Das Leben ist ungereimt - Wolfgang Wagner - E-Book

Das Leben ist ungereimt E-Book

Wolfgang Wagner

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Beschreibung

Christian Eichenhagen, mittlerweile pensionierter Gymnasiallehrer, war in den letzten Jahrzehnten in drei ungeklärte Todesfälle verwickelt. Sabrina, seine Schülerin, verliert ihren Vater, der sie jahrelang misshandelt und missbraucht hat, durch einen Unfall auf der Baustelle. Zehn Jahre später stirbt Sabrinas Lebensgefährte plötzlich an Herzversagen. Weitere zehn Jahre danach verunglückt Nico, sein Ex-Schüler, der ihn erpresst hat, beim Fahrradtraining. Waren es Unfälle oder Morde? Der Roman ist kein typischer Krimi, eher eine psychologische Studie über Liebe, Vergewaltigung, Hass, Rache und Schuld.

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Wolfgang Wagner

DAS LEBEN

ISTUNGEREIMT

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild © Zeferli (Fotolia)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

2017

2017

1994

2017

1995

1994

2017

1994

2017

2017

2017

1997

2017

1996

1997

2014

1971

2017

1997

1998

1971

2017

2017

2014

1998

2017

2017

1998

2017

1998

1998

1998

1998

2017

2014

2007

2017

2017

2014

2007

2017

2007

1976

2007

2017

2014

2007

2014

2017

2017

2008

1978

2008

1978

2008

2008

2008

2017

2017

2017

2017

2018

2018

2018

2018

2018

2018

2018

2017

Viele sprechen von einer Wiedergeburt, wenn sie eine schwere Krankheit überstanden oder einen gefährlichen Unfall halbwegs unbeschadet überlebt haben. Er sagte immer ‚zweites Leben‘, das ihm unverdient geschenkt worden war. Seit Monaten würde er in einem Sarg dahinfaulen oder seine Asche in einer Urne ruhen.

Heute wollte er das erste Mal danach – nach dem Unfall – auf das Fahrrad steigen. In der Garage wartete sein neues Pedelec, denn sein altes war beim Unfall, im Gegensatz zu ihm selbst, total zerstört worden.

Er stand vor Eva, um ihr einen Kuss zu geben, da sagte sie: „Was hast du vor?“

Er zeigte auf seinen neuen Fahrradhelm und antwortete: „Wonach sieht es denn aus?“

„Erinnerst du dich, was Doktor Pichhagen gesagt hat?“

„Natürlich.“

„Du darfst ab dem ersten November wieder Fahrrad fahren.“

„Genau. Und heute haben wir den ersten November.“

„Ist das nicht ein bisschen früh?“

„Nein, ich fühle mich fit genug.“

Sie fand, es war zu früh, dass Christian wieder Fahrrad fuhr. Aber in den vielen Jahren mit ihm hatte sie gelernt, ihn so zu nehmen, wie er war. Er hatte immer sein Ding gemacht.

Wenn sie an den zehnten August dachte, wurde ihr jetzt noch schlecht. Der Anruf des Polizisten, die ersten Tage im Krankenhaus, als die Ärzte ihr nichts Genaues sagen konnten. Durch den Sturz hatte er ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Zum Glück wachte er nach drei Tagen aus dem Koma auf. Darüber hinaus hatte er eine geprellte Schulter, einen gebrochenen Arm, zwei gebrochene Rippen, die aber die Lunge nicht beeinträchtigten, und zahlreiche Hämatome. Nach der OP des Arms prognostizierten die Ärzte ‚keine bleibenden Schäden‘. In der schweren Zeit hatten ihre Kinder sie sehr unterstützt.

Er ging in die Garage, setzte den Helm auf und holte sein nagelneues Fahrrad heraus. Die ersten fünfhundert Meter waren etwas ungewohnt, aber er fühlte sich wohl, war er doch in der Reha genug Fahrrad gefahren, allerdings auf einem modernen Heimtrainer.

Nach einer Stunde war er vierzehn Kilometer gefahren und schob sein Fahrrad in die Garage. Es sah nicht mehr so neu aus, denn in den letzten Tagen hatte es viel geregnet und im Wald waren viele Pfützen. Er sagte seiner Frau „Hallo“ und sie fragte: „Wie war’s?“

„Toll! Auf den Moment habe ich lange warten müssen.“

„Du bist zu ungeduldig.“

„War ich nicht im Krankenhaus und in der Reha ganz zahm?“

Sie lächelte ihn an.

„Doch, doch! Die Post habe ich dir auf den Schreibtisch gelegt.“

„Danke! Ich werde mich erst noch etwas frisch machen.“

Das Öffnen der Post war für ihn ein kleines Ritual. Er hatte sich eine Pfeife angezündet und nahm den Brieföffner. Seine Frau riss ihre Briefe sofort im Wohnzimmer auf. Zunächst die Werbesendungen und die Spendenaufrufe, dann die Arztrechnung und der letzte schien ein persönlicher Brief zu sein, ohne Absender.

Sehr geehrter Herr Eichenhagen,

Sie erinnern sich sicherlich an mich. Sie waren mein Klassenlehrer und im Sommer habe ich mein Abitur gemacht. Wir waren auch auf Klassenfahrt auf Norderney und Ihre Begleiterin war Frau Schmidt. Sie war damals als Seiteneinsteigerin neu an unserer Schule. In der letzten Nacht hatte ich Kopfschmerzen, habe an Frau Schmidts Tür geklopft und da habe ich Sie beide gesehen.

Ich melde mich wieder bei Ihnen.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Nico Abel

PS: Sie waren ein guter Klassenlehrer, kein Scherz!

Er machte in Gedanken die Briefmarke ab und warf sie in den großen Umschlag für Bethel. Warum hatte Nico den Brief geschrieben? Was wollte er? Und was sollte das PS? Er zerriss Umschlag und Brief in kleinste Stücke. Eva musste ihn nicht unbedingt lesen.

Bernard und er waren seit Jahrzehnten gute Freunde. Sie besuchten verschiedene Gymnasien und hatten sich im Tischtennisverein kennengelernt. Nach dem Abitur studierten sie in Köln und Bonn, beide auf Lehramt, aber verschiedene Fächer. Bernard war mehr der Naturwissenschaftler, Biologie und Chemie, während Christian Englisch und Sport unterrichten wollte. Später, nach dem Referendariat, bekamen sie Stellen an verschiedenen Schulen, aber sie hatten sich nie aus den Augen verloren.

Christian freute sich immer auf das Schachspiel mit Bernard, aber sie wussten beide, dass sie eher mittelmäßige Schachspieler waren. Es kam vor, dass sie zwischen zwei Zügen fünf Minuten über Gott und die Welt diskutierten. Sie waren nicht immer derselben Meinung, respektierten aber die des anderen.

Es schellte und Eva öffnete die Tür. Er gab ihr jeweils zwei Küsschen auf die Wangen.

„Hallo, Bernard! Wie geht es dir?“

„Gut, mein Schatz“, flüsterte er. „Und dir?“

„Danke! Christian wartet auf dich im Wohnzimmer.“

Die beiden Freunde begrüßten sich und Christian fragte: „Möchtest du ein Glas Rotwein? Dann kannst du deine Niederlage besser verkraften.“

„Ja, gern. Ich bin heute mit dem Fahrrad gekommen und trinke schon auf meinen späteren Sieg.“

Christian hatte schon einige von Bernards Figuren erobert, als er fragte: „Glaubst du immer noch, dass wir das schaffen, mit den Flüchtlingen?“

Bernard trank einen Schluck Wein.

„Wir können es schaffen, wenn alle mitmachen.“

„Und was sagst du zu den Zehntausenden, manche sagen sogar über vierhunderttausend, die ohne Registrierung in Deutschland herumirren?“

Bernard schwieg, er schien sich auf den nächsten Zug zu konzentrieren.

Von den zwei Partien hatte jeder eine gewonnen. Gegen achtzehn Uhr sagte Bernard: „Ich muss langsam los, Renate wartet auf mich.“

„Schöne Grüße und fahre vorsichtig! Du weißt ja, manchmal sind wilde Lkw-Fahrer unterwegs.“

„Ich werde vorsichtig sein. Du brauchst mich nicht zur Tür zu begleiten. Ich kenne mich hier aus.“

Er sah Eva in der Küche, die einen Salat vorbereitete. Er schaute sich um, ging auf Eva zu und gab ihr einen Kuss auf den Mund.

„Bis zum nächsten Mal!“

Sie war so überrascht, dass sie nur stammeln konnte: „Tschüss, Bernard!“

2017

Er hatte gut geschlafen und für sich und Eva das Frühstück vorbereitet: Kaffee, getoastete Brötchen, saure Sahne, Margarine und Erdbeermarmelade.

„Danke, dass du alles so toll vorbereitet hast!“, sagte Eva lächelnd und nahm die Tageszeitung. Das war nicht ungewöhnlich, denn Christian las die Zeitung immer später. Er biss ins Brötchen und wagte einen Blick auf die Schlagzeilen. Er merkte, dass er innerlich etwas unruhig war, was bei ihm eher selten vorkam. Er fragte sich, ob er heute einen weiteren Brief von Nico bekommen würde.

„Du weißt, dass heute unsere Perle kommt.“

Er reagierte nicht. Eva hatte den Eindruck, dass Christian seit dem Unfall manchmal abwesend schien. Sie würde Doktor Pichhagen beim nächsten Termin danach fragen.

„Hast du mich gerade nicht gehört?“

„Nein, was hast du gesagt?“

„Frau Pereira kommt heute Morgen.“

„Gut, dann fahre ich Fahrrad. Sie ist eine nette Frau, aber sag ihr bitte noch einmal, dass sie auf meinem Schreibtisch alles an seinem Platz lassen soll. Das letzte Mal habe ich weder Tesafilm noch den Locher gefunden.“

„Armer Kerl! Übrigens, was machen wir in der nächsten Woche? Sie fährt in Urlaub, vier Wochen nach Portugal.“

„Ich werde putzen.“

„Traust du dir das schon zu?“

„Klar! Lass alles auf dem Tisch stehen! Ich räume das Geschirr in die Spülmaschine.“

1994

Christian hatte im vergangenen Jahr wieder eine achte Klasse übernommen. Mittelstufenklassen galten immer als schwierig und sein Schulleiter hatte wohl vollstes Vertrauen zu ihm. Es waren vierundzwanzig SchülerInnen und er kam von Anfang an recht gut mit ihnen zurecht. Drei Schüler waren auffällig, aber nach ein paar Monaten hatte sich das gegeben.

Sabrina fiel ihm besonders auf. Sie war intelligent, fleißig, sozial eingestellt und bei ihren Mitschülern und Mitschülerinnen sehr beliebt. Und sie war sehr hübsch, worauf Lehrer in der Schule eigentlich weniger achteten.

Aber einmal pro Monat flippte sie total aus und suchte Streit mit allen. Auch Christian konnte sich keinen Reim darauf machen. Er hatte sich vorgenommen, mit ihr ein persönliches Gespräch zu führen. Nach der Englischstunde sprach er sie an.

„Sabrina, ich möchte einmal mit dir sprechen.“

Sie erschrak und wurde blass.

„Keine Angst, Sabrina! Wie wär’s mit morgen nach der sechsten Stunde?“

Zögernd antwortete sie: „Okay. Wo?“

„Komm bitte zum Lehrerzimmer, dann finden wir einen Raum.“

Nach dem Unterricht fuhr er auf seinem Fahrrad nach Hause. Obwohl er evangelisch war, hielt er vor St. Elisabeth an, ging hinein und schlenderte zum Altar. Sich selbst bezeichnete er immer als halbgläubig. Er schaute auf das Kreuz mit Christus, dann senkte er den Kopf.

„Herr, lass das Gespräch mit Sabrina gut verlaufen! Vielleicht teilt sie mir mit, was sie so bedrückt.“

Beschwingt fuhr er nach Hause. Sicherlich hatte Eva etwas Leckeres zubereitet.

„Hallo, Christian! Du riechst so komisch.“

„Ich bin nicht schnell gefahren, ich habe nicht geschwitzt.“

„Kein Schweiß. Das riecht nach Weihrauch.“

„Ich war kurz in der katholischen Kirche, habe mich auf der Empore mit einer jungen Frau getroffen.“

„War sie wenigstens hübsch?“

Sie lächelte, schaute ihm in die Augen und gab ihm einen Kuss auf den Mund. Beide hatten zum Glück denselben Sinn für Humor.

„Ich habe gebetet, das mache ich manchmal.“

„Wann können wir essen?“

„In viereinhalb Minuten.“

2017

Christian hatte wieder das Frühstück vorbereitet. Eva kam in die Küche, in der sie normalerweise auch aßen.

„Guten Morgen! Danke! Hast du schon deine Mails gecheckt?“

„Nein, ich habe alles vorbereitet, mach ich später.“

Sie trank einen Schluck Kaffee und bevor sie ins Brötchen biss, sagte sie: „Jacqueline hat uns geschrieben.“

„Ah!“

Er erinnerte sich nicht mehr daran, ob es 1996 oder 1997 gewesen war. Sie hatten von Jacqueline Dubois in Cabourg, Normandie, eine Wohnung im Erdgeschoss gemietet. Sie selbst wohnte mit ihrer Familie im ersten Geschoss. Sie war um die dreißig, nicht schön, aber reizvoll. Zwangsläufig begegneten sie sich mehrfach täglich. Er liebte es, sie zu treffen und mit ihr Französisch zu sprechen. Zu Beginn des Studiums hatte er überlegt, ob er Französisch und Englisch auf Lehramt studieren sollte. Aber zum Glück hatte er sich dagegen entschieden: Zwei Korrekturfächer wären einfach zu viel gewesen.

„Hast du mich verstanden?“

Als hätte er an etwas anderes gedacht, fragte er: „Was?“

„Soll ich dir erzählen, was sie schreibt?“

Er schien zu überlegen.

„Das ist lieb von dir, aber ich lese die Mail lieber selbst.“

An einem heißen Tag waren sie sich auf dem Weg in den Garten begegnet. Ihre beiden Jungen tobten schon im kleinen Planschbecken. Sie hatte einen Minibikini an.

„Christian, hast du etwas dagegen, wenn ich den Bikini ausziehe und mich nackt in die Sonne lege?“

Er wurde etwas verlegen, stammelte: „Und die Nachbarn?“

„Die kennen uns. Sie sind selbst FKK-Freunde.“

Er versuchte, seinen angefangenen Krimi von Georges Simenon ‚L’Etoile du Nord‘ weiterzulesen, aber immer wieder schielte er zur nackten Jacqueline hinüber.

„Christian, wo bist du mit deinen Gedanken?“

„Ich habe mir überlegt, heute Morgen meinen Vater zu besuchen.“

Ein weiteres Mal wunderte sich Eva über seine Geistesabwesenheit.

„Gute Idee!“

„Warst du mal bei ihm und hast ihm von meinem Unfall erzählt?“

„Ja, sicher, aber du weißt ja, wie es mit ihm ist. Ich bin nicht sicher, ob er sich daran erinnert.“

Nach dem Tod seiner Frau war für Christians Vater klar, dass er in ein Seniorenzentrum ziehen würde. Zu seiner Schwiegertochter hatte er nicht das beste Verhältnis und sein Sohn hatte genug mit den Korrekturen und den Vorbereitungen zu tun.

Sein Blick war immer noch auf Jacqueline gerichtet, als Eva aus der Stadt zurückkam.

„Hast du mir ‚Aujourd’hui‘ mitgebracht?“

„Natürlich, und ein frisches Baguette.“

Am späten Abend schliefen sie miteinander. Zwischendurch fragte Eva: „Denkst du jetzt an die nackte Jacqueline?“

Nach einer Weile kam er, sagte aber nichts.

„Christian, kannst du bitte den Tisch abräumen? Du weißt, ich muss gleich zur Gymnastik.“

„Kein Problem. Ich fahre dann später mit dem Fahrrad zu meinem Vater.“

„Mach das!“

Das städtische Seniorenzentrum war nicht weit entfernt. Immer, wenn er durch die automatische Eingangstür ging, hatte er einen positiven Eindruck: Alles war hell und je nach Jahreszeit geschmückt. Und die große Halle gab den Blick frei auf die drei Etagen, von wo vor allem die Rollstuhlfahrer gern hinunterblickten.

Er ging die Treppe hinauf in die erste Etage, dann am Geländer entlang in Richtung Raum 113. Er nickte den Bewohnern in den Rollstühlen zu und klopfte an die Tür. Er wartete ein paar Momente, dann ging er hinein. Sein Vater saß in seinem Rollstuhl am Fenster. Der Vorhang war zurückgezogen, so dass er in den Garten gucken konnte.

„Hallo, Vater!“

In seiner Kindheit und Jugend hatte er immer ‚Papa‘ gesagt, aber es erschien ihm zu lächerlich, sobald er halbwegs erwachsen war. Er drehte sich langsam um.

„Guten Morgen, Chris!“

Er hatte früher immer ‚Christian‘ gesagt, aber in den letzten Jahren war ihm wohl die Kurzform lieber.

„Wie geht es dir?“

„Mir ist langweilig, aber es geht mir nicht schlecht. Du warst länger nicht mehr da, oder?“

„Eva war da und hat dir von meinem Unfall erzählt.“

„Was für ein Unfall? Sie war nicht bei mir. Sie mag mich doch nicht.“

„Ich war mit meinem Fahrrad unterwegs und da hat mich ein Lkw-Fahrer mit Anhänger übersehen.“

„Warst du verletzt?“

Er wollte nicht dramatisieren.

„Eine leichte Gehirnerschütterung und der rechte Arm war gebrochen.“

„Und das hat so viele Wochen gedauert?“

„Ich war noch in der Reha.“

„Deine Mutter war heute noch nicht hier.“

Christians Mutter war seit ein paar Jahren tot, aber er sagte nur: „Die wird sicherlich kommen.“

„Dann ist ja gut.“

„Und wie geht es dir?“

Christian war überrascht. Hatte sein Vater schon das Gespräch von gerade vergessen?

„Jetzt geht es mir wieder gut. Ich fahre auch wieder Fahrrad.“

„Du bist doch immer Fahrrad gefahren. Und was macht Eva?“

„Sie ist zur Gymnastik.“

„Sie bieten hier auch Gymnastik an, für Rollstuhlfahrer. Das mache ich manchmal mit. Hast du heute schon deine Mutter gesehen?“

„Nein, sie wird bald kommen.“

Als er wieder zu Hause war, las er erst einmal die Mail von Jacqueline. Sie war auf Französisch und er fragte sich, ob Eva wirklich alles verstanden hatte.

Ihrer Familie ging es gut und sie fragte an, ob Christian und Eva eventuell im nächsten Jahr wieder einmal nach Cabourg kommen wollten. Sie hatte ein paar Fotos hinzugefügt. Ihre planschenden Jungen waren inzwischen Studenten und er fand, dass Jacqueline immer noch toll aussah. Sie musste jetzt um die fünfzig sein.

Dann las er den zweiten Brief von Nico Abel.

Sehr geehrter Herr Eichenhagen,

ich weiß nicht mehr genau, wie ich meinen ersten Brief beendet hatte. Ich ging vorsichtig in Frau Schmidts Raum und zunächst sah ich zwei halb leere Bierflaschen. Auf dem Bett sah ich zwei nackte Körper, Ihrer auf dem von Frau Schmidt. Diese begann zu stöhnen. Ich wollte nicht weiter stören und verließ leise den Raum.

Ich melde mich wieder bei Ihnen.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Nico Abel