Das Musikhaus an der Alster - Klang des Schicksals - Katja Dörr - E-Book

Das Musikhaus an der Alster - Klang des Schicksals E-Book

Katja Dörr

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

London, 1952: Ausgerechnet bei der Beerdigung von Ines' Großvater, dem Gründer des Musikhauses, kommt es zu einer merkwürdigen Begegnung: Eine fremde Frau behauptet, mit der Familie Albers verwandt zu sein. Ist sie gekommen, um einen Teil des Erbes einzustreichen? Ines muss herausfinden, was an der Geschichte der Unbekannten dran ist. Denn das Musikhaus der Familie ist in so großen finanziellen Schwierigkeiten, dass sie ein Erbe gar nicht auszahlen könnte. Die Spur zu den notwendigen Antworten führt Ines in die Heimatstadt der Familie nach Hamburg. Zum Glück muss sie nicht allein fahren, sondern wird auf der Reise von ihrem Kollegen Malcolm begleitet, der in Hamburg eine Konferenz besucht. Gemeinsam stoßen sie auf jahrzehntealte Geheimnisse, die nie hätten ans Licht kommen sollen. Was bedeutet dies für die Zukunft des Musikhauses? Und was bedeuten die zarten Gefühle für Malcolm, die in Ines erwachen, für ihren eigenen Lebensweg?

Der dritte Band der emotionalen und mitreißenden Familiensaga um das Musikhaus an der Alster in Hamburg. Ein Lesegenuss für alle Fans von Miriam Georg, Modehaus Haynbach und Grandhotel Schwarzenberg.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 366

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

Liebe Leserin, lieber Leser,

herzlichen Dank, dass du dich für ein Buch von beHEARTBEAT entschieden hast. Die Bücher in unserem Programm haben wir mit viel Liebe ausgewählt und mit Leidenschaft lektoriert. Denn wir möchten, dass du bei jedem beHEARTBEAT-Buch dieses unbeschreibliche Herzklopfen verspürst.

Wir freuen uns, wenn du Teil der beHEARTBEAT-Community werden möchtest und deine Liebe fürs Lesen mit uns und anderen Leserinnen und Lesern teilst. Du findest uns unter be-‍heartbeat.de oder auf Instagram und Facebook.

Du möchtest nie wieder neue Bücher aus unserem Programm, Gewinnspiele und Preis-Aktionen verpassen? Dann melde dich für unseren kostenlosen Newsletter an:be-heartbeat.de/newsletter

Viel Freude beim Lesen und Verlieben!

Dein beHEARTBEAT-Team

Melde dich hier für unseren Newsletter an:

Über dieses Buch

London, 1952: Ausgerechnet bei der Beerdigung von Ines‘ Großvater, dem Gründer des Musikhauses, kommt es zu einer merkwürdigen Begegnung: Eine fremde Frau behauptet doch tatsächlich, mit der Familie Albers verwandt zu sein. Ist sie gekommen, um einen Teil des Erbes einzustreichen? Ines muss herausfinden, was an der Geschichte der Unbekannten dran ist. Denn das Musikhaus der Familie ist in so großen finanziellen Schwierigkeiten, dass sie ein Erbe gar nicht auszahlen könnten. Die Spur zu den notwendigen Antworten führt Ines in die Heimatstadt der Familie nach Hamburg. Zum Glück muss sie nicht allein fahren, sondern wird auf der Reise von ihrem Kollegen Malcolm begleitet, der in Hamburg eine Konferenz besucht. Gemeinsam stoßen sie auf jahrzehntealte Geheimnisse, die nie hätten ans Licht kommen sollen. Was bedeutet dies für die Zukunft des Musikhauses? Und was bedeuten die zarten Gefühle für Malcolm, die in Ines erwachen, für ihr eigenes Glück?

Der dritte Band der emotionalen und mitreißenden Familiensaga um das Musikhaus an der Alster in Hamburg. Ein Lesegenuss für alle Fans von Miriam Georg, Modehaus Haynbach und Grandhotel Schwarzenberg.

Katja Dörr

Das Musikhaus an der Alster – Klang des Schicksals

Roman

Für meine Familie

1.

Friedhof Abney Park, London, 17. Januar 1952

Ganz still und mit geschlossenen Augen lauschte Lena dem gleichmäßigen Prasseln der Regentropfen auf ihrem Schirm. Es war schon zwei Tage her, seit der graue Himmel über London seine Schleusen geöffnet hatte, und mittlerweile hätte man meinen können, es nähme kein Ende mehr mit den kalten Schauern, die sämtliche Straßen überschwemmten und dabei den letzten Rest der grauen Schneemassen in den Rinnstein spülten. Und als wäre das alles noch nicht genug, fegte auch noch ein eisiger Wind durch die Gassen, der einen selbst im dicksten Mantel noch widerwillig mit den Zähnen klappern ließ. Wehmütig dachte Lena an den vergangenen Sommer zurück. Schon seit Kindertagen liebte sie die Hitze und die Sonne und konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als laue Nachmittage mit einem Buch im Schatten eines Baumes oder am Ufer eines kühlen Sees zu verbringen. Umso mehr verabscheute sie dafür das feuchte, graue Einerlei, das Jahr für Jahr von Oktober bis Februar herrschte. In diesen Tagen, wenn die Sonne nie richtig aufzugehen schien und die kurzen Abende schneller und schneller vom Dunkel der Nacht verschlungen wurden, wünschte sie sich, einfach in eine Art Winterschlaf fallen zu können, um dann erst wieder mit dem lebensfrohen Grün des Frühlings zu erwachen.

Als Lena wenige Momente später ihre Augen öffnete und mit ihren schwarz behandschuhten Händen ihren ebenso schwarzen langen Wollmantel glatt strich, wurde sie schmerzhaft daran erinnert, dass der Winter aktuell nicht das war, was ihr am meisten Sorgen und Kummer bereitete. Instinktiv griff sie nach Harrys Arm, sodass dieser sich ihr halb zuwandte und ihr einen liebevollen Blick zuwarf. Auch er war in Trauerkleidung und trug neben einem eleganten Jackett einen modischen Hut und eine Krawatte, die ihm fast bis zum Bauchnabel reichte. Seit einigen Wochen bedeckte ein rotbrauner Bart sein Kinn und seine Wangen, der ihn auf seine ganz eigene Art weltmännisch wirken ließ.

»Alles in Ordnung?«, hauchte er ihr zu.

»Nein«, erwiderte sie. »Aber es wird schon irgendwie gehen. Bitte bleib genau hier an meiner Seite, hörst du? Tust du das für mich?«

Harry nickte stumm und strich zärtlich über Lenas Hand, die immer noch auf seinem Arm lag. Sie konnte spüren, wie seine Stärke ihr Halt gab. Obwohl sie von so vielen Bekannten und Freunden umgeben waren, fühlte es sich für sie schon den ganzen Tag lang so an, als sei sie mit einem Mal ganz allein auf der Welt. All die Menschen, die ansonsten um sie herum auf der nassen Wiese und dem schmalen Schotterweg herumstanden, verschwommen im Regen zu einer einzigen blassen Nebelwand. Irgendwo weiter vorn durchbrachen Worte, die in einem monotonen Tonfall gesprochen wurden, die Stille. Doch Lena hätte nicht einmal sagen können, ob die Stimme, die sie hörte, dem Pfarrer oder einem der Gäste gehörte. Im Grunde war es ihr auch egal. Nichts, was irgendjemand sagte, könnte diesen Tag auch nur ein klein wenig besser machen, ihren Schmerz lindern oder gar den Tod gegen das Leben austauschen. Was geschehen war, war geschehen und hatte die kleine heile Welt der Familie in ihren Grundfesten erschüttert. Gerade als Lena damit begann, hastig in ihrer Manteltasche zu kramen, weil sie spürte, dass sie die Tränen nicht mehr länger zurückhalten konnte, zupfte jemand von hinten an ihrem Ärmel.

»Lena.« Die Stimme klang aufgeregt und ein wenig zu laut für den gegebenen Ort und Anlass. »Gott sei Dank bist du da. Ich dachte schon, ich hätte mich verlaufen.«

Sie drehte sich um und blickte in das vertraute Gesicht ihrer Mutter. Theresa trug ein schwarzes Kopftuch, unter dem ein paar lockige Strähnen ihres ergrauten Haares hervorlugten. Sie sah kurz an Lena vorbei zu Harry und hakte sich dann bei ihrer Tochter unter. Ihr Blick war immer noch leicht irritiert und sorgenvoll, und sie stieß einen leisen Seufzer aus.

»Schon gut, Mama«, flüsterte Lena. »Jetzt bist du ja bei uns. Hier, komm noch ein bisschen näher, dann passen wir beide zusammen unter den Regenschirm.«

Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, dass auch ihre Tochter Ines nun hinter ihr stand. Diese nickte ihr kaum merklich zu. Eigentlich hatten Theresa und Ines sich zusammen etwas abseits positioniert, da Erstere auf größere Menschenansammlungen in letzter Zeit ängstlich reagierte. Lena war froh, dass ihre Tochter offensichtlich gut aufgepasst hatte und dicht bei Theresa geblieben war. Sie drehte ihren Kopf leicht zur Seite und betrachtete das Gesicht ihrer Mutter, die mit gesenktem Kopf dastand und anscheinend den Worten lauschte, die weiter vorn gesprochen wurden.

Theresa Albers war alt geworden, das war nicht zu bestreiten. Insbesondere die Jahre des Zweiten Weltkriegs hatten sie gezeichnet. Lena konnte sich noch gut an das Sinnbild erinnern, das Harry in einem Gespräch gezeichnet hatte, das sie kurz vor ihrer endgültigen Abreise von Hamburg nach London geführt hatten. Als ein Pulverfass hatte er das Deutsche Reich im Jahre 1930 beschrieben, und sie hatte erst viel zu spät erkannt, wie recht er damit gehabt hatte. Zwar war die Familie gerade noch zur rechten Zeit aus dem Zentrum der Explosion geflüchtet, aber diese war dennoch überaus spürbar gewesen. Nicht nur, dass Theresa, Georg und Lena durch Radio und Zeitungen miterleben mussten, wie sich ihre geliebte Heimat in den Schrecken des gesamten Kontinents verwandelte.

Nein, im August 1940 war The Blitz, wie die Briten die Angriffe der Luftwaffe nannten, über die Stadt hereingebrochen, und es fielen deutsche Bomben auf London. Lena dachte mit einer Mischung aus Entsetzen und Scham an diese Zeit zurück. Wie erstarrt hatten ihre Mutter und sie sich in dem schlecht beleuchteten, stickigen U-Bahn-Schacht aneinandergeklammert, ständig betend und hoffend, dass der nächste Einschlag, dessen dröhnender Zorn den Boden erzittern ließ, der letzte in dieser Nacht sein möge. Und gleichzeitig hatten die beiden Frauen die Blicke der anderen Schutzsuchenden auf sich gespürt, manche schüchtern, andere ganz unverhohlen. Sie, die sie in der Dunkelheit am Boden kauerten, waren schließlich selbst Deutsche. Trugen sie etwa keine Mitschuld an dem Terror und dem Elend, die dort oben an der Oberfläche über das Land schwappten?

Nicht wenige Briten hegten jedenfalls auch nach dem Krieg noch eine Abneigung gegen die Deutschen, was sich unter anderem auch an den sinkenden Zahlen der englischen Kunden im Musikhaus bemerkbar gemacht hatte. Wenn Lena an die schwarz verkohlten, rauchenden Ruinen zurückdachte, durch die sie in dieser Zeit gewandert war, konnte sie es wahrlich keinem von ihnen verdenken. Dabei war es nicht einmal der Krieg selbst gewesen, sondern diese folgenden Jahre, die Jahre der Not, des Kummers und der Ablehnung, die Theresa Albers letztlich am meisten zugesetzt hatten. Heutzutage war das lebendige, aufmerksame Funkeln aus ihren Pupillen gewichen und hatte einer matten, sorgenvollen Schwere Platz gemacht, die ihre Mundwinkel nach unten zog und ihre früher rosigen Wangen zunehmend verblassen ließ.

»Helen.« Harrys Stimme riss sie aus ihren Gedanken wie aus einem unangenehmen Traum, der sich im Halbschlaf in ihr Bewusstsein geschlichen hatte. »Möchtest du etwas sagen?«

Erschreckt bemerkte Lena, wie sich die Menschenmenge vor ihr teilte und der Pfarrer ihr einen ernsten, aber erwartungsvollen Blick zuwarf. Etwas sagen? Nein, das war das Letzte, was sie wollte. Viel lieber hätte sie sich einfach umgedreht, wäre nach Hause gelaufen und hätte sich für die nächsten zwei oder drei Tage bei geschlossenen Vorhängen in ihrem Schlafzimmer verkrochen. Aber das ging natürlich nicht.

»Ich ... ich möchte nichts sagen, Harry«, brachte sie mit brüchiger Stimme hervor. »Ich kann nicht.«

»Schon gut«, sagte er beruhigend und legte ihr seinen Arm um die Schultern. »Das musst du auch nicht. Lass uns gemeinsam nach vorn gehen. Ein Schritt nach dem anderen. Zusammen kriegen wir das schon hin.«

»Geh ruhig, Mama«, flüsterte Ines hinter ihr. »Ich bleibe so lange bei Oma. Du schaffst das. «

Widerwillig folgte Lena Harry unter den Blicken der Trauergäste ein Stück den Weg entlang, bis die beiden vor einem frisch ausgehobenen Grab stehen blieben. Die sorgfältig aufgeschichtete rotbraune Erde hatte sich unter dem ständigen Regen in einen einzigen unförmigen Berg aus Schlamm verwandelt, aus dem kleine, schmutzige Rinnsale über die durchnässte Wiese flossen.

»Ich kann das nicht, Harry.« Ihre Stimme war kaum hörbar. »Bitte ... ich will einfach nur weg von hier.«

»Wir gehen auch gleich, Helen, versprochen. Aber zuerst werden wir ihm die letzte Ehre erweisen. Nur für ein paar Sekunden. Ganz still und leise.«

Sie spürte, wie die Tränen in ihre Augen schossen und ihr Oberkörper von einem heftigen Schluchzen geschüttelt wurde. Obwohl sie selbst nicht wusste, woher sie die Kraft dafür nahm, hob sie langsam den Kopf und sah auf das schlichte Holzkreuz, hinter der finsteren Grube in der Erde. Wieder und wieder las sie schweigend den Namen darauf, bis sich tief in ihrem Herzen die Gewissheit einstellte, dass das, was dort stand, kein Albtraum war, sondern bittere Realität.

Heute hatten sie Georg Albers zu Grabe getragen.

2.

Friedhof Abney Park, London, 17. Januar 1952

Während sie einen geschwungenen Weg nach Südosten in Richtung des Vorplatzes ging und die Trauergemeinde um sie herum sich zunehmend zerstreute, kam Lena langsam wieder zu sich. Sie hatte es hinter sich gebracht. Und obwohl sie mit angesehen hatte, wie der schwere Eichensarg mithilfe von Tauen in die Grube hinabgelassen und nach und nach mit Erde bedeckt worden war, konnte sie es immer noch nicht recht glauben. Ihr Vater war immer ihr Fels in der Brandung gewesen, ihr Beschützer und der Ruhepol, der ihr in ihrem hektischen, arbeitsreichen Leben Halt gab. Doch nun war er fort. Für immer.

Lena atmete tief durch. Obwohl ihr die bittere Ironie darin nicht entging, tat sie das, was sie immer tat, wenn sich schwierige Situationen vor ihr auftaten. Sie fragte sich, was ihr Vater jetzt wohl getan hätte. Die Antwort fiel überraschend klar aus: Hätte er in diesem Moment neben ihr gestanden, hätte er sie ernsthaft, aber verständnisvoll über den Rand der Brille hinweg angesehen, die er in den letzten Jahren getragen hatte. Dann hätte er sanft ihre Hand in seine genommen und gesagt: Akzeptiere das, was du nicht ändern kannst, Lena. Es mag hart sein, und es wird dir zunächst unmöglich vorkommen. Aber das Leben um uns herum geht immer weiter. Schritt für Schritt, Sekunde für Sekunde. Geh deinen Weg, und der Rest wird sich finden.

Es kommt mir tatsächlich unmöglich vor, dachte sie. Das ist also schon mal wahr.

»Guten Tag, Mr Harrison.«

Lena hatte den rundlichen älteren Mann, der plötzlich vor Harry stand, nicht kommen sehen. Nun wandte der weißhaarige Herr, der seinen Hut in den Händen hielt, sich auch ihr zu. Sie erkannte ihn als Archibald St James, der das Haus direkt neben dem Musikhaus Albers am Haymarket besaß und dort ein elegantes Restaurant betrieb. »Mrs Harrison, bitte erlauben Sie, dass ich Ihnen mein herzliches Beileid für Ihren Verlust ausspreche. Es ist tragisch, dass ihr Vater nun von uns gehen musste. Bitte lassen Sie es mich wissen, wenn ich in Zukunft etwas für Sie oder Ihre Familie tun kann.«

»Danke«, entgegnete Lena schlicht, worauf Mr St James mit ernster Miene seinen Kopf ein wenig nach vorn neigte, als wolle er nochmals seinen Respekt und seine Anteilnahme ausdrücken. Dann straffte er die Schultern und sah wieder zu Harry:

»Konnten Sie schon über unser Gespräch von gestern Abend nachdenken, Mr Harrison?«

»Nein, noch nicht«, erwiderte Harry, und Lena sah, dass sein Hals sich rötete, während er ihr einen kaum merklichen Seitenblick zuwarf. »Und bei allem Respekt, Mr St James, dies ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort für ein solches Gespräch.«

»Oh!« Der alte Mann zuckte zusammen und räusperte sich in ein Taschentuch, dass er aus seiner Westentasche gezogen hatte. »Verstehe. Wie gedankenlos von mir. Bitte vielmals um Entschuldigung. Wir sehen uns ja dann sicherlich in den nächsten Tagen, Mister Harrison. Auf bald.«

Damit war er ebenso plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war. Harry schickte sich an, ebenfalls weiterzugehen, aber Lena rührte sich nicht von der Stelle.

»Was war das gerade?«

»Wie? Was meinst du?« Harrys Stimme klang ruhig, doch sie sah, wie die Röte sich auf seinem Gesicht ausbreitete und sein Adamsapfel auf und ab hüpfte. Nach über zwanzig Jahren Ehe dachte er doch hier und da tatsächlich noch, er könne irgendein Geheimnis vor ihr bewahren.

»Du weißt sehr gut, wovon ich spreche, Harry. Was will St James von dir und auf welches Gespräch hat er sich da eben bezogen? Ich dachte, du warst gestern Abend nur kurz bei deinen Eltern?«

»Das war ich auch«, antwortete Harry, und sie konnte an dem verräterischen Zucken in seinem Unterkiefer ablesen, wie sorgfältig er seine nächsten Worte auswählte. »Und danach war ich noch am Musikhaus. Dort habe ich Mr St James getroffen, und wir sind ins Gespräch gekommen ... über dies und das.«

»Dies und das. Interessant.« Lena trat ganz nah an Harry heran und legte eine Hand auf seine bärtige Wange. »Ich bin nicht in der Stimmung für diesen Tanz, mein Schatz. Ich weiß, du meinst es nur gut und willst Rücksicht auf mich nehmen, aber glaub mir, das tust du am besten, wenn du mich gerade jetzt nicht im Unklaren darüber lässt, was um mich herum vor sich geht.«

»Na gut«, raunte Harry. »Du hast gewonnen, okay?« Er sah sich mit einem verstohlenen Blick um, aber Lena hatte bereits bemerkt, dass sie im Moment ganz allein auf diesem Teil des Weges waren. Dennoch senkte Harry seine Stimme und kam so nah an ihr Gesicht heran, dass er ihr schon fast ins Ohr flüsterte. »Wie du weißt, läuft das Musikhaus schon seit Jahren nicht mehr besonders gut. Deine Eltern konnten es halten, weil sie sparsam gelebt haben und als Eigentümer des Gebäudes keine Miete zahlen mussten.«

Lena kniff leicht die Augen zusammen, blieb jedoch stumm. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, in welche Richtung sich Harrys Erklärungen bewegten.

»Aber«, fuhr Harry fort, »es hätte schon vor langer Zeit modernisiert werden müssen. Das wissen wir beide. Wir erleben gerade das London der Fünfzigerjahre. Die Leute wollen moderne Musik. Sie wollen Musicals, Jazz, Ausgelassenheit und Tanz – all diese Dinge eben. Dagegen wirken die verstaubten alten Klaviere wie aus der Zeit gefallen. So wie das Musikhaus Albers sich darstellt, das ist ... es ist einfach nicht mehr ...« Er hob resigniert die Arme in die Luft, da ihm offenbar die richtigen Worte fehlten. Leider wusste Lena dennoch nur allzu gut, was Harry meinte. Die Kundschaft war zusammen mit dem Musikhaus gealtert. Junge Leute suchte man dort vergebens.

»Jedenfalls«, sagte Harry und sah ihr fest in die Augen, »hat Mr St James uns ein Angebot gemacht. Und ich möchte, dass du irgendwann in den nächsten Tag einmal in Ruhe darüber nachdenkst. Er möchte neben seinem Restaurant eine Art Gästehaus haben, und das jetzige Musikhaus wäre perfekt dafür.«

»Perfekt«, wiederholte Lena mit einem spöttischen Unterton. »Na, das freut mich für ihn. Weiß er auch, dass das Haus nicht dir gehört, sondern meinen ...« Sie stockte kurz. Sie hatte darauf hinweisen wollen, dass ihre Eltern die Eigentümer des Gebäudes waren, doch das stimmte nicht mehr. Ihr Vater war tot und hatte all seinen weltlichen Besitz seiner Ehefrau vererbt. Lena schluckte schwer, als sie spürte, dass ihr wieder die Tränen kamen.

»Ja«, entgegnete Harry, »natürlich weiß er das.« Er bedachte sie mit einem besorgten Blick und legte die Hand auf ihre Schulter. »Aber denkst du, dass deine Mutter mit dieser ganzen Last fertig wird? Mit dem Erbe, dem Haus und allem, was jetzt organisiert und geordnet werden muss. In ihrem Zustand ...«

»Nein«, schnappte Lena. Die Traurigkeit, die sie seit Tagen gelähmt hatte, verwandelte sich nun langsam in einen heißen kleinen Ball aus Wut, der ihr schwer im Magen lag. »Aber trotzdem müssen wir das vorher mit ihr besprechen, Harry. Sie hat gute Tage und schlechte Tage, das weißt du. Alles, was Mama jetzt braucht, sind ein oder zwei Wochen Ruhe und Zeit zum Trauern. Dann werden wir weitersehen.«

»Verstehe«, sagte Harry. Er atmete tief ein, während sich eine tiefe Sorgenfalte zwischen seinen Augen bildete. Er hatte offensichtlich noch mehr auf dem Herzen.

»Aber ...?«, fragte Lena.

»Aber das geht nicht«, antwortete Harry und sah zu Boden. »St James will meine Antwort in spätestens drei Tagen, denn er hat angeblich noch ein anderes Objekt im Auge, das nur eine Querstraße entfernt liegt. Außerdem muss ich, falls das mit dem Verkauf klappt, danach so schnell wie möglich mit meinem Vater reden.«

»Was hat denn dein Vater damit zu tun, Harry?«

»Er hat mir eine Stelle angeboten. Wenn ich will, könnte ich in einer Woche anfangen. Das hieße zunächst mal Außendienst, bis ich die kaufmännische Ausbildung nachgeholt habe, aber dann ...«

»Halt!«, rief Lena, schüttelte Harrys Hand von ihrer Schulter ab und trat zwei Schritte zurück. Sie legte die Finger an die Schläfen. »Was um alles in der Welt redest du denn da, Harry?« Sie war so aufgebracht, dass sie zitterte. »Mein Vater ist kaum unter der Erde, und schon werfen wir alles weg, was er und meine Mutter in den letzten vierzig Jahren aufgebaut haben? Ist es das, was du mir hier verkaufen willst? Das Musikhaus schließt, du suchst dir eine langweilige Büroarbeit und ich ... Tja, was ist dann eigentlich mit mir? Soll ich vielleicht zu Hause bleiben und Socken stricken? Würde dir das gefallen?«

»Helen«, flüsterte Harry und kam langsam einen Schritt auf sie zu. »Niemand will hier irgendetwas wegwerfen. Aber bitte versteh doch, dass ich mir große Sorgen um unsere Zukunft mache. Du hast die Bücher des Musikhauses selbst gesehen und kennst die Zahlen. Selbst, wenn ich es schaffen würde, nebenbei irgendwie noch Geld zu verdienen, könnten wir diese Last langfristig einfach nicht mehr stemmen.«

Lena biss sich auf die Zähne und sah an Harry vorbei, über die kahlen, knorrigen Baumwipfel hinweg, in den grauen Himmel. »Eine Last«, wiederholte sie mit tonloser Stimme, »das ist es, was das Musikhaus für dich ist. Wenigstens gibst du das nun endlich zu.«

»Helen, bitte ...«

»Nein, Harry, lass es. Ich habe für heute genug gehört. Mehr, als ich ertragen kann, um ehrlich zu sein. Fahr nach Hause. Ich werde zu Fuß gehen.«

»Helen«, setzte Harry noch einmal an, doch sie hatte sich schon umgedreht, damit er nicht sah, wie die Tränen, die sie nun nicht mehr zurückhalten konnte, ihre Wangen hinunterliefen. Schnellen Schrittes ging sie in Richtung Ausgang des Friedhofs. Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen, und ein schwerer erdiger Geruch lag in der Luft. Krähen zogen ihre Kreise über dem weitläufigen Gelände des Friedhofs. Ein Teil von ihr hoffte noch immer, dass alles nur ein furchtbarer Albtraum war und ihr Vater sie zu Hause mit einem Lächeln und einer tröstenden Umarmung in Empfang nehmen würde.

Keine Sorge, Papa, versicherte sie ihm in Gedanken. Ich werde unser Musikhaus nicht kampflos aufgeben. Darauf kannst du dich verlassen.

3.

Friedhof Abney Park, London, 17. Januar 1952

Als Lena wenig später durch das schmiedeeiserne Tor zwischen zwei hohen Säulen den Park verließ, fühlte sie sich schon ein wenig besser, ihre Wut auf Harry war mit jedem Schritt abgekühlt. Was er vorgeschlagen hatte, war schlicht Unsinn. Ein Haufen unausgegorener, überhasteter Ideen, die mit der Zeit im Sand verlaufen würden, ohne dass es je zu deren Umsetzung käme. Zudem wusste sie, dass Harry ebenfalls trauerte, auch wenn er es nach außen kaum zeigte. Obwohl ihr Vater dem jungen Briten anfangs skeptisch gegenüberstand, hatte er ihn später als seinen Schwiegersohn ins Herz geschlossen. So sehr, dass Lena manches Mal geglaubt hatte, ihr Vater würde in Harry den Sohn sehen, den er niemals gehabt hatte. Schließlich hatten die beiden dann auch das Londoner Musikhaus bereits kurz nach dessen Eröffnung gemeinsam geführt und zu einem lukrativen Betrieb aufgebaut. Lenas Vater hatte immer das letzte Wort gehabt, war jedoch gleichzeitig darauf bedacht gewesen, seinem Schützling alles über dieses spezielle Geschäft beizubringen, was er wusste. Nun war ihr Vater zwar nicht mehr bei ihnen, aber gerade deswegen würde Harry es sicher nicht einfach so über sich bringen, sich einfach von dem Musikhaus zu trennen, das die beiden über zwei Jahrzehnte hinweg verbunden hatte.

Lena seufzte leise. Die nächsten Tage und Wochen würden keine Zeit der Entscheidungen und des Umbruchs werden, sondern mussten der ganzen Familie dazu dienen, in sich zu gehen und sich zu sammeln, um die neue Situation zu bewerten. Sie wusste, dass es gerade ihr selbst mehr als schwerfallen würde, die Hände in den Schoß zu legen, während die ganze Welt um sie herum sich weiterdrehte. Dennoch war es das, was getan werden musste.

»Autsch!« Lena, die in Gedanken versunken gewesen war und deshalb nur halb auf den Weg vor ihr geachtet hatte, hielt abrupt an, als sie mit der kleinen, etwas rundlicheren Dame zusammenstieß, die vor ihr ging. Diese wiederum tastete umständlich nach dem metallenen Handlauf an der Mauer zu ihrer Rechten und hielt sich dann daran fest, bevor sie sich langsam umdrehte.

»Wie ungeschickt von mir«, sagte Lena. »Ich bitte um Entschuldigung. Sind Sie verletzt?«

»Ach, nein«, entgegnete die etwa vierzigjährige Frau, die ihre langen dunkelblonden Haare unter einer schwarzen Haube zusammengesteckt hatte, die zu ihrem einfachen schwarzen Kleid passte. »Mir ist nichts passiert. Aber danke, dass Sie fragen.« Ihrer Garderobe nach musste sie bei der Beerdigung gewesen sein, aber ihr Gesicht kam Lena nicht bekannt vor. Anscheinend beruhte dies auf Gegenseitigkeit, denn die Dame nickte ihr nun schüchtern zu, bevor sie sich vorstellte:

»Mein Name ist Hilda Schumacher. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

Daran, wie Frau Schumacher ihren Nachnamen aussprach, erkannte Lena sofort, dass sie eine Deutsche vor sich hatte, weshalb sie spontan in die gemeinsame Muttersprache wechselte.

»Angenehm, Frau Schumacher. Ich bin Lena. Helena Harrison.«

»Lena«, wiederholte die Dame, und ihr Blick wanderte unstet umher, ohne dass sie Lena direkt ansah. »Dann war Georg Albers ihr Vater?« Sie nickte nochmals kaum merklich, wartete jedoch keine Antwort ab. »Mein herzliches Beileid, Frau Harrison.«

»Danke«, erwiderte sie und wunderte sich immer noch darüber, dass Frau Schumacher es scheinbar vermied, ihr in die Augen zu sehen. Dann fiel ihr Blick jedoch auf den langen, weißen Stab, den diese in ihrer linken Hand hielt und sie verstand – sie war blind. »Kannten Sie meinen Vater, Frau Schumacher?«

»Nein«, antwortete diese, was Lena überrascht aufhorchen ließ, »aber ich habe viel über Ihre Mutter gehört. Wissen Sie, Frau Harrison, unsere beiden Familien sind in gewisser Weise miteinander ... verbunden.« Es klang, als wäre es ihr schwergefallen, das letzte Wort auszusprechen.

Lena überlegte einen Moment. Ja, auch sie hatte den Namen Schumacher schon einmal gehört, wusste aber spontan nicht, wo sie diesen einordnen sollte. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie sicher genauer nachgefragt, aber im Moment fühlte sie sich sowohl körperlich als auch seelisch bis über ihre Belastungsgrenzen hinaus erschöpft.

»Frau Schumacher«, sagte sie, »bitte verzeihen Sie, aber ich muss jetzt nach Hause. Das werden Sie sicher verstehen. Es war ein harter Tag für mich und für die ganze Familie.«

»Sicher, die Familie«, erwiderte Hilda Schumacher, wobei eine nicht zu überhörende Bitterkeit in ihrer Stimme lag. »Es muss schön sein, in den Kreis seiner Lieben zurückkehren zu können.« Lena konnte sehen, dass sie ihre schmalen, aufgesprungenen Lippen aufeinanderpresste, bevor sie langsam weitersprach. »Schade, dass Sie an meiner Geschichte so gar kein Interesse haben, Frau Harrison, aber das war ja zu erwarten. Wie die Mutter, so die Tochter, schätze ich.«

»Was soll das heißen? Und was haben Sie mit meiner Mutter zu schaffen?« Lena hob das Kinn und spannte ihren Rücken an. Erschöpft oder nicht, sie würde sich von dieser Unbekannten ganz sicher nicht solche Frechheiten gefallen lassen. Was bildete diese sich ein, in so einem Ton mit ihr über ihre Mutter sprechen zu wollen, und das auch noch unmittelbar nach der Beerdigung ihres Vaters?

»Nichts«, entgegnete Hilda Schumacher, und ihre Hand schloss sich fester um das metallene Geländer, an dem sie sich festhielt. »Leider habe ich überhaupt nichts mit ihr zu schaffen, weil ich sie nie getroffen habe. Aber ich weiß, wer sie ist. Und ich weiß auch, was ihre Familie der meinen angetan hat, deshalb würde ich zu gern mal ein paar Worte mit ihr wechseln.«

Lena biss die Zähne zusammen. Dass die Frau sich dermaßen in vagen Andeutungen erging, statt endlich zum Punkt zu kommen, machte sie fast noch wütender als die Tatsache, dass sie schlecht über ihre Mutter sprach. Sie hätte Hilda Schumacher am liebsten angeschrien, sie solle sie endlich in Ruhe lassen, widerstand jedoch dem Impuls, da sie wusste, dass er maßgeblich in ihrem aufgewühlten, völlig überreizten Gemütszustand begründet lag. »Frau Schumacher«, presste sie stattdessen hervor und spannte dabei jeden Muskel in ihrem Kiefer an, um die Beherrschung zu wahren, »was Sie zu sagen haben, können Sie ebenso gut bei mir loswerden. Meine Mutter und ich stehen uns sehr nahe, und ich kann Ihnen versichern, dass ich ihr jedes Wort berichten werde.«

»Ist das so?« Frau Schumacher ließ den Kopf sinken und drehte ihren Blindenstock in ihrer Hand hin und her. Dann holte sie tief Luft, als müsse sie Kraft sammeln, um ihren Groll in Worte zu fassen. »Nun, Frau Harrison. Wie ich schon sagte, sind die Schicksale der Familien Schumacher und von Eiben seit einer ganzen Weile miteinander verbunden.«

Von Eiben, dachte Lena, dann reicht diese Sache also schon bis zu den Zeiten vor ihrer Geburt zurück. Sie nickte stumm. Auch wenn ihr klar war, dass Hilda Schumacher es nicht sehen konnte, schien diese es dennoch zu spüren, denn sie sprach nach einer kurzen Pause weiter.

»Schon meine Urgroßmutter Marga stand als Haushälterin im Dienst Ihrer Familie. Es muss bald siebzig oder achtzig Jahre her sein, dass sie bei Graf Karl August und seiner Frau Eleonore anfing und von da an Tag für Tag nahezu den gesamten Haushalt in dem riesigen Herrenhaus in Hamburg übernahm.«

Lena dachte fieberhaft über die Namen und Daten nach, die Frau Schumacher ihr nannte. Ihre Großeltern hatten zu dieser Zeit in einem Anwesen in Hamburg gewohnt, das war richtig. Und nun erinnerte sie sich auch daran, dass ihre Mutter schon das ein oder andere Mal von Marga Schumacher erzählt hatte, die sich neben ihrer Tätigkeit als Haushälterin auch oft um die beiden Geschwister Wilhelm und Theresa gekümmert hatte.

»Es war im Jahre 1909«, fuhr Hilda Schumacher fort, »als dann auch Margas Enkelin Gerda als Bedienstete im Hause von Eiben anfing. Gerda war meine Mutter. Sie ist vor zehn Jahren gestorben, kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag.«

»Das tut mir leid, Frau Schumacher«, setzte Lena an. »Mir war nicht klar, dass ...«

»Sparen Sie sich das!« Hilda Schumachers Gesicht hatte eine zornig rote Färbung angenommen, und sie schleuderte Lena die abgehackt hervorgebrachten Worte regelrecht entgegen, während sie heftig den Kopf schüttelte. »Lassen Sie es sein, Frau Harrison, denn es bringt nichts. Sie können nicht verstehen, was damals war. Deshalb wollte ich ja auch mit Ihrer Mutter sprechen.« Sie rückte die altmodische Haube auf ihrem Kopf zurecht und atmete nochmals tief ein. »Aber jetzt stehen wir beide uns gegenüber. Zwei Menschen, die zu dieser Zeit noch nicht einmal geboren waren. Sei es also, wie es ist. Was Sie wissen müssen, Frau Harrison, ist Folgendes: Nach nicht einmal einem Jahr verlor meine Mutter ihre Anstellung und wurde bei Nacht und Nebel einfach auf die Straße gesetzt. Meine Urgroßmutter war selbstverständlich schockiert, wo sie doch zu diesem Zeitpunkt schon so viele Dienstjahre hinter sich gebracht hatte, und nie hatte es Beschwerden gegeben. Nun, es stellte sich heraus, dass es auch bei meiner Mutter nicht die Arbeit war, die Anlass zur Klage gab. Nein, sie hatte einen gänzlich anderen, aber gleichzeitig viel schwereren Fehler gemacht.« Hilda Schumacher drehte sich halb um und stützte sich mit dem linken Unterarm auf dem Handlauf ab. Es kam Lena so vor, als würde jedes Wort, das sie aussprach, sichtlich an ihren Kräften zehren. »Der Fehler meiner Mutter war,«, setzte Frau Schumacher ihre Erzählung fort, »dass sie nicht wusste, wann man Nein sagen muss. Aufgrund ihrer etwas naiven, stets folgsamen Natur glaubte sie, es gehöre zu ihren Pflichten, allen Wünschen der hohen Herrschaften nachzukommen. Wirklich allen Wünschen. Und so kam es, dass sie am Ende des Jahres ein Kind unter dem Herzen trug. Ein Kind, dessen Vater Wilhelm von Eiben war. Ihr werter Onkel, Frau Harrison.«

Lena bemerkte, dass ihr der Mund offen stand, aber sie war nicht in der Lage, irgendetwas auf diese Enthüllung zu erwidern. Stattdessen überschlugen sich ihre Gedanken. Wilhelm von Eiben? Sie wusste, dass der Bruder ihrer Mutter in dem Jahr ihrer Geburt gestorben war. Wenn also ein Jahr vorher, 1909, die junge Gerda Schumacher ihren Dienst begonnen hatte, war es theoretisch möglich ... Aber nein, das war doch zu absurd. Sie konnte ja noch nicht einmal wissen, ob die Dame, die hier vor ihr stand, überhaupt diejenige war, für die sie sich ausgab. Andererseits fiel es Lena aber auch schwer, sich vorzustellen, woher eine Fremde so viel Wissen über die Familie von Eiben haben sollte. Während sie in ihren Überlegungen immer noch zwischen Neugier und Widerwillen hin und her schwankte, kam Hilda Schumacher ihrer Erwiderung zuvor.

»Schon gut, Frau Harrison, machen Sie sich erst gar nicht die Mühe. Ich mag ihr Gesicht nicht sehen können, aber ich spüre die Ablehnung, die mir entgegenschlägt, in jeder Faser meines Körpers. Das ist ein vertrautes Gefühl für mich, wissen Sie? Nun ja, wahrscheinlich wäre es besser gewesen, nichts zu sagen.« Frau Schumacher stieß sich erstaunlich elegant aus ihrer abgestützten Position ab und verstärkte den Griff um ihren Stock. Lena konnte sehen, wie sie die Zähne zusammenbiss, während ihre Wangenmuskeln zuckten. Diese Frau war zu stolz zum Weinen, selbst wenn sie sich kaum noch dagegen wehren konnte. »Es wäre besser gewesen, nichts zu sagen«, wiederholte sie leise. »Und ich hätte auch niemals herkommen sollen.«

Mit diesen Worten drehte Hilda Schumacher sich um und ging zügig, mit dem Stock leicht vor sich her tastend, die Straße entlang, bis sie hinter der nächsten Häuserecke verschwand.

Noch immer war Lena zu überwältigt und verwirrt, um einen klaren Gedanken fassen zu können, geschweige denn, noch etwas zu sagen. Entweder war sie gerade einer völlig Verrückten begegnet, oder sie hatte einen kurzen Einblick in ein düsteres Geheimnis erhalten, das seit mehr als vierzig Jahren unter der Oberfläche der heilen Familienidylle begraben lag. So oder so, sie würde schnellstmöglich mit ihrer Mutter sprechen müssen.

4.

Haus der Harrisons, Hackney, London, 17. Januar 1952

Es war bereits nach fünf Uhr am Abend. Ines Harrison saß noch immer im Wohnzimmer ihrer Eltern und starrte gedankenversunken in die leere Teetasse, die vor ihr stand. Sie war vor ihren Eltern mit ihrer Großmutter von der Beerdigung zurückgekehrt und hatte sie nach oben in das Gästezimmer geführt, das sie vorübergehend bewohnte.

»Hallo, mein Schatz«, sagte ihr Vater Harry, der gerade zur Haustür hereinkam, und gesellte sich zu ihr. »Tut mir leid, dass du hier so allein rumsitzen musstest, aber es gab noch so viele Leute, die deiner Mutter und mir ihr Beileid aussprechen wollten. Du glaubst ja nicht, wen dein Großvater in dieser Stadt alles kannte. Und dann war ich noch im Musikhaus. Deine Großmutter möchte ein paar Sachen von dort hierherholen und lieber in ihrem Zimmer aufbewahren. Ich kann das natürlich gut verstehen, aber es dürfte ziemlich schwer werden, alles zu finden, weil ... na ja, du weißt ja selbst, dass das Ordnungssystem deines Großvaters manchmal sehr speziell war. «

Ines nickte nur wortlos, ohne ihren Vater anzusehen. So wie er das selbst gemachte Chaos seines Schwiegervaters beschrieb, klang es fast noch milde. In Wirklichkeit hatte Georg Albers sein ganzes Leben lang nahezu jede Kleinigkeit gesammelt und letztlich auch das Musikhaus am Haymarket und die angeschlossenen Wohnräume damit vollgestopft. Eines der Rituale bei ihren Besuchen hatte stets darin bestanden, erst einmal Kisten mit angelaufenen Trompetenmundstücken, halb zusammengebaute Notenständer und Stapel mit über und über vollgekritzelten Blättern zu verschieben, bevor so etwas wie ein Sitzplatz sichtbar wurde.

»Ist alles in Ordnung mit dir?« Er warf ihr einen besorgten Blick zu und legte über den Tisch hinweg seine Hand auf ihre. »Du siehst etwas blass aus.«

»Es geht schon«, antwortete Ines und rieb mit ihrem Handballen über eines ihrer Augenlider. »Ich schätze, ich habe in den letzten Tagen nicht gerade viel geschlafen. Bei uns im Labor türmen sich aktuell derart die Aufträge auf, dass ich selbst an freien Tagen überhaupt nicht mehr loslassen kann, weil ich immer daran denken muss, was noch alles abgearbeitet werden muss.«

»Verstehe«, entgegnete ihr Vater. »Bitte versuch trotzdem, mal wenigstens ein bisschen abzuschalten, Ines. Dieser Tag gehört der Familie. Auch wenn es wahrlich kein fröhlicher Anlass ist.« Er hielt kurz inne, und sein Blick wanderte an ihr vorbei in Richtung Küche. Ines konnte sehen, dass auch ihr Vater von den jüngsten Ereignissen gezeichnet war. Sein Bart war länger als sonst und stand etwas ungepflegt von seinem Kinn ab. Außerdem zeigten sich um seine angespannten Mundwinkel herum einige Fältchen, die ihr vorher noch nie aufgefallen waren. »Willst du noch eine Tasse Tee? Ich kann gern eine frische Kanne aufsetzen.«

»Ja, bitte.« Ines sah ihrem Vater nach, während dieser in der angrenzenden Küche verschwand. »Sag mal, wo ist eigentlich Mama?«

»Das weiß ich leider nicht«, rief er über das Rauschen des Wasserhahns hinweg, als er den alten gusseisernen Teekessel befüllte. »Vielleicht wollte sie noch ein Stück spazieren gehen, um den Kopf freizubekommen.«

»Kann sein«, sagte Ines, allerdings mehr zu sich selbst. Sie kannte die Angewohnheit ihrer Mutter, lange Spaziergänge zu unternehmen, um für eine bestimmte Zeit dem Trubel des Alltags zu entgehen und ihre Gedanken neu zu ordnen. Sie selbst hatte das während ihres Studiums auch oft getan, wenn die Zahlen und Formeln allzu sehr auf sie eingestürzt waren und sie den Überblick verloren hatte.

»Sie wird sicher bald nach Hause kommen.« Ihr Vater war ins Wohnzimmer zurückgekehrt. »Bis dahin musst du noch ein wenig mit mir vorliebnehmen.« Er zwinkerte ihr zu und versuchte sich an einem Lächeln, das jedoch nicht über die Müdigkeit und die Trauer in seinen Augen hinwegtäuschen konnte.

»Du vermisst Opa sehr, oder?«, wollte Ines wissen und konnte sofort sehen, dass ihr Vater auf eine so direkte Frage nicht vorbereitet war.

»Nun«, sagte er und kratzte sich mit einer Hand verlegen an seinem mit Bartstoppeln bedeckten Hals. »Ja, Schatz. Das tue ich.« Er stieß einen langen Seufzer aus. »Ich habe deinen Großvater sehr gemocht. Er war all die Jahre lang immer nur gut zu mir und zu deiner Mutter. Durch ihn konnte ich dabei helfen, unser Musikhaus aufzubauen, und er hat mir alles über das Geschäft beigebracht, was er wusste.« Er hielt kurz inne und betrachtete die Fotografie, die neben dem Durchgang zur Küche an der holzvertäfelten Wand hing. Ines folgte seinem Blick. Wie sie wusste, zeigte das Bild die Familie im Jahr 1932. Der junge, vor Stolz strahlende Harry hielt darauf seine kleine Tochter auf dem Arm, während Georg Albers hinter ihm stand und ihm väterlich die Hand auf die Schulter legte. Theresa wiederum stand hinter Lena, und beide lächelten schüchtern in die Kamera.

»Ich habe ihn nicht bloß gemocht«, stellte ihr Vater fest, »ich habe ihn bewundert. Das war immer schon so. Dein Großvater stand in seinem Leben gleich mehrere Male mit nichts da als seinem Verstand und seinem eisernen Willen. Und daraus hat er immer wieder etwas Wunderbares geschaffen. Zuletzt war es das Musikhaus, das uns alle ernährt hat.« Er erhob sich, da das leise Pfeifen des Kessels ertönte. »Ich werde den alten Mann schmerzlich vermissen, mein Schatz, und ich kann dir gar nicht sagen ... « Er hielt plötzlich inne, da aus dem oberen Stockwerk ein lautes Rumpeln zu hören war.

Auch Ines horchte sofort auf. »Was war das?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte ihr Vater und starrte konzentriert zur Decke, als wünsche er sich, auf wundersame Weise hindurch sehen zu können. »Ines, Liebes, würdest du bitte kurz nach oben gehen und nach deiner Großmutter sehen? Ich kümmere mich in der Zeit um den Tee.«

»In Ordnung«, entgegnete sie, während ihr Vater in Richtung Küche eilte. Nun blieb allerdings auch Ines‘ Blick an der großen Schwarz-Weiß-Fotografie hängen. Es war einfach immer wieder faszinierend zu sehen, wie sehr ihre Mutter und ihre Großmutter sich ähnelten: Der zierliche Körperbau, die schmale Gesichtsform und die langen dunklen Haare waren einfach unverkennbar. Ines selbst dagegen hatte ganz offensichtlich mehr von der Seite ihres Vaters Harry abbekommen. Sie war beinahe einen Kopf größer als ihre Mutter, hatte eine üppigere Figur, hellbraunes Haar, Sommersprossen und blaue Augen. Angeblich sollte sie fast das genaue Ebenbild ihrer Großmutter Myra Harrison sein, von der jedoch leider keine Bilder mehr existierten.

»Faszinierend«, sagte Ines leise zu sich selbst, bevor ein erneutes Poltern sie aus ihren Gedanken riss. Es war höchste Zeit, dass sie oben nach dem Rechten sah.

*

Der Boden des kleinen Gästezimmers, das Theresa übergangsweise bewohnte, war über und über mit Papier übersät, als Ines vorsichtig durch den Türspalt spähte. Ihre Großmutter kniete inmitten des Durcheinanders und war offenbar gerade damit beschäftigt, einen Stapel eng beschriebener, leicht vergilbter Blätter zu ordnen.

»Oma?« Ines schob die Tür vorsichtig ein Stück weiter auf. »Ist alles in Ordnung? Brauchst du irgendetwas?«

»Diese verflixte Kiste«, entgegnete Theresa ohne aufzusehen und stieß ein verärgertes Schnaufen aus. »Ist mir einfach aus der Hand gefallen, und als sich sie zurück auf ihren Platz stellen wollte, da ist es noch mal passiert.«

»Schon gut«, versuchte Ines, ihre Großmutter zu beruhigen, »ich helfe dir, und dann bekommen wir das im Nu wieder hin.«

»Hmm«, machte Theresa und legte den Papierstapel, den sie in Händen hielt, vorsichtig beiseite, um sogleich nach einem kleinen Büchlein zu greifen. »Das haben Georg und ich damals zu unserer Hochzeit gekauft«, flüsterte sie, während sie über den moosgrünen Ledereinband strich. »Eigentlich ist es wohl als Gästebuch gedacht, aber wir haben es einfach dazu genutzt, unsere eigenen Erinnerungen und Gedanken festzuhalten.« Vorsichtig schlug sie die erste Seite auf. »Es war ein schöner Tag. Wir hatten nur uns beide, und das war genau das, was wir wollten.«

Ines blieb stumm und ließ ihre Großmutter ein wenig in der Vergangenheit schwelgen. Ob sie sich in diesem Moment wohl im Klaren darüber war, dass ihr Mann niemals wiederkommen würde? Sie sah jedenfalls eher nachdenklich als traurig aus. Oder war heute einer ihrer klaren Tage, und Theresa Albers gab sich bewusst ruhig, damit sich ihre Enkelin keine Sorgen machen sollte? Ines schmerzte der Gedanke an den geistigen Verfall, der seit einigen Monaten zunehmend Besitz von ihrer Großmutter nahm. In letzter Zeit kam es immer öfter vor, dass sie sich in der Vergangenheit weitaus besser zurechtfand als in der Gegenwart. Mehr als einmal hatte sie in den letzten Wochen zum Beispiel vergessen, wie die Adresse des Hauses lautete, in dem sie sich befand. Gleichzeitig wusste Theresa jedoch noch bestens über längst vergangene Ereignisse Bescheid, die lang vor Ines‘ eigener oder sogar der Geburt ihrer Mutter lagen.

Als ihre Großmutter noch eine Seite weiterblätterte, fiel Ines‘ Blick auf die Datumsangabe, die dort in großen Lettern geschrieben stand: Februar 1910. Sie konnte sich noch vage daran erinnern, dass es im Frühjahr 1935 eine große Feier im Haus ihrer Großeltern gegeben hatte, offenbar zu deren Silberhochzeit. Ines war damals erst viereinhalb Jahre alt gewesen und hatte dem Datum daher später nie wieder Bedeutung beigemessen. Jetzt geriet sie allerdings ins Grübeln. Der Geburtstag ihrer Mutter Lena war der 5. September 1910, was wiederum hieß, dass ihre Großeltern zu diesem Zeitpunkt erst ungefähr sieben Monate verheiratet gewesen waren. Ines war zwar keine Ärztin, aber sowohl als Biochemikerin als auch als Frau verstand sie, dass dieser zeitliche Ablauf ein paar Fragen aufwarf, insbesondere wenn man die strengen gesellschaftlichen Konventionen der damaligen Zeit bedachte.

»Oh«, rief Theresa plötzlich aus. Zwischen Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand hielt sie behutsam einen dünnen goldenen Ring, der mit einem kleinen, aber wunderschön verarbeiteten Stein besetzt war. »Ich wusste gar nicht, dass ich den noch habe.«

»Ist das etwa ein Diamant?«, fragte Ines und rückte aufgeregt ein Stück näher an ihre Großmutter heran. »Der ist ja wirklich toll. Ist er ein Erbstück?«

»Hmm«, murmelte Theresa. »Nein ... obwohl irgendwie vielleicht schon.« Sie drehte den Ring ganz langsam in ihrer Hand, sodass das Licht der Nachttischlampe neben ihr sämtliche Facetten im feinen Schliff des Steins zur Geltung brachte. »Den hat Jakob damals in Berlin für mich gekauft. Er war mein Verlobter, weißt du? Aber er konnte ihn mir nicht mehr geben, weil er gestorben ist.«

»Das tut mir sehr leid, Oma« Ines hatte die Geschichte um Jakob Hansen, oder jedenfalls deren Grundzüge, vor einigen Jahren von ihrer Mutter erfahren. Sie wusste, dass dieser in Berlin einem tödlichen Unfall mit Fahrerflucht zum Opfer gefallen war. Einige Zeit danach hatten sich dann wohl ihre Großeltern kennengelernt.

»Ach«, winkte Theresa ab, und eine graue Strähne fiel ihr in die Stirn. »Mach dir darüber keine Gedanken, Lena.«

»Ines«, korrigierte diese leise, machte sich aber nicht die Mühe, ihre Großmutter deutlicher auf ihren Irrtum hinzuweisen. An guten Tagen war so etwas nur ein Versprecher, an schlechten kam es vor, dass die alte Dame tatsächlich Tochter und Enkelin verwechselte. Ines war klar, dass es an dieser Stelle wohl am besten gewesen wäre, die gesammelten Erinnerungsstücke ihrer Großmutter wieder in die dafür vorgesehene Kiste zu räumen und ihr dann eine gute Nacht zu wünschen. Allerdings war die Tatsache, dass sie zuvor noch nie etwas von diesem außerordentlich schönen Ring gehört hatte, einfach zu spannend, um es jetzt einfach dabei zu belassen.

»Und dieser Ring«, setzte sie nochmals an, »der stammt aus Jakobs Nachlass? Hat die Polizei ihn dir damals übergeben?«