Das Strandhotel auf Borkum - Ocke Aukes - E-Book
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Das Strandhotel auf Borkum E-Book

Ocke Aukes

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Beschreibung

ZWISCHEN DEN FRONTEN: WIRD EIN JUNGES MÄDCHEN „BAUERNOPFER“ IM SPIEL UM GELD UND MACHT? Borkum 1888: Gerade einmal 15 Jahre alt ist Hermine Flessner, als man sie als Saisonkraft auf die Insel schickt. Sie soll ihre Familie in Leer finanziell unterstützen und wird vom Seniorchef im Hotel Bakker angestellt. Willem Bakker lernt Hermines Loyalität zu schätzen. Doch die Anwesenheit der jungen Frau ist einigen Familienmitgliedern ein Dorn im Auge. Ungewollt gerät sie zwischen die Fronten der Streitereien um Liebe, Geld und Macht. Dass Willem seine schützende Hand über Hermine hält, sorgt zusätzlich für Unmut. Auch sein Plan, ein Grundstück für ein neues Hotel direkt am Strand zu erwerben, gefällt den Nachfahren des alten Bakker nicht. Sie verfolgen eigene Interessen und fürchten, dass sich der Senior übernimmt. Aber Willem hat sich längst bei der Gemeinde um das Grundstück beworben, wie die meisten anderen Borkumer Hoteliers. Jeder möchte das Sahnestück für sich und arbeitet mit allen Mitteln. Keine List, kein Risiko scheint zu groß, um bei der Ausschreibung das Rennen zu machen. Doch dann setzt Bakker Hermine ein, um seine Mitbewerber auszuspionieren und ihnen etwas vorzugaukeln. Damit gerät sie in das Visier weiterer Feinde.

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Die Geschehnisse in diesem Roman bleiben reine Fiktion. Sämtliche Handlungen sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2024 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Carsten RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von123rf.comEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8454-2

Ocke AukesDas Strandhotelauf BorkumAufbruch in eine neue Zeit

Personen

Die historischen Personen sind mit einem * gekennzeichnet.

Eine Aufstellung der wichtigsten Personen:

Willem Dirks Bakker*, Hotelier

Klaas Willems Bakker*, sein ältester Sohn

Dirk Willems Bakker*, sein zweitältester Sohn

Adeline Bakker*, Dirks Ehefrau

Jann Willems Bakker*, dritter Sohn

Eildert Willems Bakker*, vierter Sohn

Jakob Willems Bakker*, fünfter Sohn

Hieltje Bakker*, Jakobs Ehefrau

Geeske Willems Bakker*, jüngstes Kind von Willem Dirks und einzige Tochter

Wilhelm Bakker*, Geeskes Ehemann; trägt ebenfalls den Geburtsnamen Bakker, ist jedoch nicht blutsverwandt

Hermine Flessner, Zimmermädchen

Luise Menninga, Hausdame

Georg Köhler*, Hotelier und Bürgermeister

Georg Köhler Junior*, sein Sohn

Johann Fischer*, erster Sparkassenchef auf Borkum

Prolog

Borkum, 7. Juli 1887

Liebe Hermine!

Nun geht der Sommer bald zu Ende und ich komme endlich dazu, dir zu schreiben. Deine Mutter hat meiner erzählt, dass es euch immer schlechter geht, auch wenn deine Mutter das nicht wahrhaben will. Du weißt, es gibt eine Lösung. Wir haben oft genug darüber gesprochen und ich sage es dir noch einmal. Du verdienst nirgends mehr Geld als auf den Inseln. Die Arbeit als Borkum-Mädchen ist die gleiche, die du zu Hause auch tun musst, nur hier bekommst du Geld dafür. Einen guten Lohn, das verspreche ich dir. Gerne rede ich mit Herrn Köhler und sage ihm, daß du ein fleißiges Mädchen bist. Er wird ganz bestimmt eine Arbeitsstelle für dich haben. Überlege es dir, du hast ja noch etwas Zeit. Vor dem kommenden April wird sowieso niemand eingestellt. Und es sind ja nur fünf Monate, die wirst du sicherlich überstehen.

Liebe Grüße

Deine Cousine Bertha.

PS: Verrate deiner Mutter nicht, was ich dir geschrieben habe. Sie möchte sicher nicht, dass alle Welt erfährt, wie schlecht es euch geht.

Hermine ließ den Brief sinken. Sie hatte ihn oft gelesen. Er hatte ihr so manche schlaflose Nacht bereitet.

„Rück mal ein Stück“, sagte ihre jüngere Schwester Hedwig. Beide teilten sich ein Bett. Im gegenüberliegenden schliefen Mutter und die neunjährige Hildegard. Vater und ihre drei Brüder teilten sich das Zimmer auf der anderen Seite des Flures. Eigentlich sollten sie schon vor drei Jahren in ein größeres Haus umziehen, doch dann wurde Vater krank. Er konnte nur noch stundenweise im Kontor aushelfen, und wenn er nicht schon so lange dort beschäftigt wäre, hätte sein Arbeitgeber ihn sicherlich längst entlassen. Seither drehten sie jeden Pfennig dreimal um, ehe er ausgegeben werden konnte.

„Glaubst du, ich bekomme zum Geburtstag ein Geschenk?“

Die Frage brach Hermine das Herz. „Ganz bestimmt“, log sie.

Hermine legte den Brief zurück in die Nachttischschublade und blies das Lampenlicht aus. Im kommenden Jahr sollte Hedwig auf jeden Fall eines bekommen. Ihr Entschluss stand fest. Sie würde Berthas Angebot annehmen.

Kapitel 1

Borkum, April 1888

„Sie sind ganz blass im Gesicht, junges Fräulein. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir.“

Genau das hätte sie gerne vermieden. Lieber wäre ihr eine Sitzgelegenheit an einem Tisch mit Frauen oder einer Familie, statt einem allein reisenden Herrn gegenüber Platz zu nehmen. Doch auf dem Schiff war jede Sitzbank dicht besetzt. Der honorige Herr wirkte freundlich, dennoch klangen Hermine Großmutters Worte in den Ohren: „Meide die feinen Pinkel, die sind nichts für unsereiner.“

Das mussten die anderen Mitreisenden auch gedacht haben, warum sonst saß er allein am Tisch? Seine Kleidung war edel. Er wirkte, als käme er von einem Empfang zu Ehren des niederländischen Königs Wilhelm III. von Oranien-Nassau. In der Zeitung stand, der habe gestern stattgefunden. Hermine blickte zum Bullauge hinaus. Die Küstenlinie des holländischen Festlands war nur noch als schmaler Streifen zu erkennen.

„Sind Sie seekrank?“ Der alte Herr klang mitfühlend, dennoch meinte sie den Schalk in seinen Augen zu entdecken. Hermine schüttelte den Kopf.

„Dann ist Ihnen oben an Deck kalt geworden. Der April kann an der Nordsee lausig sein.“

Hermine nickte. Doch das war nicht der einzige Grund ihrer Flucht ins untere warme Deck. Über die Reling gebeugt hingen gleich zwei Reisende, obwohl nur kleine Wellen die See bewegten. Die Gerüche des Erbrochenen und die würgenden Geräusche hatten Hermine den Magen umgekrempelt.

„Ich bestelle Ihnen ein schönes heißes Schokoladengetränk.“ Der alte Herr hob seinen Spazierstock, um die Bedienung auf sich aufmerksam zu machen. Der silberne Griff in Form eines Seehundes blitzte im Sonnenlicht, das durch die salzverkrusteten Scheiben der Bullaugen fiel.

„Nein. Bitte nicht.“

„Sie mögen keine Schokolade? Das ist ungewöhnlich für ein junges Mädchen.“ Sein Lachen klang freundlich.

Ich liebe Schokolade, dachte Hermine. Nur reichte ihr Geld für diese Köstlichkeit kaum aus. Vom Vater hatte sie drei Mark Reisegeld zugesteckt bekommen. „Für Notfälle“, hatte er gesagt.

„Oh, entschuldigen Sie bitte! Meine Manieren lassen zu wünschen übrig. Ich habe mich gar nicht vorgestellt.“ Er lüftete leicht den Hintern von der Sitzbank, als wolle er aufstehen, und deutete eine Verbeugung an. Hermine war unangenehm berührt, dass ein so feiner und offensichtlich reicher Herr sie so höflich behandelte. Im Nacken spürte sie die Blicke der Mitreisenden.

„Mein Name ist Willem Dirks Bakker. Schiffer und Hotelier.“ Viele kleine Lachfältchen umgaben seine Augen. Er schien ein netter Herr zu sein.

Ihr Unwohlsein schwand. „Hermine Flessner.“

„Nett, Sie kennenzulernen, Fräulein Flessner. Ich frage mich, woher Sie kommen?“

„Aus Leer.“

„Eine schöne Stadt. Mit vielen Reedereien. Ich kenne sie gut. Beide, die Stadt und die Reedereien. Reisen Sie das erste Mal nach Borkum?“

Hermine nickte. „Ich war niemals dort.“

„Ich schon mein ganzes Leben lang. Nur gelegentlich verlasse ich die Insel. Früher öfter. Greetsiel, Emden, Borkum.“ Sein Zeigefinger wies nach links und nach rechts. „Als Schiffer kommt man herum. Gerade komme ich von einer Badekur zurück. Aber alte Leute sollten in Gegenwart von jungen Menschen nicht über Krankheiten sprechen, das ist langweilig.“ Sein Lächeln hatte etwas Freches. „Und das interessiert Sie sicherlich nicht.“

Er schaute zum Fenster hinaus. Die Insel kam nach fünfstündiger Seereise endlich an Steuerbordseite in Sicht. „Ah, sehen Sie!“ Willem Dirks Bakker deutete darauf. „Das ist Borkum. Der Kapitän der Augusta hat vermutlich ein paar Schüppen Kohle zusätzlich aufgelegt, um schnell heimzukommen.“

„Augusta?“

„Der Name des Raddampfers, auf dem wir fahren.“

Er muss mich für eine dumme Gans halten, wenn ich das nicht mitbekommen habe, dachte Hermine. Eine Weile sahen beide schweigend aufs Meer hinaus.

„Darf ich raten?“, nahm Bakker das Gespräch wieder auf. „Sie haben eine Anstellung auf der Insel bekommen.“

Hermine nickte, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich hoffe auf eine Arbeitsstelle. Meine Cousine, sie ist Zimmermädchen in Köhlers Dorfhotel, hat mir geschrieben, dass dort immer Personal gesucht wird.“

„Sie reisen auf gut Glück zur Insel? Sie sind eine mutige junge Dame, das muss ich schon sagen.“ Willem Dirks Bakker klang, als habe sie sich auf ein Räuberabenteuer eingelassen.

Hermine bekam rote Wangen und fühlte sich plötzlich elend. Sie schaute zum Bullauge hinaus, dann senkte sie den Blick und betrachtete ihre Hände. In Gedanken überflog sie ihre Barschaft. Drei Mark Reisegeld von Papa, zwei Mark und fünfundachtzig Pfennige hatte sie gespart und jeweils eine Mark von Oma und Opa. Wenn sie die Anstellung nicht bekommen sollte, würde es hoffentlich ausreichen, um irgendwo preiswert zu übernachten und die Rückreise bezahlen zu können. Sie hob den Kopf, weil sie sich von ihm beobachtet glaubte, und fasste den Mut zu fragen: „Wie meinen Sie das?“

Wie hatte sie nur so dumm sein und sich auf die Briefe von Cousine Bertha verlassen können? Es wird keine Arbeit geben. Sie hatte die beschwerliche und teure Reise umsonst angetreten. Dabei hatte Bertha bei ihrem letzten Besuch in Leer behauptet, auf allen Inseln suchten sie händeringend Personal. Zugegeben, das war Monate her. Im vergangenen Jahr mochte das so gewesen sein, doch schien es sich in der Zwischenzeit geändert zu haben.

Hermine wurde angst und bange. Ein zusätzlicher Gedanke kam ihr. Was, wenn kein Zimmer zu mieten war und sie die kommende Nacht unter freiem Himmel verbringen musste? Doch dann beruhigte sie sich. In Cousine Berthas Kammer in Köhlers Dorfhotel konnte sie sicherlich Quartier nehmen. Auch wenn das bedeutete, dass sie gemeinsam in einem Bett schlafen mussten.

„Es erfordert Courage“, sagte Bakker in die Stille hinein.

Tränen traten Hermine in die Augen. Sie zwinkerte sie fort.

„Ich vermute, der Herr Köhler weiß gar nicht, dass Sie anreisen, um bei ihm zu arbeiten?“

Hermine nickte, unfähig einen Ton herauszubekommen.

Bakker griff in seine Westentasche und reichte ihr ein gebügeltes Herrentaschentuch. Hermine lehnte ab und Willem Dirks Bakker steckte es wieder ein.

„Wissen Sie was?“ Er klang, als sei ihm eben etwas eingefallen. „Das scheint mir eine Fügung Gottes zu sein, dass wir beide uns begegnet sind. Sie kommen mit zu mir.“

Was fällt dem alten Kerl ein?

„Ich rede von meinem Gästehaus. Wie es der Zufall will, hat Frau Luise, das ist der gute Hausgeist in meinem Hotel, sich den Arm gebrochen. Sie ist beim Gardinenaufhängen von der Leiter gestürzt. Eine zusätzliche Hilfe im Hotel könnte sie gebrauchen. Oh, ich sehe schon, Sie haben Angst, dass ihre Arbeit beendet ist, sobald Frau Luise wieder gesund ist. Aber dem ist nicht so. Sie müssen wissen, dass ich expandiere. Im Vertrauen gesagt“, er beugte sich ein wenig vor und schaute zum Nachbartisch herüber, ob jemand lauschte, „ich besitze zwei Logierhäuser auf der Insel. Da benötige ich immer helfende Hände. Und Sie, junges Fräulein, sehen aus, als könnten Sie anpacken.“

Hermine nickte. Ja, das war so. Alles, was Cousine Bertha über die Arbeit im Hotel erzählt hatte, konnte sie. Hausarbeit eben.

Willem Dirks Bakker schaute sie an. Er erwartete eine Antwort. Hermine schwitzte und lockerte ihr Halstuch. Wenn sie das Angebot annahm, hatte sie die erhoffte Anstellung. Aber konnte sie einem Fremden vertrauen? Einem, der so mir nichts, dir nichts auf der Heimreise jemanden einstellte? Sein erwartungsvolles Lächeln erinnerte sie an ihren Großvater. So schaute Opa, wenn Hermine seine Pfeife suchen sollte, die Großmutter gern versteckte, damit er weniger rauchte. Und wenn Hermine die Augen leicht zusammenkniff und sich Bakkers Bart ein bisschen voller und weißer vorstellte, hätten die beiden sogar Brüder sein können.

„Das Gehalt wäre das übliche. Zusätzlich freie Verpflegung und Unterkunft im Haus. Probezeit bis …“, er schaute zur Backbordseite aufs Meer hinaus, als müsse er kurz überlegen, „sagen wir bis Pfingsten.“

Das hörte sich verlockend an.

„Sie werden sich eine Dachkammer mit ein oder zwei Mitarbeiterinnen teilen. Was meinen Sie?“

Hermine sollte ablehnen. Behaupten, dass Cousine Bertha sie erwartete. Zudem würde Bertha enttäuscht sein, wenn sie in einem anderen Haus eine Arbeit annahm. Andererseits hatte sie von Bertha seit Wochen keine Nachricht bekommen. Sollte es in Köhlers Dorfhotel nicht klappen, wäre Hermines Chance auf sofortige Anstellung vertan. Sie musste Herrn Bakker die Wahrheit sagen. Dass sie Zeit zum Überlegen brauchte und vorher mit Bertha sprechen möchte. Doch ihre Stimme sagte was anderes, als ihr Hirn ihr riet. „Einverstanden. Das hört sich gut an.“

„Dann sind wir uns einig.“ Bakker wirkte zufrieden. Über den Tisch hinweg reichten sie sich die Hände. „Schauen Sie, wir sind fast da. Ich sehe schon die Kutschen.“

Hermine rückte auf der Sitzbank näher ans Bullauge heran und traute ihren Augen kaum. Was für ein schöner Anblick! Einige Hundert Meter entfernt lag ein weißer Sandstrand. Dahinter konnte man zwischen den Dünen eine imposante Villa und ein paar kleinere Häuser erkennen.

„Wo ist denn die Anlegestelle?“ In Hermines Heimatstadt Leer gab es einen Hafen mit gemauerten Kaianlagen und eisernen Pollern, an denen die Schiffe festmachten. Auch Emden besaß betonierte Anlegeplätze. Es war keine sechs Stunden her, als dieses Schiff dort abgelegt hatte.

„Die ist noch nicht fertiggestellt. Genießen Sie das Ausschiffen, denn das wird es bald nicht mehr geben. Spätestens im kommenden Jahr werden alle Schiffe im Borkumer Hafen anlegen. Aber keine Bange, Fräulein Flessner, wir kommen trockenen Fußes an Land. Sehen Sie die Kutschwagen?“

Hermine sah sie. Gleich drei vierrädrige hohe Kutschen, gezogen von jeweils zwei Pferden, die bis zum Bauch im Wasser standen, näherten sich dem Raddampfer. Schweres Rasseln zeigte an, dass der Kapitän der Augusta den Befehl zum Ankerauswerfen gegeben hatte.

Die Reisenden machten sich zum Ausstieg bereit.

„Ist das Ihr Gepäck?“ Bakker deutete auf Hermines Tasche. Sie nickte. In diesem Moment kam ein Mann an ihrem Tisch vorbei. Bakker hob seinen Gehstock, um ihn aufzuhalten.

„Tischlermeister Buse, wie gut, Sie anzutreffen! Wären Sie so freundlich und würden Sie mein Köfferchen und die Reisetasche dieser jungen Dame mit an Land nehmen?“

Ehe Hermine sich versah, entschwand ihre Tasche und Bakker hakte sich bei ihr unter. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Am Ausgang standen die Reisenden und warteten darauf, dass ihnen die Matrosen beim Ausstieg aus dem Schiff und Übertritt in die Kutschen eine helfende Hand reichten.

„Ah, Köhler, mein Freund“, sprach Willem Dirks Bakker einen etwa sechzigjährigen Herrn an, der durch seinen runden Kopf auffiel. Die Melone, die sein spärliches Haar bedeckte, stand ihm gar nicht. Bakkers Worte „mein Freund“ klangen alles andere als freundlich. Köhler lehnte mit dem Rücken an der Reling und schien auf jemanden zu warten.

„Wie geht es Ihnen, Köhler? Was machen die Geschäfte?“

„Alles bestens, Bakker. Wie war die Kur und wie geht es Ihrer Frau? Sie sehen gut gelaunt aus. Haben Sie wieder jemanden übers Ohr gehauen?“

„So ist es, Köhler. So ist es!“

Das musste Berthas Arbeitgeber sein, dachte Hermine. Ein kleiner untersetzter Mann, und ein unverschämter noch dazu – in aller Öffentlichkeit anzudeuten, Bakker hätte jemanden übers Ohr gehauen! Doch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, reichte Tischlermeister Buse einem Matrosen Hermines Reisetasche sowie Bakkers Gepäckstück, der sie unter der Sitzbank der Kutsche verstaute. Und schon griff der Seemann nach Hermines Hand, um ihr vom Schiff hinüberzuhelfen. Zum Glück schwankte die Augusta nur wenig. Hermine hätte es allein geschafft. Wie ihr Begleiter Willem Dirks Bakker, der seine Seemannsbeine trotz Gehstock nicht verloren hatte.

Als der Wagen voll war, kletterte der Kutscher auf seinen Platz und lenkte die Pferde durchs Meerwasser an den Strand. Seine Fracht, die aus jeweils zehn Personen mit Gepäck bestand, brachte er trockenen Fußes an Land. Keine hundert Meter weiter, am Rand der Dünen, rief der Kutscher: „Endstation.“

Die Tiere blieben stehen und der Fuhrmann half seiner Kundschaft die vier Stufen der eisernen Kutschentreppe hinunter. Sobald sein Gefährt leer war, fuhr er zurück zur Augusta, um weitere Passagiere an Land zu bringen. Hermine schaute einen Augenblick hinterher, und als sie sich zur Insel umwandte, sah sie Meister Buse mit langen Schritten Richtung Dorf eilen. Er hatte Bakkers Gepäck dabei.

„Reichen Sie mir Ihren Arm?“ Bakker griff nach Hermines Reisetasche und ließ sich von ihr unterhaken. Es war ihr unangenehm, dass der Hotelier ihre Tasche trug. Sie folgten einem schmalen Weg durch die Dünen hoch zu einer unbefestigten Straße. Rechts und links gab es jedoch gepflasterte Gehsteige.

Bakker war offensichtlich ein geachteter Insulaner. Fast jeder, der ihnen begegnete, grüßte höflich. Ein Mann zog zum Gruß seine Kappe vom Kopf und drei junge Frauen in schlichten Kleidern deuteten einen Knicks an. Sie kamen an kleinen Inselhäuschen, zwei Baustellen, einer Bäckerei, einem Schlachter und anderen Läden vorbei. In der Ferne sah Hermine einen viereckigen Leuchtturm, auf den Bakker zusteuerte. Vor einem großen Gebäude hielt er an. Hotel Bakker Senior stand über dem Eingang zu lesen. Das Hotel schien aus zwei Haupthäusern mit einem Verbindungsbau dazwischen zu bestehen. Die Veranda, die vom rechten Gebäude über den Zwischenbau bis zum linken Haus reichte, zählte viele Fenster.

In der ersten Etage gab es jeweils drei große Fenster, sicherlich die Gästezimmer. Die zweite Etage lag unter dem Dach. Vermutlich waren dort die Kammern des Personals, dachte Hermine. Kurz keimte die Hoffnung in ihr auf, dass sie unter den kleineren Rundbogenfenstern Quartier finden würde. Dann hätte sie eine Aussicht, die sie an zu Hause erinnerte. Die dem Hotel Bakker Senior gegenüberliegende Straßenseite war mit kleinen Häusern bebaut. Vor dem linken Teil des Hotels standen ein paar Bäume, deren Äste zur Straßenseite hin fast vollständig abrasiert waren. Die Blätter zeigten ein zartes Grün. Die Natur schien im Vergleich zum Festland vier Wochen hinterherzuhinken.

„Kommen Sie?“

Hermine folgte Herrn Bakker um das Haus herum zum Hintereingang.

Über einen gepflasterten Seitengang gelangten sie in einen großen Hinterhof. Aus der Backstube der angrenzenden Bäckerei duftete es verführerisch. Durch eine hölzerne, grün gestrichene Tür betraten sie das Haus. Der Fußboden war mit schwarz-weißen Fliesen ausgelegt. Aus einer offen stehenden Tür kamen ihnen Dampfschwaden entgegen. Es roch nach Kochwäsche. Bakker führte sie an der Waschküche vorbei in einen großen Raum: die Hotelküche. Die hintere Front wurde von drei Öfen eingenommen. Daneben und an den Seitenwänden gab es Arbeitsflächen, ein großes Waschbecken und eine Pumpe. Unter der Decke am Wiemstock hingen jeder Menge Küchenutensilien. Eine hochgewachsene dürre Frau stand am Herd. Sie rührte emsig in einem Topf. Es roch nach Eintopf. Das Wasser lief Hermine im Mund zusammen. Mutters Reiseproviant hatte sie bereits in Emden, kurz bevor das Schiff abgelegt hatte, aufgegessen.

Die dürre Frau schien sie gehört zu haben und wandte sich mit erhobenem Kochlöffel in der Hand um.

„Ach, Sie sind es. Willkommen daheim“, grüßte sie Willem Dirks Bakker. „Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.“

„Danke, Gertrud.“

„Und wie geht es der Frau Gemahlin?“

„Sie wird noch einige Wochen in der Kur bleiben.“

„Oh, das habe ich befürchtet. Erst heute Morgen …“

Bakker hatte keine Lust, sich anzuhören, was die abergläubische Gertrud heute Morgen erlebt hatte und weshalb seine Frau die Kurverlängerung angeblich hatte verlängern müssen. „Was gibt es Leckeres zum Essen?“, unterbrach er sie.

„Ihr Lieblingsessen, Herr Bakker. Updrögte Bohnen.“

Auf einem Band aufgefädelte luftgetrocknete Bohnen. Zusammen mit Kartoffeln und Speck gekocht, war es auch Hermines Leibgericht. Ihr Magen knurrte. Sie legte vor Schreck eine Hand darauf.

„In einer halben Stunde, Herr Bakker, kann ich es servieren lassen.“

„Ah, da kommt ja meine Schwiegertochter.“ Willem Dirks Bakker ließ Hermines Tasche fallen und begrüßte eine junge Frau, etwa Mitte dreißig, mit schwarzem Haar, Mittelscheitel, strengem Haarknoten und rundem Bauch. „Adeline, wie schön dich gesund und munter zu sehen! Wie geht es dir und dem Kind?“

Adeline fuhr sich über den Bauch. „Es strampelt.“

„Wunderbar! Das ist Fräulein Hermine Flessner.“ Mit einem Nicken deutete er auf Hermine, hängte sich den Knauf des Stockes an den Arm und zog eine goldene Taschenuhr aus seiner Westentasche. Er warf einen Blick darauf und schien erschrocken, wie spät es war. „Ich muss los“, verkündete er.

Seine Schwiegertochter Adeline schaute ihm kopfschüttelnd hinterher. Erst als er verschwunden war, wandte sie sich an Hermine.

„Und was machen Sie hier?“

„Herr Bakker hat mich eingestellt.“

„Soso. Der Herr Schwiegervater hat Ihnen Arbeit versprochen. Darf ich fragen, als was?“

Ja, als was genau? Spontan sagte sie: „Zimmermädchen.“

„Von denen habe ich genug.“ Adeline Bakker fuhr erschrocken herum, als ein hysterisches Kreischen über ihnen zu hören war. Kinder, die sich heftig stritten. Adeline raffte ihren Rock und eilte die Treppe empor.

Das war es dann wohl mit der Anstellung. Hermine hätte statt „Zimmermädchen“ einfach „Mitarbeiterin“ oder „Mädchen für alles“ sagen sollen. Doch nun war es zu spät. Sie verließ das Hotel auf dem gleichen Weg, den sie gekommen war. Auf der Straße erkundigte sie sich nach dem Weg zu Köhlers Dorfhotel.

„Hier um die Ecke und dann immer geradeaus.“

Hermine bog an der nächsten Straßenecke rechts ab, an deren Bürgersteig ein hüfthoher eiserner Pfahl stand. Dem Flachbau, Fischers Basar, mit seinen Schaufenstern schenkte sie keine Beachtung. Hundert Meter Vogelfluglinie vom Hotel Bakker Senior entfernt stand das Hotel Bakker Junior. Das musste das zweite Logierhaus sein, von dem der alte Herr gesprochen hatte. Dieses Haus war zweistöckig, mit spitzem Dach. Die Giebelwand lag quer zur Straße. In der Tiefe hatte das Haus ein Dutzend Fenster auf jeder Etage. Hermine vermutete, dass es ein wenig kleiner war als das Bakker Senior.

Die dem Hotel gegenüberliegende Straßenseite war unbebaut. Auf einer großen Fläche erstreckte sich ein Nutzgarten. Hermine erkannte Kartoffeln, die eben ihre ersten Blätter aus dem Boden streckten.

Etwa zweihundert Meter vom Hotel Bakker Junior entfernt, am Fuße des viereckigen Leuchtturmes, stand Köhlers Dorfhotel.

Hermine brauchte für die Strecke keine Minute. Das Dorfhotel war von einem eisernen Zaun umgeben. Am offen stehenden Tor stand ein Page, gut an der Uniform zu erkennen.

„Entschuldigen Sie bitte“, sprach sie ihn an. „Ich möchte zu Bertha Flessner.“

Der Page musterte sie. Er erkannte an ihrer Kleidung, dass sie kein Gast sein konnte. „Bertha? Die ist nicht da.“

„Wann kommt sie wieder?“

„Keine Ahnung. Vielleicht gar nicht.“

„Heißt das, sie ist nicht mehr auf der Insel?“

„Davon können Sie ausgehen.“

„Und woher wissen Sie das?“

„Wenn sie noch hier wäre, hätte ich sie irgendwann getroffen. Hab ich aber nicht.“

„Seit wann ist sie fort?“

„Ein paar Wochen werden es schon sein.“

„Danke.“ Hermine machte auf dem Absatz kehrt. Zurück ins Bakker Senior?, fragte sie sich. Ihr blieb keine Wahl, denn in der Aufregung hatte sie ihre Reisetasche zurückgelassen.

Als sie ein zweites Mal durch den Hintereingang das Haus betrat, schien die Situation unverändert. Von oben war Kindergeheul zu hören, in der Küche klapperte Köchin Gertrud mit Töpfen. Und plötzlich stand Willem Dirks Bakker hinter ihr.

„Fräulein Flessner, was stehen Sie hier noch herum?“

„Ich …“

„Ah, Frau Menninga“, grüßte Bakker eine kleine dralle Frau etwa Mitte dreißig, die ihnen den langen Flur aus Richtung des Haupteinganges entgegenkam. „Das ist Hermine Flessner, eine neue Mitarbeiterin. Fräulein Hermine, das ist die gute Seele in unserem Hause, Hausdame Luise Menninga. Frau Luise, wie wir alle sagen. Würden Sie der jungen Dame bitte ihr Zimmer zeigen.“

„Sehr wohl, Herr Bakker. Darf ich fragen, wie es Ihnen geht?“

„Gut, Frau Luise.“

„Und der Frau Gemahlin?“

„Sie wird noch einige Wochen in der Kur bleiben.“

„Ich hoffe, das wird ihre Lunge auskurieren.“

„Das hoffen wir alle, Frau Luise.“

„Welchen Posten soll die junge Dame hier bekleiden?“

„Als Zimmermädchen.“

„Oh. Davon haben wir genug.“ Luise schien sein Stirnrunzeln zu bemerken und fügte hinzu: „Aber es gibt immer Arbeit im Haus. Wir werden schon etwas finden.“ Sie warf einen schnellen Blick auf Hermine. „Dann wollen wir mal.“

Hermine suchte ihre Tasche. Sie war fort. Sie schaute sich danach um, doch sie war nirgends zu sehen. Frau Luise Menninga war schon einige Schritte auf der Treppe vorausgegangen. Auf der vierten Stufe blieb sie stehen. „Kommen Sie, Fräulein Flessner?“

Hermine folgte ihr.

„Wenn es keinen wichtigen Grund gibt, benutzt das Personal die Hintertreppe“, informierte sie Frau Luise. „Die Dienstboten sollen von unseren Gästen kaum zu sehen sein.“ Luise Menninga, die ihren Arm in einer Stoffschlinge vor dem Bauch trug, eilte in die zweite Etage. Von hier aus führte eine wesentlich schmalere Treppe hinauf ins Dachgeschoss.

Bis hierher hatten Malereien die Wände bedeckt. Bunte Vögel und exotische Pflanzen. Der Flur zu den Dienstkammern hinauf war weiß getüncht, ohne jegliche Verzierungen. Es war dunkel. Durch eine offen stehende Kammertür fiel ein wenig Tageslicht herein.

„Hier hinein.“ Frau Luise öffnete eine Tür. Hermine musste in dem Zimmerchen den Kopf beugen, um nicht gegen die schrägen Seitenwände zu stoßen. Unter den Dachneigungen standen die Betten, und wenn man an einen der Nachtschränke kommen wollte, musste man den Rücken krümmen. „Dort schläft Mathilde Remmers, das da ist mein Bett. Aber nur so lange, bis die Kammer“, Luises gesunder Arm deutete über ihre Schulter, „bezugsfertig ist. Ich hoffe, Tischlermeister Buse wird heute die restlichen Holzarbeiten fertigstellen.“

„Wie lange arbeiten Sie schon für die Familie Bakker, Frau Menninga?“

„Einige Jahre. Aber sag Frau Luise zu mir, das machen alle. Wenn man mich mit Frau Menninga anspricht, fühle ich mich so …“

Wie Frau Luise sich dabei fühlte, sollte Hermine nicht erfahren, denn in diesem Moment kam ein dürres Mädchen mit langen Beinen und fettigem Haar herein.

„Ah, Fräulein Remmers. Das ist unsere Neue. Sie heißt Hermine.“

Mathildes Begrüßung fiel mürrisch aus. Sie warf sich auf ihr Bett, griff nach der Decke, um sich zuzudecken, und drehte sich zur Wand.

„Sie hat vermutlich wieder die halbe Nacht in Köhlers Giftbude verbracht.“ Luises Stimme klang missbilligend mit einem Unterton, als würde sie sich so etwas nicht mehr lange gefallen lassen.

„Köhlers Giftbude?“ Das hörte sich schrecklich gefährlich an. Hermine brachte den Namen sofort mit dem untersetzten kleinen Mann, der bei ihrer Ankunft mit Willem Dirks Bakker einen kurzen Schlagabtausch gehabt hatte, zusammen.

Vermutlich hatte sie großes Glück gehabt, Bakker auf dem Schiff getroffen zu haben. Mit einem Mann, der eine Giftbude, was immer das sein mochte, betrieb, wollte sie nichts zu tun haben. Cousine Bertha hatte kein Wort davon erwähnt. Wo mochte sie wohl sein?

„Hört sich schlimmer an, als es ist“, knurrte Mathilde unter ihrer Bettdecke.

„Wie man’s nimmt“, sagte Frau Luise. „Ich finde, es ist kein geeigneter Umgang für ein junges Mädchen.“

„Gerade für junge Mädchen“, raunte Mathilde, drehte sich wieder um und blickte hinauf zur Decke.

„Ich dachte, wir brauchen keine neuen Mitarbeiter mehr.“ Mathilde nickte zu Hermine hinüber.

„Eine Entscheidung des Seniors“, sagte Frau Luise und Hermine berichtete ausführlich, wie sie an die Anstellung gelangt war.

„Und da wundern Sie sich, dass der alte Herr Ihnen die ganze Zeit die Tasche getragen hat?“, fragte Frau Luise. Ganz so dumm, wie die Hausdame glaubte, war Hermine nicht. Mittlerweile war ihr klar, dass Bakker Köhler eine Angestellte abgejagt hatte. Und damit sie ihm nicht davonlief, hatte er ihre Tasche quasi als Pfand getragen.

„Schlitzohr!“ Luise strich über ihren in der Schlinge liegenden Arm und lächelte verschmitzt. Hermine hätte ihr Reisegeld darauf verwettet, dass die Hausdame mit dem Ausgang dieser Geschichte zufrieden war. Ja, ein unterschwelliger Hauch von Stolz klang in dem einen Wort mit. Darauf, dass der Chef es fertiggebracht hatte, seinem Mitbewerber eins auszuwischen.

„Einen zusätzlichen Punkt für uns“, sagte Mathilde.

„Die Zankerei und das gegenseitige Übers-Ohr-Hauen geht schon seit einiger Zeit“, vertraute Frau Luise Hermine an. „Dabei waren die Herren noch vor Monaten die dicksten Freunde.“

Mathilde war derweil eingeschlafen und schnarchte leise. Sie grunzte kurz auf und schmatzte ein wenig, sodass sich Hermine wieder an den Grund der Müdigkeit ihrer neuen Kollegin erinnerte. „Und was ist mit der Giftbude?“

„Die werden Sie schon kennenlernen.“ Und etwas leiser, als wolle sie nicht, dass Mathilde sie höre, fügte sie hinzu: „Es ist ein beliebter Treffpunkt der Saisonarbeiter. Vom Knecht bis zum Zimmermädchen. Mathilde übertreibt es gerne. Sie ist eine, die …“ Luise tat, als ob sie trinken würde. „Ich frage mich, wie lange die Bakkers sich das noch gefallen lassen.“

Frau Luise deutete Hermines Gesichtsausdruck richtig.

„Keine Angst, die hört uns nicht. Sie schläft jetzt wie ein besoffener Seemann und sägt dabei ganze Schiffsmasten ab, wenn sie erst einmal in Fahrt kommt.“ Wie aufs Stichwort wurde Mathildes Schnarchen lauter.

„Lassen Sie Ihre Tasche hier“, sagte Frau Luise.

„Die ist fort.“

„Man hat sie gestohlen?“ Frau Luise klang, als sei so etwas in diesem Hause unmöglich.

„Ich weiß es nicht. Zuletzt stand sie im Flur in der Nähe der Hotelküche.“ Hermine überlegte, ob sie Luise von dem kurzen Abstecher zu Köhlers Dorfhotel erzählen sollte.

„Ach, dann hat Waldemar, er ist unser Page, sie bestimmt in der Rumpelkammer abgestellt. Sie wissen, was eine Rumpelkammer ist?“

„Ein Raum, in den alles Mögliche hineinkommt.“

„Richtig. In unserem Fall sind es die Gepäckstücke der Gäste. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen. Dann können Sie gleich den Rest des Hauses anschauen.“

„Sind denn keine Gäste da?“

„Die ersten werden am kommenden Samstag erwartet.“

Nach der Hotelbesichtigung, die privaten Räume der Familie Bakker ausgenommen, wollte Hermine über ihre Aufgaben sprechen.

„Frau Luise, werde ich als Zimmermädchen arbeiten? Frau Bakker sagte, Sie hätten genug.“

Die hübsche Uniform würde ihr gefallen und die weiße Haube ihr sicherlich stehen. Sie sah sich schon in den schicken Gästezimmern elegante und teure Kleidung wegräumen und in den Schrank hängen. Aus der Nähe edlen Schmuck, exklusive Wäsche und Taschen anschauen zu dürfen, wäre sicherlich spannend. Und sie freute sich auf den guten Ruf, den diese Anstellung mit sich brachte.

„In den kommenden Tagen werden Sie meinen Part auf den Zimmern übernehmen. Bis die ersten Gäste kommen, müssen alle Räume hergerichtet sein. Danach sehen wir weiter. Den Verband“, sie hob den Arm, um auf ihren Gips aufmerksam zu machen, „bekomme ich nächste Woche abgenommen. Dann übernehme ich wieder und Sie werden überall dort aushelfen, wo jemand gebraucht wird. In der Küche und bei der Wäsche. Können Sie mit Kindern umgehen?“

„Ich habe fünf Geschwister.“

„Sehr schön. Die Chefin ist hochschwanger. Da werden Sie sich auch um die Bakker-Kinder kümmern. Wo kommen Sie her, Fräulein Flessner?“

„Aus Leer.“

„Soso.“ Frau Luise verzog kurz das Gesicht, als würde ihr das missfallen.

„Kennen Sie Leer?“

Die Frage schien ihr noch weniger zu behagen.

„Dann ab mit Ihnen nach oben, Fräulein Flessner. Packen Sie Ihre Tasche aus und wecken Sie Mathilde. In wenigen Minuten erwarte ich Sie zum Essen in der Küche.“

***

Hermine war es nicht gelungen, ihre Zimmerkollegin zu wecken. Jetzt saß sie allein am großen Küchentisch und schaute der Köchin Gertrud und dem Küchenmädchen Dina beim Hantieren zu.

„Soll ich Ihnen wirklich nicht helfen, Frau Dirksen?“

„Nein. – Pass doch auf!“, ermahnte die Köchin Dina.

„Entschuldigung, Frau Dirksen.“ Dina stellte den umgeworfenen Becher mit dem Salz wieder auf und begann, die weißen Kristalle mit dem Handrücken vom Tisch zu streichen.

Es war bereits für acht Personen eingedeckt. Neben Tellern und Besteck standen Teetassen. Erst jetzt bemerkte Hermine ihren Durst, wagte jedoch nicht, um ein Glas Wasser zu bitten.

„Vergiss nicht, dir etwas über die Schulter zu werfen, sonst bringt es Unglück.“ Gertrud Dirksen stellte dampfende Töpfe auf den langen Tisch und schüttelte angesichts der Langsamkeit, mit der Dina das Salz zusammenstrich, den Kopf. „Und du kannst weiß Gott ein wenig Glück gebrauchen, so tollpatschig, wie du bist. Ich werde froh sein“, schalt die Köchin, „wenn du wieder in der Küche im Bakker Junior dein Unwesen treibst.“

Die etwa dreizehnjährige Dina knickste und erweckte nicht den Eindruck, die herben Worte der Köchin würden sie verletzen.

„Können Sie servieren, Fräulein Flessner?“

„Ja, Frau Dirksen“, behauptete Hermine.

„Schön, dann kann ich ja sicher sein, dass die Herrschaften ihr Essen bekommen, ohne dass es in einer Katastrophe endet.“ Frau Dirksen stellte eine große Schüssel mit gekochten Kartoffeln und eine weitere mit den Bohnen auf ein Tablett. Daneben kam ein Teller mit fettem Speck und ein zweiter mit geräucherten Würsten.

„Meine Mutter kocht immer alles in einem Topf“, bemerkte Hermine. Dina riss erschrocken die Augen auf. Ihr Blick wanderte zur Köchin. Die nickte.

„Ich mache das normalerweise auch so, doch Frau Bakker mag das nicht.“ Die Köchin verstummte für einen Moment. „Dina? Ist der Tisch für die Herrschaften ordentlich eingedeckt?“

„Jawohl, Frau Dirksen.“ Dina knickste erneut.

„Dann bringt das Essen rüber, bevor es kalt wird. Du gehst voran und hältst für Fräulein Flessner die Türen auf.“

So servierte Hermine Willem Dirks Bakker, seiner Schwiegertochter und einem Mann, der Bakker ein wenig ähnelte, aber gut zwanzig Jahre jünger war, das Essen. Fünf Kinder saßen kerzengerade mit am Tisch. Das kleinste schätzte Hermine auf drei Jahre, das älteste Kind, ein Junge, musste etwa zwölf sein. Also drei Jahre jünger als sie. Hoffentlich gab das keine Probleme beim Kinderhüten.

„Guten Appetit!“, wünschte Hermine. „Dürfen wir Ihnen sonst noch etwas bringen?“

Hermine sah, wie Dina entsetzt die Hand vor den Mund schlug.

„Wir haben alles“, sagte die Schwiegertochter.

„Danke, Fräulein Flessner.“ Der Senior zwinkerte ihr zu.

„Frau Bakker sah böse aus“, petzte Dina, als sie zurück in die Hotelküche kamen.

„Was ist passiert?“ Frau Luise saß am Kopf des Küchentisches. An den Längsseiten hatten andere Personen Platz genommen.

„Sie hat gefragt, ob wir sonst noch etwas bringen sollen.“ Es klang wie eine Todsünde.

„Frau Bakker hat es nicht gerne, bei Tisch angesprochen zu werden. Es ist unsere Pflicht, ehe die Herrschaften Platz nehmen, alles, was für die Mahlzeit benötigt wird, bereitzustellen. Zu fragen, ob etwas fehlt, bedeutet, wir haben beim Tischeindecken nicht aufgepasst.“

„Das wäre ein falscher Fehler“, sagte ein junger Mann. Er saß in der Mitte der langen Seite des Tisches und lächelte Hermine an.

„Das ist Waldemar. Unser Page.“

„Und Bartender“, erklärte er mit geschwellter Brust.

„Und ich bin Margret. Borkum-Mädchen im zweiten Jahr.“ Sie knuffte Waldemar am Arm. „Waldemar sagt immer so komische Wörter.“

„Und das ist Sabine, ebenfalls im zweiten Jahr hier tätig“, stellte Margret die Kollegin vor.

Dina nahm gegenüber der Köchin Platz und Hermine setzte sich wieder dorthin, wo sie eben schon gesessen hatte.

„Fräulein Remmers liegt in Sauer?“, erkundigte sich die Köchin. Frau Luise nickte ergeben.

„Dass die das darf“, meinte Dina, schüttelte den Kopf und reichte Hermine den Topf mit den Kartoffeln.

„Das geht dich nichts an“, mahnte Frau Luise.

„Die war wieder in Köhlers Giftbude“, maulte Dina und fügte leise hinzu: „Weiß gar nicht, warum ich da nicht hindarf.“

„Darfst du schon, Dina. Nur solltest du die Finger vom Alkohol und von Män...“

Frau Luise hüstelte künstlich und die Köchin verstummte.

„Guten Appetit.“

„Trinken Sie nicht den Tee.“ Frau Dirksen hielt Hermines Arm fest, die eben nach einer der beiden Teekannen greifen wollte. „Dinas Tee ist dünner als ich. Richtige Ostfriesen können etwas Stärkeres vertragen.“ Sie nahm Hermines Tasse und schenkte ihr aus der zweiten Kanne ein.

„Vorsicht!“, mahnte Margret. „Im Tee unserer Frau Dirksen bleibt der Löffel senkrecht stehen.“

Hermine blickte in ihre Tasse. Margret hatte ein wenig übertrieben, dennoch schwamm ein Ölfilm auf der Oberfläche.

Da half nur viel Sahne und Kluntjes, sonst würde ihr Magen rebellieren.

***

Der untersetzte Mann mit kleinem Bauchansatz bahnte sich in großer Hast seinen Weg durch die fast leeren Straßen. Er fand es unklug, am helllichten Tag im Haus des selbstständigen Kaufmanns und Fuhrunternehmers zusammenzukommen. Der Hotelier schüttelte den Kopf. Warum musste man sich auf diese Weise treffen? Er war ein wenig zu spät und wollte auf keinen Fall etwas von der Besprechung versäumen. Im Grunde seines Herzens traute er allen bis auf einen über den Weg. Das war der Kaufmann. Nicht wegen seiner Fähigkeiten als Selbstständiger, sondern eher, weil dessen Spleen langsam Auswüchse annahm.

Dennoch waren sie eine Zweckgemeinschaft. Was sie zusammenführte, war ein gemeinsames Ziel.

Der Hotelier eilte an dem neuen Leuchtturm vorbei, den das Bauunternehmen Schumacher aus Leer in nur neun Monaten Bauzeit hochgezogen hatte. Bewundernswert. Sollte er mit seinen Plänen Erfolg haben, würde er diese Firma für sich arbeiten lassen. Doch da musste er schnell sein, andere hatten sicherlich den gleichen Gedanken.

Vor der Tür des Hauses, in dem das Treffen stattfand, wurde er von einem Jungen aufgehalten.

„Parole?“, fragte der Knabe und sah sich dabei um, als wolle er von niemandem mit dem Hotelier gesehen werden. Er kannte den Elfjährigen seit dem Tag seiner Geburt, so wie er jeden auf der Insel kannte. Dass der Kaufmann das Kind mit in die Sache hineingezogen hatte, bestätigte dem Hotelier sein ungutes Gefühl.

„Strandhotel“, antwortete er.

Der Junge schaute ihn fragend an. „Das ist die falsche Parole.“

„Willst du mich jetzt nicht reinlassen?“ Seine Stimme klang schneidend.

„Natürlich. Entschuldigung, Herr Bakker. Sie dürfen eintreten.“ Er öffnete für ihn die Tür und schloss sie sofort wieder. Im Hausflur war es dunkel, doch Bakker kannte den Weg. Er ging bis zum Ende des Flures und klopfte an die letzte Tür rechts. „Wer ist da?“, hörte er Pieter Akkermanns Stimme.

Dieses geheimnisvolle Treffen war auf seinem Mist gewachsen, ebenso wie die Vorsichtsmaßnahmen.

„Ich bin es“, rief Bakker und die Tür wurde aufgerissen.

„Nicht so laut.“ Akkermann zog ihn in den Raum und blickte den Flur hinunter bis zur Haustür, als ob er sichergehen wollte, dass niemand sah, wie er Willem Bakker einließ.

„Wir haben auf dich gewartet“, sagte Georg Köhler, der einzige Mann in der Runde, den Willem Bakker als guten Freund bezeichnet hätte. Neben dem, was sie in dieser Zweckgemeinschaft vorhatten, würden die beiden Männer zusätzlich ihr eigenes Ding drehen, um an ihr Ziel zu gelangen.

Bakker zog an der Kette seiner Taschenuhr. Sie glitt aus der Westentasche in seine Hand. Er ließ den Deckel aufspringen und schaute auf das Ziffernblatt. Er war noch nicht zu spät. Wie von ihm vermutet, waren die anderen aus Nervosität zu früh gekommen. Er steckte die Uhr wieder ein und nickte dem dicken Wybrands zu, der bereits mit Mitte vierzig schon eine Glatze hatte. Er wollte gerade seinen Namen sagen, damit er ein Stückchen rücken würde, um an den einzigen noch freien Stuhl zu gelangen. Weiter als bis: „Rücken Sie ein Stückchen, Herr Wyb…“, kam er nicht.

„Wir sollten uns Decknamen zulegen“, sagte Akkermann.

„Warum das denn?“

„So kann man unter Folter die wahre Identität des anderen nicht verraten“, meinte Pieter Akkermann im Brustton der Überzeugung.

„Erstens kenne ich alle eure Namen, bis zu euren Großeltern kann ich die Daten aufzählen –, und zweitens gibt es hier niemanden, der foltert.“

Jedermann wusste, dass Akkermann sich für die Geschichten des Grafen von Monte Christo und den Pinkerton-Express-Agenten aus Amerika interessierte. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit bemerkte er, was jene Abenteurer in dieser Situation gemacht hätten.

„Setzen Sie sich endlich“, sagte Akkermann. „Unser Herr Bürgermeister dachte schon, Sie hätten es sich anders überlegt.“

Willem Bakker tauschte einen schnellen Blick mit seinem besten Freund Georg Köhler. Der lächelte, als wolle er sagen: „Zeig Nachsicht, wir brauchen ihn.“

Doktor Schmidt hob seinen Zeigefinger.

„Hier muss sich niemand zu Wort melden, Doktor.“

„Wie Sie meinen, Bürgermeister.“

Bürgermeister Georg Köhler grinste Pieter Akkermann an. „Das sind keine Abenteuerspielchen. Es geht hier um unser aller Zukunft, meine Herren!“

„Können wir jetzt anfangen? Ich muss noch zum Frachtschiff. Heute bekomme ich neue Gästebetten“, sagte Pensionswirt Behrends und strich sich sein viel zu langes Haar hinters Ohr.

Willem Bakker setzte sich auf den freien Stuhl und blickte in die Runde. Mit ihm waren sie sechs Männer. Alles wohlsituierte Insulaner, die sich finanziell und ideell das würden leisten können, was diese Gruppe erreichen wollte.

Ihnen allen ging es darum, bei der Ausschreibung der Inselgemeinde eines der angebotenen zwanzig Grundstücke zu erwerben. Alle sechs wollten sie dieses Geschäft machen und gleichzeitig verhindern, dass Fremde vom Festland kamen, die begehrten Grundstücke erwarben und den Einheimischen Konkurrenz machten. Allen Männern war es zuwider, wenn Zugereiste mit bloßen Versprechen und blendenden Worten die Welt der Insulaner durcheinanderbrachten, alles besser wussten, ihnen auf Jahre das Geldverdienen erschwerten und ihre Betriebe dann, weil sie keine Ahnung von Saisonvermietung hatten, pleitegingen.

„Sie kommen mit einem Pappkarton und gehen wieder mit einem. Alles schon mehrfach da gewesen.“ Oft hinterließen sie einen Scherbenhaufen, den die Insulaner dann wieder aufkehren durften.

„Dem wollen wir entgegenwirken“, stellte Akkermann noch einmal für alle fest. „Deswegen ist es wichtig, dass wir uns gegenseitig unterstützen. Sei es mit Geld, Informationen oder sonst etwas.“

„Absprachen sind wichtig“, meinte Behrends und rieb sich die lange Nase. „Nun rücken Sie schon mit den ersten Bedingungen heraus.“

Alle blickten Georg Köhler an. Als Bürgermeister wusste er welche Voraussetzungen der Gemeinderat für die Vergabe der Grundstücke beschlossen hatte.

„In zwei Wochen wird die Ausschreibung in der Zeitung bekannt gegeben. Bewerben kann sich jeder.“

Drei der Männer stöhnten. „Wäre es nicht für alle einfacher gewesen, wenn der Rat gleich beschlossen hätte, nur Borkumer zuzulassen?“

„Das verstößt gegen das Gleichheitsgesetz.“

„Aber als Bürgermeister können Sie doch sicherlich etwas an den Vorgaben drehen“, meinte Doktor Schmidt.

„Wenn das so wäre, müssten wir uns hier nicht heimlich treffen, Doktor. Zumal ich als befangen gelte, sobald ich mein Angebot abgegeben habe.“

„Bedeutet das, Sie werden dann keine Interna mehr erfahren?“

„So ist es. Deswegen sitzen wir ja hier, um die Vorteile unserer persönlichen Beziehungen zu bündeln.“

„Wenn sich alle daran halten und alles nach Plan läuft, werden wir den anderen gegenüber im Vorteil sein“, versicherte Köhler. „Nur diese geheimen Treffen machen mir Sorgen. Ich möchte wetten, dass es trotz aller Heimlichtuerei einige bemerken werden. Die Leute werden sich fragen, was wir denn so zu besprechen haben, und dann …“

„Ich werde Abhilfe schaffen“, versprach Willem Bakker. „Bis zur öffentlichen Bekanntmachung bleiben noch vierzehn Tage. In dieser Zeit werde ich meine liebe Frau in ihrer Kur besuchen.“ Und schon mal mit einem Architekten und dem Leeraner Bauunternehmer Kontakt aufnehmen. Doch das verriet er den anderen nicht. „Und wenn ich zurück bin, habe ich jemanden, der für uns Informationen hin- und herbringen wird.“

„Wer soll das sein?“

„Jemand, den keiner von uns kennt.“

„Ein Fremder fällt doch sofort auf. Die Insel ist klein, wir haben keine tausend Einwohner.“

„Das ändert sich in den kommenden Wochen. Wenn erst die Saison beginnt und die Gäste zusammen mit dem Sommerpersonal anreisen, brauchen die Insulaner lange, bis sie sich die Gesichter und Namen aller neuen Mitarbeiter merken und sie wissen, wer für wen arbeitet. Bis dahin habe ich jemanden gefunden.“ Noch ehe er es ausgesprochen hatte, wusste Bakker, dass er den Mund zu voll genommen hatte. Wo sollte er so einen Mann finden? Einen, dem man vertrauen konnte, ohne ihn überhaupt näher zu kennen, und das von Anfang an. Zudem sollte so ein Mann sich durchsetzen können. Bei dem, was er plante, sollte die Person auch entscheidungsfreudig sein. Ein blitzschneller Verstand wäre ebenfalls von Vorteil. Unmöglich so jemanden auf die Schnelle zu finden. Ihm blieben ja nur ein paar Wochen.

„Und woran erkennen wir den Spion?“, fragte Pieter Akkermann.

Tja, wenn ich das nur wüsste. „Das werden Sie dann schon merken, meine Herren. Ach, und eines noch …“ Willem Bakker war aufgestanden und schon halb zur Tür hinausgegangen. Er deutete mit dem Finger auf Akkermann. „Zu niemandem ein Wort. Das gilt auch für Ihren Filius.“

Akkermann wirkte pikiert, die anderen versuchten erst gar nicht, sich ein Grinsen zu verkneifen.

„Und mit dir, Georg Köhler“, Bakker stand in der offenen Tür und deutete mit finsterer Miene auf seinen besten Freund, „habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen.“

Mit den letzten Worten hatte Bakker einen weiteren Grundstein im Wettstreit um die begehrten Grundstücke gelegt. Er konnte sicher sein, dass Köhler da mitmachen würde.

Dieses Treffen war jetzt drei Wochen her und Willem Bakkers Entscheidung, wer als Spion geeignet war, ist auf Fräulein Flessner gefallen. Zugegeben, ein spontaner Entschluss. Nicht im Traum wäre ihm bis zur Heimreise eingefallen, den Posten mit einem fünfzehnjährigen Borkum-Mädchen zu besetzen. Aber er hatte ein gutes Gefühl dabei. Hermine Flessner hatte ihn beeindruckt. Ohne feste Anstellung auf die Insel zu reisen bewies Mut. Und niemand, nicht einmal seine fünf Mitstreiter, würden auf die Idee kommen, dass der Posten des Spions nicht von einem Mann besetzt werden würde. Schon hörte er die Herren laut aufschreien. „Ein Weibsbild? Sind Sie verrückt geworden, Bakker? Die kann doch nie und nimmer den Mund halten.“

Doch das traute er ihr zu. Es gab sehr wohl Frauen, die schweigen konnten. Blieb nur noch eines zu tun. Er musste es Hermine Flessner sagen.

Am nächsten Morgen nach seiner Heimreise bat er seinen zweitältesten Sohn Dirk Willems Bakker auf ein Wort ins Kontor. Vor acht Jahren hatte er die Führung des Hotels Bakker Senior an Dirk übertragen. In den privaten Räumlichkeiten trieb Adeline, Dirks Ehefrau, die Kinder an, sich zu beeilen.

„Damit die Quengelei aufhört“, teilte sie den Männern mit, „gehe ich mit ihnen an den Strand.“

„Darf ich an der Segelbuhne ...“, hörten sie den Ältesten fragen, da waren sie zur Tür hinaus.

„Adeline sagt, du hast ein neues Mädchen eingestellt.“ Die Worte seines Sohnes klangen neutral, dennoch wusste Willem Dirks Bakker, dass Adeline ihm deswegen zugesetzt hatte. Ihr gefielen seine Einmischungen im Betrieb immer weniger und Dirk, der Ärmste, versuchte, den Balanceakt zwischen Ehefrau und Vater zu halten, ohne selbst dabei an Würde zu verlieren. Selten schlug er sich offen auf die Seite von einem der beiden.

„Sie hat uns gestern das Essen serviert und macht auf mich einen kompetenten Eindruck. Zudem hatte ich dabei das große Glück, sie Georg Köhler abzuwerben.“

„Musste das sein Vater? Dieser Zank zwischen euch ist unwürdig. Ihr wart jahrzehntelang Freunde. Setz eurer Fehde endlich ein Ende! Ich hatte gehofft, der Aufenthalt bei Mutter hätte dich versöhnlicher gestimmt.“

„Du meinst, weil sie dem Tode eben so von der Schippe gesprungen ist?“

„Wir wissen beide, dass das gelogen ist. Wie geht es Mutter?“

„Den Umständen entsprechend. Die Klinik ist hervorragend, dennoch wird es eine Weile dauern, bis sie wieder gesund ist.“ Bakker Senior grinste. „Es macht Spaß, dem alten Köhler eins auszuwischen. Ich konnte nicht widerstehen.“

„Verrätst du mir, was euch auseinandergebracht hat?“

„Das geht dich nichts an. Und sag mir nicht, dass du keine zusätzliche helfende Hand im Haus gebrauchen kannst.“

„Schon. Nur ist es Adelines Aufgabe, Personal einzustellen. Du weißt, dass sie sich da ungern hereinreden lässt.“

„Wie geht es ihr?“, wechselte Bakker Senior das Thema.

„Gut. Das Kind kommt erst in ein paar Wochen.“

„Dennoch sollte sie sich schonen.“

„Mein Reden. Doch sie meint, beim siebten Mal habe sie genug Erfahrung im Kinderkriegen. Sie wüsste am besten, was ihr guttut und was nicht. Aber du hast recht, Vater“, kam Dirk auf das ursprüngliche Thema zurück. „Ein zusätzliches Borkum-Mädchen im Familienbetrieb ist immer willkommen.“

Borkum-Mädchen nannte man die jungen Frauen, die im Frühjahr auf die Insel reisten, um für die Sommersaison zu arbeiten. Im Herbst verließen sie das Eiland wieder, denn im Winter war kein einziger Gast auf der Insel und es gab für Hotelpersonal keine Arbeit.

Viele dieser Saisonkräfte kamen wie die Zugvögel im darauffolgenden Frühling zurück. Einige von ihnen seit Jahren. Gelegentlich kam es vor, dass die eine oder andere junge Frau für immer auf der Insel blieb. Sei es, weil sie eine ganzjährige Beschäftigung gefunden hatte, so wie Luise Menninga, oder sie in eine Borkumer Familie hineinheiratete. Was die Inzucht, wie Bakker Senior gerne beteuerte, auf der Insel in annehmbaren Schranken hielt.

„Sie heißt Hermine, fast so wie deine Mutter. Hermine – Harmina. Ich finde, das ist ein gutes Omen.“

„Dein Wort in Gottes Ohr.“

„Du hörst dich schon wie deine Mutter an. Dennoch sollten wir für sie beten.“

Bakker Senior konnte der strengen Gläubigkeit seiner Frau Harmina nichts abgewinnen, erst recht nicht, seit dieser Wahn zu ihrem Aufenthalt in der Nervenklinik geführt hatte.

„Beten? Und das aus deinem Mund, Vater?“

Sie schwiegen eine Weile, was keinem peinlich war.

„Ach, ehe ich es vergesse“, nahm Dirk das Gespräch wieder auf. „Tischlermeister Buse hat gestern dein Gepäck gebracht. Ich hatte den Eindruck, dass er ein wenig pikiert war.“

Willem Dirks Bakker nickte in Gedanken an die Situation auf der Augusta. Hermine Flessner hatte sein Stellenangebot angenommen, doch er hatte gemerkt, wie unwohl sie sich dabei gefühlt hatte. Damit sie ihm nicht davonlief, hatte er zu einem Trick greifen müssen. Ihre Tasche zu tragen, war nicht nur höflich gewesen, es hatte sie gezwungen, an seiner Seite zu bleiben. Nur hatte er dabei Hilfe gebraucht, denn sein eigener Koffer, die Reisetasche der jungen Dame und der Handstock, da hatte er ganz klar eine Hand zu wenig gehabt. Ohne den Gehstock war er schlecht zu Fuß. Erst recht auf einem rollenden Dampfer. Da war Tischlermeister Buse die Lösung gewesen.

„Apropos Tischlerarbeiten. Seine sind einwandfrei. Noch gestern Abend hat er die Dachkammer für Frau Luise fertiggestellt. Seine Rechnung habe ich sofort bezahlt.“

„Schön. Und was macht Fräulein Remmers?“

Dirk Willems Bakker stieß verächtlich die Luft aus. Das Zimmermädchen Mathilde Remmers kannte das Familiengeheimnis. Die Seniorchefin Harmina Bakker war keineswegs lungenkrank und eben dem Tod von der Schippe gesprungen, wie der Öffentlichkeit gegenüber von der Familie behauptet wurde. Sie steckte aufgrund ihrer religiösen Wahnvorstellungen in einer Nervenheilanstalt.

Mathilde nutzte ihr Wissen um das Familiengeheimnis, um bevorzugt behandelt zu werden. Erpressung. „Ihr Schlendrian wird immer dreister“, verriet Dirk. „Und gelegentlich schlägt sie über die Stränge.“

„Köhlers Giftbude?“

„Ja. Die hat seit einer Woche wieder geöffnet.“

„Ich hatte gehofft, dass einer der Winterstürme ihr den Garaus macht, doch da oben auf der Düne steht die Bude sicher.“

„Vater!“ Dirks Stimme klang entsetzt. „Wie kannst du so was sagen? Ihr solltet Frieden schließen!“

„Du musst etwas dagegen unternehmen.“

„Gegen Köhler? Niemals. Zieht mich nicht in euren Streit hinein.“

„Ich rede von Fräulein Remmers. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zu Unstimmigkeiten unter dem Personal kommt. Du kannst ihr nicht alles durchgehen lassen. Sieh zu, dass du das in den Griff bekommst.“

„Du hast gut reden, Vater. Wir können nur hoffen, dass Mutter bald wieder gesund ist. Dann schmeiß ich Mathilde raus.“

***

Adeline Bakker hätte die konsequente Aussage ihres Mannes gefallen. Dirk war in ihren Augen zu kompromissbereit, um ein Hotel mit strenger Hand zu führen. Gut, dass er sie hatte.

Borkum im Frühling war ein wundervoller Anblick. Die wenigen Obstbäume, die es seit ein paar Jahren auf der Insel gab, knospten und in den Dünen blühten winzig kleine blaue Veilchen. Auf den Salzwiesen vor dem Wattenmeer blühte die Strandnelke. Ihr Lila war von Weitem zu sehen.

Das Borkum-Mädchen Margret hatte Adelines Kinder unter ihre Obhut genommen und so konnte sie in aller Ruhe einen ausgedehnten Spaziergang machen. Sie hob den Rocksaum, damit er im feuchten Wattgrund nicht nass wurde, und wünschte, Gott würde ihr ein Zeichen geben. Sie war zum siebten Mal schwanger und der Arzt hatte ihr versichert, dass es keine leichte Geburt werden würde. Aber was wussten Männer schon mehr über Niederkünfte als Frauen, die bereits einige hinter sich hatten? Dennoch hegte Doktor Schmidt schwere Bedenken und bat sie inständig, sich zu schonen. „Das sollte die letzte Schwangerschaft sein“, mahnte er. „Sie werden große Probleme bekommen, an denen Sie sterben könnten.“ Das Kind hatte sich nicht gedreht, doch Adeline war zuversichtlich, dass es das in den kommenden Tagen tun würde. Bis zur Geburt war noch reichlich Zeit.

Ärzte! Sie fand es unmöglich, Angst und Schrecken zu verbreiten. Ihrer Erfahrung nach war alles genauso wie bei den vergangenen Schwangerschaften.

Die vernichtenden Worte ihrer Schwägerin Geeske Bakker kamen ihr in den Sinn. Sie war die einzige Tochter und jüngstes Kind ihrer Schwiegereltern und nahm selten ein Blatt vor den Mund. Erst vorgestern hatte Geeske lautstark verkündet, dass Doktor Schmidt ihr anvertraut habe, er hielte Frauen über fünfunddreißig fürs Kinderkriegen zu alt. Vermutlich stimmte es, doch musste Geeske es ja nicht laut in die Welt hinausposaunen!

Ein Kind ist von Gott gegeben, versuchte Adeline sich einzureden, also würde der HERR auch über sie beide wachen. Da konnte sie unmöglich …

Adeline mochte den Gedanken nicht zu Ende denken. Besorgt streichelte sie den gewölbten Bauch und hoffte im Stillen, dass es ein Mädchen werden würde. Jungen hatte sie drei. Petra, ihre hübsche kleine Tochter, war vor einigen Jahren im zarten Alter von nicht einmal zwei Lenzen gestorben. Seither verbrachte Adeline schlaflose Nächte, wenn eines ihrer Kinder kränkelte. Ihre beiden jüngsten Töchter entwickelten sich gut. Adeline flüsterte ein Ave-Maria für ihr verstorbenes Baby. Ja, dachte sie, ein drittes Mädchen würde ihr gefallen.

„Du hörst dich an wie meine Mutter.“

Adeline fuhr erschrocken herum.

„Wofür betest du nun schon wieder?“ Schwägerin Geeske, die eine ganze Weile gut hundert Meter hinter ihr hergelaufen war, hatte unbemerkt aufgeschlossen.

„Verflixt, was für ein Schreck!“

„Entschuldige, Adeline. Wofür betest du?“

„Für Beistand und Fügung in unserer Angelegenheit.“ Adeline würde lieber tot umfallen, als vor ihrer Schwägerin eine körperliche Schwäche zu zeigen oder sie gar in private Sorgen einzuweihen.

„Von welcher Angelegenheit sprichst du?“ Geeskes Hut saß keck auf ihren blonden Locken und wirkte bei einem Spaziergang fehl am Platze. Eben tupfte sie sich mit einem Spitzentaschentuch ihre markante Nase. Auch wenn die Adlernase ein wenig zu groß für ihre zarten Gesichtszüge war, machte sie Geeske dennoch sehr attraktiv.

„Die Angelegenheit, die unser aller Zukunft entscheidet. Mein Gott, Geeske, denk doch mal an etwas anderes als nur an dich.“

Die beiden Frauen waren grundverschieden, im Aussehen wie im Geiste.

Adeline musste den Kopf ein wenig anheben, um ihrer Schwägerin direkt in die Augen sehen zu können. Sie schnaufte, denn sie war um einiges fülliger als diese. Auch wenn sie nicht gerade schwanger war.

„Du bist gereizt, liebste Adeline. Du hättest einen Sonnenhut aufsetzen sollen.“ Adeline strich sich über den Kopf. Ihr schwarzes Haar, in der Mitte gescheitelt und nach hinten zu einem straffen Knoten zusammengebunden, fühlte sich in der Sonne heiß an.

„Gegen Sonnenstich hilft auch kein Beten.“

Adeline wunderte sich oft über die fehlende Gottesfurcht ihrer Schwägerin. Vermutlich hatte Geeskes Mutter, die selbst Adeline mit ihrer Frömmigkeit auf die Nerven ging, es in der Erziehung ihrer Kinder mit der Religion übertrieben.

Von dem vielen Geld, das die Schwiegermutter in die Kirche steckte, was schon gelegentlich zu finanziellen Engpässen in der Familie geführt hatte, einmal abgesehen.

„Außerdem – wenn ich nicht an mich denke, tut es keiner.“ Geeske bückte sich, um einige Strandnelken zu pflücken.

„Was willst du, Geeske? Warum folgst du mir?“

Die Schwägerin ließ die eben gepflückten Pflanzen achtlos wieder fallen und schenkte ihr einen treuherzigen Augenaufschlag.

„Schau nicht wie ein weidwunder Seehund. Damit kannst du Vater oder deine Brüder um den Finger wickeln. Bei mir zieht das nicht. Es hat doch einen Grund, dass du mir hinterherläufst. Spazieren war noch nie deine Stärke.“

Geeske liebte den Trubel, der mit dem Frühling und der Anreise der Gäste auf der Insel einsetzte. Musik, Tanz, den Besuch von Cafés oder Kurkonzerten zog Geeske immer einer Wanderung querfeldein durch Dünen und Salzwiesen vor. Zumal in Begleitung von Adeline, die sich nicht scheute, nach einem Querfeldeinspaziergang mit schmutzigen Röcken nach Hause zu kommen oder gar an einer vorwitzigen Brombeerranke hängen blieb und sich den Stoff zerriss.

„Ich frage mich, liebste Schwägerin …“

Liebste Schwägerin? Die Angelegenheit musste für Geeske wichtig sein. Adeline blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften und streckte den Rücken gerade. Mit dem Gesicht zur Sonne schloss sie die Augen und holte tief Luft. Dieser Geruch nach Frühling, durchmischt mit einer salzigen Meeresbrise, war herrlich.