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Sebastian Fitzek

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Beschreibung

Schneller Bestseller-Psychothriller vom Meister des Wahns Aus dem harmlosen Alltag wird ein gefährlicher Alptraum: Seit die junge Psychiaterin Emma Stein in einem Hotelzimmer vergewaltigt wurde, verlässt sie das Haus nicht mehr. Sie war das dritte Opfer eines Psychopathen und Serienmörders, den die Presse den »Friseur« nennt – weil er den misshandelten Frauen die Haare vom Kopf schert, bevor er sie ermordet. Emma, die als Einzige mit dem Leben davonkam, hat große Angst, der »Friseur« könnte sie erneut heimsuchen, um seine grauenhafte Tat zu vollenden. In ihrer Paranoia glaubt sie in jedem Mann ihren Peiniger wiederzuerkennen, dabei hat sie den Täter nie zu Gesicht bekommen. Nur in ihrem kleinen Haus am Rande des Berliner Grunewalds fühlt sie sich noch sicher – bis der Postbote sie eines Tages bittet, ein Paket für ihren Nachbarn anzunehmen. Einen Mann, dessen Namen sie nicht kennt und den sie noch nie gesehen hat, obwohl sie schon seit Jahren in ihrer Straße lebt ... Wahn oder Wirklichkeit? – Dieser Psychothriller hat es in sich! Auf mehreren Zeitebenen spielt Sebastian Fitzek ein grandioses Verwirrspiel: Ein Serienmörder ist auf der Jagd nach seinem entkommenen Opfer und die Grenze zwischen Realität und Wahn verschwimmt. »Sebastian Fitzek - Mann für die Bestseller!« (sueddeutsche.de) »Deutschlands bester Thriller-Autor Sebastian Fitzek ist ein Garant für schlaflose Nächte« DONNA

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Seitenzahl: 384

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Sebastian Fitzek

DAS PAKET

Psychothriller

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Seit die junge Psychiaterin Emma Stein in einem Hotelzimmer vergewaltigt wurde, verlässt sie das Haus nicht mehr. Sie war das dritte Opfer eines Psychopathen, den die Presse den »Friseur« nennt – weil er den misshandelten Frauen die Haare vom Kopf schert, bevor er sie ermordet.

Emma, die als Einzige mit dem Leben davonkam, fürchtet, der »Friseur« könnte sie erneut heimsuchen, um seine grauenhafte Tat zu vollenden. In ihrer Paranoia glaubt sie in jedem Mann ihren Peiniger wiederzuerkennen, dabei hat sie den Täter nie zu Gesicht bekommen. Nur in ihrem kleinen Haus am Rande des Berliner Grunewalds fühlt sie sich noch sicher – bis der Postbote sie eines Tages bittet, ein Paket für ihren Nachbarn anzunehmen.

Einen Mann, dessen Namen sie nicht kennt und den sie noch nie gesehen hat, obwohl sie schon seit Jahren in ihrer Straße lebt …

Inhaltsübersicht

Widmung

Widmung

Motto

Prolog

»Wer einmal lügt ...«

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

Sechs Monate danach

5. Kapitel

Drei Wochen zuvor

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

Vier Wochen später

55. Kapitel

»Die größten Verbrechen ...«

Zehn Jahre Fitzek

Leseprobe »Die Einladung«

Das Quiz für dein nächstes Fitzek-Abenteuer

Für mein Dreamteam:

Manu, Roman, Sabrina, Christian, Karl,

Barbara und Petra

 

Für die Unverzichtbaren:

Carolin und Regine

 

Und natürlich für die, die ich selbst dann vermisse,

wenn ich sie umarme:

Sandra, Charlotte, David und Felix

In dankbarer und liebevoller Erinnerung

an meinen Vater Freimut Fitzek

 

 

 

… alle Geschichten, wenn man sie

bis zum Ende erzählt, 

hören mit dem Tode auf.

Wer Ihnen das vorenthält, 

ist kein guter Erzähler.

 

E. Hemingway

Es ist nicht möglich, etwas zu beobachten,

ohne es zu verändern.

 

Heisenbergsche Unschärferelation

Prolog

Als Emma die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern öffnete, ahnte sie nicht, dass sie dies zum letzten Mal tun würde. Nie wieder würde sie sich, mit einem Stoffelefanten bewaffnet, nachts um halb eins an ihre Mutter kuscheln, vorsichtig bemüht, Papa beim Ins-Bett-Krabbeln nicht aufzuwecken, der im Traum mit den Füßen strampelte, zusammenhanglose Worte murmelte oder mit den Zähnen knirschte.

Heute strampelte, murmelte oder knirschte er nicht. Heute wimmerte er nur.

»Papa?«

Emma tapste von der Dunkelheit des Flurs ins Schlafzimmer. Das Licht des Vollmonds, der über Berlin in diesen Frühlingsnächten wie eine Mitternachtssonne thronte, fiel mit einem quecksilbrigen Schimmer durch die zugezogenen Gardinen.

Mit zusammengekniffenen Augen, über denen Emmas Pony wie ein kastanienbrauner Vorhang hing, konnte sie die Umgebung erahnen: die Rattantruhe am Fußende, die gläsernen Nachttische, die das ausladende Bett flankierten, den Schrank mit den Schiebetüren, in dem sie sich früher manchmal versteckt hatte.

Bis Arthur in ihr Leben trat und ihr das Versteckspielen verleidete.

»Papa?«, flüsterte Emma und tastete nach dem nackten Fuß ihres Vaters, der unter der Bettdecke hervorstach.

Sie selbst trug nur eine einzelne Socke, und auch die hing ihr kaum noch an den Zehen. Die andere hatte sie im Schlaf verloren, irgendwo auf dem Weg vom Einhorn-Glitzerschloss zum Tal der silbergrauen Flugspinne, die ihr im Traum manchmal Angst einjagte.

Aber nicht so viel Angst, wie ich sie vor Arthur habe.

Obwohl der ihr immer wieder versicherte, er wäre nicht böse. Aber konnte sie ihm vertrauen?

Emma presste sich den Elefanten stärker an die Brust. Ihre Zunge fühlte sich an wie ein trockener Kaugummi, der am Gaumen klebte. Sie hatte ihre dünne Stimme selbst kaum gehört, also versuchte sie es noch einmal:

»Papa, wach auf.« Emma zupfte ihn am Zeh.

Während ihr Vater den Fuß zurückzog, drehte er sich wimmernd zur Seite. Dabei lupfte er kurz die Decke, und sein unverwechselbarer Schlafgeruch stieg Emma in die Nase. Sie war sich sicher, ihren Vater allein am Duft mit geschlossenen Augen aus einem Dutzend Erwachsener heraus erkennen zu können. An dieser erdigen Mischung aus Tabak und Eau de Cologne, die ihr so vertraut war. Die sie so gerne roch.

Emma überlegte kurz, ob sie es besser bei ihrer Mutter versuchen sollte. Die war immer für sie da. Papa schimpfte oft. Meistens wusste Emma gar nicht, was sie angestellt hatte, wenn mal wieder die Türen flogen, so laut, dass das ganze Haus erzitterte. Mama sagte dann später, ihr Vater wüsste es selbst nicht so genau. Er wäre ein »Chorlirika« oder so ähnlich und es täte ihm hinterher leid. Und manchmal, ganz selten, sagte er ihr das dann sogar selbst. Kam zu ihr ins Zimmer, berührte ihre tränennasse Wange, strich ihr übers Haar und erklärte ihr, dass es nicht so einfach sei, erwachsen zu sein, wegen der Verantwortung und der Probleme und so. Für Emma waren diese handverlesenen Momente die glücklichsten auf Erden, und nach genau so einem Moment sehnte sie sich jetzt.

Gerade heute würde es ihr so viel bedeuten.

Wo ich doch solche Angst habe.

»Papa, bitte, ich …«

Sie wollte zum Kopfende treten, um seine Stirn zu berühren, dabei stolperte sie über eine Glasflasche.

Oh nein …

In ihrer Aufregung hatte sie vergessen, dass Mama und Papa stets eine Wasserflasche neben dem Bett stehen ließen, für den Fall, dass einer von beiden in der Nacht Durst bekam. Als sie umfiel und übers Parkett kullerte, hörte es sich für Emma an, als rollte ein Güterzug durch das Schlafzimmer. Der Lärm schien ohrenbetäubend, als würde die Dunkelheit Geräusche verstärken.

Das Licht ging an.

Auf der Seite ihrer Mutter.

Emma stieß einen spitzen Schrei hervor, als sie plötzlich im Hellen stand.

»Mäuschen?«, hörte sie ihre Mutter fragen, die im Kegel ihrer Leselampe wie eine Heilige aussah. Wie eine Heilige mit zerzausten Haaren und Kissenfalten im Gesicht.

Aufgeschreckt, riss nun auch Emmas Vater die Augen auf.

»Was, verdammt, was …« Er sprach laut, sein Blick irrte umher, suchte nach einer Orientierung. Es war offensichtlich, dass er aus einem bösen Traum erwacht war, vielleicht sogar noch in ihm steckte. Er setzte sich auf.

»Was hast du, Süße?«, wollte ihre Mutter wissen. Bevor Emma ihr antworten konnte, wurde ihr Vater laut.

»Verdammte Scheiße!«

»Thomas!«, wies die Mutter ihren Ehemann zurecht.

Er schrie noch lauter, fuchtelte in Emmas Richtung. »Scheiße, wie oft habe ich dir gesagt …«

»Thomas!«

»… dass du uns nachts in Ruhe lassen sollst!«

»Aber mein … mein … mein Schrank …« Emma begann zu stottern, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Nicht schon wieder«, fluchte ihr Vater weiter. Die Beschwichtigungsversuche ihrer Mutter schienen ihn nur noch wütender zu machen.

»Arthur«, erklärte Emma trotzdem. »Der Geist. Er ist wieder da. Im Schrank. Ihr müsst mitkommen, bitte. Sonst tut er mir vielleicht weh.«

Ihr Vater atmete schwer, der Blick verdunkelte sich, seine Lippen zitterten, und für einen kurzen Moment sah er aus, so wie sie sich Arthur vorstellte: wie ein kleiner, schwitzender Teufel, mit dickem Bauch und kahlem Kopf.

»Einen Dreck müssen wir. Emma, hau sofort ab, oder ich tu dir weh. Nicht vielleicht, sondern garantiert!«

»Thomas!«, hörte sie ihre Mutter erneut ausrufen und taumelte zurück.

Die Worte hatten Emma getroffen. Härter als die Tischtenniskelle, die sie letzten Monat beim Sport aus Versehen ins Gesicht bekommen hatte. Tränen schossen ihr in die Augen. Es war, als habe ihr Vater sie geohrfeigt. Ihre Wange brannte, obwohl er nicht einmal die Hände gehoben hatte.

»So kannst du doch nicht mit deiner Tochter reden«, hörte Emma ihre Mutter sagen. Ängstlich, mit leiser Stimme. Fast flehentlich.

»Ich rede mit ihr, wie es mir passt. Sie muss endlich lernen, nicht jede Nacht hier reinzuplatzen …«

»Sie ist ein sechsjähriges Mädchen.«

»Und ich bin ein vierundvierzigjähriger Mann, aber meine Bedürfnisse zählen in diesem Haus wohl gar nichts?«

Emma ließ ihren Elefanten fallen und bemerkte es nicht einmal. Sie drehte sich zur Tür, verließ das Zimmer wie von einer unsichtbaren Marionettenschnur gezogen.

»Thomas …«

»Hör mir auf mit Thomas«, äffte ihr Vater in ihrem Rücken. »Ich hab mich erst vor einer halben Stunde aufs Ohr gelegt. Wenn ich morgen früh nicht fit im Gericht bin, wenn ich diesen Prozess verliere, dann war es das mit der Kanzlei, und dann kannst du dir alles hier in die Haare schmieren: das Haus, dein Auto, das Baby.«

»Ich weiß …«

»Nichts weißt du. Emma frisst uns jetzt schon die Haare vom Kopf, aber du wolltest ja unbedingt einen zweiten Balg, der mich dann überhaupt nicht mehr schlafen lässt. Scheiße. Ich bin hier der Alleinverdiener, wie dir vielleicht nicht entgangen ist. Und ICH BRAUCHE MEINEN SCHLAF!«

Emma hatte schon die Hälfte des Flurs durchquert, doch die Stimme ihres Vaters wurde nicht leiser. Nur die ihrer Mutter. »Schhhh, Thomas. Liebling. Entspann dich.«

»WIE SOLL ICH HIER ENTSPANNEN?«

»Lass mich. Bitte. Ich kümmere mich jetzt um dich, okay?«

»KÜMMERN? Seitdem du wieder schwanger bist, hast du dich nur noch um dich …«

»Ich weiß, ich weiß. Das ist mein Fehler. Komm, lass mich nur machen …«

Emma schloss ihre Zimmertür und sperrte die Stimmen ihrer Eltern aus.

Zumindest die aus dem Schlafzimmer. Nicht die in ihrem Kopf.

Hau sofort ab! Oder …

Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und wartete darauf, dass das Rauschen in den Ohren verschwinden würde, aber das tat es nicht. Ebenso wenig, wie sich das Mondlicht aus ihrem Zimmer zurückzog, das hier heller als bei ihren Eltern schien. Ihre Raffrollos waren aus dünnem Leinen, zusätzlich schimmerten die aufgeklebten Leuchtsterne an der Decke über ihrem Bett.

Mein Bett.

Emma wollte sich dort verkriechen und unter der Decke weinen, aber das konnte sie erst, wenn sie sich sicher war, dass der Geist nicht mehr in seinem Versteck hockte. Dass er sie nicht während des Schlafs ansprang, sondern wieder verschwunden war, so wie jedes Mal, wenn Mama mit ihr nachschauen ging.

Der alte Bauernschrank war ein Ungetüm mit groben Schnitzereien in den Eichenholztüren, die beim Öffnen das knarzende Lachen einer alten Hexe imitierten.

So wie jetzt.

Bitte lass ihn verschwunden sein.

»Hallo?«, sprach Emma in das schwarze Loch vor ihren Augen. Der Schrank war so groß, dass ihre Sachen nur die linke Seite einnahmen. In der anderen Hälfte war Platz für die Handtücher und Tischdecken der Mutter.

Und für Arthur.

»Hallo«, antwortete der Geist mit der tiefen Stimme. Wie immer hörte es sich an, als hielte er sich eine Hand vor den Mund. Oder ein Tuch.

Emma stieß einen spitzen Schrei aus. Seltsamerweise aber fühlte sie nicht diese tiefe, alles umfassende Furcht wie vorhin, als es zum ersten Mal im Schrank gerumpelt hatte und sie nachsehen gegangen war.

Vielleicht ist Angst wie eine Tüte Gummibärchen, dachte sie. Ich hab sie schon im Schlafzimmer meiner Eltern verbraucht.

»Du bist noch da.«

»Natürlich. Denkst du, ich lasse dich allein?«

Ich hatte es mir gewünscht.

»Was, wenn mein Papa nachgesehen hätte?«

Arthur lachte leise. »Ich wusste, dass er nicht kommt.«

»Wieso?«

»Hat er sich schon jemals um dich gekümmert?«

Emma zögerte. »Ja.«

Nein. Ich weiß nicht.

»Aber Mama …«

»Deine Mama ist schwach. Deshalb bin ich ja hier.«

»Du?« Emma zog die Nase hoch.

»Sag mal …« Arthur machte eine kleine Pause, und seine Stimme wurde noch tiefer. »Hast du geweint?«

Emma nickte. Sie wusste nicht, ob der Geist sie sehen konnte, aber vermutlich brauchte er kein Licht für seine Augen. Vielleicht hatte er sogar gar keine Augen, sicher war sie sich nicht. Sie hatte Arthur ja noch nie gesehen.

»Was ist passiert?«, wollte er wissen.

»Papa hat geschimpft.«

»Was hat er denn gesagt?«

»Er sagte …« Emma schluckte. Die Worte im eigenen Kopf zu hören war eine Sache. Sie laut auszusprechen eine andere. Es schmerzte. Aber Arthur bestand darauf, und sie sorgte sich, dass er genauso wütend werden würde wie Papa eben, also wiederholte sie es.

»Hau sofort ab, oder ich tu dir weh.«

»Das hat er gesagt?«

Emma nickte erneut. Und tatsächlich schien Arthur sie im Dunkeln sehen zu können, denn er reagierte auf ihr Nicken. Er stieß ein missbilligendes Grunzen aus, und dann geschah etwas ganz Erstaunliches. Arthur verließ sein Versteck. Zum ersten Mal.

Der Geist, der viel größer war, als sie ihn sich vorgestellt hatte, schob mehrere Bügel zur Seite und strich ihr beim Herausklettern mit seinen behandschuhten Fingern über die Haare.

»Leg dich ruhig schon mal ins Bett, Emma.«

Sie sah zu ihm auf und erstarrte. Statt eines Gesichts sah sie ein Zerrbild ihrer selbst. Als würde sie in den Spiegel eines Gruselkabinetts blicken, der auf einer langen, schwarzen Säule montiert war.

Es dauerte eine Weile, bis ihr bewusst wurde, dass Arthur einen Motorradhelm trug, in dessen Visier sie ihr zur Fratze entstelltes Ebenbild sah.

»Ich bin gleich wieder zurück«, versprach er und wandte sich zur Tür.

Etwas an seinem Gang kam ihr bekannt vor, doch Emma war viel zu sehr von dem spitzen Gegenstand in Arthurs rechter Hand abgelenkt.

Es sollten Jahre vergehen, bis ihr klarwurde, dass es sich hierbei um eine Spritze gehandelt hatte.

Mit einer langen Nadel, die im Mondlicht silbern funkelte.

Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht,

auch wenn er dann die Wahrheit spricht.

 

Sprichwort

1. Kapitel

28 Jahre später

Tun Sie das nicht. Ich habe gelogen. Bitte nicht …«

Die Zuschauer, fast ausschließlich Männer, bemühten sich um eine teilnahmslose Miene, während sie beobachteten, wie die halbnackte, schwarzhaarige Frau gequält wurde.

»Großer Gott, das ist ein Fehler. Ich habe mir das alles doch nur ausgedacht. Ein schrecklicher Fehler … Hilfe!«

Ihre Schreie hallten durch den weißgetünchten, sterilen Raum, die Worte waren einwandfrei zu verstehen. Auf ein Missverständnis würde sich hier später niemand herausreden können.

Die Frau wollte das nicht.

Dennoch stach der leicht übergewichtige, bärtige Mann mit den schiefen Zähnen die Injektionsnadel in die Beuge ihres fixierten Arms.

Dennoch nahm man ihr nicht die Elektroden ab, die an Stirn und Schläfe befestigt waren, auch nicht den Manschettenring auf ihrem Kopf, mit dem sie an diese bedauernswerten, gequälten Affen in Tierversuchslaboren erinnerte, denen man den Schädel geöffnet und Sonden ins Gehirn gesteckt hatte.

Und weit davon entfernt war das, was ihr gleich angetan werden sollte, im Grunde nicht.

Als das Narkotikum und das Muskelrelaxans ihre Wirkung zeigten, wurde die Beatmung eingeleitet. Dann begannen die Männer mit den Stromstößen. Vierhundertfünfundsiebzig Volt, siebzehn Mal hintereinander, bis sie einen epileptischen Krampfanfall auslösten.

Aus dem schrägen Winkel der Überwachungskamera war nicht zu erkennen, ob die Schwarzhaarige sich aufbäumte oder ihre Gliedmaßen spastisch zuckten. Die Rücken der mit Kittel und Mundschutz kostümierten Gestalten nahmen den Zuschauern die Sicht. Aber die Schreie hatten aufgehört. Und schließlich stoppte auch die Aufnahme, und es wurde wieder etwas heller im Saal.

»Was Sie soeben gesehen haben, ist ein schockierender Fall …«, begann Dr. Emma Stein ihre Ausführungen und unterbrach sich kurz, um das Mikrophon etwas näher zu sich heranzuziehen, damit die geladenen Tagungsteilnehmer sie besser verstehen konnten. Mittlerweile ärgerte sie sich, den Trittschemel abgelehnt zu haben, den ihr der Techniker beim Soundcheck angeboten hatte. Dabei hätte sie normalerweise sogar selbst danach gefragt, aber der Kerl im Blaumann hatte so überlegen gegrinst, dass sie die sinnvolle Standerhöhung ausgeschlagen hatte, weswegen Emma jetzt auf Zehenspitzen hinter dem Rednerpult stand.

»… ist ein schockierender Fall längst totgeglaubter Zwangspsychiatrie.«

Wie Emma selbst waren die meisten Anwesenden ebenfalls Psychiater. Sie musste ihren Kollegen also nicht erklären, dass sich ihre Kritik nicht auf die Methode der Elektrokrampftherapie bezog. So mittelalterlich es sich anhören mochte, Strom durch ein menschliches Gehirn zu leiten, so vielversprechend waren die Ergebnisse im Kampf gegen Psychosen und Depressionen. Unter Vollnarkose vorgenommen, war die Behandlung nahezu nebenwirkungsfrei.

»Diese Aufnahmen einer OP-Überwachungskamera konnten wir aus dem Hamburger Orphelio-Klinikum schmuggeln. Die Patientin, deren Schicksal Sie eben ausschnittsweise beobachten konnten, wurde dort am 3. Mai letzten Jahres eingewiesen. Die Aufnahmediagnose lautete schizoide Psychose, basierend einzig und allein auf den Aussagen, die die Vierunddreißigjährige bei der Aufnahme selber getätigt hat. Dabei war sie kerngesund. Die angebliche Patientin hatte ihre Symptome nur vorgespielt.«

»Weshalb?«, fragte ein gesichtsloses Wesen halb links von ihr etwa in der Mitte des Saales. Der Mann hatte nahezu brüllen müssen, damit sie ihn in dem theatergleichen Raum verstand. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie hatte für ihre jährliche Fachtagung den Hauptsaal des Internationalen Congress Centrums Berlin gemietet. Von außen erinnerte das ICC an eine silberne Raumstation, die aus den unendlichen Weiten des Weltalls direkt unter den Funkturm geschleudert worden war. Beim Betreten des möglicherweise asbestverseuchten Siebziger-Jahre-Baus (hierüber streiten die Experten) dachte man jedoch eher an einen Retro-Film als an Science-Fiction. Chrom, Glas und schwarzes Leder dominierten die Inneneinrichtung.

Emma ließ ihren Blick über die dicht besetzten Stuhlreihen wandern, konnte den Fragesteller aber nicht ausfindig machen, also redete sie in die Richtung, in der sie ihn vermutete.

»Gegenfrage: Was sagen Ihnen die Rosenhan-Experimente?«

Ein älterer Kollege, der am Rand der ersten Reihe in einem Rollstuhl saß, nickte wissend.

»Durchgeführt wurden sie das erste Mal Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre mit dem Ziel, die Zuverlässigkeit psychiatrischer Prognosen zu testen.« Emma rollte sich, wie immer, wenn sie etwas nervös war, eine Strähne ihres dichten, teakholzbraunen Haares um den linken Zeigefinger. Sie hatte vor ihrem Vortrag nichts gegessen, aus Angst, müde zu werden oder aufstoßen zu müssen. Jetzt grummelte ihr Magen so laut, dass sie Angst hatte, das Mikrophon könnte das Knurren übertragen und damit den Witzen, die ganz bestimmt über ihren dicken Hintern kursierten, neue Nahrung liefern. Dass sie ansonsten eher schlank war, vergrößerte die körperliche Unzulänglichkeit in ihren Augen eher noch.

»Oben Besenstiel, unten Abrissbirne«, hatte sie erst heute früh wieder gedacht, als sie sich vor dem Badezimmerspiegel begutachtete.

Im nächsten Moment hatte Philipp sie von hinten umarmt und behauptet, sie habe den schönsten Körper, den er je berührt habe. Und beim Abschiedskuss hatte er sie an der Haustür zu sich herangezogen und ihr ins Ohr geflüstert, er bräuchte dringend eine Paartherapie mit der erotischsten Psychiaterin Charlottenburgs, sobald sie wieder zurück sei. Sie spürte, dass er es ernst meinte, aber sie wusste auch, dass ihr Mann im Verteilen von Komplimenten geübt war. Flirten, daran hatte Emma sich gewöhnen müssen, lag einfach in Philipps Natur, und er ließ selten eine Gelegenheit aus, es zu trainieren.

»Zu dem Zweck der Rosenhan-Experimente, benannt nach dem amerikanischen Psychologen David Rosenhan, ließen sich acht Testpersonen zum Schein in psychiatrische Kliniken einweisen. Studenten, Hausfrauen, Maler, Psychologen und Ärzte. Sie alle erzählten bei der Aufnahme die gleiche Geschichte: Sie hätten Stimmen gehört. Merkwürdige, unheimliche Stimmen, die Worte gesagt hätten wie ›hohl‹, ›dumpf‹ oder ›leer‹.

Es wird Sie nicht überraschen zu hören, dass alle Scheinpatienten aufgenommen wurden, die meisten von ihnen mit der Diagnose Schizophrenie oder manisch-depressive Psychose.

Obwohl die Probanden nachweislich gesund waren und sich nach der Einweisung völlig normal verhielten, wurden sie über Wochen hinweg in den Anstalten behandelt und sollten insgesamt über zweitausend Tabletten einnehmen.«

Emma benetzte sich die Lippen mit einem Schluck Wasser aus dem bereitgestellten Glas. Sie hatte Lippenstift aufgetragen, auch wenn Philipp sie lieber »naturgeschminkt« mochte. Tatsächlich hatte sie eine ungewöhnlich glatte Haut, die ihrer Meinung nach aber viel zu blass war, gerade angesichts ihrer kräftigen Haarfarbe. Was daran ein »liebenswerter Kontrast« sein sollte, wie Philipp meinte, konnte sie nicht erkennen.

»Wenn Sie denken, die Siebziger sind lange her, das hat in einem anderen Jahrhundert, also dem Mittelalter der psychiatrischen Wissenschaften, stattgefunden, dann belehrt Sie dieses Video eines Schlechteren: Es ist im letzten Jahr entstanden. Auch diese junge Dame war eine Testperson. Wir haben das Rosenhan-Experiment wiederholt.«

Ein Raunen ging durch den Saal. Wohl weniger aus Angst vor skandalösen Ergebnissen, sondern aus Sorge der Anwesenden, womöglich selbst getestet worden zu sein.

»Wieder haben wir Scheinpatienten in psychiatrische Anstalten geschickt, wieder haben wir getestet, was passiert, wenn völlig gesunde Menschen in eine geschlossene Einrichtung eingewiesen werden. Mit erschreckenden Resultaten.«

Emma trank einen zweiten Schluck, dann fuhr sie fort: »Nur aufgrund eines einzigen Satzes bei ihrer Aufnahme wurde bei der Frau aus dem Video eine schizoide Paranoia diagnostiziert. Über einen Monat lang wurde sie daraufhin behandelt. Nicht nur medikamentös und in Gesprächstherapien, sondern auch mit unmittelbarer Gewalt. Wie Sie selbst sehen und hören konnten, hat sie unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie die Elektrokrampfbehandlung nicht will. Kein Wunder, denn sie ist ja kerngesund. Dennoch wurde sie zwangsbehandelt.

Obwohl sie das eindeutig ablehnte. Obwohl nach ihrer Aufnahme keine weiteren Auffälligkeiten festgestellt wurden und sie den behandelnden Ärzten mehrfach versicherte, ihr Zustand habe sich normalisiert. Doch diese hörten weder auf sie noch auf die Pfleger und Mitpatienten. Denn anders als die nur sporadisch vorbeischauenden Ärzte waren sich die Personen, mit denen sie für längere Zeit und auf Dauer zusammen war, sicher, dass diese Frau auf der Geschlossenen völlig fehl am Platze ist.«

Emma sah, wie jemand im vorderen Drittel aufstand. Sie gab dem Techniker das verabredete Zeichen, das Licht etwas heller zu drehen. Als ihre Augen einen hochgewachsenen, schlaksigen Mann mit schütteren Haaren ausmachten, wartete sie, bis sich eine langbeinige Kongressassistentin durch die Reihen zu ihm durchgekämpft hatte und ihm ein Funkmikrophon reichte.

Der Mann pustete einmal ins Mikro, dann sagte er: »Stauder-Mertens, Uniklinik Köln. Mit Verlaub, Frau Kollegin. Sie präsentieren uns hier verwaschene Horrorvideos, deren Herkunft und Bezugsquelle wir lieber gar nicht wissen wollen, und stellen wüste Behauptungen auf, die, sollten sie je an die Öffentlichkeit getragen werden, dazu geeignet sind, unserem Berufsstand massiven Schaden zuzufügen.«

»Haben Sie auch eine Frage?«, wollte Emma wissen.

Der Arzt mit dem Doppelnamen nickte. »Haben Sie noch mehr in der Hand als die Aussage dieser Scheinpatientin?«

»Ich habe sie persönlich für dieses Experiment ausgewählt.«

»Schön, aber können Sie auch die Hand für sie ins Feuer legen? Ich meine, woher wollen Sie wissen, dass diese Person wirklich gesund ist?«

Selbst aus der Entfernung konnte Emma das gleiche selbstsichere Lächeln erkennen, das sie schon bei dem Techniker geärgert hatte.

»Worauf wollen Sie hinaus, Herr Stauder-Mertens?«

»Darauf, dass jemand, der sich freiwillig für Wochen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in eine geschlossene Einrichtung einweisen lässt, eine Person ist, die mit einer, lassen Sie es mich vorsichtig formulieren, außergewöhnlichen psychischen Struktur ausgestattet sein muss. Wer sagt Ihnen, dass diese bemerkenswerte Dame nicht doch an jenen Symptomen litt, deretwegen sie am Ende behandelt wurde und die sich vielleicht erst während ihres Aufenthalts zeigten?«

»Ich«, antwortete Emma.

»Ach, waren Sie denn die ganze Zeit bei ihr?«, fragte der Mann leicht süffisant.

»Ja.«

Sein selbstsicheres Grinsen war verschwunden. »Sie?«

Emma nickte, und die Stimmung im Saal wurde spürbar nervöser.

»Ganz richtig«, bestätigte Emma. Ihre Stimme zitterte vor Aufregung, aber auch vor Wut ob der Ungeheuerlichkeit ihrer Enthüllungen. »Werte Kollegen, Sie haben die Testperson auf dem Video nur von hinten und mit gefärbten Haaren gesehen, aber die Frau, die gegen ihren ausdrücklich erklärten Willen erst narkotisiert und dann zwangsweise mit Stromstößen behandelt wurde, diese Frau war – ich.«

2. Kapitel

Zwei Stunden später

Emma griff nach ihrem Trolley und zögerte beim Betreten von Zimmer 1904 aus dem einfachen Grund, dass sie kaum etwas sehen konnte. Das wenige Licht, das die Dunkelheit durchbrach, stammte von den unzähligen Lichtern der Großstadt, neunzehn Stockwerke unter ihr.

Das Le Zen am Tauentzien war Berlins neuester Fünf-Sterne-Chrom-und-Glas-Palast mit über dreihundert Zimmern. Höher und luxuriöser als jedes andere Hotel der Hauptstadt. Und – zumindest in Emmas Augen – relativ geschmacklos eingerichtet.

Jedenfalls war das ihr erster Eindruck, nachdem sie den Hauptschalter neben der Tür gefunden hatte und das Deckenlicht ansprang.

Die Möblierung wirkte so, als hätte man dem Praktikanten eines Innenarchitekturbüros den Auftrag gegeben, sämtliche Klischees, deren man sich in Bezug auf fernöstliche Lebensart bedienen konnte, bei der Wahl der Ausstattung zu berücksichtigen.

Im Vorraum, der von dem angrenzenden Schlafzimmer nur durch eine dünne, mit Seidenpapier bezogene Schiebetür getrennt war, stand ein chinesischer Hochzeitsschrank. Ein Bambusläufer erstreckte sich von der Tür bis zu einem niedrigen Futonbett. Die Lampen neben den bodentiefen Couchmöbeln ähnelten den bunten Lampions des Laternenumzugs, den der Kindergarten der Heerstraßensiedlung jedes Jahr mit seinen Knirpsen am Martinstag veranstaltete. Überraschend stilvoll wiederum war eine riesige Schwarzweißfotografie zwischen Sofa und Einbauschrank, die ein überlebensgroßes Porträt Ai Weiweis zeigte, das vom Fußboden bis zur Zimmerdecke reichte. Emma hatte erst kürzlich eine Ausstellung dieses chinesischen Ausnahmekünstlers besucht.

Sie löste ihren Blick von dem Mann mit dem zerzausten Kinnbart, hängte ihren Mantel in den Schrank und zog ihr Handy aus der Handtasche.

Mailbox.

Sie hatte es schon einmal versucht, aber Philipp ging nicht dran. Wie üblich, wenn er im Einsatz war.

Seufzend trat sie an das bodentiefe Fenster, streifte die Peeptoes ab, ohne die sie auf die Durchschnittsgröße einer Vierzehnjährigen schrumpfte, und schaute auf den Kurfürstendamm hinab. Dabei strich sie sich über den Bauch, der noch keine Wölbung zeigte, dafür war es noch etwas zu früh. Doch der Gedanke daran, dass da etwas in ihr heranwuchs, das sehr viel wichtiger war als jedes Seminar und jede berufliche Anerkennung, beruhigte sie.

Es hatte eine Weile gedauert, bis sich vor fünf Wochen endlich der zweite Strich auf dem Schwangerschaftstest gezeigt hatte. Und der war auch der Grund, weshalb Emma heute nicht zu Hause schlief, sondern zum ersten Mal in ihrer eigenen Stadt im Hotel übernachtete. Ihr kleines Haus in der Teufelssee-Allee glich momentan einer Baustelle, denn sie hatten begonnen, das Dach für ein Kinderzimmer auszubauen. Auch wenn Philipp der Meinung war, dass es vor dem Ende des ersten Schwangerschaftstrimesters vielleicht etwas übereifrig war, mit dem Nestbau zu beginnen.

Da er mal wieder beruflich in einer anderen Stadt im Einsatz war, hatte Emma das Übernachtungspaket angenommen, das die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie jedem Gastredner auf dem zweitägigen Kongress kostenlos angeboten hatte; selbst denen, die in Berlin wohnten, damit diese bei der gemeinsamen Abendveranstaltung (die Emma gerade schwänzte) im Ballsaal des Hotels auch etwas trinken konnten.

»Der Vortrag endete so, wie du es vorausgesagt hast«, sprach sie Philipp auf die Mailbox. »Sie haben mich allerdings nicht gesteinigt, aber nur, weil sie keine Steine dabeihatten.«

Sie lächelte.

»Immerhin haben sie mir mein Hotelzimmer nicht wieder weggenommen. Die Schlüsselkarte, die ich mit den Kongressunterlagen bekommen habe, hat noch gepasst.«

Emma schickte Philipp einen Kuss hinterher, legte auf und vermisste ihn schrecklich.

Besser allein hier im Hotel als allein zwischen Farbeimern und aufgerissenen Wänden zu Hause, versuchte sie sich die Lage schönzudenken.

Sie ging ins Bad, wo sie beim Ausziehen ihres Kostüms nach dem Regler für die Lautsprecher in der Zwischendecke suchte, der das TV-Tonsignal übertrug.

Vergeblich.

Also musste sie noch einmal ins Wohnzimmer zurück und den Fernseher ausschalten. Auch hier dauerte es eine Weile, bis sie die Fernbedienung in einer Nachttischschublade fand, weshalb sie jetzt bestens über einen Flugzeugabsturz in Ghana und einen Vulkanausbruch in Chile informiert war.

Emma hörte den nasal klingenden TV-Sprecher zu einer neuen Meldung übergehen – »… warnt die Polizei vor einem Serientäter, der Frauen …« – und schnitt ihm per Knopfdruck den Ton ab.

Im Badezimmer brauchte sie eine Weile, bis sie die Temperatureinstellung gefunden hatte.

Als Frostbeule liebte sie warmes Wasser, selbst jetzt im Hochsommer, und mit nicht einmal zwanzig Grad war es ein ungewöhnlich frischer, vor allem windiger Junitag gewesen.

Also stellte sie den digitalen Temperaturregler der Brause auf vierzig Grad, ihre Schmerzgrenze, und wartete auf das Kribbeln, das sich immer einstellte, sobald der heiße Strahl auf ihre Haut traf.

Normalerweise fühlte sie sich automatisch lebendiger, sobald sie, in Wasserdampf gehüllt, das heiße Wasser auf ihrem Körper spürte, aber heute war der Effekt schwächer, auch weil der Dreck, mit dem man sie nach dem Vortrag beworfen hatte, nicht mit Wasser und Hotelseife abgespült werden konnte.

Die Reaktionen auf ihre Enthüllungen, dass auch im einundzwanzigsten Jahrhundert Menschen Gefahr liefen, aufgrund schlampig erstellter Fehldiagnosen der Spielball machtmissbräuchlich agierender Halbgötter in Weiß zu werden, waren heftig gewesen. Mehr als nur ein Mal hatte man die Validität ihrer Untersuchungsergebnisse in Frage gestellt. Der Herausgeber der renommiertesten fachwissenschaftlichen Zeitung hatte sogar eine akribische Überprüfung angekündigt, bevor man »in Erwägung zöge«, einen Artikel über ihre Arbeit zu veröffentlichen.

Sicher, einige Kollegen hatten ihr nach der Veranstaltung Unterstützung zugesagt, aber selbst bei den wenigen, die ihr auf die Schulter klopften, hatte sie den unausgesprochenen Vorwurf in ihren Augen lesen können: »Wieso hast du dich bloß in Gefahr begeben durch diesen dummen Selbstversuch? Überhaupt: Weshalb gefährdest du deine Karriere und legst dich mit den Mächtigen der Klinikbranche an?«

Etwas, was Philipp sie niemals fragen würde. Er verstand, weshalb Emma seit Jahren für die Verbesserung der Rechtsstellung von Patienten in psychiatrischer Behandlung eintrat, denen man ihrer psychischen Erkrankung wegen in der Regel argwöhnischer gegenüberstand als Patienten, die sich zum Beispiel über eine fehlerhafte Zahnbehandlung beschwerten.

Und Philipp verstand, weshalb sie dafür auch ungewöhnliche, manchmal gefährliche Wege ging. Ohne Zweifel lag es daran, dass sie einander in diesem Punkt so ähnlich waren.

Auch Philipp überschritt für seine Arbeit Grenzen, die kein normaler Mensch freiwillig übertrat. Einfach, weil ihm die Psychopathen und Serientäter, denen er als leitender Ermittler der Abteilung für operative Fallanalyse beim BKA hinterherjagte, oft keine andere Wahl ließen.

Manche Paare teilen denselben Sinn für Humor, bei anderen sind ähnliche Freizeitaktivitäten oder eine gemeinsame politische Einstellung die Basis. Emma und Philipp hingegen lachten über völlig unterschiedliche Witze, sie konnte Fußball, er ihrer Liebe für Musicals nichts abgewinnen, und während sie in ihrer Jugend gegen Atomkraft und die Pelzindustrie demonstriert hatte, war er Mitglied der Jungen Union gewesen. Das, was das Fundament ihrer Beziehung ausmachte, hieß: Empathie.

Intuition und Erfahrung ermöglichten es ihnen, sich in die Seele anderer Menschen hineinzuversetzen und die Geheimnisse ihrer Psyche ans Tageslicht zu fördern. Während Emma das tat, um die Patienten, die ihre Privatpraxis am Savignyplatz aufsuchten, von ihren psychischen Problemen zu befreien, nutzte Philipp seine außergewöhnlichen Fähigkeiten, um Verhaltens- und Personenprofile zu erstellen. Menschen mit seinem Beruf wurden von Drehbuchautoren gerne »Profiler« genannt, hießen im wahren Leben aber Fallanalytiker. Dank Philipps Analysen waren bereits einige der gefährlichsten Täter gefasst worden, die die Bundesrepublik je erlebt hatte.

In letzter Zeit aber wünschte Emma sich, dass sie beide einmal etwas kürzertreten würden. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass es auch Philipp immer schlechter gelang, in ihrer ohnehin knapp bemessenen Freizeit den notwendigen Abstand zu seiner Arbeit zu gewinnen. Und sie hatte Angst, dass sie auf dem besten Weg waren, das Nietzsche-Sprichwort von dem Abgrund zu beweisen, der, wenn man nur lange und tief genug in ihn blickt, in einen selbst hineinblickt.

Eine Auszeit, oder wenigstens ein Urlaub. Das wär’s.

Die letzte gemeinsame Fahrt war schon so lange her, dass die Erinnerungen an sie bereits verblassten.

Emma schäumte sich mit dem hoteleigenen Shampoo ein und konnte nur hoffen, dass sie am nächsten Morgen nicht wie ein Pudel aussehen würde. So kräftig ihre braunen Haare auch waren, sie reagierten empfindlich auf das falsche Pflegemittel. Es hatte sie zahllose Versuche und viele Tränen gekostet, bis sie herausgefunden hatte, was ihre Mähne glänzen ließ und was ihren Kopf in ein aufgeplatztes Sofakissen verwandelte.

Emma spülte sich die Haare aus, zog den Duschvorhang zur Seite und wunderte sich noch, weshalb ein so teures Hotel keine Schiebetüren aus Glas installiert hatte, als sie von einer Sekunde auf die andere zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war.

Angst war das, was sie fühlte.

Flucht war das, woran sie als Erstes dachte, als sie die Buchstaben sah.

Auf dem Badezimmerspiegel.

In akkurat gezeichneten Lettern, quer über der von Wasserdampf beschlagenen Scheibe stand:

HAU AB.

BEVOR ES ZU SPÄT IST!

3. Kapitel

Ja?«

»Entschuldigen Störung. Alles Ordnung?«

Die hochgewachsene, schlanke Russin in der Tür sah ehrlich besorgt aus. Dabei wirkte die Frau, die nur gebrochen Deutsch sprach, auf Emma nicht wie eine Person, die sich um ihre Mitmenschen unnötig viele Gedanken machte. Eher wie ein Model, das um seine Schönheit wusste und sich selbst für den Mittelpunkt der Welt hielt. Gehüllt in ein eng anliegendes Designerkostüm, gebadet in Chanel, von sündhaft teuer wirkenden High Heels getragen, mit denen selbst Emma auf andere hätte hinabblicken können.

»Wer sind Sie?«, fragte Emma und ärgerte sich, dass sie die Tür geöffnet hatte. Nun stand sie barfuß vor einer slawischen Schönheit, mit pitschnassen Haaren, nur von einem hastig übergeworfenen Hotel-Kimono bekleidet. Dessen Stoff war so dünn, dass sich darunter garantiert jede einzelne Rundung ihres nackten Körpers abzeichnete, der so viel unvollkommener war als der der Russin.

»Tschuldigung. Wände sehr dünn.«

Die Frau strich sich eine ihrer blonden Extensions aus der Stirn. »Kam vorbei. Hörte Schrei.«

»Sie hörten einen Schrei?«, fragte Emma tonlos.

Tatsächlich konnte sie sich nur daran erinnern, dass ihr schwindelig geworden war, was nicht nur an der unheimlichen Spiegel-Botschaft, sondern bestimmt auch an ihrer viel zu heißen Dusche gelegen hatte.

Beides hatte ihr regelrecht den Boden unter den Füßen weggerissen.

Im ersten Moment hatte Emma es noch geschafft, sich am Waschtisch festzuhalten, dann war sie auf den Fliesen zusammengesunken, um vom Fußboden aus die Buchstaben anzustarren:

HAU AB.

BEVOR ES ZU SPÄT IST!

»Hörte auch Weinen«, sagte die Russin.

»Das muss ein Irrtum sein«, antwortete Emma, obwohl es sehr gut möglich war, dass ihr Zusammenbruch mit Tränen einhergegangen war. Ihre Augen brannten zumindest noch. Die Nachricht auf dem Spiegel hatte die dunkelsten Erinnerungen ihrer Kindheit wachgerüttelt.

Der Schrank.

Die knarrenden Türen, hinter denen ein Mann mit Motorradhelm kauerte.

Arthur.

Der Geist, der sie durch unzählige Nächte begleitet hatte. Immer und immer wieder. Zuerst als Monster, später als Freund. So lange, bis sie als Zehnjährige endlich »geheilt« wurde, obwohl es diesen Begriff in der Psychotherapie eigentlich gar nicht gab. Dem Kinderpsychiater, den Emma damals hatte aufsuchen müssen, war es nach vielen Sitzungen gelungen, den Dämon zu vertreiben. Aus ihrem Schrank und aus ihrem Kopf. Dabei hatte er ihr bewusst gemacht, um wen es sich bei diesem Trugbild in Wirklichkeit gehandelt hatte.

Papa!

Seit jenen Therapiestunden, die ihr Interesse für ihren heutigen Beruf überhaupt erst geweckt hatten, wusste Emma, dass es nie einen Geist gegeben hatte. Und keinen Arthur. Sondern immer nur ihren Vater, der sie zeit ihres Lebens zurückgewiesen und verängstigt hatte und den sie doch so gerne als Verbündeten in ihrer Nähe gehabt hätte. Für sich alleine. Immer um sich herum. Jederzeit abrufbar, sogar nachts im Schrank.

Doch ein Freund war Emmas Vater nie gewesen. Nicht in ihrer Kindheit, nicht während des Studiums, und jetzt, da sie eine verheiratete Psychiaterin war, erst recht nicht. Immer war ihm seine Arbeit wichtiger gewesen. Seine Akten, Zeugen und Prozesse. Morgens zu früh aus dem Haus, abends zu spät bei der Familienfeier. Oder gar nicht.

Obwohl er schon lange nicht mehr praktizierte, schaffte er es heute gerade mal so, eine Karte zu ihrem Geburtstag zu verschicken. Und selbst die hatte ihm Mama, mit der er seinen Lebensabend auf Mallorca verbrachte, bestimmt diktiert. Formulierungen wie »Ich vermisse dich« oder »Ich hoffe, wir schaffen es in diesem Jahr, mehr Zeit miteinander zu verbringen« gehörten einfach nicht zu dem Sprachschatz des Cholerikers. Eher so etwas wie:

»Hau sofort ab, oder ich tu dir weh.«

Und nun stand eine ähnliche Drohung quer über dem Spiegel ihres Hotelbadezimmers.

Konnte das ein Zufall sein?

Natürlich!

Noch bevor es an der Tür geklopft hatte, hatte Emma bereits eine logische Erklärung für den Vorfall gefunden.

Ein Streich!

Der Vormieter des Zimmers musste vor dem Auschecken mit seinen Fettfingern auf die trockene Spiegelscheibe gepatscht haben, um den Nachbewohner in Angst und Schrecken zu versetzen. Was ihm gelungen war.

So sehr, dass sie das halbe Hotel zusammengeschrien hatte.

Über die Heftigkeit von Emmas Reaktion wäre der Scherzbold wohl selbst erschrocken, konnte er doch kaum geahnt haben, dass die Worte auf dem Spiegel ein altes Trauma wachrüttelten.

Dabei war es damals nicht die Drohung des Vaters gewesen, die Emma so verstört hatte, sondern dass Arthur ausgerechnet in jener Nacht zum ersten Mal aus dem Schrank stieg. Der Motorradhelm, die Spritze, seine Stimme … alles hatte so real gewirkt.

Und tat es auch manchmal noch in ihrer Erinnerung.

»Geht gut?«, wollte die Russin von ihr wissen, die sie weiterhin mit einer seltsamen Mischung aus Besorgnis und Ungeduld musterte. Und dann sagte sie etwas, was gleichzeitig so freundlich wie grausam war, dass Emma nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte.

»Macht Kunde Ärger?«

Oh Gott.

Natürlich.

Sie ist eine Prostituierte!

Daher ihr aufgetakelter Aufzug. Der halbe Kongress war im Le Zen untergebracht. Das Hotel war voll mit alleinstehenden Männern in Einzelzimmern. Wie viele von denen hatten sich für heute Nacht ein Escort-Mädchen gebucht? Drecksäcke wie Stauder-Mertens ganz sicher, die unter Garantie jede Gelegenheit nutzten, die sich ihnen bot, wenn sie von Frau und Familie getrennt waren.

»Wenn Hilfe brauchen, dann …«

»Nein, nein. Das ist nett, danke, aber …«

Emma schüttelte den Kopf.

… aber ich bin keine Prostituierte. Nur eine schreckhafte Psychiaterin.

Wie freundlich, dass die Frau ihr helfen wollte. Wie furchtbar, dass sie sich mit prügelnden Freiern auszukennen schien. Und mit zusammengeschlagenen Nutten, die heulend auf den Fliesen eines Hotelbadezimmers kauerten.

Emma lächelte, doch das Lächeln schien ihr nicht aufrichtig zu gelingen. Sie konnte in den dunklen Augen der Russin sehen, dass ihre Zweifel nicht zerstreut waren, weshalb Emma sich entschloss, ihr die Wahrheit zu sagen.

»Keine Sorge. Ich bin ganz allein in meinem Zimmer. Aber ich dachte, jemand hätte sich hereingeschlichen und mich heimlich beim Duschen beobachtet.«

»Spanner?«

»Ja. Es war aber nur ein dummer Scherz des vorigen Gastes.«

»Na dann.«

Das Escort-Mädchen wirkte immer noch nicht überzeugt, zuckte aber mit den Achseln und sah auf die Rolex an ihrem Handgelenk. Dann verabschiedete sie sich mit ihrem ersten fehlerfreien Satz: »Pass auf, dass dir nichts passiert.«

Vermutlich hatte sie ihn schon oft von ihren Kolleginnen gehört.

Emma dankte ihr und schloss die Zimmertür. Durch den Spion sah sie, wie sich die Russin nach rechts den Gang hinunter entfernte.

Die Fahrstühle lagen in der anderen Richtung. Also stand ihr »Termin« wohl noch bevor.

Mit klopfendem Herzen sicherte Emma die Tür mit allen dafür vorgesehenen Drehschlössern und Hebeln und merkte dann erst, wie erschöpft sie war. Erst der Vortrag, dann der Spiegel, jetzt das Gespräch mit der Russin. Sie sehnte sich danach, zur Ruhe zu kommen. Einschlafen zu können.

Am besten in Philipps Armen.

Wieso konnte er jetzt nicht bei ihr sein, damit sie gemeinsam über diese alberne Situation ihre Scherze machten?

Emma überlegte kurz, ob sie zur Ablenkung ihre besten Freunde anrufen sollte, Sylvie oder Konrad, doch von beiden wusste sie, dass sie ein Date hatten. Kein gemeinsames natürlich, denn Konrad war schwul.

Und selbst wenn sie einen von beiden erreichte, was sollte sie sagen? »Sorry, aber ich bin etwas nervös, weil mein Spiegel beschlagen ist?«

Beschlagen war, stellte sie fest, als sie ins Badezimmer zurückging, um sich die Zähne zu putzen.

Der Wasserdampf war verschwunden. So wie die Scherz-Nachricht selbst.

Als hätte sie niemals dort gestanden.

4. Kapitel

Emma fröstelte.

Nur noch Schlieren zeugten von dem Kondensat, das sich verflüchtigt und hässliche Ränder auf der silbernen Scheibe hinterlassen hatte. Ohne nachzudenken, wischte sie mit einem Waschlappen die Flecken weg und ärgerte sich im nächsten Moment, dass sie nicht gegen den Spiegel gehaucht hatte, um die Botschaft erneut zum Leben zu erwecken.

Dann ärgerte sie sich, dass sie sich ihrer selbst nicht mehr sicher war.

»Was ist nur los mit dir, Emma?«, flüsterte sie, den Kopf in ein Handtuch gepresst.

Die Nachricht war keine Einbildung gewesen. Nur ein dummer Scherz. Kein Grund, so nervös zu sein.

Sie löschte das Licht im Bad, ohne noch einmal in den Spiegel zu schauen. Den Kimono hängte sie in den Schrank zurück und tauschte ihn gegen einen Pyjama. Dabei konnte sie dem paranoiden Impuls nicht widerstehen, den Schrank nach geheimen Versteckmöglichkeiten zu überprüfen (die es nicht gab). Da sie schon einmal dabei war, konnte sie auch gleich noch hinters Bett sehen, die Vorhänge kontrollieren und erneut die Schlösser überprüfen. Immer unter der Beobachtung Ai Weiweis, dessen Augen so fotografiert waren, dass sie Emma im Blick behielten, welchen Standpunkt auch immer sie gegenüber dem Bild einnahm.

Sie wusste, dass das alles Übersprunghandlungen waren, dennoch ging es ihr besser, nachdem sie ihren irrationalen Stresssymptomen nachgegeben hatte.

Als sie nach dem »Kontrollgang« endlich unter die frisch gestärkte Bettdecke kroch, fühlte sie sich müde und schwer.

Ein letztes Mal versuchte sie Philipp zu erreichen. Sie sprach ihm ein »Träum von mir, wenn du das abgehört hast« auf die Mailbox, und nachdem sie den Wecker gestellt hatte, schloss sie die Augen.

Wie so oft, wenn sie übermüdet und zugleich vollkommen überdreht war, füllten flirrende Lichter und Schattenspiele die Dunkelheit, in die sie hinabsinken wollte.

Wieso hast du das nur gesagt?, fragte sich Emma in einer verschwommenen Erinnerung an ihren Vortrag, während sie in den Schlaf driftete. Wieso hast du erzählt, dass du selbst die gefolterte Patientin auf dem Video gewesen bist?

Das war nie beabsichtigt gewesen, sie hatte aus einem Impuls heraus gehandelt, nur weil Stauder-Mertens, dieser selbstverliebte Gockel aus Köln, sie getriezt hatte.

Haben Sie noch mehr in der Hand als die Aussage dieser Scheinpatientin?

Ja, hatte sie. Jetzt war es raus. Eine unnötige Sensation.

Emma drehte sich zur Seite und versuchte die Bilder von der zuhörenden Männermeute im Kongresszentrum abzuschütteln. Dabei pikte es sie in den Ohren, weil sie vergessen hatte, die Perlenstecker abzulegen.

Wieso tust du so etwas immer?, fragte sie sich, und wie es in der Übergangsphase zwischen Wachen und Träumen bei ihr oft vorkam, fragte sie sich, wieso sie sich das fragte und was sie mit »immer« eigentlich meinte, und noch während sie in dieser Gedankenschleife feststeckte, war es auf einmal passiert.

Sie schlief.

Kurz.

Nicht einmal zwei Minuten lang.

Bis das Geräusch sie weckte.

Das Summen.

In der Dunkelheit.

In unmittelbarer Nähe, direkt neben ihrem Bett.

Emma drehte sich zur Seite, öffnete die Augen und sah, dass ihr Handy leuchtete. Sie hatte es auf den Fußboden gelegt, weil das Aufladekabel von der Steckdose nicht bis hoch zum Nachttisch reichte. Nun hatte sie einige Mühe, das Telefon vom Teppich zu angeln.

Unbekannter Teilnehmer.

»Schatz?«, fragte sie in der Hoffnung, dass Philipp von dem Apparat irgendeiner Dienststelle zurückrief.

»Frau Dr. Stein?«

Sie hatte die Stimme des Mannes noch nie gehört. In die Enttäuschung, nicht mit Philipp zu sprechen, mischte sich Verärgerung. Wer in drei Teufels Namen rief so spät noch bei ihr an?

»Ich hoffe, es ist wichtig«, gähnte sie.

»Tut mir leid, Sie zu stören. Hier ist das Le Zen, Herr Eigenhardt vom Empfang.«

Auf meinem Handy?

»Ja?«

»Wir wollten nur nachfragen, ob Sie heute noch einchecken.«

»Wie bitte?«

Emma tastete erfolglos nach dem Schalter für die Nachttischlampe neben ihrem Bett.

»Was heißt denn einchecken? Ich schlafe bereits.«

Zumindest versuche ich das.

»Dann dürfen wir das Zimmer also freigeben?«

Hört der schlecht?

»Nein, ich sagte doch: Ich habe bereits eingecheckt. Zimmer 1904.«

»Oh, bitte entschuldigen Sie vielmals, aber …«

Der Rezeptionist war hörbar verwirrt.

»Was aber?«, fragte Emma.

»Aber es gibt bei uns kein Zimmer mit dieser Nummer.«

Wie bitte?

Emma richtete sich in ihrem Bett auf und fixierte das blinkende Lämpchen des Rauchmelders über sich an der Decke.

»Machen Sie Witze?«

»Es gibt im gesamten Hotel keine einzige Vier. Das ist eine Unglückszahl im asiatischen Raum, und daher …«

Den Rest des Satzes konnte Emma nicht mehr hören, da ihr Handy auf einmal nicht mehr in ihrer Hand lag.

Dafür hörte sie etwas, was gar nicht möglich war. Direkt neben ihrem Ohr: ein Räuspern.

Eines Mannes.

Und während sich ihr vor Angst die Kehle zuschnürte, spürte sie den Druck auf ihrem Mund.

Schmeckte Stoff.

Gleichzeitig wurde sie von etwas gestochen, und durch den Einstich in ihrer Armbeuge floss ein Kühlmittel.

Der Mann räusperte sich erneut, und dann, als sie sich sicher war, innerlich zu erfrieren, spürte sie die Klingen.

Unsichtbar in der Dunkelheit, unüberhörbar nah vor ihrem Gesicht, denn sie vibrierten.

Srrrrrrrr.

Ein rotierendes Küchenmesser, eine Säge oder ein elektrischer Korkenzieher.

Bereit zum Stechen, Schlitzen oder Punktieren.

Sie hörte das Geräusch eines sich öffnenden Reißverschlusses.

»Ich bin schwanger!«, wollte sie schreien, aber Zunge und Lippen versagten den Dienst.

Emma, zur Bewegungsunfähigkeit verdammt, konnte weder brüllen noch strampeln oder um sich schlagen.

Nur abwarten, wo sie die Schmerzen als Erstes fühlen würde.

Und beten, dass das Grauen schnell vorüber wäre.

Was es nicht war.

Sechs Monate danach

5. Kapitel

Emma öffnete die Augen und überlegte, wie lange ihr Gegenüber sie wohl beim Schlafen betrachtet haben musste.

Professor Konrad Luft saß in seinem Stammsessel, die Hände vor dem Bauch gefaltet, sein nachdenklicher Blick ruhte mit melancholischer Schwere auf ihrem Gesicht.

»Geht es einigermaßen?«, fragte er, und erst wusste sie nicht, worauf ihr bester Freund hinauswollte, dann aber sah sie den Beistelltisch an ihrem Bett. Auf ihm lagen die Tabletten, die sie ihr in der psychiatrischen Klinik mitgegeben hatten, in deren geschlossene Abteilung der Richter sie eingewiesen hatte.

Für den Notfall.

Falls sie Schmerzen hatte, sobald sie erwachte.

Sie streckte ihre Glieder unter der Klinikdecke und versuchte, sich mit den Ellbogen auf der Krankenliege aufzustützen. Zu schwach dafür, sank sie wieder in das Kissen zurück und rieb sich die Augen.

Den Transport hatte sie verschlafen, kein Wunder angesichts der vielen Pillen, die man ihr gab. Allein die Nebenwirkungen würden den stärksten Elefanten umhauen, zusätzlich hatte man ihr noch ein Beruhigungsmittel verabreicht.

Nach dem Aufwachen dauerte es eine Weile, bis sie ihre Umgebung erkannte. Der Raum, in dem sie früher schon so viele Stunden verbracht hatte, fühlte sich fremd an, wenn auch nicht so fremd wie die geschlossene Abteilung, die sie in den letzten Wochen nicht verlassen hatte.

Vielleicht rührte das komische Gefühl daher, dass Konrad seine Strafrechtskanzlei kürzlich renoviert hatte, aber Emma bezweifelte es.

Nicht der Raum war es, der sich wesentlich verändert hatte, sondern sie.

Der Geruch von Farbe und frisch geöltem Nussbaumparkett hing noch in der Luft, einige Möbel waren während der Arbeiten verschoben worden, aber im Grunde war alles noch so wie bei ihrem ersten Besuch vor nunmehr fast zehn Jahren. Damals hatte sie sich in Turnschuhen und Jeans auf das Sofa gelümmelt. Heute lag sie im Nachthemd auf einer höhenverstellbaren Krankenliege, beinahe in der Mitte des Raumes. Leicht schräg gestellt, mit Blick auf Konrads Schreibtisch und der Fensterfront dahinter.

»Schätze, ich bin die erste Mandantin, die auf einer Trage zu dir in die Kanzlei gerollt wurde«, sagte sie.