Das Paradies war früher schöner - Simon Ammer - E-Book

Das Paradies war früher schöner E-Book

Simon Ammer

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Beschreibung

Mord ist schlecht fürs Geschäft! »Das Paradies war früher schöner« ist der erste Band einer humorvoll-skurrilen Krimi-Reihe aus Österreich, in der der herrlich verschrobene Oberst Benedikt Kordesch ermittelt, der zwar das Autofahren ebenso scheut wie den Alkohol, aber das Herz am rechten Fleck hat. Ausgerechnet zu Beginn der Sommer-Saison wird im Hotel Villa Paradies am Millstätter See in Kärnten ein prominenter Gast ermordet: Der Starkoch aus München liegt an einem makellosen Julimorgen erstochen in seinem Bett. In Wien ist man alarmiert, denn ein Abgeordneter aus der Region ist selbst Hotelier und außerdem ein guter Freund des Innenministers. Um den Fall möglichst schnell und geräuschlos aufzuklären, wird der scharfsinnige Oberst Benedikt Kordesch nach Kärnten geschickt, der unter Kollegen als »etwas wunderlich« gilt. Dank der eher spröden Einheimischen gestalten sich Kordeschs Ermittlungen zunächst mehr als zäh. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass er keine allzu hohe Meinung von denen hat, die hier das Geld und das Sagen haben. Allerdings ist es auch wenig hilfreich, dass sich der Oberst just in dem Moment in seine Hauptverdächtige verliebt, als eine zweite Leiche am sonnigen Seeufer treibt …  Der Auftakt einer österreichischen Krimi-Reihe mit dem besonderen Schmäh! Mit reichlich trockenem Humor lässt Simon Ammer in seinem Österreich-Krimi das Politische mit dem allzu Menschlichen kollidieren, die Liebe mit der Habgier und die Komik mit der Tragik. Vor der sommerlichen Kulisse Kärntens bietet der humorvolle Kriminalroman die perfekte Urlaubslektüre für alle, die es gern ein bisschen hintersinniger und schräger mögen.

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Seitenzahl: 378

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Simon Ammer

Das Paradies war früher schöner

Kriminalroman

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Über dieses Buch

Ausgerechnet zu Beginn der Sommer-Saison wird im Hotel Villa Paradies am Millstätter See in Kärnten ein prominenter Gast ermordet: Der Starkoch aus München liegt an einem makellosen Julimorgen erstochen in seinem Bett.

In Wien ist man alarmiert, denn ein Abgeordneter aus der Region ist selbst Hotelier und außerdem ein guter Freund des Innenministers. Um den Fall möglichst schnell und geräuschlos aufzuklären, wird der scharfsinnige Oberst Benedikt Kordesch nach Kärnten geschickt, der unter Kollegen als »etwas wunderlich« gilt.

Dank der eher spröden Einheimischen gestalten sich Kordeschs Ermittlungen zunächst mehr als zäh. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass er keine allzu hohe Meinung von denen hat, die hier das Geld und das Sagen haben. Allerdings ist es auch wenig hilfreich, dass sich der Oberst just in dem Moment in seine Hauptverdächtige verliebt, als eine zweite Leiche am sonnigen Seeufer treibt …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

1

Kein einziges Mal hatte Benedikt Kordesch während der viereinhalbstündigen Autofahrt gelächelt. Sein Magen schmerzte. Er saß starr auf dem Beifahrersitz, hatte die Hände in die Knie gekrallt und ließ sie nicht mehr los.

Während der Fahrt hatte Oberst Kordesch nur ein paar Sätze gesprochen. Er wusste, dass er der Oberstaatsanwältin Krakauer, die am Steuer saß und ihn immer wieder in ein Gespräch verwickeln wollte, als verschrobener und wunderlicher Mensch erschien. Er kannte das. Menschen wie Wiltrud Krakauer erschien die Welt normal. In Wahrheit aber war nicht die Welt normal, sondern nur ihr eigener Magen. Sie musste nicht mit den dauernden Krämpfen und dem sauren Aufstoßen leben. Sie kannte die chronische Gastritis nicht und konnte niemanden verstehen, der an ihr litt.

Als sie Seeboden erreichten, bewegte sich Kordesch und blickte aus dem Beifahrerfenster auf den Millstätter See. Er wusste nicht, wie viele Jahre er diesen See nicht mehr gesehen hatte. Er war so wunderschön wie immer. Der blaue Himmel darüber strahlte genauso wie in den Julitagen seiner Kindheit, als er hier mit den Eltern Urlaub gemacht hatte. Aber es hatte nicht nur diese perfekten Sommertage gegeben. An manchen Nachmittagen hatte sich der makellos blaue Himmel innerhalb einer Stunde verdunkelt. Schwere Wolken waren vom Großglockner her über den See gezogen, der so tief und so furchteinflößend und doch so schön war, und bald war flutartiger Regen niedergegangen. Hagelschlag war hier auch im Juli keine Seltenheit. Aber sogar die Weltuntergangsstimmung hatte Kordesch als Kind geliebt. Alles hier hatte er geliebt, bis er fünfzehn Jahre alt wurde. Und dann kam sie: die erste Katastrophe in seinem Leben. Doch verglichen mit den späteren Katastrophen in seinem Leben – besonders mit der Katastrophe – war die erste Katastrophe eigentlich lächerlich gewesen.

Hätte Kordesch sich von der Wiener Staatsanwältin nicht überreden lassen, nach Jahren wieder einen Fall als Ermittler zu übernehmen, dann hätte er diesen Sommertag genießen können. Aber er war ihm jetzt schon verdorben. Er wusste nur nicht, was ihn mehr störte: die Gastritis oder dieser Mord an einem Hotelgast.

Sie fuhren durch Seeboden. Kordesch erkannte den Ort nicht wieder, so viele riesige Supermärkte und Geschäfte reihten sich an der Hauptstraße aneinander. Und wie überall folgte auch hier inzwischen ein sinnloser Kreisverkehr dem anderen.

Die Staatsanwältin drehte sich zu ihm. Sie lächelte, als sie sah, dass er seine Knie losgelassen hatte. »Es muss schön sein, in die Heimat zurückzukehren«, sagte sie. »Besonders an einem solchen Sommertag.«

»Bitte schauen Sie auf den Verkehr!«, antwortete Kordesch. Sofort bedauerte er seine Schroffheit und versuchte, freundlicher zu sein: »Ja, ein schöner Sommertag. Für die Angehörigen des Toten ist er vielleicht nicht so schön.«

Auf dem Radweg rechts von ihnen war eine Gruppe von Rentnern auf E-Bikes unterwegs.

»E-Bike – Rollator – Rollstuhl – Tod. Das ist der Lauf des Lebens«, sagte Kordesch. »Ich dachte mir gerade: Nach dem zweiten Schlaganfall kaufe ich mir auch ein E-Bike.«

»Kordesch, ich brauche hier keine Schlaganfälle, das erledigen Sie bitte außerhalb der Arbeitszeit«, sagte die Staatsanwältin. »Noch einmal: Ich will, dass das hier ohne großes Aufsehen abläuft. Wenn es ein Tourist oder eine Arbeitskraft von außerhalb war, war es ein bedauerlicher Einzelfall, der überall hätte passieren können. Wenn es ein Einheimischer war, war es ebenfalls ein bedauerlicher Einzelfall. Sie kennen doch Herrn Schmölzer, den Politiker?«

»Wer kennt den nicht?«, murrte Kordesch.

»Ich sage es Ihnen gleich: Schmölzer wird die ganze Zeit vor Ort sein. Seien Sie freundlich zu ihm. Aber geben Sie ihm keine Informationen. Reden Sie nur mit mir. Und vergessen Sie nicht: Das Ganze ist …«

»Ein bedauerlicher Einzelfall«, sagte Kordesch.

»Genauso ist es!«

»Sie und Ihre sauberen Parteifreunde!«, sagte Kordesch. Josef Schmölzer war Hotelier und Nationalratsabgeordneter. Und ein persönlicher Freund des Innenministers. Als Abgeordneter hatte er in der Pandemie jene Covid-Hilfen für den Tourismus mitbeschlossen, von denen er als Hotelier selbst mehrere Millionen bekam.

»Ich muss schon sehr bitten, Herr Kollege!«, zischte die Staatsanwältin. »Ich habe nie einer Partei angehört. Niemals! Merken Sie sich das!«

Sie passierten die Ortstafel von Millstatt. Politiker hatten der Wörthersee und der Millstätter See schon immer angezogen. Kordesch erinnerte sich daran, wie sein Vater im Urlaub oft erzählt hatte, dass er als Kind den damaligen Finanzminister Reinhard Kamitz in Millstatt gesehen habe, der angeblich jeden Juli in der Schlossvilla am Südufer des Sees verbrachte. Einen Spaltbreit öffnete Kordesch das Fenster. Bedauerlich, dass er in der Gegenwart lebte und nicht in der Vergangenheit. Bedauerlich, dass er sich nun sehr bald mit etwas anderem beschäftigen musste als mit dem sonnigen Himmel und seinen Erinnerungen.

»Wollen Sie sich eigentlich nicht bei mir dafür bedanken, dass ich Sie an einem Samstag in meinem Privatauto herbringe?«, fragte die Staatsanwältin.

»Es ist der schönste Ort der Welt«, sagte Kordesch. »Das dachte ich – als ich ein Kind war.«

»Dann eben nicht«, sagte die Staatsanwältin. »Stellen Sie mal das Radio an. Bestimmt ist es schon in den Lokalnachrichten!«

»Zahlt sich nicht aus«, sagte Kordesch. »Wir sind gleich da.«

Sie fuhren an der Touristeninformation vorbei, am Minigolfplatz, bogen nach rechts ab, Staatsanwältin Krakauer hielt an und stellte den Motor ab. »Also dann, Kordesch …«

Benedikt Kordesch seufzte. Musste er wirklich aussteigen? Es war ein Fehler gewesen, zuzusagen. Ja, gut, ein Drittel aller Kolleginnen und Kollegen war krank, ein zweites Drittel auf Urlaub. Warum nur war er nicht krank oder auf Urlaub?

»Alles Gute!«, sagte Krakauer. »Und vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe: Sie haben meine volle Unterstützung und die des Ministers.«

Kordesch atmete tief ein. Er war angekommen und noch am Leben. Er öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Er nahm seinen Trolley aus dem Kofferraum und wollte die Heckklappe mit der Hand schließen. Doch dann erinnerte er sich daran, dass man bei diesen modernen Wagen nur einen Knopf zu drücken brauchte, damit sie automatisch zuging. Kordesch lief um das Auto herum und blieb an der Fahrertür stehen. Die Staatsanwältin hatte das Fenster heruntergelassen.

»Wollen Sie sich bei mir bedanken, dass ich das hier für Sie erledige?«, fragte er.

Die Staatsanwältin blickte ihn an. »Das ist Ihr Beruf, Kordesch! Den haben Sie sich ausgesucht.«

»Danke, dass Sie mich daran erinnern.«

»Schaffen Sie uns einfach das Problem vom Hals«, sagte die Staatsanwältin. »Am besten schnell.«

Kordesch konnte nicht lachen über diese Vorgabe. Krakauer trat aufs Gas, und schon war sie weg. Kurz hoffte er, sie würde irgendwo wenden, vor dem Hotel anhalten und ihn wieder nach Wien mitnehmen. Doch das Auto kam nicht zurück.

Mit dem Trolley in der Hand blieb er vor der Einfahrt zur Villa Paradies stehen. Da standen Sträucher in großen Bottichen am Eingang. Sie blühten in allen Farben. Jemand hatte sich Mühe gegeben.

Er ging durch das Tor. Die Hotelanlage bestand aus zwei Gebäuden, zwischen denen sich ein kleiner Hof und ein paar Parkplätze befanden. Dahinter ein Garten. Kordesch trug seinen Trolley über den Kiesweg. Eine Familie mit zwei Kindern kam an ihm vorbei, ohne ihm Beachtung zu schenken. Alle vier trugen Badekleidung und Gummischlapfen. Die Kinder waren waschelnass. In diesem Treiben fiel Kordesch nicht auf, was ihm sehr angenehm war.

Das Schild mit der Aufschrift Rezeption war nicht zu übersehen. Es zeigte auf eine geschwungene Steintreppe, die hinauf zur Villa führte. Kordesch war angenehm überrascht. Er hatte ein protziges Hotel für neureiche Gäste erwartet. Stattdessen wirkte hier alles so, als wäre es aus den Siebzigerjahren – altmodisch, aber mit viel Charme.

Kordesch ging die Stiege hinauf. Er war fast oben, da sah er unter einem Baum in dem kleinen Garten einen Polizisten auf einem Liegestuhl. Er schlief. Kordesch machte kehrt, ging die Stiege wieder hinunter und auf den Liegestuhl zu.

»Herr Kollege!«

Der Polizist reagierte nicht. Kordesch tippte ihm auf die Schulter: »Herr Kollege!«

Erst beim dritten Mal schreckte der Polizist auf und rappelte sich etwas tollpatschig hoch.

»Entschuldigung«, sagte der Polizist. »Man liegt so gut auf diesen …«

»Herr Kollege, mein Name ist …«, sagte Kordesch.

»Oberst Kordesch?«, sagte der Polizist und stand auf.

»Bitte den Dienstgrad weglassen!«

Der Polizist war klein und untersetzt und wirkte etwas unsicher. Kordesch schätzte ihn auf Ende zwanzig.

»Sie sind schon da?«, sagte der Polizist hektisch. »Bezirksinspektor Havran.«

Als Kordesch den Namen hörte, krampfte sich sein Magen schmerzhaft zusammen. Er hoffte, dass er sich irrte, und überspielte seine Irritation: »Haben Sie eine Liste mit allen Gästen und Mitarbeitern?«

»Ich muss zuerst Major Stutzer anrufen«, sagte Havran und griff zu seinem Smartphone. »Er wird gleich da sein!«

»Stutzer?«, fragte Kordesch. »Adolf Stutzer?«

»Major Adolf Stutzer«, sagte Havran. »Leiter des Polizeikommandos Spittal an der Drau.«

Schnell stellte Kordesch seinen Trolley ab und griff nach Havrans Hand, um ihn davon abzuhalten, diesen Anruf zu tätigen.

Hinter dem Haupthaus tauchte in diesem Moment ein junges Paar auf und kam auf die beiden zu. Der Mann nickte nur, als er an Kordesch vorbeiging. Die Frau aber, eine junge brünette Dame im gelben Bikini, zwinkerte ihm zu. Beide waren groß, die Frau fast so groß gewachsen wie Kordesch, der Mann noch größer. Kordesch grüßte zuerst ein wenig verlegen. Dann aber blickte er ihr ungeniert nach, wie sie langsam die Stiege hinaufging. Oben angekommen, blieb sie stehen, drehte sich zu Kordesch um und lächelte.

Verwirrt wandte er sich wieder Havran zu, dessen Hand er noch immer hielt. »Hören Sie!«, sagte er. »Ich kenne Stutzer seit sechsundzwanzig Jahren. Es ist halb zwei Uhr am Nachmittag. Um diese Zeit hat er ungefähr zwei Promille Alkohol im Blut. Wir brauchen ihn nicht.«

»Der Chef hat gesagt, ich muss anrufen, wenn Sie da sind.«

Kordesch unterbrach ihn: »In dieser Sache bin ich der Chef. Und ich sage Ihnen, wir brauchen den alten Trottel nicht.«

Havran erwiderte nichts, aber es war ihm sichtlich unrecht, dass er nun nicht tun sollte, was ihm aufgetragen worden war.

»Also, die Gäste …«, sagte Kordesch.

Havran griff in seinen kleinen Rucksack und zog eine Klarsichthülle hervor. Er nahm ein Blatt Papier heraus, das er Kordesch gab.

»Die Zimmernummern und die Gäste stehen alle hier«, sagte Havran und tippte mit dem Zeigefinger auf das Blatt Papier. »Gerhard Hess hat die Leiche gefunden. Heute Morgen kurz nach acht. Seine Frau hat den Toten vor der Rettung gesehen. Sie ist Ärztin. Das Ehepaar Hess wohnt auf Zimmer 21.«

Kurz nach acht. Benedikt Kordesch überlegte, was er an diesem Tag kurz nach acht getan hatte. Er war noch zu Hause gewesen und hatte eine Einkaufsliste geschrieben. Wozu er eigentlich immer Einkaufslisten schrieb? Er wusste es selbst nicht, denn er schrieb immer dasselbe auf diese Listen: Milch, Eier, Brot. Und in diesem Moment dachte er: Milch – Eier – Brot – Tod; das ist der Lauf des Lebens. Diese Einkaufslisten waren Zeugen seines einsamen Lebens und seiner Einfallslosigkeit. In jedem Fall hatte Kordesch an diesem Tag kurz nach acht weder an Kärnten gedacht noch an den Millstätter See. Wenn ihm jemand gesagt hätte, dass er schon ein paar Stunden später dort sein würde, hätte er ihn vermutlich ausgelacht.

»Die Rettung war wieder mal vor der Polizei da?«, fragte Kordesch.

»Die Rettung war zuerst da«, sagte Havran mechanisch nickend.

»Das habe ich mir gedacht«, sagte Kordesch.

Havran ließ sich nicht beirren: »Es gibt nur drei Mitarbeiter: Herr Burgstaller, der Besitzer, seine Tochter Ina und eine Ukrainerin namens Vicky, die die Zimmer und Etagen macht und in der Küche arbeitet. Alle drei wohnen drüben im Nebenhaus. Sie haben alle drei zur Tatzeit schon geschlafen.«

»Die Tatzeit?«

»Es muss zwischen elf in der Nacht und heute Morgen kurz vor acht passiert sein«, sagte Havran.

»Das ist Präzision!«

»Geht im Moment nicht genauer. Gegen elf hat Frau Buzda Karlsbader noch im Garten gesehen.«

»Wer ist das?«, fragte Kordesch.

»Frau Buzda und ihr Mann haben hier ein Zimmer im ersten Stock«, sagte Havran.

»Okay«, sagte Kordesch. »Aber wer ist dieser Karlsbader?«

Havran schüttelte den Kopf und sagte nach einer langen Pause: »Äh, der Tote.«

Kordesch fand den jungen Polizisten zwar ein wenig unbeholfen und unsicher, aber reizend. Er trug alle seine Notizen in makellosem Hochdeutsch vor und machte dabei ein ernsthaftes Gesicht. Bei allem, was er tat, wirkte er aufgeregt, wahrscheinlich deshalb, weil er nach all den Jahren, die er mit Verkehrs- und Parkstrafen, Wirtshausraufereien und Betrunkenen verbracht hatte, nun an einem Mordfall mitarbeiten sollte.

»Ja, natürlich«, antwortete Kordesch.

»Die Gesprächstermine sind alle für heute Nachmittag ausgemacht«, sagte Havran. »Das Ehepaar Buzda wollte morgen abreisen. Ich habe ihnen gesagt, dass Sie erst Ihr Okay geben müssen. Wir fangen um drei mit den Befragungen an. Herr Burgstaller stellt uns das Büro zur Verfügung.«

Kordesch nickte. »Das haben Sie gut gemacht.«

»Sagen Sie!«, sagte Havran. »Haben Sie vielleicht Verwandte in Bleiburg?«

Kordesch blickte auf den Boden. Er hatte wirklich Pech. Nicht nur, dass er Stutzer seit sechsundzwanzig Jahren kannte, nun bewahrheitete sich auch noch die Befürchtung, die er schon gehegt hatte, als Havran sich bei ihm vorgestellt hatte.

»Meine Großtante in Bleiburg hieß auch Kordesch«, sagte Havran. »Und ihre Tochter, Ulrike Kordesch …«

»Ulli Kordesch war meine Frau«, sagte Kordesch. »Ich habe bei der Heirat ihren Namen angenommen.«

»Also sind wir beide …«

»Nicht miteinander verwandt!«, sagte Kordesch. »Sie sind mit meiner Ex-Frau verwandt.«

»Wie geht es denn der Ulli?«, fragte Havran.

»Jetzt geht es ihr gut – wir sind geschieden«, sagte Kordesch. »So, nun zeigen Sie mir mal diesen … Na, wie heißt er?«

Havran lief voran und drehte sich im Gehen zu Kordesch: »Sagen Sie, wissen Sie wirklich nicht, wer Christof Karlsbader war?«

Sie betraten die Villa. Havran führte Kordesch in eine wunderschöne alte, holzvertäfelte Bar mit verspiegelter Rückwand. Sehr ordentlich standen dort in einer Reihe Wein-, Champagner- und Wassergläser, darüber Flaschen mit Schnäpsen und Likören. Das Schönste aber war für Kordesch, dass der Kühlschrank in die Rückwand eingebaut und ebenfalls holzvertäfelt war, wie die Eiskästen in alten Gasthäusern.

»Die Gästezimmer sind im ersten und im zweiten Stock«, sagte Havran.

»Und warum gehen wir nicht hinauf?«, fragte Kordesch.

»Wir holen zuerst Ihren Schlüssel ab.«

»Ah ja. Wo ist die Rezeption?«

»Die Bar ist die Rezeption«, sagte Havran. »Der alte Burgstaller nennt diesen Raum den Schankraum. Achtung, da kommt er!«

Leopold Burgstaller trat durch eine große Flügeltür aus dunklem Holz, schloss sie hinter sich und sperrte ab. In der Hand hielt er einen riesigen Schlüsselbund. Kordesch hatte im Auto von der Staatsanwältin erfahren, dass Burgstaller schon sechsundsechzig Jahre alt war und es sich noch immer nicht nehmen ließ, die Villa Paradies selbst zu führen. Natürlich war auch er ein Freund des Abgeordneten Josef Schmölzer. Wer ein Hotel am Millstätter See hatte, musste gut organisiert sein. Die Saison war kurz. Die ersten Gäste kamen erst Ende Mai, Anfang Juni. Voll waren die Hotels eigentlich nur im Juli und August und dann eine Woche Mitte September, wenn das Nockalmfestival stattfand. Danach war es auch schon wieder vorbei mit der Saison.

»Ah, der Herr Kommissar aus Wien«, sagte Burgstaller.

»Herr Burgstaller«, sagte Kordesch, als er an die Theke trat. »Benedikt Kordesch. Frau Dr. Krakauer hat für mich reserviert.«

»Es ist alles fertig für Sie.«

Burgstaller griff hinter sich und nahm einen Schlüssel vom fast leeren Schlüsselbrett. Dann kam er hinter der Theke hervor und stellte sich dicht vor Kordesch: »Danke, dass Sie diskret arbeiten. Wir haben zwei fürchterliche Jahre hinter uns mit diesem Corona. Auf heuer habe ich mich gefreut. Und jetzt das!«

»Wir werden uns bemühen, kein Aufsehen zu erregen, Herr Burgstaller«, sagte Kordesch.

»Ja. Danke«, sagte Burgstaller. »Sie haben Zimmer 23 im zweiten Stock. Kommen Sie!«

Zu dritt durchquerten sie den Raum. Der Hotelbesitzer hielt ihnen eine große Schwingtür mit geriffelten Glasscheiben auf. Dahinter lag das Stiegenhaus. Langsam folgten die beiden Polizisten Burgstaller über die knarrende Holztreppe, während Kordesch Havran zuflüsterte: »Ab morgen kommen Sie in Zivil. Dann fallen Sie weniger auf.«

Auf den Fensterbrettern und in Mauernischen hatte Burgstaller Kofferradios, Wecker, Lampen und andere Gegenstände aus den Sechziger- und Siebzigerjahren drapiert. An den Wänden hingen alte, fast schwarz gewordene Landschaften in Öl. Genauso hatte es im Haus von Ullis Mutter in Bleiburg auch ausgesehen. Und nun erinnerte sich Kordesch daran, dass er einmal mit Ulli nach Bleiburg gefahren war, um dort ihre Cousine zu besuchen. Vor der Abfahrt hatte Ulli plötzlich ein Theater gemacht, sie habe kein Geschenk für den kleinen Bernie, woraufhin in einem Spielzeuggeschäft in der Innenstadt noch eine riesige Spritzpistole gekauft wurde. Während der ganzen Fahrt nach Kärnten stritten Kordesch und seine Frau darüber. Er fand es befremdlich, dass kleine Buben immer nur Waffen geschenkt bekamen. Seine Frau fand nichts dabei. Plötzlich war ihm klar: Bernie konnte niemand anderer gewesen sein als der junge Polizist, der gerade in seiner viel zu großen Uniform neben ihm hertrottete.

Zwei Stockwerke ging es nach oben und dann einen Gang entlang, auf dem ein grauer Spannteppich ausgelegt war. Er verschluckte ihre Schritte, und auch die Räder des Trolleys waren nicht zu hören. Zimmer 23 befand sich am Ende des Gangs. Das Zimmer rechts davon hatte die Nummer 22. Es war dilettantisch mit rot-weißem Absperrband verklebt worden. Jetzt baumelten zwei Enden des Plastikbands vom Türrahmen.

»Das war die Versiegelung?«, fragte Kordesch.

Havran stotterte: »Wir hatten sonst nichts dabei. Und wir bekommen keinen weiteren Kollegen, weil bei uns …«

»Ja, ja! Ein Drittel der Kollegen ist krank«, unterbrach Kordesch. »Und das zweite Drittel ist im Urlaub.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Havran.

Kordesch hatte nur kurz Zeit, um sich umzusehen. An den Wänden zwischen den Zimmertüren hingen Lampen mit vergilbten Stoffschirmen. Schon seit geraumer Zeit hatte keine Putzfrau mehr Zeit dafür gehabt, sie abzustauben. Unter einer der Lampen klebte, halb verdeckt, ein kleines, weißes Kästchen. Also gab es hier Videoüberwachung. Der alte Burgstaller war doch nicht ganz von gestern, dachte Kordesch und musste schmunzeln.

»Hier ist Zimmer 23«, sagte Burgstaller und gab Kordesch einen altmodischen Schlüssel mit großem Messinganhänger, auf dem die Zimmernummer eingraviert war. »Der Herr … na ja, Sie wissen schon … er war nebenan auf 22. Sagen Sie, wann kann ich denn sein Zimmer wieder vergeben?«

»Wenn wir mit der Untersuchung des Tatorts fertig sind. Am späteren Nachmittag, würde ich sagen. Die Kriminaltechniker sind doch schon da, oder?« Kordesch warf Havran einen Blick zu. Der nickte.

»Gut, gut«, sagte Burgstaller, während Kordesch sein Zimmer aufsperrte. »Dann kann Vicky noch sauber machen. Warum nur muss mir das passieren? Nie hat es in der Villa Paradies ein Problem gegeben. Und jetzt … jetzt leben wir mitten in einem Krimi.«

Kordesch betrat sein Zimmer und war überrascht, dass der alte Burgstaller ihm folgte. Havran blieb auf dem Gang stehen. Es war fast eine kleine Suite, die aus zwei Räumen und einem Badezimmer bestand. Im ersten Raum befanden sich eine Kommode, ein Sofa und ein Fauteuil. Der Parkettboden knarrte bei jedem Schritt. Durch das Fenster konnte Kordesch bis hinunter zum Seegrundstück des Hotels sehen. Das zweite Zimmer war ein Schlafzimmer mit Doppelbett, einem großen Kasten über die ganze Wand und einem kleinen Schreibtisch. In der Ecke stand ein kleines dreibeiniges Tischchen mit einer Oberfläche aus ausgebleichtem erbsengrünen Linoleum. Alles sah aus wie in den Siebzigerjahren.

Der alte Hotelbesitzer stand wie angewurzelt im Zimmer.

»Herr Burgstaller, ich ziehe mich jetzt zurück«, sagte Kordesch.

Burgstaller schien nicht zu verstehen.

»Wir sehen uns später in Ihrem Büro. Sie wissen schon … Ich muss Sie befragen. Was gestern passiert ist …«

»Die Ina müssen Sie auch befragen?«

»War Ihre Tochter gestern im Haus?«

»Sie hat geschlafen«, sagte Burgstaller und schaute auf den Boden.

»Herr Burgstaller, ich muss alle befragen, die sich zur Tatzeit im Haus aufgehalten haben. Deswegen ist niemand verdächtig.«

»Wissen Sie, meine Tochter … Sie sieht die Dinge hier anders als ich. Sie stellt sich vor, dass man so ein Hotel alleine führen kann. Aber in Zeiten wie diesen …«

»Herr Burgstaller! Sie sagen mir, was Sie zu sagen haben. Und Ihre Tochter erzählt mir, was sie zu sagen hat. Und jetzt entschuldigen Sie uns bitte!«

Der alte Burgstaller bewegte sich nicht.

»Ach, noch etwas«, sagte Kordesch. »Gibt es hier in der Nähe einen Hof mit Pferden? Also, wo man reiten kann. Reiten und Springreiten?«

»Springreiten?«

»Ich war hier mit fünfzehn Jahren reiten, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wo das gewesen ist.«

»Ich glaube, in Döbriach kann man reiten. Aber die haben Haflinger, die springen bestimmt nicht«, sagte Burgstaller und ging langsam aus dem Zimmer.

Kordesch hatte nicht die leiseste Ahnung, was Burgstaller ihm da eben über seine Tochter hatte sagen wollen. Er wartete, bis er den Alten die Stiege nach unten gehen hörte. Dann schob er schnell seinen Trolley ins Schlafzimmer und ging hinaus auf den Gang, wo Havran immer noch stand und auf ihn wartete.

»Ich dachte schon, der Alte geht nie«, sagte Kordesch. »Also, schauen wir uns die Leiche an!«

2

Die Absperrung von Zimmer 22 war wirklich armselig. Trotzdem fragte Havran, bevor sie eintraten: »Sollen wir das hier wieder zukleben, wenn wir nachher gehen?«

»Sie meinen, das hält irgendwen ab?«, fragte Kordesch. »Sperren Sie einfach zu, und geben Sie mir den Schlüssel.«

Das Zimmer sah gespenstisch sauber aus, so als wäre kurz zuvor noch aufgeräumt worden. Kordesch fand sich selbst bedauernswert. Bei so schönem Wetter musste er einen sehr blassen, kalten Leichnam mit aufgerissenen Augen betrachten.

Kordesch schaute um die Ecke ins Badezimmer und grüßte den Kriminaltechniker, der damit beschäftigt war, nach Fingerabdrücken zu suchen. Der zweite Kriminaltechniker stand gerade vor dem offenen Kleiderschrank, drehte sich um und trat zu Havran und Kordesch neben die Leiche. Karlsbader lag auf dem Bett, das in der rechten Zimmerecke stand. Aus der Mitte der Brust ragte ein Messergriff. Das T-Shirt war bis zum Hals hinaufgezogen. Kordesch trat näher und nahm ein kleines Notizheft und einen Stift aus seiner Brusttasche.

»Das T-Shirt war raufgezogen?«, fragte Kordesch.

»Nein, nein«, sagte der Kriminaltechniker. »Das haben wir gemacht, um die Einstichstelle fotografieren zu können. Das Messer war unter dem T-Shirt.«

Die Leiche lag auf dem Rücken, den linken Arm zur Seite gestreckt, während der rechte über die Bettkante hing. Karlsbader hatte die Augen aufgerissen, als habe er im letzten Augenblick kapiert, dass das sein Ende war. Er hatte keine Tattoos oder Piercings. Seine Füße waren nackt, und seine Zehennägel hätten wohl mehr Pflege vertragen.

Kordesch schrieb noch immer nicht in sein Heftchen. Er stand da und überlegte. Das heißt, er hätte gerne überlegt, aber Havran hörte nicht zu reden auf: »Also, mir tut er ein wenig leid. Er hätte bestimmt noch tolle Sachen geschrieben. Wir haben alle drei Kochbücher von ihm. Haben Sie wirklich noch nie von seinen Rezepten gehört?«

»Jetzt ist es zu spät«, sagte Kordesch. Und zu dem Kriminaltechniker gewandt: »Ziehen Sie das T-Shirt bitte in die Position, in der es war, als Sie ihn zum ersten Mal gesehen haben.«

Der Mann tat, was Kordesch ihm aufgetragen hatte, während hinter ihnen Havran einfach weiterredete: »Ich meine, Starköche wie Ali Güngörmüş oder Ottolenghi sind schon interessant. Aber wer kocht das Zeug? Haben Sie Sumach zu Hause? Oder Za’atar? Wissen Sie überhaupt, was Za’atar ist?«

»Nein, noch nie gehört«, sagte der Techniker, der sich offenbar angesprochen fühlte. Dabei hatte er das T-Shirt wieder über das Messer gezogen.

»Eben«, sagte Havran. »Aber der Karlsbader, der kann das, was wir selber kochen. Was Bodenständiges!«

»Jetzt hören Sie schon auf«, sagte Kordesch. »Das T-Shirt hat keinen Einstich. Das heißt, der Täter hat das Leiberl hinaufgezogen, zugestochen und es dann wieder über das Messer gezogen. Wozu?«

Kordesch zeichnete in sein Notizheft. Er machte eine Skizze mit allen Gegenständen im Raum, die am Tatort lagen, und nummerierte sie. Früher war das bei der Arbeit seine Gewohnheit gewesen. In den letzten Jahren aber hatte Kordesch nur Einkaufslisten geschrieben. Er war außer Übung. Aber er gab sein Bestes, sich selbst nachzuahmen: Nummer 1 war das Messer. Auf dem Nachtkästchen stand eine Lampe, daneben lag ein Buch, unter dessen Umschlag ein Kugelschreiber herausragte. Das waren Nummer 2 bis 4. Nummer 5 war das Handyladegerät, dessen Kabel auf dem Nachtkästchen lag. Kordesch blickte hinter das Nachtkästchen, um die Steckdose zu finden. Karlsbader hatte die Nachtkästchenlampe ausstecken müssen, um sein Handy zu laden, denn es gab nur eine Steckdose. Kordesch kannte das. In alten Hotelzimmern gab es oft nur eine Steckdose hinter dem Nachtkästchen. Aber er war vorbereitet und hatte auf Reisen immer einen Mehrfachstecker dabei.

»Na gut«, sagte Kordesch. »Sein Vorteil ist, er wird zwar nach Spittal an der Drau gebracht, aber er muss es zum Glück nicht mehr lebend sehen!«

»Spittal? Nein! Die Autopsie ist in Klagenfurt«, sagte der Kriminaltechniker. »Das macht die Frau Dr. Schmuttermeier.«

»Warum in Klagenfurt?«, fragte Kordesch.

»Na ja, von den Gerichtsmedizinern in Kärnten ist ein Drittel krank …«

»Verschonen Sie mich«, sagte Kordesch. Er zog die Latexhandschuhe über, beugte sich über den Toten und tastete seinen Körper ab. »Können wir den Todeszeitpunkt genauer eingrenzen?«

»Schätze mal, dass er seit zwölf Stunden tot ist. Aber bitte warten Sie die Obduktion ab.«

In Karlsbaders Hosentasche fand Kordesch ein ledernes Portemonnaie und hielt es Havran hin. Er tastete weiter, aber da war nichts mehr.

»Wo ist sein Mobiltelefon?«, fragte Kordesch.

»Bisher nicht aufgetaucht.«

»Fehlt in der Küche ein Messer?«

»Konnten wir nicht feststellen. Ich mach dann mal beim Kasten weiter, wenn’s recht ist«, sagte der Kriminaltechniker und wandte sich ab.

Havran räusperte sich und lächelte verschmitzt. Kordesch verstand nicht. Havran zeigte auf einen kleinen Kunststoffkoffer, der neben dem Kleiderkasten stand. Er ging und betätigte den Verschluss. Elf nach Größe geordnete Messergriffe wurden sichtbar. Ein Steckplatz war leer. Es fehlte ein Messer. Kordesch schrieb in sein Notizheft. Dann zog er vorsichtig ein Messer heraus, betrachtete die Klinge und zeigte Havran, dass sich darauf Schriftzeichen befanden.

»Was steht hier?«, fragte Havran und zeigte mit dem Finger auf die Klinge.

»Ich weiß nicht, ich kann kein Hirangana lesen.«

»Was?«

»Ich kann keine japanischen Schriftzeichen«, sagte Kordesch. »Aber ich kenne jemand, der japanische Messer gekauft hat und seinen Namen in die Klinge hat eingravieren lassen.«

»Hier steht also sein Nameauf Japanisch?«

»Möglich«, sagte Kordesch. »Aber ist es wichtig, was da in das Messer eingraviert ist?«

»Alles kann wichtig sein«, antwortete Havran.

Sieh an, wie altklug und belehrend er schon nach kurzer Zeit geworden ist, dachte Kordesch.

»Bestimmt finden Sie in Spittal an der Drau einen Japanologen, der uns das enträtseln kann«, sagte Kordesch und musste über diese Gemeinheit selbst ein wenig schmunzeln.

»Warum haben Sie denn solche Vorurteile gegen Spittal?«, fragte Havran nun hörbar entrüstet.

»Das sind Urteile, mein Lieber, keine Vorurteile«, sagte Kordesch. »Sagen Sie, ist es wirklich wahr, dass der Bürgermeister von Spittal an der Drau behauptet, Menschen und Pferde durch Handauflegen von Krankheiten heilen zu können?«

»Sollten wir uns nicht eher das Zimmer genau ansehen?«, fragte Havran.

Kordesch hatte es übertrieben. Er wusste es und es tat ihm leid. Er blickte in den Kasten. Penibel gefaltet lagen dort T-Shirts, Polo-Shirts, Pullover und Hosen in säuberlich getrennten Stapeln. Daneben befanden sich einige Exemplare von Karlsbaders Kochbüchern, ebenfalls in Stapeln parallel nebeneinander und noch cellophaniert.

»Ein Pedant«, sagte Kordesch.

»Er war anscheinend ein sehr ordentlicher Mensch«, sagte der Techniker.

»Wie meine Frau«, sagte Havran.

»Wo ist nur sein verdammtes Handy?«, sagte Kordesch.

Der Techniker zeigte zum Nachtkästchen. »Das Ladegerät ist noch da. Es gehört zu einem iPhone.«

Jetzt erst las Kordesch den Titel des Buches auf dem Nachtkästchen. Es war eines von Karlsbaders eigenen Büchern mit dem Titel Hausmannskost unter fünfzehn Minuten.

»Er liest vor dem Schlafengehen seine eigenen Bücher?«

»Ich glaube eher, er wollte es für jemand signieren«, sagte Havran. »Darum auch der Kugelschreiber.«

»Haben wir wenigstens seine Nummer?«

»Herr Burgstaller hat mir eine Handynummer von Karlsbader gegeben«, sagte Havran.

»Und?«

»Ich habe ein paar Mal angerufen: Mailbox.«

»Geräteortung?«

»Wie macht man das?«, fragte Havran.

Kordesch ließ sich Karlsbaders Handynummer von Havran diktieren.

»Sagen Sie es den Technikern«, sagte Kordesch. »Das sind die Profis. Die sollen auch bei den deutschen Kollegen die Einzelverbindungen für die Nummer abfragen. Ich muss jetzt kurz die Staatsanwältin anrufen.«

Kordesch ging in sein Zimmer und rief Wiltrud Krakauer an.

»Können Sie schon etwas sagen?«, fragte die Staatsanwältin.

»Er wurde ermordet, so viel ist sicher«, antwortete Kordesch. »Er hatte einen kleinen Koffer mit Messern mit. Die Tatwaffe war ziemlich sicher sein eigenes Messer.«

»Das klingt ja so, als sei der Mord nicht geplant gewesen.«

»Das stimmt«, sagte Kordesch. »Allerdings sieht alles andere so aus, als wäre es ganz planmäßig abgelaufen.«

»Seltsam. Die Tatzeit?«

»Kennen wir leider noch nicht genau. Vor circa zwölf Stunden. Vielleicht haben wir morgen Genaueres.

»War es ein Hotelgast?«

»Jeder, der Zugang zum Hotel hatte, kann es gewesen sein, Frau Staatsanwältin. Es ist leicht, von der Straße hier hereinzuspazieren. Als ich angekommen bin, hat mich auch niemand angesprochen. Es ist ein altmodisches Hotel. Aber wir geben sowieso nichts davon weiter. Bitte kein Detail über die Mordumstände in irgendeiner Presseerklärung.«

»Auch das Messer nicht?«, sagte die Staatsanwältin.

»Keinesfalls! Copycat-Effekt«, sagte Kordesch. »Die beste Prävention ist: Keine Details in der Presse.«

»Gott behüte uns vor einem zweiten Mord«, sagte die Staatsanwältin. »War er schon da?«

»Wer?«

»Josef Schmölzer. Der Abgeordnete.«

»Hat sich nicht bei uns vorgestellt. Alles ist ruhig. Aber wir wissen ja sowieso nichts.«

»Schmölzer ist hochgradig nervös«, sagte Wiltrud Krakauer. »Drei Mal hat er heute schon beim Innenminister angerufen. Sagen Sie zu niemand etwas, auch nicht zu den Kollegen da unten. Da sickert alles durch.«

»Das ist mir klar«, sagte Kordesch. »Also, bis morgen!«

Kordesch hatte das dumpfe Gefühl, etwas vergessen zu haben, aber er ging in Karlsbaders Zimmer zurück. Havran saß auf dem Boden, hatte immer noch die Latexhandschuhe an und durchstöberte den Papierkorb, der in einer Ecke des Zimmers stand.

»Haben Sie noch etwas gefunden?«, fragte Kordesch.

»Nein.«

»Also, Havran, wir machen woanders weiter«, sagte Kordesch. »Die Herren sollen Bescheid sagen, wenn sie fertig sind.«

»Okay«, sagte Havran, der jetzt aufstand.

Die beiden gingen die zwei Stockwerke hinunter in die Bar. Dort wartete schon ein Mann in Polizeiuniform auf sie. Kordesch erkannte ihn nicht gleich, doch kaum hörte er die Stimme des Polizisten, war ihm klar, dass es sich bei dem Kollegen um einen alten Bekannten handelte.

»Bene! Bene! Was macht das große Licht der Wiener Kriminalpolizei wohl hier bei uns in der Provinz?«

Kordesch hasste den Kosenamen Bene. Und er hasste den Polizisten Stutzer, den er noch von seiner Zeit auf dem Bezirkskommando kannte. Damals hatte Kordesch für alle Bene geheißen. Und damals hatte das Polizeikommando Spittal an der Drau auch noch Gendarmeriekommando geheißen.

»Er hat Kärnten hochdekoriert verlassen«, sagte Stutzer zu Havran, dem das anscheinend sehr peinlich war. »Und jetzt ist er wohl zu uns zurückgekommen, um uns zu zeigen, wie man es richtig macht. Denn wir, wir machen hier wohl alles falsch.«

Stutzer ging Kordesch jetzt schon auf die Nerven. Er war so provokant wie früher. Und er soff immer noch. Die Alkoholfahne hatte schnell Kordeschs Nase erreicht. Dass Stutzer ständig und ohne Sinn wohl sagte, hatte er allerdings wieder vergessen. Wie gut, dass er so vieles vergessen und verdrängt hatte. Aber jetzt war alles wieder da. Leider.

»Stutzer, ich brauche dich hier nicht«, sagte Kordesch. »Du kannst gehen! Ich brauche Havran. Er arbeitet mit mir, bis ich hier fertig bin.«

»Da habe ich wohl auch mitzureden«, sagte Stutzer. »Was meine Männer arbeiten, entscheide immer noch ich!«

»Nein, das entscheidest nicht du«, sagte Kordesch. »Aber wenn du willst, kannst du dich gerne bei der Oberstaatsanwältin in deiner Lieblingsstadt Wien beschweren. Ich gebe dir ihre Nummer. Und jetzt kannst du wieder zu deiner Flüssigmahlzeit zurückgehen.«

»Bene, Bene, Super-Bene«, antwortete Stutzer und lachte. »Das stinkt dir wohl, dass einige von uns noch nach drei, vier Bierchen in den Dienstwagen steigen, hm? Zu dir sind die Kollegen auch solidarisch gewesen, verstehst du? Während du nicht solidarisch bist. Das ist dein Problem, Bene!«

Kordesch spürte, wie er rot im Gesicht wurde, und ging noch einen Schritt auf Stutzer zu. Mit Leichtigkeit hätte er ihm eine Ohrfeige geben können. Er roch den Schnaps aus Stutzers Mund noch stärker.

»Was hier stinkt, ist was anderes. Und jetzt scher dich zum Teufel!«

»Gut, gut, gut!«, lachte Stutzer. »Du kriegst unseren kleinen Unterkärntner.«

»Stutzer«, sagte Kordesch. »Ich weiß, dass du Ausländer nicht ausstehen kannst. Und Wiener und Salzburger und Niederösterreicher und Linzer. Aber dass du jetzt auch schon Kärntner hasst! Wo ist denn die Grenze zwischen Ober- und Unterkärnten? Sag mir das! Das hat mich immer schon interessiert.«

»Ganz einfach«, sagte Stutzer. »Dort, wo bei jeder Veranstaltung slowenische Lieder gesungen werden müssen – dort ist wohl Unterkärnten.«

Ohne ein weiteres Wort und ohne Stutzer zu grüßen, verließ Kordesch das Hotel durch die Eingangstür. Vor dem Haus blieb er stehen, dann ging er auf die Balustrade zu, die den Platz vor dem Gebäude vom Garten trennte. Kordesch ließ den Blick über das Grundstück schweifen. Durch alte, hohe Bäume blinzelten die Sonnenstrahlen, die der Millstätter See reflektierte. Der Rasen ging bis zum Seeufer und war gut gepflegt. Kordesch ging die Stufen hinunter und folgte dem Weg. Links von ihm, ein Stück Richtung Ufer, befand sich der Swimmingpool und auf der rechten Seite lag ein abgezäunter Gemüsegarten. Eine Zeile mit alten Bäumen grenzte das Grundstück zur Straße hin ab. Einer davon fiel Kordesch besonders auf. Er wirkte so gewaltig und altertümlich, dass er ihn für sich den Urweltbaum nannte. Die riesigen Äste hatten spitze, immergrüne Nadeln. Als er darauf tippte, stach er sich in den Finger.

Zwischen zwei Bäumen entdeckte Kordesch eine kleine hölzerne Hütte. Er ging hinein und sah dort zwei Kühlschränke stehen. Daneben befand sich eine kleine Abwasch und darüber ein Regal mit Gläsern. Eine Frau im Bikini hantierte dort gerade. Sie hatte eben zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank genommen. In diesem Moment bemerkte sie Kordesch und drehte sich zu ihm.

»Hallo!«

»Hallo!«

Sie hatte langes schwarzes Haar. Braune Augen mit großen Pupillen schauten ihn an. Diese Statur, ihre Hautfarbe, das große schwarze Muttermal über dem Schlüsselbein! Es war keine Frage! Da stand sie: die erste Katastrophe seines Lebens – Gabi Troppan. Sie war dreißig Jahre älter als damals, aber sie sah immer noch hinreißend aus.

»Ich bin Julia. Ist es okay, wenn wir Du sagen?«

Verdammt! Was sollte das? Das war der falsche Vorname! Kordesch war außer sich. Vielleicht gelang es ihm deshalb, in diesem Moment sehr streng zu wirken.

»Na ja«, sagte er. »Ich bin …«

»Bist du heute angekommen?«, fragte Julia. »Ich habe dich hier noch nie gesehen.«

Irgendwie wollte Kordesch nicht aussprechen, dass er Polizist war. Er musste es dieser falschen Gabi aber sagen.

»Also, es ist so«, sagte Kordesch. »Invasion von Schnittlauch.«

»Was?«

»Ich bin bei der He«, sagte Kordesch.

»Ich verstehe kein Wort«, sagte Julia.

»Polizei. Ich bin Polizist und bin wegen … Sie wissen schon … wegen dieser Sache hier. Da ist es besser, wenn ich bis zur Klärung mit allen Gästen beim Sie bleibe.«

»Oh«, sagte Gabi – also, diese Nicht-Gabi, die Gabi so ähnlich sah. Kordesch hatte ihren Vornamen schon wieder vergessen, weil … weil er falsch war.

»Sie sind also der Kommissar?«, fragte sie.

»Ja, also …«, sagte er. »Ich bin zwar kein Kommissar, aber ich ermittle hier. Wie war noch mal Ihr Name?«

»Julia. Julia Hess.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

»Sind Sie sicher, dass Sie Julia heißen?«

Sie zog die Hand zurück und hielt sie vor Mund und Nase, während sie lachte. »Sie glauben mir nicht? Ich habe meinen Reisepass dabei, wenn Sie nachschauen möchten.«

»Nein«, sagte Kordesch. »Es ist nur … Sie sehen … Sie sehen jemandem ähnlich … Vergessen Sie es gleich wieder!«

»Sie dürfen jetzt sicher auch kein Bier trinken, oder?«, fragte sie.

»Nein.«

»Mein Mann braucht das jetzt. Nach dem Schrecken heute in der Früh«, sagte sie. Immer noch schaute sie Kordesch selbstbewusst und ohne Scheu in die Augen. »Mein Mann Gerhard hat … er hat den Toten gefunden.«

»Verstehe.«

»Er war … na ja, wie soll ich sagen … zur falschen Zeit am falschen Ort. Es hat ihn sehr hergenommen, wissen Sie? Mir hätte es nichts ausgemacht. Ich bin Ärztin. Aber er ist ein Weichei.«

»Der Kollege war schon bei Ihnen wegen der Befragung?«, stotterte Kordesch.

»Um halb vier ist unser Slot«, sagte sie und lachte wieder.

Kordesch nickte. Nun fiel ihm nichts mehr ein.

»Also, dann!«

»Bis nachher, Herr …«

»Kordesch. Benedikt Kordesch. Verzeihen Sie! Ich habe mich nicht vorgestellt.«

»Bis dann, Herr Nicht-Kommissar«, sagte Julia Hess und ging mit beiden Bierflaschen an ihm vorbei. Dabei berührte sie ihn mit dem Ellenbogen, denn es war eng in der kleinen Hütte.

Weg war sie, die Nicht-Gabi. Kordesch machte einen Schritt aus der Hütte in den prallen Sonnenschein. Langsam und anmutig ging sie, die zwei Bierflaschen in der Hand, barfuß den Rasen hinauf bis zum Pool. Was für eine schöne Frau, dachte Kordesch! Schade, dass sie nicht Gabi hieß. Aber Julia war auch nicht schlecht.

Kordesch drehte sich um, lief weiter hinunter zum Seeufer und betrat den Badesteg. Er musste ins Wasser. Jetzt! Unterhosen sahen heutzutage ohnehin wie Badehosen aus, dachte er. Also zog er die Schuhe, die Hose und das Hemd aus und hüpfte vom Steg ins Wasser. Er hoffte, dass Julia Hess noch oben im Garten stehen und ihm dabei zusehen würde. Ihr Mann war vielleicht ein Weichei. Aber nicht Benedikt Kordesch.

Kordesch hatte vor dem See immer Angst gehabt. Ein Polizeitaucher hatte ihm einmal ein Video gezeigt, das er im Millstätter See aufgenommen hatte. Eine furchterregende, finstere Welt aus bemoosten Baumstämmen und Schwärmen riesiger Fische hatte er da gesehen. Aber in diesem Moment fühlte er sich im Wasser wohl. Mit dilettantischen Bewegungen schwamm er hinaus bis zu einer Boje, an der er sich festhielt. Hundertfünfzig Meter ging es an der tiefsten Stelle im See nach unten. Und Benedikt Kordesch, ein drittklassiger Schwimmer, hatte keine Angst.

Der Badesteg war verwaist. Die meisten Gäste bevorzugten anscheinend den Pool. Nur zwei Kinder standen bis zu den Knöcheln im Wasser und warfen kleine Steine in einen mitgebrachten Plastikkübel. Ein Schwimmer kraulte parallel zum Ufer. Eine Frau fuhr mit einem Stand-up-Paddle weiter draußen den See entlang nach Osten. Sie waren die Einzigen, die er sah. Es war herrlich, wie das gleißende Sonnenlicht auf diese Szene fiel.

Jetzt erst wurde es Kordesch bewusst: Ein Mord hier am See? Das konnte doch nicht sein! Hier waren zwar alle Rassisten und miteinander verfeindet, weil der Zaun zum Nachbarn ihrer Meinung nach um zwei Zentimeter zu ihren Ungunsten verschoben worden war. Aber einen Menschen umbringen – das fiel doch hier niemandem ein.

Kordesch musste lachten. Hatte er sich da gerade selbst bei einem kleinen Rassismus ertappt? Hatte er gerade gemeint, dass nur ein Fremder diesen Mord begangen haben konnte? Er dachte an die Leiche. Und an das Messer, das fachmännisch in den Körper dieses Kochbuchautors gerammt worden war. Und dann fiel ihm ein, was Julia Hess zuvor gesagt hatte: »Mir hätte es nichts ausgemacht. Ich bin Ärztin.«

Nein. Diesen Gedanken musste er sich verbieten. Nicht die Ersatz-Gabi! Kordesch lachte über sich selbst und schwamm langsam zurück zum Steg.

Als er aus dem Wasser stieg, stand das Pärchen vor ihm, das ihm vor dem Hotel begegnet war. Der jungen brünetten Dame im gelben Bikini hatte er für sich schon einen Namen gegeben: die Schwedin. Das kam wahrscheinlich von den blauen Augen und dem gelben Bikini. Sie hatte eine fabelhafte Figur, und so, wie sie sich bewegte, wusste sie das auch. Den Kerl neben ihr – nein, eigentlich stand er einen halben Meter hinter ihr – hatte Kordesch namenlos gelassen. Er produzierte eine riesige Dampfwolke aus einer E-Zigarette. Kordesch konnte ihn auf Anhieb nicht leiden.

Die Schwedin betrachtete Kordesch von Kopf bis Fuß.

»Ach, Frau …«, sagte Kordesch. »Entschuldigung, ich habe Ihren Namen vergessen.«

»Sie haben Ihre Badehose vergessen«, sagte die Schwedin und zeigte auf seine nasse Unterhose. »Ich bin Livia. Und der da heißt Marc.«

Erst jetzt wurde Kordesch klar, was er getan hatte. Um einer Frau zu imponieren, war er ins Wasser gesprungen. Nun stand er nur mit einer durchnässten Unterhose bekleidet vor einer anderen Frau. Sie musste an seiner bleichen Haut und seinem untrainierten Körper sehen, dass er alles andere als ein Naturbursche war. Bis Ende zwanzig war er noch in einem Sportverein gewesen, wo man ihn oft ausgelacht hatte, weil er kaum Körper- und Brustbehaarung hatte. Und nun präsentierte er diesen Körper einer möglichen Tatverdächtigen. Er musste sich irgendwie retten.

»Gut«, sagte Kordesch. »Mein Name ist Kordesch. Hat man Ihnen gesagt, dass Sie uns ein paar Fragen beantworten müssen? Es dauert nicht lang und ist reine …«

»Ihr Kollege hat uns das schon gesagt«, sagte Livia. »Wir sind um viertel vier dran.«

»Alles klar«, sagte Kordesch. »Sie sind aber groß! Sind Sie über 1,80?«

»Ist das schon die Befragung?«, sagte Livia. »Ich bin 1,81.«

»Alle anderen Fragen dann am Nachmittag.«

Kordesch verabschiedete sich mit einer Handbewegung von der Schwedin, ohne ihren Begleiter eines Blickes zu würdigen, und ging den Hang hinauf zum Hotel. Er fand, dass er sich aus der peinlichen Situation ganz gut gerettet hatte. Er dachte an Julia Hess. Noch am selben Morgen hatte er, als die Staatsanwältin angerufen hatte, laut geflucht, weil er nicht nach Kärnten fahren wollte. Und plötzlich stimmte ihn hier alles fröhlich. Eigentlich wollte er den Mord gar nicht schnell aufklären.

3

Kordesch und Havran hatten die Gäste unter sich aufgeteilt. Havran führte die Gespräche in Burgstallers Büro, während Benedikt Kordesch in einem kleinen Kabinett neben der Küche saß, wo sich alte Zeitungen und Bücher neben kaputten Stühlen und Möbelstücken stapelten.

Burgstallers Tochter Ina, die Kordesch als Erste befragte, sah das Chaos in dem kleinen Raum und bemerkte entnervt, ihr Vater könne sich von dem alten Schrott einfach nicht trennen. Nach dem Vortag gefragt, erklärte sie, sie sei noch vor Mitternacht zu Bett gegangen und habe bis sechs Uhr morgens durchgeschlafen. Sie wohne mit ihrem Vater im Nebengebäude und höre nachts und abends nichts. Auch wenn sie das Fenster geöffnet habe und die Gäste noch spät im Garten saßen, aßen, tranken und manche um Mitternacht in den Pool hüpften, störe sie das nicht. Im Gegenteil. Sie sei daran gewohnt und die Geräuschkulisse beruhige sie so sehr, dass sie dabei am besten schlafe.

Über Christof Karlsbader konnte sie nicht viel sagen. Natürlich habe sie gewusst, dass er prominent sei, allerdings kenne sie seine Kochbücher nicht. Sie habe ihn wie jeden anderen Gast behandelt und einmal das Gespräch mit ihm gesucht. Er sei aber schon zu Mittag betrunken gewesen und habe kein Interesse an einer Unterhaltung gezeigt, sondern sich nur für die vorrätigen Weine interessiert.

Kordesch fragte, ob ihr etwas Verdächtiges aufgefallen sei, ob Karlsbader mit irgendjemandem Streit gehabt habe, ob er selbst eine Äußerung über eine Bedrohung gemacht habe, aber immer war die Antwort ein Kopfschütteln. Wenn er richtig rechnete, war Ina Burgstaller sechsunddreißig Jahre alt, doch sie wirkte auf ihn viel älter. Das kam vielleicht daher, dass er die mürrische Art ihres Vaters in ihr wiedererkannte. Oder schloss er das nur, weil er wusste, dass sie seine Tochter war? Er nahm sich vor, solche Überlegungen nicht zuzulassen. Aber ihr verdrießliches Kopfschütteln erinnerte ihn gleich wieder daran, wie der alte Burgstaller ihn zuvor zum Zimmer geführt hatte, dann aber nicht ging, sondern von ihm wissen wollte, ob er auch seine Tochter befragen müsse. Als ob das nicht selbstverständlich wäre!

Und dann, als die Befragung eigentlich schon vorbei war, taute Ina Burgstaller plötzlich auf und begann, sich lang und breit über ihren Vater zu beschweren. Sechsundsechzig Jahre sei er alt und weigere sich, ihr die Villa Paradies zu übergeben und endlich in den Ruhestand zu treten. Er verstehe vom Geschäft ohnehin nichts mehr, glaube, er lebe immer noch in den Achtzigerjahren, und würde das Hotel lieber verkaufen, als es in den Händen seiner einzigen Tochter zu sehen. Auf Kordeschs Frage, warum sie dann hier die ganze Saison mitarbeite, zuckte sie mit den Schultern und sagte: »Was soll ich denn machen? Soll ich zusehen, wie hier alles verkommt?«

Auch das Gespräch mit Leopold Burgstaller brachte nicht viel ein. Der Alte bemitleidete sich selbst und behauptete immer wieder, er sei durch den Mord in seinem Haus ruiniert, obwohl Kordesch von Ina Burgstaller erfahren hatte, dass das Hotel ausgebucht war und es sogar eine lange Warteliste gab, falls jemand stornierte. Auf die Frage, warum ein berühmter Koch hier Urlaub gemacht hatte, antwortete er nur, es dürfe jeder kommen und im Übrigen hätten schon berühmtere Menschen in der Villa Paradies übernachtet. Er sei jedenfalls – wie jeden Tag – um zehn Uhr abends ins Bett gegangen und habe nichts gehört.