Das Mörderarchiv - Kristen Perrin - E-Book

Das Mörderarchiv E-Book

Kristen Perrin

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Beschreibung

Das sensationelle Krimi-Ereignis des Jahres zum Wohlfühlen, Schmunzeln und Miträtseln: Wie findet man den eigenen Mörder?  Tante Frances dachte immer, dass sie eines Tages umgebracht wird. Sie hatte recht. Und sie hat vorgesorgt. Frances Adams war siebzehn Jahre alt, als ihr eine Wahrsagerin auf dem Jahrmarkt prophezeite, dass man sie ermorden würde. Ihr Leben lang nahm niemand Frances ernst. Bis sie nun, sechzig Jahre später, ermordet wird! Tante Frances hatte also recht. Und sie hat vorgesorgt. Erstens hat sie auf ihrem herrschaftlichen Landgut in Dorset ein besonderes Archiv angelegt. Jede Person aus dem Dorf, die sie auch nur im Entferntesten für verdächtig hielt, taucht dort auf. Zweitens hat sie ein Testament hinterlassen: Wer den Mordfall löst, erbt alles. Schafft es ihre Großnichte Annie oder der fiese Stiefneffe?  Da Annie die schrullige alte Dame nie kennengelernt hat, scheint sie klar im Nachteil. Doch dann findet sie ein Tagebuch der Tante und liest über ein tragisches Ereignis in den Sechziger Jahren. Annie kombiniert: Unter mehr als einem Dach in Castle Knoll schlummert ein Geheimnis. Nur unter welchem ein mörderisches?  Willkommen in Castle Knoll, dem Dorf mit dem einzigen Mörderarchiv der Welt!

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Seitenzahl: 439

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Ähnliche


Kristen Perrin

Das Mörderarchiv

Tante Frances dachte immer, dass sie eines Tages umgebracht wird. Sie hatte recht.

Kriminalroman

 

 

Aus dem Englischen von Susann Rehlein

 

Über dieses Buch

Wie findet man den eigenen Mörder?

 

Frances Adams war siebzehn Jahre alt, als ihr eine Wahrsagerin auf dem Jahrmarkt prophezeite, dass man sie ermorden würde. Frances glaubte daran. Niemand nahm sie ernst. Bis sie nun, sechzig Jahre später, tatsächlich ermordet wird! Tante Frances hatte also recht. Und sie hat vorgesorgt. Erstens hat sie auf ihrem herrschaftlichen Landgut ein besonderes Archiv angelegt. Jede Person aus ihrem idyllischen Dorf Castle Knoll, die sie auch nur im Entferntesten für verdächtig hielt, taucht dort auf. Und zweitens hat sie ein Testament hinterlassen: Wer den Mordfall löst, erbt alles. Schafft es ihre Großnichte Annie oder der fiese Stiefneffe?

Da Annie die eigenwillige alte Dame nie kennengelernt hat, scheint sie klar im Nachteil. Doch dann findet sie ein Tagebuch der Tante und liest über ein tragisches Ereignis. Annie kombiniert: Unter mehr als einem Dach in Castle Knoll schlummert ein Geheimnis. Nur unter welchem ein mörderisches?

Willkommen in Castle Knoll, dem Dorf mit dem einzigen Mörderarchiv der Welt!

Vita

Kristen Perrin stammt aus Seattle. Nachdem sie dort mehrere Jahre als Buchhändlerin gearbeitet hat, zog sie für ihr Magisterstudium und den PhD nach Großbritannien. Sie lebt mit ihrer Familie in Surrey im Süden Englands, wo sie gerne in Antiquariaten stöbert, mit ihren zwei Kindern im Matsch herumstapft und zu viele Pflanzen sammelt. «Das Mörderarchiv» ist ihr erster Roman für Erwachsene.

 

Susann Rehlein lebt in Berlin und arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Lektorin.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «How to Solve Your Own Murder» bei Quercus Editions Ltd/An Hachette UK company, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«How to Solve Your Own Murder» Copyright © 2024 by Kristen Perrin

Published by Arrangement with Kristen Perrin Limited

Redaktion Tobias Schumacher-Hernández

Covergestaltung und -abbildung Hafen Werbeagentur, Hamburg

ISBN 978-3-644-01753-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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www.rowohlt.de

Für Tom

Castle-Knoll-Jahrmarkt, 1965

«Ich sehe … ich sehe bleiche Knochen in deiner Zukunft.» Mit düsterem Blick verkündet Madame Peony Lane die ersten Worte jener Weissagung, die Frances Adams’ gesamtes Leben bestimmen wird.

Frances sitzt stocksteif da, den Blick auf die Frau vor ihr gerichtet, obwohl ihre beiden Freundinnen schrecklich kichern müssen, weil das Ganze so theatralisch ist und von den bunten Perlenvorhängen bis hin zu Peony Lanes Seidenturban förmlich nach Hollywood schreit. Peony Lane kann allerhöchstens zwanzig sein, spricht aber, um es zu kaschieren, knarzig und rau. So richtig funktioniert es nicht. Sie ist so offensichtlich halbseiden, dass man sie wirklich nicht ernst nehmen kann, und eigentlich tut das auch keiner.

Außer Frances.

Die lauscht diesem Unsinn wie einer Offenbarung und spannt sich mit jedem Wort mehr an.

Als die Mädchen anschließend aus dem Halbdunkel des Zelts in die grelle Augustsonne treten, blinzelt Frances nicht einmal. Ihr langes Haar, das sie offen trägt, glänzt rotgolden. Der Mann, der kandierte Äpfel verkauft, lässt seinen Blick lange auf ihr ruhen, aber sie bemerkt ihn gar nicht.

Emily hängt sich rechts bei Frances ein und Rose links, und so spazieren die drei Freundinnen zwischen den Ständen entlang, an denen Antiquitäten und Nippes verkauft werden. Den Fleischer, der schmierige Würste verkauft, lassen sie angewidert links liegen, beugen sich aber über silberne, in der Sonne glitzernde Kettchen, und Emily kauft eine zarte Kette mit einem Vögelchen. «Ein Glücksbringer», sagt sie, weil ihr Nachname Sparrow ist, Sperling.

Rose ist schließlich diejenige, die die Geduld verliert.

«Du schaust drein, als wärst du bereits todgeweiht, Frances», sagt sie und stößt die Freundin scherzhaft mit dem Ellenbogen an. «Aber das war alles Quatsch, weißt du das nicht? Niemand kann in die Zukunft gucken.»

Emily bindet ihr langes blondes Haar mit einem Band zum Zopf zusammen und legt ihr Kettchen um. Es funkelt mit den Jagdmessern am Stand neben ihnen um die Wette. Emily bemerkt, wie Frances das Kettchen beinahe furchtsam beäugt.

«Was ist jetzt schon wieder?», fragt sie betont sorglos, obwohl sie es längst nicht mehr ist.

«Da hängt ein Vogel dran», sagt Frances erschrocken. «Die Wahrsagerin hat doch gesagt: Der Vogel bringt Verrat.»

Emily verdreht die Augen. «Dagegen kann ich was tun», sagt sie und wirft sich kurzerhand in die Menge. Kurz darauf taucht sie wieder neben ihnen auf, zwei weitere Vogelkettchen in der Hand. «Für dich und Rose», sagt sie grinsend. «So kannst du nie wissen, welcher Vogel dich verrät. Du könntest es sogar selbst sein.» Sie lacht so wild und ausgelassen, wie sie eben ist.

Verzweifelt blickt Frances zu Rose hinüber, aber die lacht mit. «Ich finde die Idee auch nicht schlecht. Nimm dein Schicksal in deine eigenen Hände», schlägt sie vor und legt sich ihr Kettchen um.

Frances zögert, steckt ihr Kettchen dann in die Seitentasche ihres Kleides. «Ich denke drüber nach», sagt sie.

«Komm, jetzt hör schon auf zu grübeln!», befiehlt Emily. «Wenn du weiter so düster dreinschaust, werde ich wohl am Ende diejenige sein, die dich ermordet.» Schon wieder zupft ein Lächeln an ihren Mundwinkeln.

«Könnt ihr beide jetzt mal aufhören, so zu tun, als wäre das nicht total gruselig gewesen?» Frances tritt ein paar Schritte von den Freundinnen zurück, wischt sich die schweißigen Hände an ihrem Kleid ab und verschränkt die Arme vor der Brust. Aus der anderen Seitentasche ihres Kleides ragt eine Ecke ihres kleinen grünen Tagebuchs hervor, und sie hat Tintenflecke an den Fingern, weil sie so fiebrig jedes der Worte mitgeschrieben hat, die aus dem Mund der Wahrsagerin kamen.

Rose nimmt sie in den Arm. Ihr schwarzer Bob kratzt Frances an der Wange. «Die Frau hat sich das ausgedacht, das weiß ich ganz genau.»

«Aber sie hat Mord gesagt, Rose. Ich kann doch nicht so tun, als hätte ich das nicht gehört.»

Emily rollt mit den Augen. «Also wirklich, jetzt hör aber auf. Mit. Dem. Unsinn.» Jedes ihrer Worte ist wie ein Bissen von einem knackigen Apfel. Roses Schneewittchenantlitz und Emilys goldener Glanz – Frances kommen die beiden plötzlich vor wie einem Märchen entsprungen. Und wenn einem im Märchen eine Hexe die Zukunft voraussagt, glaubt man ihr besser.

Emily und Rose haken sich wieder bei Frances ein, und so spazieren sie weiter über den Jahrmarkt, aber alles fühlt sich seltsam dumpf an. Die Sonne brennt noch immer herab, und in den Zelten fließt fässerweise das Bier. Die Luft ist durchdrungen von Karamellduft und einer Rauchnote, aber Frances’ Schritte sind schwer. Im Takt ihres Atems wiederholt sie wieder und wieder die Weissagung – so lange, bis sie ihr ins Gedächtnis eingebrannt ist.

Ich sehe … ich sehe bleiche Knochen in deiner Zukunft. Dein langsames Hinscheiden beginnt erst recht, sobald du die Königin in einer Hand hältst. Gib acht auf den Vogel, denn er bringt Verrat. Und ist es einmal geschehen, gibt es kein Zurück. Aber Töchter sind der Schlüssel zur Sühne. Finde die eine rechte und binde sie an dich. Die Zeichen führen zu deinem Mörder.

Die Weissagung ist so überzogen und unwahrscheinlich, dass sie lachen sollte, aber die Worte haben längst ihre giftigen Wurzeln in Frances’ Geist geschlagen.

Die drei Mädchen machen das Beste aus diesem Nachmittag, und bald schon ist ihr Gelächter weniger gezwungen, es wird wieder herumgealbert und getratscht. Mit siebzehn sind Hochs und Tiefs so normal wie das Atmen.

Aber falls irgendetwas den dreien Unglück bringen wird, dann ist es gewiss die Zahl Drei. Denn genau ein Jahr später werden sie nicht mehr drei Freundinnen sein. Eine von ihnen wird fehlen. Und es wird nicht Frances Adams sein.

Der hiesige Detective wird sich mit einem Fall herumschlagen, das einzige Indiz in einem winzigen Tütchen an die Vermisstenanzeige getackert: eine zarte Silberkette mit einem Vogelanhänger.

1

Es ist einer dieser Sommerabende, an denen die Luft sich so dicht anfühlt, dass man meint, darin baden zu können. Als ich nach meiner Fahrt mit der Piccadilly Line an der Station Earl’s Court wieder an die Oberfläche komme, atme ich gierig ein. Ich krame in meinem Rucksack nach meiner Wasserflasche, finde aber nur die Thermoskanne mit dem inzwischen bitteren Kaffee von heute Morgen. Athletische Männer in Anzügen überholen mich rechts und links wie eine Horde städtischer Gazellen. Der Kaffee schmeckt eklig, aber das Koffein habe ich dringend nötig. Mein Telefon klingelt, ich fische es aus dem Rucksack und gehe ran.

«Hallo Jenny, bitte, bitte sag mir, dass du auf dem Weg bist», stöhne ich. «Ich kann den Keller meiner Mutter nicht noch einmal ohne Beistand betreten. Als ich letzte Woche dort aufgeräumt habe, waren da riesige, fette Spinnen.»

«Ich bin schon da», sagt sie. «Aber ich hocke mich auf die Treppe, bis du kommst. Ich habe keine Lust, mich von deiner Mutter durchs gesamte Haus scheuchen und mir zeigen zu lassen, welche Wände sie einreißen will.»

«Guter Plan. Ich glaube sowieso nicht, dass sie irgendwas einreißen darf, das Haus gehört uns nicht mal.»

«Das sag du ihr dann. Ich glaube, sie ist wieder auf einem ihrer irren Renovierungstrips, weil die Ausstellung ansteht.»

Ich zucke zusammen. Meine Mutter ist Künstlerin, sogar eine berühmte und erfolgreiche. Zumindest war sie das, bis die Welt das Interesse an ihrer Kunst verlor. Unglücklicherweise fiel dieser Karriereknick mit dem Schwund des Vermögens zusammen, das sie mit ihren frühen Arbeiten gemacht hatte. Solange ich denken konnte, bewegten wir uns auf dem schmalen Grat zwischen Kirchenmaus- und Künstlerleben.

«Immerhin wird ihre Renovierungswut mich davon abhalten, die ganze Zeit vergeblich meine Mails zu checken», sage ich. «Also werde ich tun, was immer sie will. Ich habe einen Rucksack voller Farbmuster und jede Menge aufgestaute Frustration dabei. Ich bin bereit, diesen Keller zu stürmen. Nur die Spinnen – die stehen unter deinem Kommando.»

«Brr, eine Spinnenarmee», sagt Jenny. «Genau, was ich immer wollte.» Sie hält inne und fragt dann vorsichtig: «Warum ist ein leerer Posteingang ein Problem? Hast du ein neues Manuskript verschickt?»

Jenny ist meine beste Freundin, seit wir neun sind. Letzte Woche habe ich meinen schlecht bezahlten Bürojob verloren, und sie war sofort als Trösterin und Coachin zur Stelle, erklärte mir, dies sei die perfekte Gelegenheit, endlich meine Träume zu verwirklichen und als Krimiautorin durchzustarten, schließlich habe nicht jede angehende Autorin eine Mutter mit einem großen Haus in London, bei der sie gegen die Erledigung irgendwelcher kurioser Aufgaben kostenfrei wohnen könne.

Sie hat recht, mir geht es besser als anderen Fünfundzwanzigjährigen, die wieder zu Hause einziehen müssen. Die Sache hat aber einen gewaltigen Haken: die Launen meiner Mutter. Da sie der Grund sind, warum ich damals überhaupt erst ausgezogen bin, fühlt sich das jetzt wie ein Rückschritt an. Immerhin habe ich meine eigene Etage in der in Chelsea gelegenen Villa, und das Haus ist auf eine sehr charmante Weise baufällig. Mein Kinderzimmer hat einen Kronleuchter, der, staubbedeckt und mit etlichen fehlenden Kristallen, ein gespenstisches Licht auf die altmodische Schreibmaschine wirft, die ich in einem der Schränke gefunden habe. Ich schreibe nicht wirklich darauf, lasse nur hin und wieder um der Atmosphäre willen die Tasten klackern. Die Abdeckung der Maschine hat lustigerweise ein Karomuster und verströmt einen Sixties-Charme, was ich sehr mag.

«Okay, ja, ich habe mein neues Manuskript an ein paar Agenturen gemailt», gestehe ich und beiße mir auf die Unterlippe, als Jenny nichts erwidert. «Ist erst eine Woche her», füge ich hinzu und wische mir den Schweiß aus dem Nacken. Ich gehe die Earl’s Court Road hoch, drängele mich durch den Passantenstrom. Mein Rucksack wiegt eine Tonne, aber die Bibliothek hat einen Ausverkauf gemacht, und ich konnte nicht widerstehen. Die sieben Romane von Agatha Raisin kann ich als Rechercheausgaben absetzen. «Aber ich habe inzwischen das Gefühl, der Text ist schrecklich.»

«Kann gar nicht sein.»

«Doch, ich bin mir sicher. Ich konnte das nur leider erst sehen, nachdem ich ihn abgeschickt hatte.»

«Aber du warst dir bei diesem Manuskript so sicher», sagt Jenny, und ich kann das leichte Kieksen in ihrer Stimme hören. Gleich schaltet sie wieder in ihren Cheerleaderinnen-Modus, aber das lasse ich nicht zu.

«Ja, ich war mir sicher, aber jetzt weiß ich es besser. Kennst du das, wenn ein Kleinkind auf dich zugetapst kommt, und seine Mama strahlt übers ganze Gesicht und meint, du müsstest den Zwerg genauso süß finden wie sie selbst? Dabei hat er Schnodder an der Nase und Brei auf’m T-Shirt?»

«Brr. Ja, kenne ich.»

«Ich bin wie diese Mama, ich habe mein Baby gerade mit Schnodder an der Nase in die Welt rausgeschickt und gedacht, die Leute werden es genauso lieben wie ich selbst.»

«Dann putz ihm die Nase und präsentier es den Leuten, wenn es sauber ist.»

«Ja, das nennt man dann wohl redigieren.»

Ich höre, wie Jenny seufzt. «Willst du damit sagen, du hast das Manuskript an Agenten rausgeschickt, ohne es zu überarbeiten?» Sie fängt an zu lachen und hört gar nicht wieder auf, und das ist ansteckend.

«Na ja, ich war so aufgeregt!», keuche ich und wische mir die Lachtränen weg, als ich in die Tregunter Road einbiege. «Ich hab’s geschafft, weißt du? Ich habe jede Menge Sätze geschrieben, bis da am Ende tatsächlich ENDE stand.»

«Ja, und ich bin auch sehr stolz auf dich, aber ich finde, du solltest das nächste Mal mich lesen lassen, bevor du es an Agenturen schickst.»

«Was? Niemals!»

«Mich lässt du nicht lesen, aber irgendwelche Fremden dürfen?»

«Ich lege jetzt auf, bin gleich da.» Ich schleppe mich durch die Gluthitze zum Ende der Straße, wo Jenny bei uns auf den Stufen sitzt.

Das Haus meiner Mutter hockt scheu ganz am Ende einer prächtigen Villenreihe wie jemand, der versehentlich im Halloweenkostüm auf eine elegante Gartenparty gekommen ist. Ich winke Jenny, und sie steht auf, wischt sich den Staub von ihrem eleganten Kleid und fährt sich durchs lange schwarze Haar. Ihr Geschmack ist über jeden Zweifel erhaben, und unwillkürlich streiche ich über meinen voluminösen Sommerkittel und bereue dessen Kauf. Aus irgendwelchen Gründen habe ich eine Schwäche für Kleider, die mich unweigerlich aussehen lassen wie ein viktorianisches Gespenst. Meine bleiche Haut und die blonden Locken tragen zu dem Problem noch bei, fürchte ich.

Wie meine Mutter und Jenny habe ich am Central Saint Martins Kunst studiert. Jennys Eltern sind aus Hongkong eingewandert, als sie ein Baby war, und sind die tollsten Menschen, die man sich nur vorstellen kann. Meiner Mutter habe ich das natürlich nie gesagt, aber manchmal, wenn ich mich nach einem verlässlichen Zuhause mit einer Mama und einem Papa sehnte, bin ich zu Jenny nach Hause gegangen statt zu uns, selbst wenn sie beim Tennis oder sonst irgendwo war. Ich habe dann am Esstisch meine Hausaufgaben gemacht, während die Gerüche von echtem, selbst gekochtem Mittagessen durchs Haus zogen.

Nach ihrem Abschluss ist Jenny so selbstverständlich auf beiden Füßen gelandet, dass sie inzwischen das hat, was Leute wie ich einen Traumjob nennen. Eine Stelle als Bühnenbildnerin hat sie abgelehnt und ist jetzt Teil des Teams, das für Harrods die Schaufenster gestaltet. Sie geht ganz darin auf und kreiert wahre Kunstwerke, besonders natürlich in der Weihnachtszeit.

«Na dann …» Sie hakt sich bei mir ein. «Wollen wir doch mal sehen, was der Keller deiner Mutter für Schätze birgt.»

Wir schauen beide an der Villa hoch. Je zwei Fenster befinden sich rechts und links der breiten Treppe, die zur Haustür führt. Sie mag vor langer Zeit einmal grün gewesen sein, doch die Farbe ist mit den Jahren ausgeblichen und abgeblättert. Ich liebe diese Tür trotzdem. Zwei Stockwerke ehemaliger Grandezza erheben sich darüber, die Fenster immer noch gerahmt von den alten Samtvorhängen.

«Danke, dass du mitkommst», sage ich und weiß gar nicht genau, warum ich mich so anstelle, immerhin ist das hier das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Und auch wenn wir nur zu zweit waren, meine Mutter und ich, war es doch ein Ort des Glücks. Ich glaube, ich bin einfach nur froh, dass Jenny für mich da ist, wenn ich sie anrufe, selbst wenn die Nachricht auf ihrer Mailbox lautet: Hey, hast du Lust, altes Zeug aus unserem Keller zu schleppen?

«Mach ich gern», erwidert sie. «Das Schlimmste hast du doch letzte Woche schon hinter dich gebracht, oder?»

«Erinnere mich nicht daran. Da drin sind so viele Koffer und Kisten gewesen. Die Entrümpler haben alles einfach auf die Schultern gehoben und in ihren Van geschmissen. Ein paarmal habe ich Glas splittern gehört. Aber ich habe unterschrieben, und ab damit zu Tante Frances’ Gruselanwesen in Dorset. Ich hoffe, sie regt sich nicht zu sehr auf, wenn ihr alter Kram plötzlich unerwartet bei ihr auftaucht, aber da Mum den Keller nun mal zum Atelier umbauen will, musste es sein.»

«Frances ist die Tante, der das Haus hier gehört, oder?»

«Großtante, um genau zu sein, die Tante meiner Mutter.»

«Warum habe ich nie von ihr gehört? Oder sie mal getroffen?» Jenny fragt ganz freundlich, aber ich habe den Eindruck, sie denkt, ich habe ihr ein wichtiges Detail meines Lebens verschwiegen.

«Nimm’s nicht persönlich», sage ich. «Ich habe sie auch nie getroffen. Offenbar mag sie London nicht. Oder Reisen. Außerdem ist sie so reich, dass sie es nicht nötig hat, sich um das Haus hier zu kümmern. Ich glaube, sie überweist meiner Mutter auch jeden Monat ein bisschen Geld, was ich schräg finde, schließlich ist Mum erwachsen. Als ich sie mal danach fragte, zuckte sie nur mit den Schultern und wollte nicht drüber reden.»

«Aha.» Ich kann förmlich sehen, wie Jenny all diese neuen Informationen in sich aufsaugt. «Klingt vielleicht makaber», sagt sie dann, «aber was passiert, wenn sie stirbt? Hat sie Kinder, die euch hier rausschmeißen können?»

«Nope. Meine Mutter erbt alles.» Ich schäme mich ein bisschen, weil meine allerbeste Freundin das vermutlich längst wissen sollte, aber das Thema kam halt nie zur Sprache. Tante Frances ist dermaßen abwesend in meinem Leben, dass ich das Haus immer als unser Eigentum gesehen habe. Nur zu Gelegenheiten wie jetzt, wenn ich einen Keller mit ihren Sachen ausräumen muss, erinnere ich mich daran, dass es sie gibt.

Jenny stößt einen Pfiff aus. «Wow, eine dicke Erbschaft. Ich dachte, so was gibt’s nur im Film.»

Wir werfen uns gegen die verzogene Tür, die natürlich nicht abgeschlossen ist. Meine Mutter sagt, wenn jemand in der Tregunter Road ein Haus ausräumen will, dann bestimmt nicht unseres. Meine Blicke schweifen über die Wände der Eingangshalle, von denen die Tapete sich in langen Fladen löst, darunter kommen Putz und nackte Ziegel zum Vorschein. Sie hat recht, jeder Dieb würde sich hier einmal um die eigene Achse drehen und dann wieder gehen. Was ein Fehler wäre. Die meisten Kunstwerke meiner Mutter sind ein Vermögen wert. Von ihren frühen Arbeiten, die im ganzen Haus verteilt herumstehen, würde sie aus Sentimentalität nie eins verkaufen.

«Ich bin hier!» Die Stimme meiner Mutter kommt aus der tief in den Eingeweiden der Villa liegenden Küche. Auf dem Weg dorthin durchqueren wir zwei große Räume, die von meiner Mutter als Ateliers genutzt werden. Riesige Leinwände lehnen an den Wänden, und der Boden ist mit Farbklecksen bedeckt. Schon seit Jahrzehnten deckt sie den Boden nicht mehr mit Folie ab. Das Licht, das durch die mit fünfundzwanzig Jahre altem Großstadtschmutz bedeckten Fenster hereinfällt, ist gelblich. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter mal die Fenster geputzt hätte. Würde sie es tun, wäre das Licht bestimmt viel zu hell und grell – wie wenn man an einem strahlenden Sommertag die Sonnenbrille absetzt.

Meine Mutter hat ihr graues Haar mit einem grünen Bandana zurückgebunden und hält ein fast leeres Glas Rotwein in der Hand, zwei volle stehen auf dem Tisch. Sie hat sich über die ganze Arbeitsfläche ausgebreitet, um Zwiebeln zu schneiden – gebratene Zwiebeln sind das einzige Gericht, das sie beherrscht. Irgendwas ist im Backofen, aber ich vermute, es ist gekauft und kommt gleich mit gebratenen Zwiebeln als Topping auf den Tisch.

«Da liegt ein Brief für dich», sagt sie, ohne sich zu mir umzudrehen.

«Ich freu mich auch, dich zu sehen, Laura», sagt Jenny und kichert, aber meine Mutter guckt schuldbewusst, als sie sich umdreht und Jenny auf die Wange küsst.

Sie wendet sich mir zu, wie um mich zu umarmen, gibt mir aber dann ihr fast leeres Glas und nimmt sich ein volles vom Tisch.

Ich rieche Gas, aber meine Mutter hat es auch bemerkt. «Der Backofen ist wohl gerade ausgegangen», sagt sie und entzündet unter der Zwiebelpfanne ein langes Streichholz und klappt dann die Backofentür auf. Der Backofen ist so alt; um ihn anzukriegen, muss man sich mit einem Streichholz hineinbeugen und dabei sein Leben aufs Spiel setzen. Ich spare mir den Vorschlag, ihn endlich zu ersetzen. Diese Diskussion hatten wir über die Jahre oft genug. Meine Mutter findet den Backofen retro und cool; ich denke jedes Mal, wenn sie sich hineinbeugt, an Sylvia Plath.

Ich lasse mich auf einen Stuhl sinken und schnappe mir vom Tisch den dicken Umschlag, auf dem mein Name steht. Mein Herz schlägt schneller, denn ich habe in letzter Zeit an einigen Schreibwettbewerben teilgenommen. Aber per Post hat noch nie jemand geantwortet, fällt mir ein, das läuft alles online. Mein Hirn macht seltsame Sachen mit der Sehnsucht, jemand möge etwas von dem wertschätzen, was ich geschrieben habe. Ich kippe den letzten Schluck von dem, was mit ziemlicher Sicherheit Supermarktwein ist und nach Kopfschmerzen schmeckt, reiße den Umschlag auf und hole einen bedruckten Bogen mit Briefkopf heraus.

Miss Annabelle Adams,

zum Zwecke eines Treffens mit Ihrer Großtante, Ms Frances Adams, werden Sie gebeten, sich in den Räumen der Kanzlei Gordon, Owens & Martlock einzufinden. Ms Adams beabsichtigt, Sie über die Verantwortlichkeiten in Kenntnis zu setzen, die mit Ihrer Funktion als Alleinerbin von Ms Adams’ Grundbesitz und Vermögen einhergehen.

«Der ist von Tante Frances’ Anwalt», sage ich. «Sieht aus, als wäre er falsch adressiert, hier steht mein Name statt Laura. Es geht um die Erbschaft.»

Jenny lehnt sich über meine Schulter und überfliegt den Brief. «Da steht Großtante. Sieht mir nicht nach einem Fehler aus.»

«Das hat sie nicht getan!», regt sich meine Mutter auf, kommt zum Tisch, reißt mir den Brief aus der Hand und starrt lange genug darauf, dass die Zwiebeln in ihrem Rücken erst karamellig, dann verbrannt riechen. Sie wirft den Brief auf den Tisch und geht zurück zum Herd, um zu retten, was zu retten ist.

Vor sich hin murmelnd, liest Jenny den Brief zu Ende. «Wir ersuchen Sie bla, in den Räumen von Bla zu erscheinen, bla, bla. Hier kommen nur noch die Infos für den Termin. Das ist schon in ein paar Tagen, irgendwo in Dorset in einem Dorf namens Castle Knoll. Oh mein Gott», flüstert sie ehrfürchtig. «Eine mit der Familie zerstrittene Tante auf dem Land, ein mysteriöses Erbe – Annie, dein Leben verwandelt sich gerade in einen Roman!»

«Ich bin sicher, der Brief sollte an Mum gehen. Tante Frances ist extrem konservativ und ändert nicht einfach so ihre Meinung und enterbt Mum. Andererseits», füge ich zögerlich hinzu, «nach dem, was ich so über sie gehört habe, könnte es auch genau das sein, was sie tun würde.» Angesichts Jennys ehrfürchtiger Miene beschließe ich, dass es Zeit ist für einen Exkurs in Tante Frances’ seltsame Lebensgeschichte.

«Also, unsere Familienmythen», sage ich gedehnt. «Habe ich dir die echt nie erzählt?» Jenny schüttelt den Kopf und nippt an dem letzten vollen Glas. Ich schaue zu meiner Mutter. «Willst du oder soll ich?»

Meine Mutter geht wieder zum Backofen, hantiert an der Tür und fördert eine Aluminiumschale mit etwas Undefinierbarem zutage. Obendrauf kommen die verbrannten Zwiebeln, dann stellt sie die Aluschale auf den Tisch, holt drei Gabeln aus dem Besteckkorb und legt sie daneben. Sie lässt sich auf einen Stuhl sinken, nimmt einen Schluck Wein und schüttelt den Kopf.

«Also gut, dann ich», sage ich und schalte in den Erzählmodus. Jenny nimmt die Weinflasche und gießt mir nach. «Wir schreiben das Jahr 1965, und Tante Frances ist siebzehn. Sie und ihre zwei besten Freundinnen sind auf dem Jahrmarkt und lassen sich aus der Hand lesen. Tante Frances’ Zukunft sieht in etwa so aus: Du wirst ermordet und endest als Häuflein bleicher Knochen.»

«Oh, das ist so drüber, dass es schon wieder toll ist», schwärmt Jenny, «aber wenn du wirklich Krimis schreiben willst, musst du ein bisschen mehr Spannung aufbauen und so.»

Meine Mutter hat wieder den Brief in der Hand und studiert ihn mit gerunzelter Stirn. «Die Weissagung ging anders», sagt sie jetzt. «Sie ging so: Ich sehe bleiche Knochen in deiner Zukunft. Dein langsames Hinscheiden beginnt erst recht, sobald du die Königin in einer Hand hältst. Gib acht auf den Vogel, denn er bringt Verrat. Und ist es einmal geschehen, gibt es kein Zurück. Aber Töchter sind der Schlüssel zur Sühne. Finde die eine rechte und binde sie an dich. Die Zeichen führen zu deinem Mörder.»

Ich steche mit der Gabel in die zähe Masse, von der ich vermute, dass es sich um Kartoffelgratin aus der TK-Abteilung von Tesco handelt. «Und der Clou an dem Ganzen ist, dass Tante Frances ihr Leben lang gedacht hat, dass sich das eines Tages bewahrheiten wird.»

«Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich das traurig finden soll oder schlau von ihr», sagt Jenny, und an meine Mutter gewandt: «Und Annie hat die alte Dame echt nie getroffen?»

Meine Mutter seufzt. «Frances lebt in ihrem Herrenhaus, und wir machen hier unser Ding.»

«Echt jetzt, ihr habt eine Tante mit Herrenhaus und Landgut und habt keinen Bock auf sie?»

Meine Mutter wedelt Jennys Erstaunen mit der Hand beiseite. «Jeder meidet Frances. Sie ist verrückt. Und zwar so sehr, dass sie es in der Gegend zu einiger Berühmtheit gebracht hat – die sonderbare alte Dame mit einem gewaltigen Landsitz und säckeweise Geld, die jeden gnadenlos durchleuchtet für den Fall, dass er oder sie eventuell ihr Mörder ist.»

«Rufst du diesen Anwalt wegen der Verwechslung an?», frage ich.

Meine Mutter zwickt sich in den Nasenrücken und reicht mir den Brief. «Ich glaube nicht, dass es eine Verwechslung gab. Ich würde dich ja nach Dorset begleiten. Aber der Termin ist nicht zufällig gewählt.»

Ich schaue noch mal auf den Briefbogen. «Deine Vernissage in der Tate», sage ich ungläubig. «Sie will dich also nicht dabeihaben?»

«Frances mag verrückt sein, aber sie ist auch ziemlich berechnend. Und sie spielt gern Spielchen.»

«Also gut», sage ich zögernd und bin enttäuscht, weil ich die Vernissage verpassen werde, aber hier geht es um unseren Lebensunterhalt. «Aber wieso ich?», frage ich sie.

Meine Mutter stößt einen tiefen Seufzer aus. «Sie hat ihr Leben an dieser Weissagung ausgerichtet, und jahrelang war ich ihre Alleinerbin wegen dieses Satzes darin: Töchter sind der Schlüssel zur Sühne. Ich war ja die einzige Tochter der Familie, mein Vater war Frances’ älterer Bruder.»

«Liegt es am nächsten Satz?», grübele ich. «Finde die eine rechte und binde sie an dich?»

Meine Mutter nickt. «Scheint so, als hätte Frances beschlossen, dass ich nicht mehr die rechte Tochter bin.»

2

Die Castle-Knoll-Ermittlungen, 10. September 1966

Ich schreibe das alles auf, weil ich denke, dass bestimmte Dinge später von Bedeutung sein werden. Details, die nebensächlich erscheinen, werden wichtig oder umgekehrt. Also werde ich von nun an Informationen sammeln und Notizen machen.

Rose hält mich für verrückt, weil ich mich so auf diese Weissagung versteife. Aber sie weiß ja nicht, warum ich so stark daran glaube.

Schon bevor ich im Zelt der Wahrsagerin war, wurde ich bedroht. In der Tasche meines Kleides hatte ich einen Zettel gefunden, auf dem stand: «Ich stecke deine Knochen in eine Kiste.»

Wenn ich nur daran denke, fange ich an zu zittern, aber ich darf diese Drohung nicht außer Acht lassen, schließlich könnte sie einen Hinweis darauf enthalten, wie ich die Maschinerie des Bösen stoppen kann, die längst in Gang gesetzt wurde.

Nach dem Zettel kam dann die Weissagung. Ich sehe bleiche Knochen in deiner Zukunft. Zweimal Knochen in einer Woche – das kann kein Zufall sein. Und nun ist noch Emily vor ein paar Wochen verschwunden, fast genau ein Jahr später.

Die Polizei hat mir bei der Befragung natürlich nicht geglaubt, das habe ich genau gemerkt. Die haben mich sogar gefragt, ob ich Emily die Aufmerksamkeit neide, die ihr Verschwinden ihr einbringt.

Ich bin ja nicht dumm und habe ihnen natürlich nicht alles erzählt, sondern beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Die Letzten, die von der Weissagung erfahren sollten, sind die von der Polizei.

3

Schon nach drei Stationen ist der Zug beinahe leer – alle Pendler steigen in den letzten Ausläufern Londons aus. Nach zwei Stunden kommen die grünen Hügel von Dorset in Sicht, und ich zappele unruhig auf dem Sitz herum. Ich nehme ein leeres Notizbuch aus der Tasche und versuche, die Szenerie zu skizzieren. Von einem Ort namens Sandview aus werde ich einen Bus nach Castle Knoll nehmen, der nur einmal pro Stunde fährt.

Als mein Zug schließlich in seinen Endbahnhof schleicht, erblicke ich einen jener Doppeldeckerbusse, die normalerweise Touristen ans Meer fahren. Wie ein kleines Mädchen setze ich mich oben ganz vorne hin und werde auf der vierzigminütigen Fahrt durch eine Reihe nichtssagender Ortschaften kräftig durchgeschüttelt. Ich atme tief ein, die Kopfnote ist ganz klar frischer Dung, dazu kommt ein ferner Hauch Seebrise. Wegen der schönen Lichttupfen und der malerischen Landstraßen sind die Gerüche allerdings keine Zumutung, sondern ziemlich charmant.

Das Städtchen Castle Knoll mutet an wie das Bild auf einer Keksdose – schmale Gassen mit Natursteinmauern, ganz am Ende ein Hügel, der auf seinen bewaldeten Schultern eine verfallene normannische Burg trägt. Schafe grasen zwischen den Ruinen, ich höre ihr ulkiges Blöken, als wir die Landstraße, die um die Burg herumführt, entlangtuckern.

Ich bin ein paar Minuten zu früh für mein Treffen mit Mr Gordon und spaziere ein bisschen die gepflasterte Hauptstraße entlang. Das Städtchen ist so winzig, dass ich alles gesehen habe, wenn ich mich nur einmal im Kreis drehe. Ganz links sind die Ruinen der Burg zu erahnen, mit einem historisch wirkenden Pub am Fuße des Hügels, er heißt Dead Witch und wirkt angemessen spukig. Das Ziegeldach hängt durch, und der Anstrich der dicken Mauern ist von der Sonne ausgeblichen und blättert ab.

Das übrige Städtchen ist dagegen makellos wie ein Filmset. Obwohl es gerade zehn Uhr ist, quillt der altmodische Süßigkeitenladen von Touristen über. Die viktorianische Bahnstation befindet sich gleich daneben. Dampf steigt aus den Nüstern des Zuges auf, der dort wartet, und Familien stehen an, um Tickets ins benachbarte Seebad zu kaufen, das einzige Ziel der Bimmelbahn. Wie Buchstützen umfassen links der Pub und rechts Crumbwell’s Deli die gesamte Hauptstraße. Der Name des Ladens ist in goldenen Lettern auf ein leuchtend rotes Schild geschrieben. Direkt daneben ist das elegante Castle House Hotel, in dem die Nacht sicher ein Vermögen kostet.

Schließlich öffne ich die Tür von Gordon, Owens & Martlock, die ihre Kanzlei im Erdgeschoss eines der Cottages an der Hauptstraße haben. Vier Schreibtische wurden in ein kleines Zimmer gezwängt, der Schein grüner Bankierslampen verbindet sich mit dem hereinfallenden Sonnenlicht und verleiht dem Raum eine angenehme Heimeligkeit. An einem der Schreibtische sitzt ein älterer Mann mit rundem Gesicht, die anderen Arbeitsplätze sind verwaist.

«Verzeihung, ich möchte zu Mr Gordon.»

Der Mann schaut blinzelnd zu mir auf, dann auf seine Armbanduhr und dann wieder zu mir. «Ich bin Walter Gordon. Sind Sie Annabelle Adams?»

«Ja, die bin ich. Nennen Sie mich bitte Annie.»

«Wie schön, Sie kennenzulernen», sagt er und steht auf, um mir die Hand zu schütteln. «Sie sehen genauso aus wie Laura.»

Ich lache höflich. Meine Mutter ist hier aufgewachsen. Natürlich kennen die Leute in Castle Knoll sie. Leider ist sie mit ihren Eltern zerstritten, deshalb sind wir nie hergefahren.

«Ich habe gerade mit Frances telefoniert», sagt Mr Gordon. «Wir müssen uns leider nach Gravesdown Hall vertagen. Sie hat irgendwelchen Ärger mit ihrem Wagen. Wir warten, bis alle da sind, und machen uns dann auf den Weg.»

Erst als ich ihm bereits an seinem Schreibtisch gegenübersitze, fällt mir auf, dass er mir keinen Stuhl angeboten hat. Ich gebe nichts auf Etikette, aber Mr Gordon, dessen Anzug zwar zerknittert ist, aber immerhin ein Einstecktuch aufweist, doch ganz sicher. Missmutig schaut er zum Nachbarschreibtisch und murmelt etwas von Sekretärin und Tee.

«Darf ich fragen, wer noch kommt? Ich bin davon ausgegangen, nur Sie und Tante Frances zu treffen.»

«Oh.» Hastig schiebt er Dokumente auf seinem Schreibtisch hin und her. Er versucht, gelassen rüberzukommen, aber ich kann ihm seine Nervosität ansehen. «Frances hat ein paar, ähm, kreative Planänderungen, was die Zukunft ihres Besitzes angeht», sagt er. «Deshalb werden Saxon und Elva Gravesdown zugegen sein, die jedoch wie immer bemüht sind, sich nennenswert zu verspäten.»

Ich frage nicht, wer die beiden sind. Der Anwalt muss ja nicht merken, wie wenig ich über die Großtante weiß, die plötzlich beschlossen hat, mir ihr Vermögen zu vermachen. Da Frances’ Wohnsitz Gravesdown Hall heißt, werden diese Leute wohl Verwandte ihres verstorbenen Mannes sein.

«Und mein Enkel Oliver sollte gleich zurück sein», fügt Mr Gordon hinzu. «Er wird auch teilnehmen. Ah, wenn man vom Teufel spricht.»

Ich blicke mich um und sehe ein Gesicht durch die Glasscheibe in der Tür. Derjenige hat Probleme mit der Türklinke, weil er ein Tablett mit Papp-Kaffeebechern in der Hand hat. Mr Gordon springt auf, um zu helfen, und ein spätmorgendlicher goldener Lichtstreif fällt auf mich, als die Tür sich öffnet. Als Oliver Gordon es schließlich über die Schwelle schafft, sieht er aus wie einem Modemagazin entsprungen. Er ist einfach zu perfekt angezogen, wenn es so was gibt. Sein hellblaues Hemd passt zu seinen Augen, er hat den obersten Knopf offen und trägt keine Krawatte. Seine graue Anzughose ist maßgeschneidert, und er hat eine lederne Laptoptasche über der Schulter. In einer Hand hält er das Tablett, in der anderen eine teuer aussehende Kuchenschachtel, auf der golden der Schriftzug Castle House Hotel prangt.

«Annie, das ist mein Enkel Oliver», sagt Mr Gordon mit einer gehörigen Portion Großvaterstolz in der Stimme. «Oliver, das ist Lauras Tochter Annie Adams.»

«Annie Adams», wiederholt Oliver langsam und sein rechter Mundwinkel hebt sich ein wenig. Er neigt den Kopf, und eine Strähne seines karamellfarbenen Haars fällt ihm attraktiv ins Gesicht. Die Geste wirkt ziemlich einstudiert, weshalb ich auf der Stelle immun dagegen bin. «Was für ein toller Name», sagt er. «Wie aus einem Comic.»

«Hä?»

«Na ja, wie Lois Lane oder Pepper Potts», erklärt er und hebt die Hand mit dem Tablett, als lüpfte er einen Hut.

«Nett, dich kennenzulernen», sage ich, erfreut, dass hinter der aalglatten Fassade ein Nerd zum Vorschein kommt. Aber sofort fängt er sich wieder, und die Maske ist erneut undurchdringlich. «Noch keine Frances?», fragt er Mr Gordon. «Ich wollte meine Aufwartung mit Kaffee und Kuchen machen, dachte, sie schätzt so was.»

«Dachtest du? Oder dachte das doch eher Rose?»

Wieder wird ein jungenhaftes Gesicht hinter der Maske erkennbar. «Also gut, Rose hat mir am Hotel aufgelauert und mir das alles in die Hand gedrückt. Ich vermute, auf die Weise will sie Frances daran erinnern, dass sie hätte bedacht werden müssen.»

«Warum würde jemand, der im Testament nicht bedacht wird, sich dafür mit Kuchen bedanken?», frage ich. «Ist das nicht exakt das Gegenteil von dem, was man machen würde?»

Mr Gordon lächelt gequält. «Das stimmt, aber Rose ist der Typ Mensch, der durch übertriebene Freundlichkeit um Aufmerksamkeit buhlt.» Er streicht mit der Hand über sein Einstecktuch, aber es bleibt zerknittert.

«Wie dem auch sei, Frances wird gewiss mit Rose darüber sprechen. Wir können den Kuchen leider nicht hier essen. Frances schafft es nicht herunter, ihr alter Rolls-Royce hat einen Motorschaden.»

In diesem Moment kommt eine elegante Frau zur Tür herein.

«Oh Gott», murmelt Oliver, «ich wusste nicht, dass wir es heute mit Elva zu tun kriegen.»

Die Frau schlendert durch den Raum und blickt dabei über unsere Köpfe hinweg, als wären nicht wir es, die sie hier zu treffen hoffte. Ihr silbernes Haar ist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ich vermute, sie ist Mitte fünfzig, und frage mich gleichzeitig, ob jemand in Castle Knoll Botox verabreicht. Sie trägt ein cremefarbenes Ensemble mit Blazer. Wäre Jenny an meiner Seite, hätte sie mir ins Ohr flüstern können, ob es sich um Chanel oder Dior handelt.

«Walter.» Aus ihrem Mund klingt Mr Gordons Vorname wie ein Befehl. Die knappe Begrüßung lässt keinen Zweifel daran, dass sie hier die Hosen anhat. Er springt von seinem Schreibtisch auf und fängt wieder mit dem linkischen Dokumentengeschiebe an, gerade als hätte sie ihn bei etwas Verbotenem ertappt.

«Elva, hallo», sagt er. «Bitte nimm doch neben Laura Platz.»

«Annie», korrigiere ich ihn, und die Frau reckt das Kinn in meine Richtung.

«Natürlich, Annie, verzeihen Sie», sagt er.

«So, so», sagt Elva, verschränkt die Arme vor der Brust und tritt einen Schritt auf mich zu, die Lippen zu einem triumphalen Lächeln verzogen. «Sie sind Lauras Tochter? Typisch, dass sie nicht selbst kommt, um die schlechten Nachrichten entgegenzunehmen.»

«Schlechte Nachrichten?», frage ich und habe das Gefühl, ihr gerade in die Falle zu gehen, aber ich kann mich nicht beherrschen. «Ich weiß nur, dass Großtante Frances mich herbeordert hat.» Herbeordert, ich merke selbst, dass ich mich anhöre wie eine Figur aus einem Jane-Austen-Roman. Sie wendet sich von mir ab, und sofort entspanne ich mich ein wenig, gerade als wäre der eisige Hauch einer Klimaanlage abgestellt worden.

«Ganz genau», sagt sie nun in Richtung Mr Gordon. «Frances hat ihr Testament geändert und Laura ausgeschlossen. Das hat sie mir persönlich vor ein paar Tagen erst gesagt.» Elva trägt das so monoton und sachlich vor, wie etwa die Off-Stimme einer Tierdokumentation das Blutbad einer Löwenmahlzeit beschreiben würde. «Kommt sie her und erklärt uns alles? Ich habe um halb zwölf in Southampton einen wichtigen Lunch und kann nicht den ganzen Vormittag hier zubringen. Und Lauras Tochter muss ja wohl wirklich nicht anwesend sein. Laura ist raus.»

Mir entfährt ein erstauntes Schnauben, und Mr Gordon stammelt: «I-ich muss doch sehr bitten, bitte keine Spekulationen in Frances’ Abwesenheit. Sie wird uns alles erklären, sobald wir sie treffen. Wo ist Saxon?»

«Saxon steckt im Sandview Hospital in einer Autopsie fest. Wenn er da fertig ist, hat er eine Stunde Fahrt vor sich, und das auch nur, wenn er die Fähre kriegt. Er hat gesagt, wir sollen einfach ohne ihn zusammenkommen.»

«Das wird Frances nicht gutheißen», sagt Mr Gordon und lässt sich wieder auf seinen Schreibtischstuhl sinken.

Einen Moment angespannter Stille lang warten wir alle auf Elvas Reaktion, dann verzieht sie das Gesicht zu einem Ausdruck hochmütiger Herablassung, schweigt jedoch. Aus irgendwelchen Gründen scheinen die Elvas dieser Welt in mir keine Gegnerin zu sehen, was in Situationen wie dieser ein Vorteil ist.

Ich setze ein Lächeln auf und sage: «Verzeihung, ich habe nicht mitbekommen, in welchem Verhältnis Sie zu Tante Frances stehen. Sind Sie eine Cousine?»

«Mein Mann ist ihr Neffe», sagt sie herablassend.

Meine Mutter hat nie irgendwelche Verwandten von Tante Frances erwähnt, wahrscheinlich weil sie immer als Alleinerbin galt. Seltsam ist es trotzdem, jetzt auf welche zu treffen.

Mr Gordon beugt sich zu mir und klärt die Sache auf: «Saxon ist der Neffe von Frances’ verstorbenen Mann», sagt er. «Lord Gravesdown nahm Saxon bei sich auf, als dessen Eltern starben. Und als Frances und er dann heirateten, ging Saxon aufs Internat. Frances hat ihm genauso wie Laura über die Jahre immer finanzielle Unterstützung gewährt, aber …» Er wirft Elva einen Seitenblick zu, die die Tapete neben seinem Kopf studiert, als fühlte sie sich durch ein Summen gestört, dessen Quelle sie nicht recht ausmachen kann. «Frances und Saxon waren nie wirklich eng.»

«Und was Laura angeht», sagt Elva barsch, «so ist Frances endlich zur Vernunft gekommen. Das Haus in Chelsea ist seit vielen Jahren in Besitz der Familie Gravesdown, und das soll auch so bleiben. Als ich letzte Woche bei ihr oben war, konnte ich sehen, dass Laura einfach aus dem Nichts ein paar alte Koffer herexpedieren ließ. Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Sie wird euch beide vor die Tür setzen.»

Mir zieht sich der Magen zusammen. «Das war ich», sage ich, «mein Name stand auf dem Lieferschein, den Frances gegenzeichnen musste. Ist sie etwa deshalb plötzlich an mir interessiert? Aber wie können ein paar alte Koffer sie dazu gebracht haben, mich zur Alleinerbin zu bestimmen?» Mein Hirn macht wilde Sprünge, ich verstehe gar nichts mehr.

Und was, wenn Elva recht hat? Was, wenn diese nicht abgesprochene Kisten- und Koffersendung Frances so verärgert hat, dass sie ihre Langzeitmieter vor die Tür setzt?

Elva sieht aus, als würde sie gleich an die Decke gehen, was mich darin bestätigt, dass sie geblufft hat, was Saxon als Erben angeht. Wahrscheinlich hat sie einfach drauflosspekuliert, als sie erfuhr, dass Frances meine Mutter enterben wird.

«Das alles kommt gewiss gleich zur Sprache», sagt Mr Gordon, der jetzt erschöpft wirkt, und ich erkenne, dass er älter ist, als ich dachte, mindestens siebzig.

«Ich bin immer noch verwirrt», beharre ich. «Will Tante Frances bei diesem Treffen etwa jedem ins Gesicht sagen, was sie in ihrem neuen Testament festgelegt hat? Ist so was … normal?»

«Frances macht, was sie will», erwidert Mr Gordon und seufzt.

«Du willst wohl sagen, sie hat ihr Leben und Sterben nach dieser verdammten Weissagung von 1965 ausgerichtet», fährt Elva ihn an. «Diese schreckliche alte Hexe!»

Ich mustere sie neugierig. Elva verliert die Nerven, und jemanden in seine Einzelteile zerfallen zu sehen, ist ein befriedigender Anblick.

«Wusstest du, dass Frances erst zugestimmt hat, unsere Hochzeit zu bezahlen, als wir den Ort der Feier gewechselt haben? Wir wollten den Queen Victoria Country Club, aber Frances war dagegen, weil die ein Porträt von Queen Victoria in ihrem Logo haben und die Prägung der Servietten und die Gravur der Gläser dazu führen würden, dass man den ganzen Abend Queen Victoria in der Hand halte. Es war absurd! Sie hat eine Macke.»

Plötzlich wendet Elva sich Oliver zu, gerade als hätte sie vorher nicht mitbekommen, dass er anwesend ist. «Warum ist dein Enkel da, Walter? Das ist eine Familienangelegenheit.»

Mr Gordon zieht ein Taschentuch heraus und wischt sich über die Stirn. «Darf ich dich daran erinnern, Elva», sagt er, «dass Frances Saxon, Annie und Oliver zu diesem Treffen gebeten hat, dich jedoch nicht?»

«Oliver?» Elva kann das Entsetzen in ihrer Stimme nicht verbergen. «Dann frage ich doch am besten dich, ob sie vorhat, den Gordons etwas zu vererben. Das Haus in Chelsea und das Gravesdown-Anwesen gehen an Saxon und mich und der sentimentale Schnickschnack an dich, Walter. Das ergibt in der Tat Sinn.»

Mr Gordon kneift sich in den Nasenrücken. «Wärst du so gut, das Spekulieren über Frances’ Testament zu unterlassen, Elva? Wie oft muss ich dir noch sagen …»

In dem Augenblick hebt Oliver die Hand mit dem klimpernden Wagenschlüssel und nickt mir zu. «Sollen wir dann mal? Ich kann dich mitnehmen.»

4

Die Castle-Knoll-Ermittlungen, 15. September 1966

Sie baggern den Dimber aus, der vom Nachbarcounty herüberfließt, durch die Gravesdown-Ländereien und dann runter in die Stadt.

Sie nehmen nur die tiefen Stellen in Angriff, denn wenn der Fluss die Stadt erreicht, ist er so flach, dass man bis auf den Grund blicken kann. Am tiefsten ist er oben auf Gravesdown, ich kann nicht aufhören, darin einen verborgenen Sinn zu sehen.

Auf Gravesdown hat nämlich alles angefangen. Furchtlos, wie sie ist, hat Emily vorgeschlagen, dass wir uns dort nachts mal umsehen.

Ich muss das Tagebuch kurz zur Seite legen. Peter ist da und streitet mit Mum. Wirklich niemand mag diese Frau, die er geheiratet hat, aber jetzt, wo sie das Baby bekommen haben, gibt es wohl kein Zurück. Sie haben sich so sehr ein Baby gewünscht, und vielleicht ist sie ja netter, jetzt, wo sie es hat.

Mit achtzehn Tante zu sein, ist seltsam, aber so kommt es eben, wenn der Bruder zehn Jahre älter ist. Ich muss zugeben, die kleine Laura ist das allersüßeste Mädchen der Welt, erst zwei Monate alt und schon macht sie niedliche Gurgelgeräusche und Laute. Leider sieht sie wie ihre Mutter aus.

5

Mit undurchdringlicher Miene geleitet Oliver mich zu seinem Wagen. In meinem Kopf herrscht wegen Elvas Vermutungen Wirrwarr, also konzentriere ich mich auf Olivers markante Kinnlinie, während ich versuche, das Gespräch irgendwie wieder auf die Comic-Namen zu bringen.

Er drückt auf den Zündschlüssel in seiner Hand, und die Lichter eines auf Hochglanz polierten BMW blinken auf. Er ist quer geparkt und blockiert den Bürgersteig, was uns böse Blicke mehrerer Leute einbringt, die auf die Straße treten müssen, um vorbeizukommen, aber entweder bemerkt er es nicht, oder es ist ihm egal.

Zwischen uns herrscht unbehagliches Schweigen, als er losfährt, doch sobald er sein Seitenfenster runterlässt und sommerliche Luft hereindringt, ist alle Anspannung wie weggeblasen. Wir fahren durch eine saftig grüne Landschaft, und ich möchte mich am liebsten hinausbeugen. Dass ich es nicht tue, liegt nur daran, dass ich kein Golden Retriever bin.

«Und was tust du so in London?», fragt er mich. Seine Art, die Kurven zu nehmen, sollte mich vermutlich nervös machen, aber er scheint sich in der Gegend auszukennen.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, denn jetzt ist der Moment gekommen zu verkünden: Ich bin Autorin. Jenny hat gesagt, ich muss das sagen, wenn Leute nach meinem Beruf fragen. Und Schreiben ist ja im Moment wirklich mein Beruf, nur dass ich nicht bezahlt werde. Oder wahrgenommen. Ich beiße mir auf die Lippen, als mir wieder mal mein leerer Posteingang in den Sinn kommt.

«Ich bin gerade zwischen zwei Jobs», sage ich also, was auch nicht gelogen ist, «und nutze die Zeit für kreative Projekte.» Als er schweigt, wechsele ich schnell zu Small Talk, damit ich jene kreativen Projekte nicht näher erläutern muss. «Und du?», frage ich. «Lebst du in Castle Knoll? Die Kurven nimmst du eindeutig, als wärst du von hier.» Ich lächele, aber seine Augen verengen sich bei meinem Kommentar zu seinem Fahrstil.

«Nein, nein, ich wohne auch in London. Ich arbeite für die Firma Jessop Fields.» Er hält inne, als müsste ich den Laden kennen und Ah und Oh sagen vor Begeisterung, und ich gehe im Geiste Firmennamen durch und versuche, mir vorzustellen, in welcher Art Unternehmen er wohl tätig ist. Jessop Fields hört sich an wie Goldman Sachs oder Pricewaterhouse Coopers …

«Finanzen?», rate ich auf gut Glück.

Er schnaubt, und ich weiß, die nette Comicbemerkung vorhin war eindeutig Zufall. So attraktiv dieser Oliver auch sein mag, drängt sich mir doch allmählich der Verdacht auf, dass er ein Blödmann ist.

«Projektentwicklung», sagt er herablassend und schaltet herunter, um auf einer Straße, die so schmal ist, dass uns keiner entgegenkommen darf, einen Berg in Angriff zu nehmen. «Jessop Fields ist Londons größte Firma für Grundstückserschließung. Wir haben landesweit Projekte, weltweit eigentlich.» Der Fahrtwind zerzaust sein Haar, und die sandblonden Strähnen stehen ihm wild vom Kopf ab. Ich unterdrücke ein Kichern.

Meine Annahme, er lebe in Castle Knoll, scheint ihn verärgert zu haben. «Aber Mr Gordon ist doch dein Großvater, also bist du hier aufgewachsen oder hast zumindest die Sommerferien hier verbracht?»

Annahmen solcher Art übertüncht er augenblicklich mit Details seiner privilegierten Herkunft. «Das stimmt auch», sagt er, «aber die meiste Zeit verbrachte ich im Internat. Wie vor mir schon Saxon Gravesdown besuchte ich das Harrow College. Dann war ich in Cambridge, und von da bin ich gleich nach London und habe bei Jessop Fields angefangen. Insofern kann man kaum sagen, dass ich hier aufgewachsen bin.»

Ich denke an meine durch und durch Londoner Kindheit. Meine Mutter und ich sind an den Wochenenden durch das gesamte U-Bahn-Netz geschlittert wie Flipperkugeln. Bisher hatte ich immer angenommen, Leute, die vom Land kommen, haben Wurzeln, aber als ich Oliver über seinen fehlenden Bezug zu seiner Heimat reden höre, begreife ich, dass ich diejenige mit den Wurzeln bin. Meine Kindheit mag unkonventionell bis marode gewesen sein, aber zumindest war sie glücklich. Der Gedanke an unser Leben in dem Haus in Chelsea weckt wieder Sorgen in mir. Was, wenn Elva doch recht hat? Ich kann kaum schlucken bei dem Gedanken, ausziehen zu müssen, so eng ist meine Kehle.

«Also fühlst du dich Castle Knoll kein bisschen verbunden?», frage ich und gebe mir keine Mühe, meinen Unglauben zu unterdrücken. «Du bist als kleiner Junge nicht durch die Burgruinen gestromert oder hast Lunchpakete dabeigehabt, wenn es mit der Dampflok ans Meer ging?»

Oliver zuckt mit den Schultern.

«Das kommt mir ein bisschen traurig vor», sage ich.

«Das liegt daran, dass du nicht aus einer Kleinstadt kommst. Dir mag Castle malerisch vorkommen, aber hier zu leben, ist ziemlich langweilig. Ich wäre an jedem anderen Ort lieber gewesen als hier.»

«Nur langweilige Menschen langweilen sich», kontere ich mit dem Lieblingsspruch meiner Mutter. «Aber mach dir keine Sorgen, wenn du eine öde Kindheit hattest, kann ich dir eine bessere erfinden.» Ich halte inne und lasse die Szenerie auf mich wirken, halte Ausschau nach Inspiration für eine gute Geschichte. «Der Hügel da drüben», sage ich dann, «da hast du dir mit acht bei einem Sturz mit dem Rad das Handgelenk gebrochen. Und da», ich zeige auf ein Gebäude in der Ferne, «vor dem Tor der Schule da bekamst du in der achten Klasse deinen ersten Kuss, während du darauf gewartet hast, dass deine Mutter dich von der Schuldisco abholt.»

«Das war nicht meine Schule», sagt Oliver unfroh. «Ich sagte doch, dass ich auf dem Internat war.» Er ist verärgert, aber das stört mich nicht. Im Gegenteil, so ist er wenigstens authentisch.

«Und da drüben», ich zeige auf einen Campingplatz, «hattest du in den Sommerferien dein erstes Mal. Du warst Spätzünder, hast aber aufgeholt. Ich würde es ja auf die Comics schieben, aber eigentlich glaube ich, dass du einfach ein paar Jahre brauchtest, um deine Schüchternheit abzulegen.»

«Bist du dann fertig?», fährt Oliver mich an.

Ich lehne mich mit einem Lächeln zurück. «Fürs Erste, ja», sage ich und sehe durch meine geschlossenen Lider das Sonnenlicht rot-golden gesprenkelt.

Kaum eine Viertelstunde später biegen wir von der Straße ab und passieren ein stattliches Tor. Die Einfahrt aus weißem Kies zerteilt einen gepflegten Rasen und ist so lang, dass ich Frances’ Haus noch gar nicht sehen kann. Wir biegen um eine sanfte Kurve, und endlich sehe ich es – Gravesdown Hall kommt hinter einem Fächer aus Zypressen und wolkenförmig gestutzten Hecken in Sicht. Das Gebäude aus Sandstein ist imposant und wirkt trotz des hellen Augustlichts irgendwie unheilvoll. Auf drei Etagen blitzen Fensterscheiben in der Sonne. Ich vermute, dass das Haus sich ziemlich weit nach hinten erstreckt. Ein einsamer Gärtner arbeitet rechts der Zufahrt, stutzt die Hecken, die ich geschmackvoll finde, aber irgendwie auch gruselig. Wir parken ganz oben am Rondell, neben einem antiken Rolls-Royce, dessen Motorhaube offen steht, als hätte jemand am Motor geschraubt und sei plötzlich ans Telefon gerufen worden.

Kurz stehen Oliver und ich vor der hohen Eichentür, und ich fahre mit der Hand über die kunstvollen Reben, Brombeeren und allerlei fein gearbeiteten Schnörkel darin. Ich bin nervös, weil ich endlich jene ominöse Großtante kennenlernen werde, die mich nach fünfundzwanzig Jahren, in denen ich nichts von ihr wusste, plötzlich herbeordert hat. Es ist die gute Art von Nervosität, wie nach dem Bewerbungsgespräch, wenn man den Eindruck hat, sich gut geschlagen zu haben, und freudig auf Nachricht wartet. Als ich auf die Messingklingel drücke, ertönt im Haus ein Glockenspiel. Die darauffolgende Stille zieht sich, also entschließt Oliver sich, den gusseisernen Türklopfer zu betätigen. Die drei Schläge dröhnen wie Schüsse. Wieder warten wir eine Weile, und als immer noch niemand öffnet, versucht Oliver es mit der Türklinke. Abgeschlossen.

«Sollten wir den Gärtner um Hilfe bitten?», frage ich nervös. «Ich meine, denkst du, er hat vielleicht einen Schlüssel?»

Oliver hebt die Brauen angesichts dieser Frage und sieht dabei unverschämt gut aus. «Hey, Archie!», ruft er und schaut mich weiter unverwandt an, ein fieses Lächeln im Gesicht. Natürlich kennt er den Gärtner, er ist schließlich hier aufgewachsen. Ich will mit den Augen rollen, kann mich aber nicht aus Olivers Bann lösen. «Ich helfe Archie besser die Leiter runter», sagt er in aller Seelenruhe, und jetzt ist sein Grinsen geradezu dreckig. «Archie hat ein schlimmes Knie. Hat er sich vor achtzehn Jahren ausgerenkt, als er mich aus dem Fluss gefischt hat. Ich wollte mich mit dem Seil hinüberschwingen und bin reingefallen.»

Ich bin nicht sicher, ob das der Wahrheit entspricht, aber ich freue mich, dass Oliver endlich auf mein kleines Spiel einsteigt.