Augenblick, weil jetzt die Seele, frei wie die Schwalbe, aufsteigt und auf die unendliche Weltenseele trifft, brüderlich in ihr aufgeht und sich auflöst. Meistens hält die Seele allerdings Zwiesprache mit ihrem Schweigen. Jedoch hast Du gemerkt, wie notwendig einem der andere ist, der Auserwählte, der stumm neben einem sitzt oder ab und an einige Worte über alltägliche Dinge äußert, einige Worte, die nur die armselige Rechtfertigung seines Verstandes für das wohlklingende Schweigen sind. Jener andere sitzt ebenfalls schweigend da, ein völlig ahnungsloser Zuhörer deines stummen Selbstgesprächs. Sobald der andere aber Anstalten macht aufzustehen und wegzugehen – ist es vorbei, ist es dir völlig unmöglich, weiterhin schweigend in die Tiefen deines Ichs zu lauschen.

Nach einem solchen gemeinsamen Schweigen steht man manchmal auf und lächelt dem Freunde zu, mit dem gemeinsam man so lange nichts gesagt hat. Gleichzeitig aber spürt ihr beide, dass eure Seele stärker, freier und reifer ist. Weil ein Haufen Wahrheiten sie berührt haben, so leicht wie Schmetterlinge mit ihren Flügeln.

Etwas Ähnliches widerfährt mir, und ich möchte meine Gedanken an Dich richten. Ich stelle mir vor, dass Du hier irgendwo in der Nähe bist, auch wenn Du nicht sprichst. Und ich gebe mich dann ganz unschuldig meinem Selbstgespräch hin, das von Deiner Abwesenheit erfüllt ist.

Wenn der Krieg endlich vorbei ist, werden wir beide zusammen mal diese armseligen Seiten durchblättern. Die langen Winternächte werden schon angebrochen sein. Die Passanten werden hastig ihre Schritte auf das Steinpflaster klopfen. Wir werden sie nur hören und wissen, dass sie ihre Hände tief in die Manteltaschen gesteckt, den Hut bis zu den Augenbrauen herabgezogen und die Schultern in einem Buckel bis an die Ohren hochgezogen haben werden. Die grünen Fensterläden werden fest geschlossen sein, die Luft in der Stube wird nach reifen Früchten riechen, und ich werde faul im Sessel liegen vor dem riesigen kupfernen Holzkohlenbecken aus Konstantinopel. Ich werde die alte Pfeife stopfen und mit der Messingzange in der Glut stochern, die wie schwarzroter Samt ist. Und ich werde Dir zuschauen, wie Du am Nussbaumtisch unter dem Lichtkegel des grünen Lampenschirms mit Deiner tiefen und reinen Stimme diese Hefte vorliest. Ich werde ihre knabenhaften Töne hören, als hörte ich eine sprudelnde Wasserader, die nur für mich in den Tiefen der Erde fließt, nur für mich, und niemand wird mein geheimes Glück erahnen.

Wir werden dann verheiratet sein und unseren eigenen Hausstand haben. Wir werden zusammen die einfachen und festen Möbel aussuchen, damit wir sie mögen. (Du kannst Dir nicht vorstellen, Liebste, welch schlechte Gesellschaft einem Möbel leisten, die auf eine Art herumstehen, dass man sich mit ihnen nicht verständigen kann.) Du wirst auch diese Kladde mögen, die ich vollschreibe, indem ich immer an Dich denke.

In diesen besonderen Stunden, in denen mein Leben so nah dem Tod ist und meine Hände so weit entfernt sind von Deinen …

Erwarte nicht, aus den Feldpostkarten irgendetwas über meine tatsächliche Existenz zu erfahren. Briefe aus dem Graben zu schicken, ist nicht erlaubt. Nur diese blauen gedruckten Karten mit dem Evzonen drauf: »Postbezirk 906: Mir geht es gut. Ich grüße Dich.« Und auch die wandern erst an den tausend triefäugigen Brillen der Zensur vorbei, ehe sie Deine so geliebten Augen erreichen. Ich werde also nur auf diesen Blättern die wichtigen Augenblicke meines Lebens aufzeichnen, wie ich sie in meinem Innern und in der Außenwelt vorbeiziehen sehe. Daten und Ortsbezeichnungen schreibe ich nicht auf. Für uns gibt es so etwas nicht mehr. Hier sind alle Tage gleich in ihrer Hässlichkeit. Kein Merkmal hebt das Aussehen oder die Bedeutung eines Tages vom anderen ab. Eine endlose Litanei von Tagen und Nächten zieht mit schleppenden Schritten vorbei, alle unerträglich gleichförmig, alle gleich leer. Stell Dir ein Komboloi aus weißen und schwarzen Perlen vor, je eine weiß – eine schwarz, die langsam aufeinanderfolgen, ohne Ende und ohne Sinn. Welch ein Überdruss! Das gleiche mit den Ortsbezeichnungen. Fremdklingende Worte, Symbole, Buchstaben und Zahlen. Code-Zeichen, die Bedeutung nur auf den Generalstabskarten haben.

Aber in Deiner Nähe war es nicht so, ach, war es wahrhaftig nicht so. Dort hatte jeder Tag, jede Stunde, jeder Moment seine Individualität. Sie waren alle, alle so reich gefärbt, so warm erfüllt von Ausdruck und zappelndem Leben. Ich könnte selbst jetzt jede einzelne von ihnen mit ihrem Namen aufrufen anhand der jeweils bezeichnenden Ereignisse.

Die Morgenstunde, die rosenfarbige, wenn Du mit Deinem kleinen Schritt hinuntergingst zur Mädchenschule und die kleinen Schülerinnen mit frischen Veilchensträußen auf Dich warteten. Die weiße, lichterfüllte Mittagsstunde, wenn Du aus der Schule kamst, den kirschroten Sonnenschirm geöffnet wie eine exotische Blume, die einen rötlichen Schimmer auf Dein Gesicht warf. Ich wartete auf Dich, und wie lächelten Deine braunen Augen. Die goldene und blaue Abendstunde, wenn sich die Sonne neigte und ich ungeduldig darauf wartete, dass wir aufbrächen zum Kap Fykiotrypa, um den Sonnenuntergang nicht zu verpassen … Die Mittwochnachmittage, an denen Du die Kinder in das Pinienwäldchen brachtest und sie Hand in Hand wie verrückt um Dich herum wimmelten. Die Sonntage mit den Ausflügen, mit Marios großen Schilfrohrkörben und dem koketten Getue unserer lieben Tselika. Die Nächte mit den Bootsfahrten, mit Kleanthis und seiner Geige unterhalb der Fundamente des Kastells, die ihre Wurzeln tief ins dunkle Meer strecken. Die Samstagabende bei Apellis, wenn wir die Stühle an den Strand bis ins flache Wasser stellten. Ach, Apellis der Flüchtling, dieser Robinson, der sein winziges Häuschen und Kafenion mit eigenen Händen in die rauen Strandklippen gebaut hat. Und seine Frau, die ständig an ihm herumnörgelt und ihm jedes Jahr wieder ein Kind gebärt. Und die unzähligen Apellis-Kinder jeden Alters, jeder Größe, die uns mit fröhlichem Gekreisch empfingen:

»Vater, Vater, komm raus, Gäste sind da«!

»Vater, die Gäste gehen«!

An einem Tag trugst Du einen hübschen Hut, schwarz mit roter Krempe, und spaziertest mit Deinem kurzen eiligen Schritt so wie die Vögel, wenn sie versuchen auf der Erde zu gehen. Es war an Ostern, und überall war Auferstehung und Licht. Deine Augen lachten, und Du brachtest mir einen riesigen Strauß Flieder. Es war Sonntag, drei Uhr nachmittags, und Du brachtest mir Flieder. Unsere guten, unsere geliebten Stunden.

Hier ist alles gleich. Ermüdend, gleichförmig, still und furchtbar. Die Zeit ist stehengeblieben, die Erde dreht sich nicht mehr. Die Monate sind durcheinander geraten. Die Tage haben keine Namen mehr. Es gibt keine Feiertage mehr. Als gäbe es weder Tag noch Nacht.

Vom Gipfel dieses mazedonischen Berges, der aus glühendem Feuerstein besteht, betrachte ich noch einmal die Ereignisse, die mich hierher verschlagen haben, soweit entfernt von Lesbos. Eine Revolution! Im Herzen eines jeden Zwanzigjährigen schlägt wohl irgendeine Revolution ihre Flügel. Dieses Wort berührt mich und wird mich immer stark berühren. Es gibt einige solche Worte, die zu Kopf steigen wie ein starker Schnaps. Die Jugend glaubt. Für sie sind die Worte voller Fruchtfleisch, voller Saft und Feuer. Später entleeren sie sich allmählich und bleiben als hohle Schalen zurück. Das Schlimme ist nur, dass meistens diejenigen, die der Jugend die scharfen Getränke verabreichen, ihr eigenes Glas mit reinem Wasser füllen, bis ihr Gegenüber sich sturzbesoffen auf dem Boden wälzt. Eines dieser Worte ist auch: Revolution! Schon als kleiner Schüler habe ich sie gespürt und ihr zugelächelt, verzaubert von der ungeheuren und ständigen Erregung, die von ihr ausging. Selbst jetzt spreche ich dieses Wort noch vor mich hin, buchstabiere es flüsternd, sage es heimlich meinem inneren Ohr wie ein Gebet. Ich presse meine Augen zusammen und erblicke es mit phosphoreszierenden, wie geschlängelte Blitze zuckenden Buchstaben auf die schwarze Tafel der Nacht geschrieben. Und auf einmal geschieht etwas Seltsames in mir. Banner ohrfeigen den Wind, und ihre Schäfte stechen wie Lanzen in den prächtigen Himmel, der in den blauweißen Nationalfarben erstrahlt wie ein staatliches Gebäude. Pfiffe steigen auf in die blaue Leere, Raketen aus wütenden und triumphierenden Tönen. Und die Trommeln, Tausende von Trommeln, dröhnen wie der ferne Donner, der an der Himmelsdecke entlang rollt. Sie lassen die Seele erzittern wie ein Trommelfell. Dann ballen sich die Hände unbewusst zu Fäusten, und das Rückgrat biegt sich nach hinten wie ein Bogen der den Pfeil abschießt.

Eine Revolution.

Für die Freiheit zu kämpfen! Für die unterdrückten Griechen in Anatolien und Thrakien. Für alle Geknechteten. Oh ja! Es lohnt sich immer, für die Freiheit und die Geknechteten zu kämpfen. In jedem Geknechteten steckt auch ein Teil unserer eigenen Knechtschaft. Aber zunächst gilt es, den König zu stürzen. Der Purpur, welch aufreizendes Tuch für den feurigen Stier des Volkes! Man muss nur wissen, wie man es vor seinen gereizten Augen hin und her schwenkt. Die Strömung hat mich mitgerissen mit Leib und Seele. Eine blinde und mächtige Woge hat mich auf ihrem schäumenden Rücken mitgerissen wie einen Holzsplitter und mich jetzt hierhin geschleudert, ein ziemlich erschrecktes und sehr erstauntes Stück Strandgut, auf die Spitze eines steinigen serbischen Berges. Hier bin ich jetzt ausgeliefert, endgültig auf das ungeheure Rad des Krieges geflochten. Das ist nun eine unumstößliche Tatsache, die ich mit einem seltsamen, romantischen Kummer hinnehme, als hätte schließlich nicht ich alles so gewollt. Auch mangelt es mir nicht an Ausdauer. Und ständig quält mich ein ungezügeltes Verlangen nach intensivem Leben und Kämpfen, und die bittere Lust am Unglücklichsein schlägt ihren Zahn in mein Fleisch und lässt mich die eigene Existenz noch stärker bewusst werden. Stärker noch als die Freude. Ich überlasse mich dem Schwung des schrecklichen Rads, auf das ich gefesselt bin, mit der bitteren und listigen Befriedigung früher Christen, die in ihren Peinigern die nichts ahnenden Verteiler von Eintrittskarten ins Paradies sahen. Ich bin noch so jung!

Das Rad des Krieges.

Wir sehen es, Millionen von uns, wie es aus dem schimmligen Chaos hervorkommt und sich dreht und herzzerreißend knarrt wie eine riesige Brunnenwinde. Der Horizont ist rotschwarz, aus der Erde strömen scharlachrote Dämpfe. Das riesige Rad dreht sich ständig, dreht sich Jahrhunderte lang zusammen mit der Erde und knarrt über dem Abgrund, knarrt herzzerreißend. Und ich, an Händen und Füßen darauf gefesselt, mache, ob ich will oder nicht, seine trägen, schicksalhaften Umdrehungen mit. Denn es dreht sich ohne Eile, zum Verzweifeln langsam. Es hat die sichere und unerbittliche Bewegung der Naturgesetze. Es ist ein riesiges Tier mit Eisenzähnen, das gleichgültig zuckendes Menschenfleisch kaut, ganz frisches, blühendes Fleisch.

Der Himmel ist niedrig und bleiern. Er lastet auf uns wie ein riesiger Helm. Die unbeweglichen Wolken hängen ihre grauen Lumpen in die Runde – dreckige Wäsche, zum Trocknen aufgehängt und dann vergessen. Und die weiten Meere der Erde halten ihren großen Atem an und spitzen das Ohr, um auf das Drama zu lauschen. Denn in dieser unbeweglichen Stille zwischen dem plötzlichen Aufquietschen der ungeheuren Maschine hört man, wenn man achtgibt, tief unten ein fernes unterdrücktes Pfeifen, wie es die Seele von sich gibt, wenn sie durch die Ränder einer Messerwunde entweicht zusammen mit frischem sprudelnden Blut. Wenn man lauscht, hört man aus der Tiefe noch ein hohles und weiches Geräusch wie von Körpern, die zusammengepresst und zerrissen werden, wie von Schädeln, die knirschend unter einer langsam sich senkenden Presse zerquetscht werden. Es ist der Grabenkrieg, der so gemächlich und sicher ans Werk geht. Der Krieg, der, bevor er den Körper zerquetscht, in der Isolation des unterirdischen Lebens allmählich und unbarmherzig die Seele zersetzt. Der ständige Schrecken, der mit einem im Unterstand haust. An feuchten Wänden kriecht die Nacktschnecke entlang, ein Kind des Schreckens. Wenn man die Hand in den Tornister steckt, um einen Bissen Brot zu holen, fasst man den weichen und glitschigen Rücken einer Ratte, die erschreckt aus den vor Ekel gelähmten Fingern flieht.

Die Ereignisse, die mich hierher gebracht haben, so weit weg von Dir und unserer Insel, kommen nacheinander lebendig in mein Gedächtnis zurück.

Wenn die Purpurgeborenen Toten sterben

Ich erinnere mich an den großen Menschensturm der Revolution. Tausende von Menschen, mitgerissen von einer Freude voller Angst. Man ist dann in einem solchen Zustand: Etwas Glühendes wie ein Gottesatem, etwas kaum zu Bändigendes fließt berauschend durch die Adern. Man muss etwas tun, ohne zu wissen was. Soll man wild und triumphierend losbrüllen, dass man die eigene Stimme – gleich den Trompeten von Jericho – gegen die Burg der Gateluzzi, gegen die Segel der Schiffe und die Mauern der öffentlichen Gebäude prallen hört? Oder soll man sanft weinen mit Tränen wie aus lauem Sirup, den Kopf auf die rundlichen Knie einer geliebten Frau gelehnt? Wenn sich in diesen Stunden Einer fände, der sagt: »Das wirst du tun!«, man täte es mit einem Gefühl grenzenloser Erlösung, und die eigene tränenerfüllte Dankbarkeit würde ihn in den Himmel heben, selbst wenn er sagte: »Spring ins Feuer!«. Und ringsherum tobte ein tausendstimmiger, vielfältiger und berauschender Lärm. Die Glocken über der Stadt waren außer sich! Sie jubelten über den roten Dächern wie eine Schar wild gewordener Erzengel, die die Luft mit ihrem furchtbaren Weckruf erfüllen. Sie schlugen ihre Lanzen auf die Kupferschilde und brüllten. Ihre Stimmen waren aus Messing, und sie hatten furchtbare Flügel, die die Atmosphäre wie ein Meer aufwühlten. Glocken sind etwas Herrliches, wenn sie anheben und mit ihren großen Lippen die kühnen Forderungen der Völker ausrufen. Die Töne flossen wie warmer Dampf im Blut zusammen. Sie hatten Hände aus Watte und schoben die Massen. Sie wurden zu Seilen und verbanden jede einzelne Menschenseele, Männer, Frauen, Greise und Säuglinge, mit den wild gewordenen Klöppeln oben auf den Glockentürmen. Einige verirrte Tiere liefen verstört zwischen den Beinen der Menschen herum, die sich wie ein Strom aus den abschüssigen Gassen ergossen. Die Fahnen und seidenen Standarten mit den Heiligen darauf spielten fröhlich im Wind. Von den goldenen Quasten tropfte Sonne, und die blauweißen Troddeln der Banner ließen einen erschauern, wenn sie die Haare berührten. Bei jedem Atemzug war es einem, als schlucke man ein Quäntchen kostbaren Weinbrands. Geheimnisvolle elektrische Ströme flossen über dem wogenden Meer der wimmelnden Menschenköpfe durch das Sonnenlicht, ließen die Herzen erzittern wie Schilfrohr und die Finger sich krampfhaft zusammenballen.

Plötzlich erschallte aus dieser geisterhaften Versammlung, die den Fieberträumen eines Kindes entsprungen zu sein schien, ich weiß nicht wie, ein nie gehörter Donnerruf voller Schrecken und Hass:

»Nieder mit dem König! Es lebe der Krieg!«

Der Redner mit der hitzigen Stimme und den melodramatischen einstudierten Gesten hatte es nicht gerufen. Er hat diesen Ruf nur wie eine Hebamme aus den Mündern der Menge hervorgeholt. Er war hochgeschossen und hager, seine Augen hatten einen krankhaften Glanz. Er trug gewelltes Haar, das er mit langen schwindsüchtigen Fingern durchfurchte, und einen sympathischen, wenngleich theatralischen Gesichtsausdruck. Und seine lange Nase schien ehrlich bewegt zu sein, wie sie sich so aufmerksam zum artikulierenden Mund hinunterbeugte, damit ihr kein Wort entgehe von der Verkündigung, die unter ihr hervorquoll. Und als seine langen Arme einmal hochfuhren, zum Volk gewandt wie Flügel und wie eine Beschwörung, krachte der Donner los:

»Nieder mit dem König!«