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Cornelia Vismann

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Beschreibung

Neben den großen Studien zu »Akten« und »Medien der Rechtsprechung« hat Cornelia Vismann ihre beiden Lebensthemen – Recht und Medien – auch in einer Vielzahl von Aufsätzen entfaltet. Eine Auswahl der wichtigsten, die bislang verstreut und teilweise entlegen publiziert waren, liegt hier nun vor. Sie reicht von anonym verfassten ersten politischen Texten über ihre Auseinandersetzung mit Benjamin, Derrida, Legendre und Luhmann bis hin zur Untersuchung über das Schlusswort bei Gericht, das Kommentieren, das Archiv oder die Zeugenschaft. Damit liegen die Hauptwerke dieser wichtigen Denkerin nun gesammelt im S. Fischer Verlag vor.

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Cornelia Vismann

Das Recht und seine Mittel

Herausgegeben von Markus Krajewski und Fabian Steinhauer

Fischer e-books

Vorwort

Kein System aus Normen und Regeln ist in allen Teilen der Gesellschaft so fundamental wirksam wie das Recht. Seine Anwendungen, die Wirkungen und seine Geschichte werden zu Recht und seit langem in umfassender Weise erforscht. Anders verhält es sich dagegen mit den medialen Funktionsweisen des Rechts sowie mit der Rolle der Medien innerhalb der Jurisprudenz: Jenes Forschungsgebiet, das sich vornimmt, die wechselseitige Durchdringung von Medien und Recht zu ergründen, führte bis vor wenigen Jahren noch ein Schattendasein. Eine der zentralen Autoren, die jene grundlegenden Fragen nach den Anteilen und der Wirkung der Medien im historischen Prozess der Rechtsprechung und Urteilsfindung aufgeworfen und zu größerer Aufmerksamkeit verholfen haben, war Cornelia Vismann (1961–2010).

Insbesondere durch ihre Promotionsschrift Akten. Medientechnik und Recht, die 2000 im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen ist und sich seitdem größter Anerkennung erfreut, gelang es der ausgebildeten Juristin und Philosophin, den zuvor kaum beachteten medialen Grundlagen der Jurisprudenz eine rechtshistorisch wie medientheoretisch gleichermaßen fundierte Diskursbasis zu bereiten. Nach Zwischenstationen an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder, und am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main sowie nach verschiedenen Gastprofessuren u.a. in London, Wien und Berkeley, erfolgte 2007 die Habilitation an der Juristischen Fakultät der Goethe-Universität Frankfurt am Main mit einer Arbeit zur Verfassung nach dem Computer. Von 2008 bis zu ihrem Tod war Cornelia Vismann schließlich Professorin für Geschichte und Theorie der Kulturtechniken an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar.

In ihrer letzten Monographie Medien der Rechtsprechung, an der sie noch bis zuletzt gearbeitet hat und die 2011 ebenfalls bei S. Fischer erschienen ist, analysiert Cornelia Vismann juridische Fragen mit medienwissenschaftlichen Mitteln (und vice versa): Wie, zum Beispiel, wirken die Architekturen des Gerichts oder die Anordnung der Akteure im Saal auf das Verfahren ein? Welcher Stellenwert kommt dabei Film, Fernsehen und Internetübertragungen am Ort der Urteilsfindung zu? Wie ist der Einfluss zu charakterisieren, den Medien wie die Akten auf den Verlauf der Rechtsprechung ausüben? – Der innovative Ansatz, den Cornelia Vismann mit solchen Fragen entwickelt hat, ist in der Folge sowohl von rechtswissenschaftlicher als auch von kultur- und medientheoretischer Seite eingehend gewürdigt worden.

Manch ein Leser (und Rezensent) hat im Zuge dessen den Wunsch geäußert, noch mehr von dieser Autorin zu lesen. Der vorliegende Band nimmt diese Forderung bereitwillig auf, um hier erstmalig eine Aufsatzsammlung der für die Kultur- und Rechtswissenschaften so inspirierenden Autorin vorzulegen. Sie ist weniger als eine Fortführung der Medien der Rechtsprechung zu verstehen. Vielmehr ist eine Ausweitung dieser Perspektive beabsichtigt. Auch wenn eine auf strenge Systematik ausgerichtete, historische Genealogie der Medien des Rechts und der damit verbundenen Funktionen mit dem Recht und seinen Mitteln kaum entstehen kann und daher – immer noch – ein Desiderat ist, so sollen die einzelnen Aufsätze als eine repräsentative Auswahl aus dem reichhaltigen Werk einen exemplarischen Eindruck vermitteln von der Bandbreite ihres Denkens und der Fülle ihrer Themengebiete, für die Cornelia Vismann Zeit ihres Lebens einstand.

Das Werk Cornelia Vismanns dreht sich immer wieder um die Normativität und die Mittel, mit denen diese Normativität eingerichtet, übertragen und verarbeitet worden ist. Normativität erscheint hier weder als Effekt eines juristischen Willensakts noch verortet im souveränen Bewußtsein einer politischen Gemeinschaft. Vismanns Überlegungen zur Normativität kreisen um Institutionen und um einen Begriff, den sie aus der Psychoanalyse Jacques Lacans übernimmt, den Begriff der symbolischen Ordnung. Das Recht und die Medien werden in ihrer Forschung darum nicht als Pole oder entgegengesetzte Koordinaten unterschiedlicher Kräfte gedacht. Hierin unterscheidet sich ihre Forschung von einer ganzen Reihe anderer Ansätze zum Recht in der Gesellschaft. Die weit verbreiteten und geläufigen Gegenüberstellungen zwischen Rechtsform und politischer Handlungsfähigkeit, zwischen Staat und Gesellschaft oder zwischen Recht und Kultur tauchen in ihren Texten zwar gelegentlich auf. Die Autorin behält aber kritische Distanz zu diesen Unterscheidungen. Deren Spiel spielt sie nicht mit. Gegenüber den Begriffsfronten ihrer Zeit hat sie angemerkt, es gelte, »neue, operable Unterscheidungen zu treffen, und zwar genau da, wo die Theorie ihre Ununterscheidbarkeit nachgewiesen hat«.[1] In diesem Sinne steht der Operator und zwischen Recht und Medien für eine Beziehung, die Cornelia Vismann in einem Text über Bilder als »troubled relationship« bezeichnet hat: Es ist ein Widerstreit, in dem nicht einfach das Recht die Medien reguliert, legalisiert und legitimiert. Die Aufgabe der Medien besteht nicht einfach darin, das Recht zu reproduzieren. In der komplexen Beziehung gibt es vielmehr einen Austausch zwischen der Aktivität und Passivität dieser Prozesse. Das Recht wird darin auch von den Medien mit Normativität versorgt, die Medien werden darin selbst vom Recht reproduziert. Diese abstrakten Konstellationen geht Vismann anhand dessen durch, was sie einmal die ›niederen Techniken‹ genannt hat: Übersetzen, Protokollieren, Kommentieren sind nur ein kleiner Teil dieser Praxis, in welcher der Streit ums Recht ausgetragen wird, so wie man etwa Zeitungen austrägt: Es ist die juridische Praxis einer medialen Zerstreuung, aus der ein normativer Text und seine randständigen Helfer immer aufs Neue hervorgehen.

Die Rechtswissenschaftlerin und Medientheoretikerin hat ihre Veröffentlichungen weit gestreut, und ein Ziel dieser Sammlung ist es, die verzweigten Interessen der Autorin mit dem ihr eigenen Spiel der Differenzen an einem Ort zugänglich zu machen. Die Auswahl der einzelnen Aufsätze ist geleitet von der Prämisse, die Kontinuität und Entwicklung eines Denkens zu dokumentieren, das weite Kreise über die eigentlichen Fachdisziplinen hinaus hat ziehen können, um beispielsweise auch in der Literatur(-wissenschaft) und Kunst zum wichtigen Stichwortgeber zu werden. Richtungsweisend für die Auswahl der Texte erschien daher weniger das Maß, wie entlegen oder schwer einsehbar die einzelnen Beiträge jeweils einzustufen sind, als vielmehr, wie stark sie einen der zahlreichen Schwerpunkte im Denken von Cornelia Vismann repräsentieren oder zumindest ausschnittsweise wiedergeben. Dennoch folgt die Auswahl weniger einem klassischen Best-of-Schema, das vorzugsweise die einschlägigsten und bekanntesten Texte versammelt. Auch ist sie weniger von Figuren der Chronologie oder Systematik angeleitet. Die Texte schreiten also weder ›von früh bis spät‹ voran, noch wandern sie vom Allgemeinen zum Besonderen. Gleichwohl haben wir versucht, in den fünf Stationen die Ordnung des Werks von Cornelia Vismann abzubilden. Diese ist durch Verschleifungen, Neuansätze, Wendungen, feine Risse und Reformulierungen gekennzeichnet. Zudem finden randständigere Aspekte wie beispielsweise ihre Überlegungen zum Stil und zur Erzählinstanz bei Karl Kraus Eingang in diese Anthologie. Und doch konnte vieles nicht berücksichtigt werden, beispielsweise die frühen juridischen Texte, die eher deskriptiv sind als analytisch, weil sie dem jeweiligen Genre sowie den Gepflogenheiten des Fachdiskurses geschuldet mitunter nur einen Forschungsstand zusammenfassen. Aber auch die zahlreichen Rezensionen von (Fach-)Literatur, die ihrerseits durch eine literarische Qualität bestechen, sind ebenso außen vor geblieben wie – obwohl kleine Preziosen – verschiedenste Miszellen, beispielsweise zum Begriff »Lämmergeier« in der Frankfurter Schule. Manche Beiträge, die hingegen in der vorliegenden Sammlung zu finden sind, lassen wiederum andere Texte, die ausgesondert werden mussten, vermissen. Das gilt zum Beispiel für den Aufsatz »Benjamin als Kommentator« (S. 340–360), neben dem man gerne direkt Vismanns eigene Kommentierung zu Art. 79 III GG lesen würde, die sie 2001 für den sog. Alternativkommentar zum Grundgesetz geschrieben hat. Dass eine Medienhistorikerin ausgerechnet zur sogenannten Ewigkeitsklausel schrieb, war an sich naheliegend. Alternative Kommentierungen schienen ihr danach ein Ding der Unmöglichkeit, weil der Kommentar eine durch und durch instituierende Kraft hat und weil er es ist, der die Normativität des Gesetzes anzeigt. Er produziert keine Alternativen, allenfalls besetzt er ihre Stellen. Die ganzen Aporien der kritischen Kommentierung werden in ihren theoretischen Auseinandersetzungen mit Walter Benjamin und Jacques Derrida durchgespielt. Auch in dem hier aufgenommenen Benjamin-Text verzahnen sich zwar ihre Anliegen um theoretische Durchdringung und praktische Intervention. Dass ihr Kommentar zu Art. 79 III GG aber nicht mehr berücksichtigt werden konnte, ist eine der ›niederen Ausschlusstechniken‹, die sie selbst so oft beklagt und belächelt hat. – Eine vollständige Bibliographie von Cornelia Vismann befindet sich am Ende dieses Buchs.

Der Einstieg in die Auswahl erfolgt mit einem ungewöhnlichen Text einer im besten Sinne unkonventionellen Autorin, die ungeachtet ihres intellektuellen Renommees und ungeachtet der nicht allein akademischen, sondern auch persönlichen Dignität ihre Wurzeln in der autonomen Szene besaß, was sich für die Triebkraft ihres Denkens als nicht ganz unwesentlich erwiesen hat. Auch um die Gefahr, infolge ihrer leidenschaftlich praktizierten Interdisziplinarität immer schon zwischen den Stühlen nicht nur von ehrwürdiger Rechtswissenschaft und fortschrittlicher Medienforschung zu stehen zu kommen, hebt diese Auswahl gleichsam außer Konkurrenz mit einer Publikation von Cornelia Vismann an, Lautlos und unsichtbar, die – noch unter dem Pseudonym »Severine Lansac« erschienen – auf ihre Zeit in der autonomen Szene von Hamburg und Berlin zurückgeht.

Die einzelnen Abschnitte widmen sich sodann fünf großen Themenkomplexen: Teil I behandelt die Ursprünge des Rechts in der abendländischen Antike (»Über Rom«). In Teil II (»Verwaltungen: Nach den Akten«) kreisen die Analysen um die Akten als mediale Operatoren des Rechts und um das Archiv als deren komplexe Aufbewahrungsinstitution. Betonen die Texte aus dem ersten Teil dabei noch stärker die normative Struktur von Einsetzungen und Übersetzungen, so zielen die Texte des zweiten Teils stärker auf Cornelia Vismanns Auseinandersetzungen mit der Macht der Verwaltungen. Im Teil III (»Recht, Literatur, Theater«) stehen die Querverbindungen zwischen Rechtsprechung, Redeweisen und der Literatur beziehungsweise die theatralen Dimensionen des Rechts im Fokus. Den Texten ist gemeinsam, dass die Literatur hier nicht als das Äußere des Rechts und das Recht nicht als Stichwortgeber für literarische Reflexionen gedacht wird. Recht und Literatur ›versäumen‹ (auch im näherischen Sinne) sich selbst, so legen es nicht zuletzt Vismanns Überlegungen zum Versäumnisurteil nahe. In Teil IV (»Land, Linien, Leseordnungen«) geraten die Eingrenzungen und Hegungen des Völkerrechts ebenso in den Blickpunkt wie der Kommentar und die Dekonstruktion als Methoden der Wissensgenese. Im abschließenden Teil V (»Medien, Kulturtechniken«) rücken dagegen die Praktiken des Lesens, Schreibens, der Bildproduktion als grundlegende Kulturtechniken in ihrem Verhältnis zu juridischen, politischen und medienhistorischen Fragen ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Zur Textgestalt: Die einzelnen Aufsätze wurden behutsam bereinigt, das heißt manche der ursprünglichen Hinweise wie etwa zur Entstehung oder Einpassung einzelner Texte sind ebenso getilgt wie einige wenige Querverweise auf weitere Texte anderer Autoren in den jeweiligen Veröffentlichungen, die eher dem Kontext der Publikation als einer bleibenden Verbindung geschuldet sind. Die Literaturhinweise in den Fußnoten wurden, wo nötig, aktualisiert.

Zwei Texte sind derweil auf Englisch belassen, und zwar weil Cornelia Vismann sie originär in dieser Form verfasst hat, mit all den Eigenheiten und stilistischen Zugeständnissen, die das Formulieren in einer anderen Sprache jeweils mit sich bringt. Wir haben hier auf eine Übersetzung verzichtet, und zwar nicht nur, weil die Lektüre des Englischen inzwischen kaum eine Hürde darstellen dürfte, sondern weil sich der ebenso klare wie elegante Stil, den die Autorin im Deutschen pflegte, so nur mit empfindlichen Einschränkungen hätte rekonstruieren lassen.

Zwischen die einzelnen Abschnitte befinden sich Aphorismen eingeschaltet, die einem kurzen, unveröffentlichten Dossier von Cornelia Vismann entnommen sind, das sie 1987 während ihrer Zeit als Referendarin am Kammergericht in Berlin unter dem Eindruck der Praxis täglicher Rechtsprechung im Gerichtssaal verfasste. Diese Fragmente reflektieren nicht nur die mitunter eigenartigen Situationen einer Rechtsprechung vor dem Gericht, sondern geben zudem einen frühen Eindruck von der Sprachkraft und unirritiert scharfen Beobachtungsgabe der Verfasserin.

 

Zu guter Letzt möchten wir Balthasar Haußmann, Peter Berz und Alexander Roesler für ihre Unterstützung, Anregungen und die gute Zusammenarbeit, sowie Jasmin Meerhoff und Mads Pankow für ihre Hilfe bei der Einrichtung des Typoskripts danken.

 

Weimar im April 2012

 

Markus Krajewski und Fabian Steinhauer

Das Verschwinden der Welt und die Dauer der Gesetze

Die Institutionen sind so gefährlich, weil

sie ihre eigene Abschaffung nicht mitregeln.

In Gorleben wurden neue Polizeistellen geschaffen,

als der Widerstand gegen das AKW

sich dort verbreiterte. Als er wieder abnahm,

blieben die Polizisten, und seitdem

hat Gorleben eine merklich höhere

Kriminalitätsrate als vor Erweiterung der Polizei.

Lautlos und unsichtbar …

Draußen auf der Straße in den Cafés sitzen Leute, trinken, reden, lachen, als wenn gerade niemand in unmittelbarer Nähe Wände einkleistern würde, in Windeseile ein Plakat daranklatscht und mit flachen Händen festklopft. Plakatieren macht unsichtbar. Unbehelligt von denen, an die die Plakate gerichtet sind und die sie am folgenden Tag sehen sollen, ziehen Kleistereimer, Quast und Plakatrollen samt Plakateuren durch die Nacht, als gehörten sie einem anderen, einem tarnkappenförmigen Universum an. Ihre Unsichtbarkeit entspricht der Sichtbarkeit der Plakate. Denn je unbehelligter die Nacht des Plakatierens, desto mehr Plakate werden am nächsten Morgen zu sehen sein, an Trafokästen, Bauzäunen, Plakat- und Häuserwänden und all den anderen umkämpften Freiflächen.

Der Kampf um die Freiflächen mit und gegen andere Plakate: mit solchen, die nicht überklebt (weil politisch wichtig), und gegen solche, die (weil kommerziell) überklebt werden können. Im Lauf der Zeit, es genügen oft wenige Wochen, entsteht so ein hübsch zusammengeflicktes Gebilde aus Kleister- und Plakatschichten. Ein Querschnitt durchs Kiezgeschehen, von dem die Anordnung in einem Buch nur einen unzureichenden Begriff gibt: übereinandergeklebte Plakate, an den Rändern gebogen und mit den nicht überdeckten Stellen darunterliegender Plakate eine surrealistische Verbindung eingehend – bis sie ihre eigene Last nicht mehr tragen können und als Gesamtnichtkunstwerk abfallen.

Am nächsten Morgen stellen sich die gewohnten Straßen völlig anders da. Wo sonst Bäcker, Zeitungskiosk und Briefkasten stehen, bieten sich dem Blick – Freiflächen! Potentielle Plakatwände springen ins Auge und strukturieren die Wahrnehmung. Dennoch: Plakatieren bleibt eine eigenartige Tätigkeit, die in ein Verhältnis zum jeweils plakatierten Plakat bringt, das alles andere als beschaulich zu nennen wäre. Schließlich könnte gerade dieses Plakat einem eine Nacht in Gewahrsam oder zumindest eine Anzeige bescheren. Und ob es das wert wäre? Aber zu diesem Abwägen kommt es nicht. Vielmehr findet man sich zu verabredeter Zeit am verabredeten Ort mit Plakatrollen unterm Arm wieder und fängt an – allenfalls entschädigt durch eine kleine Erotik des Zusammenarbeitens, lautlos und unsichtbar, die sich einstellt im Gegenzug zur mitlaufenden Gefahr des Erwischtwerdens, die schließlich auch zuständig ist für gewisse Verklärungen einfacher Botendienste. Verklärungen, von denen die Plakate nichts wissen, von denen sie auch kein Zeugnis ablegen. Was sie speichern, sind die »Inhalte«, nicht die Hilfstätigkeiten drum herum: die angestrengten Diskussionen über den richtigen Spruch, das aufmerksamkeitsstrategisch beste Layout, die Eile, mit der sie zur Druckerei transportiert worden sind. Und die Geschichten, die das Plakatieren selbst so mit sich bringt.

Hierarchie der Gerichtssaalstühle

Richter, Staatsanwalt, Verteidiger:

Polster und Lehne

 

Angeklagter:

Polster

 

Zuhörer:

ohne Polster und ohne Lehne

Teil IÜber Rom

Unentrinnbares Rom?

I Referenzoppositionen: translatio et renovatio Romae

»Was gibt es eigentlich in der Geschichte, was nicht zum Ruhme Roms ist? – Quid est enim aliud omnis historia quam romana laus?«[2] Mit dieser Frage erinnert Petrarca an ein Rom, zu dem das Rom seiner Gegenwart keinerlei Ähnlichkeit mehr aufweist. Im Italien des Dichters wütet die Pest, die Wirtschaft liegt brach, die Kurie hat ihren Sitz von Rom nach Avignon verlegt. Rom ist ein Un-Ort geworden, von dem aus betrachtet das vergangene Rom nur umso blühender und strahlender erscheint. Alles daran ist rühmenswert. Was immer man aus der Geschichte erzählt, es gereicht Rom zum Lob.

Laus romana lautet das politische Programm Petrarcas. Ihm schwebt ein neurömisches Reich vor, das Kaiser Karl IV. hätte gründen sollen. Darum seine rhetorische Frage – Was gibt es eigentlich in der Geschichte, was nicht zum Ruhme Roms ist? Sie kappt das unmittelbare Band zu Rom, das »im Mittelalter als eine Art andauernder und aktueller historischer Gegenwart fort[gewirkt]«[3] hatte, und schafft ein Rom der Geschichte. Rom wird referierbar oder genauer: referenzierbar. Aus der Referenz auf ein nicht mehr vorhandenes Rom folgt die politische Mission, es wiederherzustellen. Das Bild des antiken Rom gibt dafür die Maßstäbe vor. In den Worten Thomas Klings unter Entwendung eines Zitats von Barbara Vinken: »Rom wird zu einer klar unterschiedenen, unendlich überlegenen und endgültig vergangenen, abgeschlossenen Epoche. Nur durch eine restauratio Romae kann die Perversion beendet werden, aus ihrer Verrückung im Exil an ihren Ort und damit zu sich zu finden.«[4]

Restauratio oder renovatio ist eine Form der Referenz, die sich gegen die der translatio[5] absetzt. Denn es bedeutet etwas anderes, ein neues Rom zu gründen als Rom neu zu gründen. Nea Roma, neues Rom nannte Konstantinopel sich bekanntlich. Das Byzantinische Reich war das Ergebnis einer translatio, einer metonymischen Verschiebung, eines Transfers von West nach Ost. Dieser transmissive Akt steht im Zeichen von Kontinuität. Er dupliziert Rom. Die Verdoppelung schafft wiederum ein ursprüngliches Rom, das dann die Wahrnehmung der Folgeroms rastert. Anders ausgedrückt: Die reale Topographie Ur-Roms zeichnet sich in das Duplikat imaginär ein. Konstantinopel beispielsweise wird ungeachtet seiner tatsächlichen geographischen Lage als Stadt auf sieben Hügeln gehandelt.[6]

Als Russland sich im 15. Jahrhundert auf Rom bezog, ging es ebenfalls darum, ein neues Rom zu gründen. Der referentielle Akt der translatio setzte die Zählung der neuen Romgründungen daher fort. So entstand die Formel von Moskau als drittem Rom: Zwei Rome sind gefallen, das dritte Rom steht, ein viertes wird es nicht geben.[7] Moskau hatte die Wahl. Es konnte an eine mit der griechischen Tradition der Philosophie verbundene oströmische Referenz oder an eine mit der lateinischen Tradition des Rechts verbundene weströmische anknüpfen. Da es den ausschließlichen Machtanspruch des Papstes gerade verneinen wollte, für den West-Rom stand, aktivierte es die Referenz auf Konstantinopel, die Stadt, in der mehrere Patriarchen eines Patriarchats friedlich unter dem Kaiser koexistierten.

Gegen solche Transmissionen oder Verschiebungen Roms steht das petrarcistische Erneuerungsprogramm. Aus renovatio und translatio werden in der Renaissance Referenzoppositionen. Der Akt der renovatio bricht mit der Vergangenheit. Anders als der referentielle Akt der translatio, der die Stadt vervielfältigt, exilieren Renovationen Rom. Sie bringen kein räumlich verortetes Ur-Rom hervor, das sich an anderen Orten reproduziert. Im Namen der Wiedergeburt der Antike entstehen neue Städte, die – in Verkehrung des Verhältnisses zwischen einem realen Rom als Matrix imaginärer Transferprodukte – ein imaginäres Rom im Blick haben und zuweilen bei einer höchst realen Antike ankommen.[8]

Hannah Arendt zufolge stellte die Referenzopposition auch die amerikanische Revolution vor die Alternative, Rom neu zu gründen (renovatio) oder ein neues Rom zu gründen (translatio): »… die Amerikaner kannten ihren Vergil, und als sie für die eigene Zeit das Wort von dem novus ordo saeclorum prägten, hat ihnen sicherlich Vergils magnus ordo saeclorum noch in den Ohren gelegen. Charakteristisch für sie war aber, dass es sich diesmal nicht darum handelte, ›Rom neu‹, sondern ein neues Rom zu gründen, dass also der Faden, welcher die Geschichte des Abendlandes an die Gründung der ewigen Stadt und diese wiederum an die prähistorische Geschichte Griechenlands und Trojas band, gerissen war und nicht mehr neu geknüpft werden konnte.«[9]

Ist der Faden, der Rom mit der Nachwelt verband, durchtrennt, ist die Kette der Rom-Transmissionen unterbrochen, so ruft dies nicht nur Rom-Renovationen auf den Plan. Es initiiert auch den dazu inversen Diskurs, der darauf abzielt, Rom – genauer: den Verfall, in den es die Welt zieht – aufzuhalten. Rom-Katechonten entwerfen eine Geschichte, die statt dem Ruhme Roms seiner Verhinderung dient. Michel Foucault zitiert die rhetorische Frage – Was gibt es eigentlich in der Geschichte, was nicht zum Ruhme Roms ist? –, um daran einen Wendepunkt in der Geschichtsbetrachtung zu markieren. »Einige Jahrhunderte nach Petrarca kam im Abendland eine Geschichte auf, die alles andere war als eine Lobpreisung Roms, eine Geschichte, in der es ganz im Gegenteil darum ging, Rom als ein neues Babylon zu demaskieren und gegen Rom die verlorenen Rechte Jerusalems geltend zu machen.«[10] Foucault entziffert die Diskurse, die Jerusalem referenzieren, als Kampf gegen Rom. Dieser Kampf wird im Wesentlichen vom Adel geführt. Er ist gegen das juridische Wissen des Königs, konkret: gegen das der königlichen Kanzlisten und Verwalter, gerichtet.[11]

Diese Geschichtsschreibung, die aus dem Widerstand gegen das Rom des Rechts hervorgeht, hat vor allem einen Gegenstand: den Untergang Roms. Sie sucht Erklärungen für den Verfall zu finden, die nicht im Recht begründet sind. In den Worten Foucaults: Das »berühmte Problem der Ursachen des Aufstiegs und Niedergangs des römischen Reichs – eines der Schablonen der historischen oder politischen Literatur des 18. Jahrhunderts und nach Boulainvilliers und Montesquieu wiederaufgegriffen – hat einen sehr präzisen Sinn. Man unternimmt hier zum ersten Mal eine Analyse ökonomisch-politischen Typs, während es bis dahin nur das Problem des Rechtswegs, der Rechtsablösung, der Ablösung eines absolutistischen Rechts durch ein Recht germanischen Typs gab, d.h. ein anderes Modell. Hier wird das Problem der Ursachen des Niedergangs des römischen Reichs zum Modell eines neuen Typs historischer Analyse.«[12] Diese hat wiederum den Effekt, das römische Recht, das von den Verfallsbetrachtungen ausgenommen ist, in seinem Ewigkeitsanspruch zu stärken.

Arnaldo Momigliano macht dieselbe Beobachtung wie Foucault, wenn er die von ihm hoch geschätzte Monographie History of the Decline and Fall of the Roman Empire als Initial einer neuen Art von Geschichtsschreibung vorstellt.[13] Bis zum Aufkommen der Figur des untergegangenen Rom habe es »– wenn überhaupt – sehr wenig Geschichten von Griechenland oder Rom gegeben. Die Leute begnügten sich mit der Lektüre der antiken Quellen, der Berichtigung von Details und dem Nachdenken über ihre Aussage«.[14] Die ersten historischen Beschreibungen Roms seien um 1700 entstanden. Edward Gibbons 1776 erschienene Monographie Decline and Fall sollte zu ihrem Prototyp werden. Nach der Lesart Momiglianos reiht sich das Werk nicht in die antirömische Geschichtsschreibung ein, die Foucault im Blick hat. Momigliano liest Gibbons Geschichte des Untergangs als eine Erzählung über den Aufstieg des christlichen Rom im Mittelalter. Gibbon setzt demnach die Renovatio-Linie der Renaissance fort. Was der Historiker als großen Erklärungsversuch oder genauer als Bestätigung der Erklärungsversuche von Voltaire und Montesquieu für die Gründe des Verfalls des Römischen Reichs angelegt hatte, geriet zu einem »großen Bild der mittelalterlichen Welt westlich von Indien«.[15] Gibbons Gemälde eines universalen, Orient und Okzident umspannenden Reichs war eine einzige Lobpreisung Roms. Es spielte der amerikanischen Revolution zu[16], die ebenfalls – wie Hannah Arendt beschreibt – antrat, Rom zu restaurieren.

Revolutionszeiten agieren im referentiellen Sprechakt der renovatio. Die Renovation »ist ein obsessioneller Gedanke, der sich durch die Revolution am Leben hält und wiederkehrt wie die Jahreszeiten.«[17] Manfred Schneider zufolge ändert sich in nachrömischer Zeit der Modus der Referenz. Aus einer geopolitischen wird eine textuelle Operation. »Das Imperium ist nur von der Landkarte in die Bücher gewandert.«[18] Juristische Kommentierungen ordnen sich auf das Corpus iuris hin, die byzantinische Sammlung mit Rechtstexten aus römischer Zeit, und etablieren in dieser buchstäblichen Orientierung einen obersten Referenten namens Rom. Inschriftensammlungen des 16., ebenso wie Klassikerausgaben und Realenzyklopädien des 19. Jahrhunderts formieren jeweils ein referenzierbares Imperium der Texte. Seither heißt interpretieren Rom interpretieren. Rom gibt dazu den Befehl. Es ist das imperium der Interpretation, die Norm jeder Referenz. Kanonbildungen sind die Folge dieser nicht abreißenden Kommentierungsketten.

Preußens Editions- und Übersetzungspolitik antiker Autoren implementiert den Befehl zur Interpretation Roms, den Theodor Mommsen schließlich so umformuliert: »… keine politische und keine historische Forschung im großen Stil kann absehen von Rom«.[19] Rom wird ein Gewebe aus Klassikertexten. Oder anders ausgedrückt: Etwas, das es nie gegeben hat, wird Geschichte. Der »Geistertanz des Historismus« (Wolfgang Ernst) vergegenwärtigt ein imaginäres Rom. Das abwesende Rom, dem Petrarca erstmals ein Denkmal gesetzt hat, ist Bedingung sämtlicher, nicht nur restaurativer Romreferenzen.

Marie Theres Fögen bestätigt das Bedingungsgefüge zwischen Auslöschung des Referenzobjekts und seiner Referenzierbarkeit für das römische Recht. »Seine große Karriere trat [das] Recht an […] als es kein Rom mehr gab […]. Rom wurde die Referenz des Mittelalters, in Konstantinopel, in Moskau, für die Kirche und vor allem für das neue, nun heilige, Römische Reich des Westens.«[20] Das Zentrum dieser Zentralreferenz bleibt leer. Erst die Referenzen auf das untergegangene Rom aktivieren die darin latent gehaltenen Bedeutungsschichten.

Die Bandbreite Rom-bezogener Semantiken ist enorm. Selbst in einer postchristlichen Welt hat der Sprechakt der Referenz Rom seine performative Kraft nicht eingebüßt. Rom besetzt die Leerstelle für Wahrheit und abendländische Werte, für ein universalisierbares Recht ebenso wie für imperiale Machttechniken. Der Rechtshistoriker Pierre Legendre hat für die unverminderte Reichweite der Referenz Rom deutliche Worte gefunden: »Das Recht als Technologie ist das strategische Kapital des Westens, ein Kapital, das stets exportiert wurde – jahrhundertelang vor allem in der Form von ›Staatlichkeit‹ – und noch wird. […] Auch heute exportiert der Westen seine Struktur, sein Ordnungsdenken, seinen Juridismus, seine ›Staatlichkeit‹. […] Die Romreferenz ist absolut intakt, und Rom spielt entgegen allen Versicherungen noch immer die Rolle des großen Wächters des Abendlandes.«[21]

II Das Andere der Referenz

Legendre hat den Akt der Referenz in einen Zusammenhang mit Autorität und Geltung gebracht. Autorität beruht auf genealogischen Ableitungen. Sie bedürfen daher referentieller Sprachhandlungen. Dafür ist die Bezugnahme auf Rom Legendre zufolge nicht etwa einer unter mehreren möglichen Sprechakten. Von welchem Punkt aus er eine referentielle Struktur zurückverfolgt, er stößt auf Rom. Rom ist ultimativer oder Gründungsreferent schlechthin. Keine instituierte Macht ist denkbar, die nicht auf Rom bezogen wäre.

Ein Sprechen im Namen von Rom verwandelt die Gewalt der Gründung in einen legitimen Akt. Es verdeckt die Fiktion des Ursprungs und gibt dem kontingenten Wissen einen Rückhalt in Raum und Zeit. Die Religion gründet in Rom.[22] Das Recht bezieht sich darauf. Das Europa der Gemeinschaft entwirft sich darin.[23] Jeder referentielle Akt und das heißt: jeder Setzungsakt referenziert also letztlich Rom. Oder negativ ausgedrückt: Keine instituierte Macht ist vorstellbar, die nicht auf Rom bezogen wäre. Der Name Rom steht für Referenz. Er ist das symbolische Signifikat der Referenz.

Diese Gleichsetzung von Referenz mit Rom macht es unmöglich, die Referenz Rom von einer bestimmten, mit Rom konnotierten Semantik aus zu betrachten. Das Römische ist ein semantischer Shifter. Was als römisch attribuiert wird, ist daher nicht fest umrissen. Referentielle Akte codieren Rom heidnisch, griechisch, jüdisch oder christlich und besetzen es etwa puritanisch oder europäisch um. Die performative Wirkung Rom-referentieller Akte besteht gerade darin, fremde, auch antirömische Semantiken zu vereinnahmen. Rom-Referenzen lassen sich daher nicht thematisch sortieren und typisieren. Eine Bestandsaufnahme motivischer Rom-Anspielungen und -Anleihen bliebe unvollständig und in ihrer Auswahl zufällig. Das Phänomen allgegenwärtiger Romreferenzen und ihrer anhaltenden Exportfähigkeit (um nicht zu sagen: eines spezifisch europäischen Kolonialismus, für den Derrida das Wort von der Mundialatinisierung[24] geprägt hat) bietet daher keinen brauchbaren Anhaltspunkt für eine Beobachtung der Referenz, die auf ein verortbares Rom ebenso wie auf ein textuell erstelltes Rom gehen, die vage römische Topoi oder ein Syndrom namens Rom meinen kann.

Nur von einem Standpunkt aus, der nicht in die referentielle Struktur abendländischer Institutionen eingebunden ist, ist die Referenz Rom beschreibbar. Wenn aber jedes Sprechen als instituiertes, und sei es in Rom-kritischer Absicht, eines im Namen Roms ist, dann wirft das die Frage auf, ob überhaupt ein Sprechen außerhalb davon vorstellbar ist. Als nichtinstituierte Aussageform wäre sie schließlich dazu verurteilt, die Rede eines Wahnsinnigen zu sein. Doch bereits die Frage nach einem Nicht-Rom-Bezug bleibt in der Struktur der Referentialität befangen. Sie bestätigt die Intaktheit der Romreferenz. Denn das Verlangen, ein Außerhalb von Rom zu denken, referenziert ebenfalls Rom. Es erweist sich als Effekt einer wirksamen Referenzstruktur, welche den Wunsch nach Dereferenzierungen auslöst, danach, irgendetwas in der Geschichte zu finden, das nicht zum Ruhme Roms gereicht.

Kaum etwas dürfte letztlich sogar mehr zur Wirkmächtigkeit der Romreferenzen beigetragen haben als antirömische Sprechakte. Die gegen das Rom des Rechts und der Institutionen gerichtete Referenz der lutherischen Reformation etwa verarbeitete die katholische Kirche höchst effektiv auf verschiedenen Ebenen, etwa der Liturgie, der Ekklesiologie, der Kirchenkunst und der Verwaltung, so dass man sagen kann, diese sei »gegenreformatorisch eigentlich erst ›römisch‹-katholische Kirche« geworden.[25] Sind auch Anti-Rom-Referenzen in die Struktur der Referentialität eingebunden, bleibt kein Raum ohne Rom.[26] Die Suche nach romfreien Zonen des Denkens und Wissens wäre darum nichts anderes als ein hilfloser Versuch, der dichten Referenzierbarkeit Roms, seiner Allgegenwärtigkeit und Übermächtigkeit zu entkommen.

Heißt das: »Wir Europäer« können nicht absehen von Rom? Oder anders gefragt: Wie unentrinnbar ist der Sog der Referenz Rom? Sicher lässt sich ein romzentrierter Blickwinkel nicht überwinden, indem man ihn leugnet. Der Intaktheit der Romreferenzen kann man nicht den Rücken kehren, wenn man sie beobachten will. Es reicht auch nicht aus, den Forschungsbereich zu erweitern und – wie der Neue Pauly[27] – dem Orient stärkere Aufmerksamkeit zu widmen oder eine nicht-okzidentale Genealogie des Rechts zu entwerfen.[28] Das sind Nachbesserungen innerhalb der Referenz, die in die nach Ost und West gespaltene Referenzstruktur eingeschrieben bleiben. Eine Beobachterdifferenz, die auch diese Differenz beobachten kann, bieten sie nicht. Auch der Hinweis auf den blinden Fleck jeder Beobachtung erledigt das Problem nicht. Wenn das Projekt Referenz Rom mehr sein will als rückwärtsgewandte Bestätigung seines eigenen, jeweils in Rom gegründeten Diskurses, wie es insbesondere für das Recht zutrifft, dann kann es sich kaum mit der Feststellung begnügen, dass die Rom-Referenzen, die es beobachten will, bis in die eigene Beobachtung hinein wirksam sind. Will es Roms eigene Rede nicht verdoppeln, muss das Projekt in eine analytische, auf die Struktur der Referentialität gehende (statt einer thematischen) Differenz dazu treten.

Richtet die Suche nach einer Beobachterdifferenz sich nicht auf das, was nicht Rom ist, sondern das, was die Referenz Rom nicht ist, dann müssten sich beispielsweise Gründungsakte finden lassen, die Rom nicht referenzieren. Solche Rom-dia- und synchronen Gegenmodelle – von außereuropäischen Kulturen und von anderen Großmächten der Antike – werden nicht in der Absicht gesucht, den Zentralreferenten Rom zu demontieren oder zu relativieren. Sie sollen vielmehr im Vergleich mit der Referenz Rom Aussagen generieren, die von einem zwangsläufig romzentrierten Blickwinkel aus, für den Referenz und Rom als Synonyme figurieren, nicht möglich wären.

Die Formulierung einer Beobachterdifferenz könnte des Weiteren direkt bei der prekären Synonymität von Referenz und Rom einsetzen. Ist der Name Rom das symbolische Signifikat aller referentiellen Operationen, dann sind nicht-semantische Kriterien zur Beschreibung der Referenz Rom gefragt. In der Semiotik bilden Zeichen die andere Seite der Referenz. Mit Charles S. Peirce kann man von Zeichenprozessen ausgehen, die ganz ohne Referenz ablaufen, weil sie rein operativ, etwa mathematisch funktionieren. Sie stellen einen nicht-diskursiven Bezug zu Rom her.[29] Wenn beispielsweise italienische Städte des 15. Jahrhunderts ihre römische Herkunft in den Ruinen verankern, die dann nicht mehr, wie es die bisher geübte Praxis eines Rom-Recyclings war, als Baumaterial weiterverwendet wurden, dann bleibt es nicht bei Reden, welche eine Wiedergeburt der Antike beschwören. Topographisch präzise kommen damals neue Medien und Kulturtechniken wie die Zentralperspektive beim Grundriss einer antiken römischen Stadt, dem castrum, an.

Ein weiteres Beispiel für semiotische Operationen, welche referenzlos funktionieren, bildet das kartographische Verfahren Leon Battista Albertis. Zwischen 1430 und 1450 stellte der Kryptographie-Experte des Vatikans eine neue Methode zum Kopieren von Karten vor, die erstmals mit den Fehlern der Kopisten rechnete.[30] Seine fehlerresistente Übertragungsmethode zerlegte die Topographie einer Stadt innerhalb eines Koordinatennetzes in Daten, die er von einem Nullpunkt aus vermaß. Diese Daten, die er dann in Listen eintrug, ließen sich jederzeit und von jedermann wieder zu einem Stadtplan zusammensetzen. Alberti demonstrierte sein kartographisches Notationssystem an keiner anderen Stadt als an Rom und dies nicht etwa, weil die Hauptstadt die Bedeutung seines Verfahrens heben sollte. Seine Descriptio Urbis Romae machte sich die Topographie Roms zunutze. Ihr Mittelpunkt bildete den Nullpunkt der Vermessung. Die diagrammatische Beschreibung der Stadt Rom legt also frei, was Legendre, ohne es zu konkretisieren, die Struktur der Referentialität nennt. Rom ist das Kapitol, mit Derrida gesprochen das Kap, der Zentralsignifikant semiotischer Prozesse.

So wie in diesem Beispiel die Referenz Rom auf einer nichtdiskursiven Operation beruht, funktionieren auch die römischen Verkehrswege. Mit Lacan sind sie das Reale, das der symbolischen Operation der Referenz Rom zugrunde liegt. Europa haben sie ihre Referenzstruktur eingeprägt: »Die römischen Straßen […] haben noch zu Goethes Zeit weitgehend den europäischen Verkehr getragen, bis die Anlage der Eisenbahnen meist auf den gleichen Trassen […] ihr materiales Ende einleitete«.[31] Ihre fortwährende Weiterbenutzung, eine Art stumme oder Real-Referenz auf das Rom der Infrastrukturen, schafft ein referenzierbares Rom. Es wird als ein Gebilde aus Mauern und Grenzbefestigungen, als ein Netz aus verschiedenen Kanälen wahrgenommen, die Europa durchziehen und die auf Rom zentrieren.

Diese Rasterung, die sich in anderen Infrastrukturen, wie beispielsweise in Nachrichten- und Dolmetschersystemen wiederholt, etabliert also eine Referenzbasis als Bedingung der Möglichkeit von Referenz, ohne die Rom nicht expandieren, ohne die es nicht zum Modell von Expansion und Kolonisierungen und ohne die es schließlich nicht zum zentralen Referenten der abendländischen Welt hätte werden können. In der Rede von den Wegen, die alle nach Rom führen, wird die zentral ausgerichtete Struktur der Referentialität sprichwörtlich. Oder umgekehrt ausgedrückt: die metaphorische Rede literalisiert und materialisiert sich im Verkehrswegenetz des Imperiums. Die viae publicae transportieren Neuigkeiten, Befehle, fremde Sprachen und andere Kulturen von und nach Rom.[32] Rom wird dadurch Caput Mundi.

Das Haupt der Welt ist das Haupt der Referenzen. Sein Zentrum bleibt leer. Die referentiellen Akte können sich auf alles beziehen, was in Rom zusammenläuft und von dort aus verteilt wird. Rom ist, mit anderen Worten, Durchgangsstation der Referenzen, Relais (Bernhard Siegert) der Ströme an Gütern und Informationen. Es konvertiert In- und Output. Die Währung dafür heißt Latinität.[33] Das Lateinische konvertiert fremde Sprachen[34], es wird zur geographisch entkoppelten virtuellen Bezugsgröße, um den Bewohnern außerhalb Italiens die römische Bürgerschaft zu verleihen, und es macht in Form des römischen Rechts fremde Handels- und Verkehrsbräuche konvertibel.[35] Bis heute funktioniert dieses lateinische Modul. Es kann diese Funktion einer Lingua franca multinationaler Kommunikationen, nicht allein im Recht, erfüllen, weil es aus der Bereinigung von nationalen Formalismen hervorgegangen ist.[36] Die Latinität ist das Medium der Referenzen und daher selbst ohne Substanz, ohne feste Bedeutung. Diese werden erst im Akt der Bezugnahme festgestellt.

Rom lässt denken. Rom-Agenturen, wie die Kirche, verwalten die Referenzoptionen, sie halten diese latent. Im Akt der Referenz werden sie manifest.[37] Dieser Akt aktiviert jeweils eine Differenz zu etwas, was Rom latent auch sein kann. Systemtheoretisch gewendet hieße das: Differenz strukturiert die Operation der Referenz, ohne dass diese als Unterschiede thematisiert werden müsste.[38] Eine dichotome Struktur durchzieht also die Referenz Rom. Das Rom der Referenzen steht unter dem Vorzeichen der Spaltung. Es kann sich auf ein abendländisches oder ein byzantinisches Rom und damit auf monopolisierte Macht oder koexistierende Mächte, Institution oder Antiinstitution, intakte Kirche oder untergegangenes Reich, römisch-kanonisches Recht oder empiristische Geschichtsschreibung, Balkan und Russland auf der einen und Europa auf der anderen Seite[39], Welteinheit[40] oder Trennung in Ost-West[41], universale Herrschaft des Rechts oder hegemoniale Pax Romana[42] beziehen. Weil das latente Rom der Referenzen stets diesen doppelten Anknüpfungspunkt bietet und damit unablässig Ambivalenzen erzeugt, die in den Rhetoriken des Widerstands gegen Rom ausgespielt werden, verweigern Rom-Referenzen eine thematische Erfassung. Das Andere der Referenz lässt sich allein seiner Struktur und ihren Wirkungsmechanismen nach beschreiben.

Die dichotome Struktur ist der Referenz Rom von Anfang an, und das heißt auch: vom Anfang Roms an, eingeschrieben. Denn wenn alle Gründungsakte Referenzakte sind, dann bedarf auch die Gründung Roms einer Referenz. Rom nimmt bekanntlich auf Troja Bezug und bringt das Original damit erst hervor. Rom gründet sich in der Bezugnahme auf diesen nachträglich entworfenen Ursprung. »… so seltsam es klingt, der römische Gründungsbegriff impliziert von vornherein, daß jede Gründung eine Rekonstitution, die Erneuerung und Restauration eines Uralten ist. So war, wenn wir Vergil folgen, die Gründung von Rom vor allem die Wiedererstehung von Troja, Rom heißt bei ihm ausdrücklich ein ›zweites Troja‹.«[43] Die Referenz Rom geht auf Rom als Urgrund und als Wiederherstellung Trojas. Abstrakter ausgedrückt: Die Referenz Rom zerfällt in eine Gründungsreferenz, die auf Rom als Original bezogen ist, und eine Referenz auf Rom als Kopie.

Die gebrochene Initial-Referenz Roms hat Dereferentialisierungen zur Folge. Rom-Kopien (wörtlich etwa von griechischen Skulpturen) sperren den unmittelbaren Bezug zu dem, was seither zum Inbegriff für Unmittelbarkeit geworden ist. Griechenland ist, so etwa Johann Gustav Droysen, allein durch Rom vermittelt noch zugänglich. »Man kann mit Grunde behaupten, dass die Griechen nur durch Vermittlung der Römer auf uns gekommen sind, da auch das morgenländische Kaiserthum, dessen Flüchtlinge die griechische Literatur im Okzident wiederherstellten, ein Überrest des Römischen Reichs war.«[44] – Auch so kann man es ausdrücken, dass Rom Distributionsmedium fremder Kulturen gewesen ist. Es dereferentialisiert Athen und verwaltet es als Latenz – Überrest in der Sprache Droysens.

So wie die Frage nach dem Beginn der Referenz Rom könnte auch die nach seinem Ende eine Differenz markieren, die einen analytischen Zugang zur Referenz Rom bahnt. Die Struktur der Referentialität, von der Legendre spricht, wird in Architekturen, Topographien, der Organisation des Nachrichtenverkehrs und der Sprachenverwaltung ebenso wie in textuellen Verweis- und Zitatpraktiken konkret. Sie ist, wie beschrieben, durch Hierarchie und Zentralität gekennzeichnet. Ein Vergleich mit netzförmigen Strukturen, wie sie gegenwärtig die Organisation des Internet prägen, könnte ergeben, dass die Referenz Rom durch andere Strukturen abgelöst oder überlagert wird. Die geradezu inflationäre Bezugnahme auf Rom würde dann möglicherweise rhetorisch bloß verstellen, dass die Wirkmächtigkeit der Referenz Rom im Schwinden begriffen ist. Sie könnte aber auch ein Hinweis auf die unverminderte Kapazität zur Adaption der Referenz Rom sein, die virtuelle Räume ebenfalls imperial strukturiert.

Wort für Wort

Übersetzen und Gesetz

I 

Nicht immer schon stellte das Zusammentreffen mehrerer Sprachen in einem Raum ein Problem dar. Nicht immer schon bereitete Multilingualität vor allem Verständigungsschwierigkeiten. Und nicht immer schon wurde das sogenannte Problem der Mehrsprachigkeit durch Privilegierung einer einzigen Sprache, einer Amtssprache, gelöst. Das antike Rom jedenfalls verflucht die Sprachenvielfalt nicht als babylonisch und demzufolge herrschaftsschwächend; es scheint vielmehr, als bedarf es ihrer gerade, um damit eine Politik der Übersetzung zu praktizieren.[45] Wer übersetzen lässt, hat die Befehlsgewalt, das imperium. In Übersetzungsvorgängen expandiert das Reich, es überträgt sich in seinen Befehlen, die mit dem Befehl zur Übersetzung konvergieren. Darin erfährt der historiographische Topos einer translatio imperii seine praktisch-strategische Anwendung. Werden hingegen die vielen gesetzlos kursierenden Sprachen auf eine einzige reduziert, erstarrt der Imperativ zum Gesetz. Das Imperium muss an seine eigene Unübersetzbarkeit stoßen und daran untergehen.

Roms Operations- und Existenzbasis der Befehltransmission sind die Magistrate. Dort arbeiten auch interpretes, Dolmetscher also, die magistrale Befehle von einer Sprache in eine andere, von einem Sprachgebiet in ein anderes übertragen. Die Reichweite der Übersetzer definiert die Weite des Reiches. Oder weniger sprachspielerisch: Wo Latein hörbar ist, ist Rom. Dabei ist die Transformation von einer lokalisierbaren urbs zu einem Sprach-Rechts-Gebilde alles andere als der glatte Durchmarsch der lateinischen Sprache und daran gekoppelt des römischen Rechts durch die damals bekannte Welt. Das Reich als seine eigene Übersetzbarkeit, Rom als Operator dieses lingual-juridischen Transfers, betreibt keine repressive Sprachpolitik, es kolonialisiert weder Barbarenstämme durch eine vorgeschriebene Einheitssprache noch verpflichtet es jemanden, Lateinisch zu sprechen und in seiner eigenen Sprache zu verstummen. Es ist gerade die Durchlässigkeit für fremde Sprachen, welche die Übertragungsfähigkeit des Römischen Reiches und damit des römischen Rechts ausmacht.

Die Befehle, die von Rom ausgehen, und jene, die dort ankommen, müssen übersetzt werden. Im Umkehrschluss genügt für den amtlichen Verkehr innerhalb der Provinzen die jeweilige Landessprache, sei es Oskisch, Umbrisch, Etruskisch, Griechisch, Gallisch, Aramäisch, Hebräisch, Punisch, Syrisch … oder eine der anderen über hundert Sprachen und Dialekte, die in der Zeit der Republik im Umlauf sind. Oftmals als liberale Sprachpolitik Roms gepriesen, erweist sich die multilinguale Praxis Roms als konsequente Anwendung seiner ›Amtssprache‹, die also immer eine übersetzte ist. Wenn beispielsweise Cato seine Reden an die Athener ungeachtet seiner Griechischkenntnisse in lateinischer Sprache hält, befolgt er damit das römische Gesetz der Übersetzung. Roms Anwesenheit manifestiert sich in und als Akt der Übersetzung, die darum trotz eigener Fremdsprachenkenntnisse nicht entfallen darf. Die Verlautbarungen aus Rom werden deshalb in den Kolonien und Provinzen in der Regel in lateinischer Sprache verlesen und simultan übersetzt. Der Statthalter, der Rom in den Provinzen repräsentiert, spricht ebenfalls ausschließlich die Sprache Roms und lässt übersetzen. Damit wird – in letzter Instanz – den Dolmetschern die Aufgabe überlassen, Magistratsbefehle und Senatsbeschlüsse zu verkünden. Autorität erhalten sie im fest installierten Ritual der Übersetzung, durch welches sich Rom überall Präsenz sichert.

Die Übermittler der Botschaften von und nach Rom werden den Amtsträgern in den Provinzen und den römischen Gesandten in Griechenland oder Kleinasien regelmäßig beigeordnet. Entweder sind es Einwohner vor Ort oder Freigelassene, die von Rom aus mitreisen – in jedem Fall also Einheimische, welche die amtlichen Verlautbarungen Roms akzentfrei und das heißt ohne Autoritätsverlust in die jeweiligen Landessprachen übertragen. Sie transportieren Rom in die Kolonien, Provinzen und zu den Bundesgenossen. Diese veri interpretes, wie sie später als »staatlich anerkannte« Dolmetscher in den Digesten heißen, sind wirkliche Mittler oder Unterhändler, wenn sie die staatlichen Verträge im Übersetzen aushandeln und sie daher ebenso wie Diplomaten und Magistrate unterschreiben müssen, damit sie wirksam werden. Folglich besteht das Verwaltungspersonal im Römischen Reich zu einem großen Teil aus Dolmetschern. Hundertdreißig seien es allein im Pontusgebiet, wie Plinius einmal zum Beleg ihrer Bedeutung angibt.

Am Kreuzungspunkt der Sprachen, im Akt der Übersetzung, wird das Barbarische romförmig und romgefügig. Es ist die hohe Porösität für barbarische Sprachen, welche diejenigen, die sie sprechen, mit Rom verbindet. Kommen fremde Könige nach Rom, tragen sie ihr Anliegen in der jeweiligen Sprache vor. Magistrat und Senat verhandeln selbst mit Gesandten aus Griechenland nicht in der Sprache der Gäste, sondern – wiederum nur vermittelt über Dolmetscher – jeder in der seinen. Darin mag eine Geste wechselseitiger Anerkennung liegen. Allerdings stellt diese Praxis zugleich unmissverständlich klar, dass die alleinige Befehlsgewalt bei Rom, genauer bei seinen Übersetzern liegt. Darum auch sollen die römischen Amtsträger, selbst wenn sie könnten, mit den Bittstellern aus Kleinasien kein Griechisch sprechen, nicht einmal, um den Trumpf der eigenen Bildung auszuspielen, die mit der Kenntnis dieser Sprache gemeinhin verbunden wurde.

Die Politik der Übersetzung ist Sprachverwaltung und Rechtsdurchsetzung in einem. Sie wirkt als Rechtskontrolle des Gesprochenen; eine ungreifbare Macht, die weder eine Amtssprache dekretiert noch mit Verboten operiert. Man wird in der Republikzeit kein Gesetz finden, das Ausländern zwingend vorschreibt, lateinisch zu sprechen. Niemand verstößt gegen eine Norm, der etwa auf Griechisch mit den Behörden verkehrt. Die Bedingung des Sprechens besteht also auch außerhalb des diplomatischen Verkehrs, beim Vorsprechen vor Gericht zum Beispiel, allein in der Übersetzbarkeit. Auf eine in Griechisch geführte Gerichtsverhandlung kann daher durchaus ein lateinisches Urteil folgen und umgekehrt.

Rom, das ist ein Sprachengewirr, ein vorsätzliches Babel, in dem Schriftsteller wie der griechischsprachige Livius Andronicus, wie Caecilius aus dem cisalpinischen Gallien, wie Terenz aus Afrika oder Plautus aus Umbrien ihre Äußerungen allesamt über die Schaltstelle jenes zunächst unbedeutenden italienischen Dialekts namens lingua latina laufenlassen. Die Durchlässigkeit für barbarische Sprachen innerhalb Roms korrespondiert mit der »Infiltration«[46] durch die fremde lateinische Sprache außerhalb der Stadt. Das Virus des Lateinischen wird über die großen römischen Verkehrsstraßen verbreitet, die größtenteils unter Augustus entstehen: die Via Appia beispielsweise, die Rom mit dem griechischen Osten verbindet, die Via Valeria, die nach Afrika führt, oder die Via Aurelia, die in Spanien endet. An den Verkehrsknotenpunkten bilden sich Unter-Zentren der Verkehrssprache. Mit dem Straßennetz verbreitet sich die lateinische Sprache und parasitär damit auch römisches Recht. Dieses heftet sich an die Dispersion der Wörter. Aus dem Gemeindestaat Rom wird in diesem juristisch-linguistischen Verbund ein Rechtsinstitut, und dieses ist als solches in räumlicher und zeitlicher Hinsicht exportfähig. Das nichtsesshafte, unterritoriale Prinzip der Übersetzung des Rechts und als Recht wirkt sich noch im dritten Jahrhundert n.Chr. aus, wenn die Verleihung des römischen Bürgerrechts nicht an die Stadt Rom und überhaupt nicht an den Wohnort gebunden wird, sondern nur an die Latinisierung des eigenen Namens und an lateinische Sprachkenntnisse.

Mit der Ausbreitung der lateinischen Sprache wird aus dem ehemaligen italienischen Dialekt eine Art Hochsprache. Die sich allmählich durchsetzende »Homogenität des Lateinischen durch das Straßennetz« (Devoto) würde theoretisch allerdings das Ende von Übersetzbarkeit und damit des Reiches in seiner transitorischen und translatorischen Form bedeuten. Rom wäre Rom, überall und zugleich, ohne Differenz. Auf dem Höhepunkt seiner Transformation in ein lateinisch-römisches Rechtsinstitut, in den ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderten, droht Rom tatsächlich in der Tautologie einer Übersetzung zu verschwinden, gäbe es nicht die kaiserlichen Kanzleien. Sie verwalten Übersetzbarkeit und simulieren das Prinzip einer translatio imperii unter administrativen Bedingungen. Vor Homogenisierung, das heißt Übertragungsstillstand, schützt von da an eine Art amtlich induzierte Heterogenität der Sprachen: die Etablierung zweier gleichberechtigter Reichssprachen, Griechisch und Lateinisch, die sich an der Aufteilung des polyglotten Imperiums in eine westliche und eine östliche Hälfte orientiert. Die imperiale Interlingualität der Republikzeit wird dann mit den verwaltungstechnischen Mitteln der kaiserlichen Kanzlei hergestellt. Sie ersetzt das Institut der interpretes und reduziert diese Schaltstelle des Imperiums auf eine Art Zwei-Kanal-System der beiden Reichssprachen.

Die Bilingualität der Bürokratie ist nicht zuletzt Folge jenes hellenistisch-römischen Sprachbündnisses, das die Römer bereits zu Zeiten Ciceros mit den Griechen eingingen, auch um sich von ihrem Barbarenstatus zu emanzipieren. Den hatten sie sich, gewissermaßen mit den Ohren Griechenlands, selbst zugelegt.[47] Seit Cicero als Übersetzer griechischer Texte und griechisch sprechender Redner diese Sprache aufgewertet und in der Folge die eigene entbarbarisiert hat, können Griechisch und Lateinisch die Bedingung des Reiches erfüllen, nämlich wechselseitig übersetzbar zu sein. Zum Prinzip der Zweisprachigkeit erhoben wird sie dann in der frühen Kaiserzeit. Das wiederum zeigt sich plastisch in der Gliederung der für die offizielle Korrespondenz mit dem Ausland zuständigen kaiserlichen Kanzlei ab epistulis nach linguistischen Gesichtspunkten in eine lateinische und eine griechische Abteilung. In den scrinia ab epistulis graecis, einer Art Übersetzungsbüro für Senatsbeschlüsse und Kaiserbriefe, wird von der einen auf die andere Sprache umgestellt. Sekretäre, die Griechisch als ihre Muttersprache sprechen – in amtlichen Zusammenhängen meist Vatersprache genannt –, beantworten griechische Anfragen in der Regel lateinisch und führen lateinische Vermerke des Kaisers in griechischer Sprache aus.

Die beiden Kanzleisprachen stehen zueinander in einem – mit Walter Benjamin gesprochen – Verhältnis reiner Übersetzbarkeit.[48] Folglich gibt es keine Übertragungsverluste bei der Umstellung von der einen auf die andere Sprache. Erst wenn eine Ursprache ins Spiel der Übersetzungen kommt, erst wenn Lateinisch als das zu übersetzende Original behandelt wird, ist die reibungslose Konvertierbarkeit der Sprachen gestört. Die Übersetzung wird dann an der einen, überlegenen Sprache gemessen, deren Entstellung die übersetzte zwangsläufig darstellt.

Der administrierte Bilingualismus verschwindet schließlich im Monopolisierungsfuror der Dominatszeit. Der Regierungsform des Monotheismus widerstreben viele Sprachen. Sein Prinzip lautet: ein Gesetzgeber, eine Sprache. Mit der Diokletianischen Staats- und Verwaltungsreform wird die Pluralität der Gesetzgebungsformen und -organe daher auf eine einzige reduziert, den kaiserlichen Befehl nämlich, der unmittelbar, ohne Abstimmung mit Magistrat und Senat, geltendes Recht werden soll. Und es versteht sich von selbst, dass er in lateinischer Sprache abgefasst wird. Das römische Recht ist Ende des dritten Jahrhunderts lateinisch dominiert und wird nur noch ins Griechische übersetzt, nicht mehr zurück. Die dynamische, weil zweisprachige Verwaltung verfestigt sich so in der Einseitigkeit der Übersetzungsrichtung. Zu einem Befehl wird nicht, was übertragen wird, sondern übertragen wird, was ein Befehl ist. Die Setzung kommt vor der Übersetzung, und ein Befehl heißt von da an constitutio. Rom, die Schaltstelle der Befehle, konstituiert sich und erhält im Kaiser eine Zentrale.

Mit dem Wechsel vom dritten zum vierten Jahrhundert ändert sich folglich der Übertragungsmodus des Reiches. Die kaiserliche Befehlstransmission ist auktorial und als innerer Monolog in lateinischer Sprache organisiert. Im Zeichen der Ankunft erhält spätestens unter den christlichen Kaisern der Befehl eine Bestimmung, ein Ziel: das Subjekt. An ein subiectum sind seit der Diokletianischen Reform die Befehle adressiert, und die Kanzleien werden zu reinen Ausführungsorganen des kaiserlichen Willens ohne eigene politische Macht. In den scrinia epistularum braucht man nun keine Juristen und Dolmetscher mehr, sondern Stilisten, die den Willen des Kaisers in eine Sprache bringen. In diesem Wechsel weg von den Rhetoren und hin zu den Rechtsgelehrten deutet sich eine verallgemeinerbare Tendenz des Rechts zur Literatur an, die jeweils durch die monolingualen und -legislativen Übertragungsformen bedingt ist. Diese wirken sich konkret als eine Art Autismus des Imperators und seiner Kanzlei aus. Er hinterlässt Übertragungsvakua, in denen sich im vierten Jahrhundert andere Sprachen, fremdsprachige Stämme, wie Ostgoten, Germanen oder Hunnen, ausbreiten.

Die Reaktion auf diese Zurückdrängung Roms erfolgt im Zeichen der Wiederherstellung von Übersetzbarkeit – nun aber keine administrative, sondern eine geographische Operation. Als Konstantin 324 n.Chr. damit beginnt, Rom in eine griechisch sprechende Gemeinde zwischen der westlichen und der östlichen Reichshälfte namens Byzantion zu verlegen, schafft der Wechsel auch jene Sprachen-Differenz, die nötig scheint, um die stagnierende translatio imperii von Gott in Kaiser wiederzubeleben. Doch schafft eine im Umzug inszenierte Distanzierung vom heidnischen Rom noch keine Νεα Ρωμη, so wenig wie lateinische Worte in griechischen Buchstabenzeichen und griechischer Flexion schon Übersetzungen wären. Auch die bloß räumliche Verlegung der Kanzlei macht daraus noch keine renovierte Agentur der Interlingualität. Wie bereits der neue Name Constantinopolis für Byzanz zeigt, steht das gesamte Unternehmen im Zeichen einer Politik der Metonymie, deren kalkulierter Einsatz Rom mitsamt der monologisch-monolingualen Verwaltungsstruktur lediglich nach Osten verschiebt. Folglich unterliegt auch die Verwaltungssprache weiterhin dem Prinzip der Einsprachigkeit – nun nicht mehr Lateinisch, sondern Griechisch. Die Verlegung Roms transferiert es substantiell und möglichst unverändert, zieht diese Stadt aus Rom ab und hinterlässt dort eine verwaiste, sich barbarisierende pars okzidentis, in der rund ein Jahrhundert später das Römische Reich vollkommen an Bedeutung verliert und unter germanischer Herrschaft nur noch für die dort lebenden römischen Bewohner gilt.

Im anderen Teil des Reiches hingegen wird Rom, die Kopie, schließlich im sechsten Jahrhundert novelliert. Der Kaiser Justinian wird dann das römische Recht, das sich parasitär zur lateinischen Sprache verhält, über eine künstliche Re-latinisierung des Ostens, einen nachgeholten linguistischen Transfer, erneuern. Justinian verordnet der oströmischen Kanzlei, die faktisch schon auf Griechisch umgestellt hat, Latein als zweite Amtssprache und macht damit erneut Interlingualität zum Übertragungsmodus des Rechts. Einer der Effekte dieser Novellierung des Reiches ist sogar geopolitisch greifbar als Rückgewinnung von Ländern der ehemaligen westlichen Hälfte, z.B. Nordafrika, Italien und Südspanien. Unter Justinian werden die Sprachen außerdem nicht mehr nur verwaltet, sondern erstmals auch kodifiziert. Man könnte die Epoche, die bereits von Konstantin eingeleitet wurde, durch die Wende von einem administrativen zu einem legislativen Machtdispositiv kennzeichnen, von den zu Konstitutionen stilisierten Befehlen zu den unmittelbar gesetzten leges generales.

Mit dem Kompilationsprojekt des gesamten Datenbestandes des alten Reiches will Justinian Byzanz römisch-rechtlich codieren, um es dann auf dieser Basis un-römisch, und das heißt byzantinisch zu novellieren. Er beauftragt damit denjenigen, der aufgrund seiner Stellung selbst symptomatisch geworden ist für die spätantike Wende vom Übersetzen zum Gesetz: den Rechtsgelehrten Tribonian. Als quaestor sacri palatii ist er für die gesetzgeberische Tätigkeit seines Kaisers zuständig und muss zwischen diesem und den scrinia vermitteln. Justinian sucht die Zukunft seines Imperiums in der Vergangenheit Roms, und das heißt nicht zuletzt in den römischen Kanzleien. Seine Politik der Überlieferung greift auf den Datenbestand der nunmehr stillgelegten, zum Archiv gewordenen Kanzleien zurück, um daraus ein festes und unvergängliches Recht zu formen. Folglich macht er seinen Justizminister zum Archivdirektor. Tribonian hat von da an nicht mehr bloß neue Gesetze zu stilisieren, sondern auch die alten zu publizieren. Mit Hilfe einer Kommission soll er die kaiserlichen Konstitutionen und Juristenmeinungen vergangener Jahrhunderte sammeln und eine Auswahl davon in lateinischer Sprache veröffentlichen.

Für eines der Rechtsbücher, für die Digesten, lautet der Auftrag, dass es so herauszugeben sei, als ob man es vom Moment seines ersten Aufschreibens an unverändert überliefert hätte, »… quasi ab initio scriptum« (Konstitution »Deo auctore« § 7). Unmittelbar darauf folgt in derselben Konstitution die Anweisung zu einer Übersetzung, mittels derer die Unveränderlichkeitsfiktion der Schrift erreicht werden soll. Überflüssiges sei zu kürzen, Wiederholungen zu vermeiden und Widersprüche zu glätten. Interpolationstechniken wie diese, Übersetzungen mithin, bereiten die in zeitlicher und urheberschaftlicher Hinsicht heterogenen Texte für die Ewigkeit vor. Die Umschrift der disparaten juristischen Lehrmeinungen zu einem Rechtsbuch quasi ab initio suggeriert eine anfängliche, ursprüngliche Fassung und damit die Möglichkeit von Abweichungen bei der Übertragung.

Übersetzungen werden dort notwendig, wo die lateinische Version – gewissermaßen als legislatives Analogon zur Kanzleipraxis der Bilingualität – auch in griechischer Sprache erscheinen soll. An dem zum Original gewordenen lateinischen Text gemessen, läuft jede nachfolgende Übersetzung dann Gefahr, eine verfälschende, entstellende oder zumindest missverständliche Wiedergabe zu sein. Und so wird das, was Bedingung des römischen Imperiums gewesen ist, in Byzanz zu einem riskanten Unternehmen. Zur Verminderung des Risikos werden die Translationen und Transkriptionen des imperialen Rom zu einem römischen Rechtsbuch gesetzlich geregelt.

Justinians Erneuerungsprojekt des Reiches wird über eine umfassende Gesetzgebung zur Übersetzung gesteuert. In den Digesten, oder Pandekten mit lateinischem Namen, wird die Tätigkeit des interpretari daher selbst Gegenstand von Gesetzen. In der einschlägigen, zweisprachigen Konstitution »Tanta/Δεδωεν« aus der Einleitung der Digesten (§ 21) ist vorgesehen, dass allein die Übersetzung zulässig sei, die nach der Ordnung und der Reihenfolge der lateinischen Wörter vorgehe: »[…] nisi tantum si velit eas in Graecam vocem transformare sub eodem ordine eaque consequentia, sub qua et voces Romanae positae sunt (hoc quod Graeci ατα ποδα dicunt) […].« Damit ist nicht nur der Primat der lateinischen Sprache besiegelt; die römische Praxis der Übersetzung hat mit dem Gebot der Wörtlichkeit auch die Form eines Postulats angenommen, eines Postulats der richtigen Übersetzung.

Wort für Wort, oder Fuß für Fuß, wie man ατα ποδα übersetzen könnte, ist die Schrittfolge, die Justinian den Gesetzes-Übersetzern dabei vorschreibt. Die Pflicht zur Worttreue verlangt ihnen dieselbe Haltung ab, die auch Benjamin den Übersetzern zur Aufgabe gemacht hat. Sie sollen nicht nach Syntagmen und sinngemäßen Äquivalenten suchen, sondern sich von der ordo eines Satzes, von der Satzfolge oder consequentia leiten lassen. »Das vermag vor allem die Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax und gerade sie erweist das Wort, nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers.«[49] Wo nun aber Benjamin der Abgründigkeit in der Tätigkeit des Übersetzens nachgeht, dekretiert das kaiserliche Gesetz schlicht ihr Gelingen. Eine autorisierte Übersetzung durch staatlich vereidigte interpretes ist von Rechts wegen immer die richtige.

Was Justinian mit dieser rechtlichen Verpflichtung aufs Wort meint, macht die lateinische Vorschrift dazu selbst deutlich, denn in ihr bleibt der entscheidende Begriff unübersetzt und wird stattdessen bloß umschrieben: »… das, was die Griechen ›κατα ποδα‹ nennen.« Die Übersetzungsregel stellt damit zugleich ihren ersten Anwendungsfall dar: die wörtlichste Übersetzung ist eine unterlassene. So wie die Konstitution zur richtigen Übersetzung griechische Worte unübersetzt lässt, so werden auch in den darauffolgenden doppelsprachigen Digestentexten bestimmte Begriffe – nun nicht der griechischen Sprache, sondern des römischen Rechts – zuweilen überhaupt nicht übersetzt, um ihnen auch in der Sache Äquivalenzlosigkeit im Griechischen zu bescheinigen. Gerade als unübersetzte Monumente des römischen Rechts übertragen sie die damit verbundenen Rechtsinstitute so wörtlich wie überhaupt nur möglich. Anders gesagt, was sprachlich unübersetzbar ist, kann sich um so störungsfreier als Recht durchsetzen.

Fachtermini wären demnach Begriffe, die sich nur durch sich selbst übersetzen lassen (sollen). Das macht Umschreibungen und indirekte Erklärungen nach Art von Übersetzeranmerkungen notwendig. Im Schatten des großen Rechtbuchs der Digesten werden sie in einem griechischen Glossar aufgeführt. Dorthin verbannt man alle Definitionsversuche des römischen Rechts und disponiert im Gegenzug die lateinischen Rechtsbegriffe resp. -institute bis heute auf ihr Dasein in anderen europäischen Rechtssprachen. Für Rechtshistoriker wie Yan Thomas folgt aus dem konstitutiven Mangel an exakten Definitionen im römischen Recht, dass dieses allein über eine linguistisch-genealogische Analyse zu rekonstruieren sei. Denn »[…] la plupart des termes importants du droit roman (par exemple: possessio, oportere, res, causa etc.) restent dans l’ombre, ou plus exactement à l’état de définitions implicites [… der Großteil der wichtigen Begriffe des römischen Rechts (wie z.B. possessio, oportere, res, causa etc.) verharren im Dunkel oder besser gesagt im Zustand der unausgesprochenen Definitionen].« Thomas trägt damit dem Umstand Rechnung, dass das römische Recht in der vorliegenden Form das Produkt bestimmter Übersetzungsvorschriften ist: »[…] les énonces juridiques obéissent à un ensemble de règles originales d’interprétation, c’est-à-dire à un code distinct [… die juristischen Aussagen folgen einer Anzahl von ursprünglichen Regeln der Interpretation, d.h. einem deutlichen Gesetz].«[50]

Wo nun aber ein Wort durch ein anderes ersetzt werden soll, dessen Extremfall also die Nicht-Übersetzung wäre, entsteht eine Ordnung, die schwerlich durch irgendeinen Sinn zusammengehalten wird. In der Ersetzung eines Signifikanten durch einen anderen wird das Signifikat umgangen, Bedeutungen ausgelassen und auf diese Weise eine Sprache aus unübersetzbaren Eigennamen, ein Recht aus bedeutungsresistenten und kontextunabhängig übertragbaren Instituten geschaffen. Das römische Recht bestünde dann von Byzanz her gesehen aus Ersetzungen, Metaphern mithin, welche allein in der Lage sind, die Justinianische Übersetzungsbedingung Wort für Wort zu erfüllen.

Weil Übersetzungen dennoch unmerklich in Interpretation, in unkontrollierte und unkontrollierbare Übertragungen übergehen, sind die Formen des Dolmetschens in der Justinianischen Gesetzgebung genau festgelegt. Die Übersetzung, die weder mehr noch weniger als das Original enthalten darf, verbietet daher in derselben Konstitution Tanta/Δεδωεν (§ 21) jede Form der Kommentierung. Jede nicht wörtliche, sondern bloß paraphrasierende Übersetzung wäre bereits ein Kommentar, der also doch Sinn in die Gesetze lege und damit das selbst-kontrollierende Prinzip der ersetzenden Übersetzung missachten würde. Neben der ατα ποδα-Übersetzung werden daher noch zwei weitere Modi der Übertragung der Digesten zugelassen: die ebenfalls unübersetzten παρατιλα (Sammlung von Parallelstellen) und indices (dem Wortlaut angepasste Inhaltsangaben). Andere Formen der Texterweiterung durch Erklärungen oder Kommentierungen sind ebenso verboten wie solche der Textverknappung durch Chiffren oder Siglen (vgl. Tanta/Δεδωεν § 22). Denn oft schon in der römischen Geschichte hatten sich Umschriften als Botschaften für Umstürze herausgestellt. Das Übersetzungsgesetz ist deshalb auch strafbewehrt. Wer die zulässigen Übersetzungsformen nicht einhält, wird wegen Fälschung (crimen falsi) gleich den Fälschern kaiserlicher Gesetze mit Deportation oder Vermögenskonfiszierung bestraft. Wer nicht nur die Bahnen der vorgeschriebenen Übersetzung verlässt, sondern diese auch noch benutzt, um sogenannte Irrlehren wie z.B. die jüdische Religion zu verbreiten, dem drohen Körper- oder sogar Todesstrafe.

Justinians Novelle 146 ist hier einschlägig. Von Pierre Legendre als Setzung des Signifikanten des Jüdischen in Abgrenzung von einem christlichen Rationalitätsprinzip interpretiert,[51] ist sie zunächst jedoch nichts anderes als ein weiteres Gesetz hin zur geregelten Übersetzung und gegen sinngemäße Übertragungen und unkontrollierte Auslegungen – in diesem Fall nicht der Gesetze, sondern der Sprachen des Religiösen und des Kultes. Die durch die Novelle ausdrücklich erlaubte Mehrsprachigkeit lässt neben dem Alten Testament in hebräischer Sprache auch die griechische sowie die lateinische Version zu. Die Septuaginta, die aus Gründen sakraler Glaubhaftigkeit eine gelungene Wort-für-Wort-Übersetzung ins Griechische beanspruchen muss, hat den Beweis dafür legendär, nämlich mit dem Sprachwunder der siebzig wortgleichen Übersetzungen erbracht, die bekanntlich unabhängig voneinander entstanden sein sollen. Die Novelle 146 implementiert das Wunder schließlich gesetzlich.

Die zum Gesetz gewordene Übersetzung schneidet ab von der imperativisch-imperialen Praxis des beständigen Erläuterns, Erneuerns und Ersetzens. Sobald die Umlauffähigkeit von Befehlen in einem Gesetzbuch stillgestellt wird, geht es nicht mehr um Fragen der Organisation von Transmissionen, sondern um die Sicherung des Transmittierten. Das macht aus Übersetzungsfragen Probleme der Auslegung. Und es scheint, als bestehe eine Korrespondenz zwischen der Vorstellung eines Gesetzeswerkes als geleistete Übersetzung und der Restriktion bei seiner Anwendung: je stärker der Sicherungszweck, desto wörtlicher die Auslegung. So verpflichtet beispielsweise das Preußische Allgemeine Landrecht die Richter auf eine Interpretation, die nicht mehr und nicht weniger als das Gesetz selbst sagt, damit durch die Interpretation kein neues Recht entstehe. Wo aber der Wortlaut der Gesetze nicht eindeutig zu ermitteln ist, soll die Kompetenz zur Interpretation an eine quasi-justinianische Gesetzeskommission zurückgegeben werden. Die Auslegung steht so unter dem Vorbehalt einer letztinstanzlichen, »authentischen« Interpretation.[52]

Ist das Recht in einem Gesetzeswerk wie dem Corpus Iuris Civilis stillgestellt, dann ist es – wie jeder Körper – dem Prozess der Sklerosierung ausgesetzt. Darum kündigt Justinian schon in den Digesten Innovation an. Die Novellen, die darauf folgen, sorgen Zug um Zug mit ihrer Immortalisierung für die Erneuerung des Rechts. Der gesammelte Altbestand des römischen Rechts wird spätestens dann zum Zeugnis der Vergangenheit, zur testimonia (Zitat, Übersetzung, Überlieferung) ohne unmittelbar rechtspraktische Relevanz. Die Basis der Novellierung ist ein Zitatenkanon, eine Anthologie von Rechtstexten aus einer Zeit, auf die sich Byzanz als eine abgeschlossene und unter dieser Voraussetzung erneuerbare Epoche beziehen kann. Das Projekt der Inventarisierung römischer Rechtstexte ist von Beginn an auf Renovation ausgerichtet. Roms kodifizierter, von Kontingenz bereinigter Datenbestand ist dann das Gegebene, auf das die Novellen sich erneuernd beziehen. Im Aggregatzustand der Kodifikation wird es zum Datum für Byzanz. Vorgeschrieben ist, dass die üblicherweise griechischen Novellen eine Datumsangabe in lateinischen Buchstaben nach römischer Kalenderzählung enthalten sollen. So bestimmen die Daten des alten Rom die Zeit der neuen Gesetze. Times New Roman ist – wie zur Erinnerung an diesen historischen Transfer vom Imperium zum Datum Rom – der Name einer heute gängigen Schrifttype.

Novellen enthalten weit weniger neue Regelungen, als ihr Name suggeriert. Sie wiederholen oft nur Tatbestände aus den historisch gewordenen Rechtstexten. Das Neue betrifft daher weniger die Regelungsmaterie als vielmehr ihre Rahmenbedingungen. Im Sinne ihrer Aktualität werden sie nicht in Gesetzbüchern, sondern in Akten gesammelt und sind als solche beliebig oft ersetzbar – »un accroissement indéfini«.[53] Im Gegensatz zu den Konstitutionen der Kaiserzeit stellen Novellen weder verwaltungsinterne knappe Befehle dar noch an bestimmte Adressen gerichtete Antwortschreiben (Reskripte), sondern sind weitschweifige Gesetzes-Prosa für das gesamte Reich. Adressiert sind sie oftmals »an alle Untertanen, so viele derer gen Osten sind, so viele die untergehende Sonne bescheint und so viele nach beiden Seiten wohnen«, geschrieben in der Sprache der Untertanen. Und das heißt nach dem Willen des lateinischsprachigen Gesetzgebers Justinian: »[…] nicht in unserer vaterländischen, sondern in der gebräuchlicheren griechischen Sprache […], damit [das Recht] allen bekannt und leicht verständlich werden« könne.[54]

Novellen sind also Gesetze für Untertanen. Folglich werden sie auch nicht von Juristen, sondern von Schriftstellern verfasst. Die Stilisten sind es, die das Juristenlatein in koine,