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Auf der Suche nach Erfolg wird oft vernachlässigt, was uns wirklich den Weg zu einem erfolgreichen Leben ebnet: Das Leben zu Hause. Denn echter Erfolg beginnt genau dort – in den eigenen vier Wänden. Die Familienweisheit des Mönchs, der seinen Ferrari verkaufte, verhilft den Menschen dazu, ein glückliches, gesundes und außergewöhnlich lohnendes Leben zu Hause zu führen und dabei bemerkenswerte Kinder aufzuziehen. Die richtige Balance zwischen Arbeit und Familienleben gestaltet sich im Alltag oft schwierig. Robin Sharma hat in diesem Buch inspirierende Werkzeuge und Denkanstöße gesammelt, die einem dabei helfen, sein Potenzial voll auszuschöpfen und das Leben wirklich zu leben und nicht nur dem Erfolg hinterherzujagen. Mithilfe von fünf Meisterschaften vermittelt Robin Sharma das richtige Mindset um unser Leben klüger, glücklicher und erfüllter zu leben.
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ROBIN SHARMA
DAS VERMÄCHTNIS MEINER FAMILIE
ROBIN SHARMA
DAS VERMÄCHTNIS MEINER FAMILIE
Wie Sie Ihren Kindern helfen, die großen Träume ihres Lebens zu verwirklichen
FBV
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Wichtiger Hinweis Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.
1. Auflage 2023
© 2023 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Copyright © 2001 by Robin Sharma
Published by arrangement with HarperCollins Publishers Ltd., Canada
Die englische Ausgabe erschien 2001 bei HarperCollins Publishers Ltd. unter dem Titel Family Wisdom from the Monk Who Sold His Ferrari.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Jutta Ressel
Redaktion: Anne Horsten
Korrektorat: Christine Rechberger
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, München
Umschlagabbildung: Mönch, iStockPhoto
Satz: ZeroSoft, Timisoara
eBook by tool-e-byte
ISBN Print 978-3-95972-641-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-228-3
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-229-0
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.finanzbuchverlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
Ich widme dieses Buch meinen wundervollen Kindern Colby und Bianca, die zu den größten und weisesten Lehrern in meinem Leben gehören. Ich liebe euch beide sehr.
Ich widme dieses Buch auch meinem lieben Freund und Kollegen George Williams, einem Mann, der viele Menschen positiv beeinflusst und uns viel zu früh verlassen hat.
Und schließlich widme ich dieses Buch Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser. Ich hoffe, dass die Ratschläge auf diesen Seiten Ihnen helfen werden, zu einem weiseren Menschen, einem besseren Elternteil und zu einer Führungspersönlichkeit in der Familie zu werden, welche die Kinder dieser Welt inspiriert, ein reicheres und besseres Leben zu führen.
In 100 Jahren werden mein Kontostand, in welchem Haus ich wohne und welches Auto ich fahre vollkommen unwichtig sein. Aber die Welt ist dann vielleicht eine andere, weil ich für das Leben eines Kindes wichtig war.
Unbekannter Verfasser
Wer in den Herzen nahestehender Menschen weiterlebt, stirbt nicht.
Thomas Campbell
INHALT
Danksagung
Mein großes Erwachen
Die beste schlimmste Erfahrung meines Lebens
Das Geschenk des Lebens
Ein Mönch kommt zu Besuch
Die wundersame Reise des großen Julian Mantle
Die erste Meisterschaft einer Führungspersönlichkeit in der Familie – Führungskompetenz im Leben beginnt mit Führungskompetenz zu Hause
Die zweite Meisterschaft einer Führungspersönlichkeit in der Familie – Die Führungskompetenz seines Kindes ausprägen, anstatt es auszuschimpfen
Die dritte Meisterschaft einer Führungspersönlichkeit in der Familie – Sein Kind auf Größe, nicht auf Schwäche ausrichten
Die vierte Meisterschaft einer Führungspersönlichkeit in der Familie – Wer als Eltern hervorragend sein will, muss ein hervorragender Mensch werden
Die fünfte Meisterschaft einer Führungspersönlichkeit in der Familie – Seinem Kind ein Vermächtnis schenken, sodass es unsterblich sein kann
Über den Autor
Zuerst danke ich allen Menschen auf dieser Welt, welche die Bücher der Reihe Der Mönch, der seinen Ferrari verkaufte gelesen haben und so weise waren, mit dem darin vermittelten Wissen nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das anderer Menschen zu bereichern. Ich habe mich sehr über Ihre Briefe und E-Mails gefreut, in denen Sie mir mitteilten, wie Ihnen meine Ratschläge auf Ihrer Reise durchs Leben geholfen haben. Ich empfinde großen Respekt für Sie und Ihren Mut, sich zu verändern, zu wachsen und als Führungspersönlichkeit zu wirken.
Mein besonderer Dank gilt meinen Freunden bei Harper Collins, die mich unterstützt, ermutigt und inspiriert haben, diese Bücher zu schreiben. Ich bedanke mich bei Iris Tupholme, Claude Primeau, Judy Brunsek, David Millar, Lloyd Kelly, bei meiner Publizistin Doré Potter, bei Marie Campbell, Pauline Thompson und vor allem bei Nicole Langlois, meiner einfühlsamen, hervorragenden Lektorin.
Zu würdigen gilt es ferner meine überaus engagierte Assistentin Ann Green, die während meiner Arbeit an diesem Buch meine Termine koordiniert hat, sowie meinen Kollegen Richard Carlson, ein Mann, der seine Überzeugungen lebt, und meinen Freund Malcolm MacKillop, der mir sein Domizil am See zur Verfügung gestellt hat. Dank ihm durfte ich Das Vermächtnis meiner Familie in dieser herrlichen Umgebung zu Ende schreiben.
Mein Dank richtet sich auch an meine Mentoren, darunter Gerry Weiner, Ed Carson und Lorne Clarke, die mir geholfen haben, auf der Spur zu bleiben. Dankbar bin ich auch meinen Klienten; ich betrachte es als ein Privileg, meine Botschaft zum Thema Führungskompetenz auf Ihren Konferenzen vermitteln zu dürfen. Außerdem weiß ich zu schätzen, dass Sie den Menschen als die Seele Ihrer Unternehmen betrachten. Unter diesem Aspekt danke ich besonders herzlich Jill Hewlett, die diese Weisheit mit Leben füllt. Mein tiefer Dank gilt meinen Eltern Shiv und Shashi Sharma - einem leuchtenden Beispiel für hervorragende Eltern - für all eure Liebe, Freundlichkeit und Unterstützung, die ihr mir geschenkt habt. Ein großes Dankeschön auch meinem Bruder Sanjay und meiner Schwägerin Susan - ihr seid immer da, wenn ich euch am meisten brauche.
Und schließlich danke ich Colby und Bianca, meinen beiden Kindern, weil sie mir so viel Freude bereiten.
Es macht uns generell Angst, schließlich zu jenem Menschen zu werden, auf den wir in einem Augenblick absoluter Perfektion einen kurzen Blick zu werfen vermochten.
Abraham Maslow
Das Traurigste am Leben ist nicht, dass wir sterben müssen, sondern nicht wirklich zu leben, solange wir lebendig sind. Zu viele von uns geben sich mit wenig zufrieden und unterdrücken somit das gewaltige Potenzial des Menschseins. Meiner Erfahrung nach bemisst sich der Wert des Lebens letztendlich nicht danach, wie viele Güter wir angesammelt oder wie viel Geld wir angehäuft haben, sondern wie viele Talente wir ausgelebt und zum Wohl der Welt genutzt haben. Was wirklich zählt, sind die Leben, die wir positiv beeinflusst haben, und das Vermächtnis, das wir hinterlassen. Tolstoi fand dafür die richtigen Worte, als er sagte: »Wir leben nur für uns, wenn wir für andere leben.«
Ich habe 40 Jahre gebraucht, um diese einfache Weisheit zu entdecken. 40 lange Jahre, um herauszufinden, dass Erfolg sich nicht wirklich verfolgen lässt. Er entsteht einfach und tritt als unbeabsichtigter, aber zwangsläufiger Nebeneffekt in unser Leben, wenn wir durch unser Dasein das der anderen bereichern. Sobald Sie Ihre Perspektive vom täglichen Überleben weg darauf ausrichten, anderen ein Leben lang zu dienen, werden Sie unweigerlich überaus erfolgreich sein.
Ich fasse es noch immer nicht, dass ich erst nach der »Halbzeit« meines Lebens erkannt habe, dass unsere wahre Erfüllung als Mensch sich nicht großen Errungenschaften verdankt, die uns auf die Titelseiten der Medien katapultieren, sondern einem elementaren, förderlichen Anstand, für den sich ein jeder von uns tagtäglich entscheiden kann. Mutter Teresa, die wohl großartigste Führungspersönlichkeit der Herzen, die jemals gelebt hat, sagte so überaus treffend: »Es gibt keine großen Taten, sondern nur kleine Taten, die wir mit großer Liebe tun.« Diese Erkenntnis habe ich in meinem Leben auf recht harte Weise gewonnen.
Noch bis vor Kurzem war ich so damit beschäftigt, allem Möglichen hinterherzujagen, dass ich mein Leben schier verpasst habe. Ich war so auf die großen Freuden des Daseins aus, dass ich die kleinen versäumte, diese Minifreuden, die wir tagtäglich in unserem Leben finden und aus ihm ziehen, denen wir jedoch oft keine Beachtung schenken. Meine Tage waren randvoll mit Terminen, mein Verstand war überarbeitet und mein Geist unterversorgt. Mein Leben spiegelte, ehrlich gesagt, den äußeren Erfolg wider, war jedoch die reinste Bankrotterklärung, wenn es um innere Bedeutung ging.
Ich war von der alten Schule, nach der Glücksgefühle sich schon einstellen würden, wenn ich mir das richtige Auto kaufte, das passende Haus erwarb und im Beruf angemessen befördert würde. Ich beurteilte den Wert eines Menschen nicht nach der Größe seines Herzens und seiner Charakterstärke, sondern nach der Größe seiner Brieftasche und seinem Kontostand. Vielleicht sagen Sie jetzt, dass ich kein guter Mensch war. Dem würde ich entgegenhalten, dass ich vom Sinn des Lebens einfach keine Ahnung hatte und auch nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte, während ich so dahinlebte. Vielleicht lag es an den Leuten, die mich umgaben, aber all meine Bekannten in der Geschäftswelt lebten nach dieser Philosophie. Wir alle widmeten die besten Stunden des Tages dem Erklimmen der Karriereleiter und träumten davon, auf diese Weise ein Luxusbüro, eine prächtige Sommervilla auf dem Land und vielleicht ein spektakuläres Ski-Chalet in Frankreich zu ergattern. Wir wollten alle berühmt, bewundert und respektiert sein. Wir wollten alle stinkreich sein. Und vor allem wollten wir anerkannt sein.
Obwohl ich irgendwann einmal eine Familie gründen wollte, träumte ich doch eher davon, auf der Titelseite von Forbes oder Fortune zu erscheinen - wobei unter meiner schlanken Gestalt die Schlagzeile zu lesen stand: »Catherine Cruz: die Topmanagerin, die sich über alle Regeln hinweggesetzt und dennoch gewonnen hat.« Jedenfalls schwebte mir das eher vor, als Kindern bei irgendwelchen Pseudo-Wettkämpfen zuzujubeln. Auf dem Weg zur Arbeit wiederholte ich Affirmationen im Stil von »Heute ist der beste Tag meines Lebens« und »Ich habe den Verstand eines Millionärs und das Herz einer Kriegerin«. Ich sehe Sie jetzt den Kopf schütteln, aber ich wollte damals unter allen Umständen Erfolg haben - und hätte dafür so ziemlich alles getan. Ich hätte gesagt, worum man mich gebeten hätte, getan, was man von mir verlangt hätte, und jeden beiseitegeschoben, der das Pech hatte, mir im Weg zu sein. Ich kann nicht behaupten, dass ich damals stolz auf mich war. Ich sage nur, dass ich damals so war. Ich war hart, rücksichtslos, ehrgeizig und getrieben - bis hin zu dem Fehler, meine Gefühle auszuklammern, um in meiner selbst geschaffenen Welt zu überleben.
Mein Leben definierte sich durch meine Arbeit, und ich glaubte, dass es mir vorbestimmt war, den Zenit des beruflichen Erfolgs zu erreichen. An einer Wand in meinem Büro prangte dieses Zitat des großen amerikanischen Dichters Henry Wadsworth Longfellow, das meine Überzeugung ausdrückte:
Das Leben großer Männer erinnert uns, dass wir unser Leben erhaben leben, und beim Abschied unseren Fußabdruck im Sand der Zeit hinterlassen können.
Sicher, viele von meinen Kommilitonen und ich plapperten zuckersüße Plattitüden nach wie »Der Mensch kommt zuerst« oder »Es kümmert die Menschen nicht, wie viel du weißt, solange sie nicht wissen, wie sehr du dich um sie kümmerst«. Solche Worte predigten uns nur allzu oft betuchte Therapeuten und wohlmeinende Wirtschaftsprofessoren. Aber tief im Inneren hegte ein jeder nur einen Wunsch: sich selbst zu dienen und seine Ziele, Hoffnungen und Träume zu verfolgen - und zwar ungeachtet, auf wie vielen Menschen er dazu herumtrampeln musste. Und so opferten wir unsere Seelen dem beruflichen Erfolg und dem großen Geld. Wir investierten alles in unsere Arbeit. Und auch wenn es mir jetzt peinlich ist, das zuzugeben, so hatte ich in den ersten Jahren durchaus meinen Spaß dabei. Ja, es hat mir wirklich Spaß gemacht.
Als beste Studentin meines Semesters konnte ich mir die renommiertesten Arbeitgeber der Welt aussuchen. Da ich schon immer gern ein bisschen rebelliert habe, war es mir ein Vergnügen, sämtliche sechsstelligen Angebote in den Wind zu schlagen - sehr zum Kummer meiner Mutter, die meinte, ich hätte den Verstand verloren. Ganz im Sinne des Rats von einem meiner Lieblingsprofs an der Wirtschaftsfakultät, der auch nicht gerne mit dem Strom schwamm (und immer gepredigt hatte: »Wenn Sie auf der Suche nach dem idealen Job sind, fragen Sie sich nicht ›Würde ich für diese Firma gern arbeiten?‹, sondern fragen Sie sich stattdessen: ›Wäre ich gern Eigentümer dieser Firma?‹«). Jedenfalls landete ich in einer vielversprechenden Managerposition bei einer wenig bekannten Finanzierungsgesellschaft, die allerdings über ein enormes Wachstumspotenzial verfügte. Man sollte nie die Macht von Aktienoptionen unterschätzen, die selbst den zunächst uninteressiertesten Bewerber anzulocken vermögen.
Jeden Morgen flitzte exakt um 5.15 Uhr mein glänzender schwarzer Mercedes - eine Gratifikation meines Arbeitgebers bei Vertragsunterzeichnung - durch die Tiefgarage des 70 Stockwerke hohen Büroturms aus Glas und Metall, in dem ich die kommenden fünf Jahre mein Leben verbringen sollte. Die neueste Ausgabe des Wall Street Journal in der einen und meinen Kroko-Aktenkoffer in der anderen Hand, strebte ich zu den Aufzügen, um in mein Büro in der 62. Etage zu gelangen. Dort war mein wirkliches Zuhause.
Sobald ich dort ankam, kontrollierte ich die Mailbox, rief alle Leute zurück und machte mich dann daran, die nächsten - fast schon chaotischen - 16 bis 18 Stunden in einem Zustand höchster Anspannung zu durchleben. Schlag auf Schlag wurde ich zur Gruppenleiterin, Abteilungsleiterin und schließlich Vizepräsidentin befördert, all das bevor ich 35 Jahre alt war. Ich hatte das Vergnügen, erster Klasse rund um die Welt zu fliegen, mit der Crème de la Crème der Geschäftswelt in Kontakt zu kommen, in den nobelsten Restaurants zu speisen und Geschäfte unter Dach und Fach zu bringen, die meine Zeitgenossen grün vor Neid werden ließen. Schließlich bezog ich ein Luxusbüro und kaufte mir dann - dank meiner Aktien, die wie erhofft in schwindelerregende Höhen stiegen - auch das besagte Ski-Chalet.
Vor ein paar Jahren gründeten ein paar Freunde von der Wirtschaftsfakultät und ich die Internetfirma BraveLife.com. Sie bot Unternehmen eine revolutionäre neue Methode, ihre Angestellten fortzubilden, um in diesen vom Konkurrenzkampf geprägten Zeiten alle Trümpfe in der Hand zu haben. Wir hatten unser Unternehmen eigentlich nur so aus Spaß an der Freude aufgezogen, doch BraveLife.com wurde sofort der Renner. Innerhalb weniger Monate stellte so ziemlich jedes bedeutende Wirtschaftsblatt des Landes unsere einzigartige Geschäftsidee vor. Da unsere Firma den Experten zufolge der perfekte Kandidat für einen Börsengang war, umschwirrten uns die Risikokapitalanleger wie die Geier, um den Zuschlag zu kriegen. Meinen Partnern und mir war jedenfalls klar, dass wir bald reich sein würden. Es passte einfach alles zusammen - genau wie ich es mir in einer ruhigeren Minute immer vorgestellt hatte. Bald wäre ich wohlhabend, berühmt und geliebt. Ich könnte mir alle materiellen Besitztümer leisten, nach denen ich mich so gesehnt hatte, und hätte zudem noch die Mittel, um mein Leben nach meiner Façon zu gestalten. Ich war auf dem Weg an die Spitze und würde dann so leben, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Und doch stolperte ich, als ich meinen Träumen immer näher kam, über eine seltsame Erkenntnis, die mir den Wind aus den Segeln nahm. Egal was ich auch tat, es ließ sich einfach nicht leugnen, dass ich mich als Mensch schlichtweg mies fühlte.
* * *
Seit sieben Jahren führte ich eine Ehe, der es an jeglicher Leidenschaft und Gefühl fehlte. Ich hatte meinen Mann Jon Cruz auf einem Landsitz in der Wildnis kennengelernt; mein erster Arbeitgeber schickte dort seine oberste Managementriege hin, um deren Führungsqualitäten noch weiter auszubauen. Jon kämpfte sich als Unternehmer durch und hoffte in den Bergen auf gute Ideen zu kommen. Wir waren zufällig im gleichen Team und bekamen die Aufgabe, mitten in der Nacht eine Felswand zu erklimmen. Er bewunderte meine Unerschrockenheit und Ausdauer, ich fühlte mich sofort von seiner Sanftheit und Leidenschaftlichkeit dem Leben gegenüber angezogen. Wir verliebten uns und waren - entgegen meiner sonst so vorsichtigen Art - schon sechs Wochen später verheiratet.
Jon war ein anständiger Kerl in einer Welt, die Charakterstärke und Aufrichtigkeit nicht mehr den verdienten Stellenwert zugesteht. Die ersten Jahre unseres Zusammenseins waren erfüllt von vielen schönen Momenten, doch mit der Zeit vernachlässigten wir unsere Beziehung, bis sie schließlich den Bach hinunterging. Er liebte die Natur und spannende Unternehmungen im Freien, ich liebte schicke Restaurants und hochgestochene Modeschauen. Er sammelte schöne Bücher und hatte seinen Spaß daran, auf der Veranda hinter dem Haus etwas zu schnitzen, während ich edle Weine sammelte und Kunst schätzte. Aber ich muss sagen, dass nicht unsere Unterschiedlichkeit zu dieser alles andere als perfekten Ehe führte. Das eigentliche Problem bestand darin, dass ich nie zu Hause bei meinem Mann war.
Wenn ich abends irgendwann durch die Einfahrt fuhr, schlief Jon schon längst. Und wenn er morgens aufstand, bahnte sich mein Mercedes bereits seinen Weg ins Büro. Auch wenn wir unter einem Dach wohnten, führte doch jeder sein eigenes Leben. Aber ich fühlte mich nicht nur wegen meiner Beziehung mit Jon leer und mutlos. Wir hatten zwei kleine wundervolle Kinder, und mir war klar, dass sie unter meiner ständigen Abwesenheit litten. Sie beschwerten sich mit keinem Wort darüber, dass ich ständig im Büro war. Aber ihre Augen zeigten ihre Enttäuschung und wie sehr sie sich nach einer innigeren Beziehung zu ihrer Mutter sehnten.
Porter, unser Sohn, war gerade sechs geworden, und Sarita, unsere Tochter, war drei. Ich wusste, dass diese frühen Jahre für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit am wichtigsten waren. Ich wusste, dass sie in dieser Phase von liebevollen Vorbildern umgeben sein wollten, die ihre jungen Seelen mit Zärtlichkeit und Weisheit beschenkten. Ich wusste, ich würde die vielen Stunden, die ich ohne sie verbrachte, einmal bedauern. Aber aus einem unerklärlichen Grund konnte ich mich einfach nicht vom Büro und all den Verpflichtungen meines superkomplexen Berufslebens losreißen.
»Das Leben ist wie eine Reihe von Fenstern mit sich eröffnenden Chancen, die alle zusammen ein Ganzes ergeben«, sagte mein kluger Vater immer zu mir. Ich hatte so viel gesunden Menschenverstand und war auch intelligent genug zu begreifen, dass Porter und Sarita nur einmal klein waren und dass sie mich jetzt brauchten. Sobald sich dieses Chancen-Fenster schloss, wäre auch meine Gelegenheit für immer vertan, meine Kinder mit Werten, Tugenden und Vorstellungen auszustatten, sodass sie später ein erfülltes Leben führen konnten. Und ich wusste, dass ich es mir nie verzeihen würde, nicht für sie da gewesen zu sein, als sie mich am dringendsten brauchten. Ich hatte scheinbar weder den Mut, mein chaotisches Leben aufzugeben und über meine Prioritäten nachzudenken, noch war ich so klug, diese Prioritäten meines Daseins überhaupt infrage zu stellen. So sehr ich es auch versuchte, ich konnte einfach nicht aufhören, in diesem Irrsinnstempo zu arbeiten und in meinem Leben wieder so etwas wie Harmonie herzustellen. Ich meinte wirklich, ohne den ständigen Adrenalinstoß und ohne meinen knallvollen Terminkalender, der schließlich von meiner Wichtigkeit zeugte, nicht existieren zu können. Auch wenn ich in aller Öffentlichkeit noch so sehr bekannte, wie wichtig mir meine Familie war, so ließen die Tatsachen doch eindeutig auf etwas anderes schließen. Offensichtlich kamen Jon und die Kinder an zweiter Stelle nach meiner Karriere samt meinem Wunsch reich zu werden.
Wenn ich mein Leben noch einmal führen müsste, würde ich mich mehr entspannen. Ich wäre alberner denn je auf dieser Reise. Ich würde auf mehr Berge steigen, durch mehr Flüsse schwimmen und mir mehr Sonnenuntergänge anschauen. Ich hätte mehr tatsächliche Probleme und weniger eingebildete. Ach, es hat durchaus schöne Augenblicke in meinem Leben gegeben, aber wenn ich noch einmal von vorne anfinge, dann hätte ich mehr davon. Ich würde wahrhaftig versuchen, nichts als nur das zu haben - schöne Augenblicke, einen nach dem anderen. Und ich würde mehr Gänseblümchen pflücken.
Nadine Stair, 89 Jahre alt
Die meisten Menschen stellen erst fest, worum es im Leben geht, wenn sie bald darauf sterben. Unmittelbar mit dem Tod konfrontiert, erwachen sie zur tiefsten Bedeutung des Lebens, und es wird ihnen klar, was sie alles verpasst haben. Das Leben kann in dieser Hinsicht recht grausam sein. Seine Gaben leuchten den Menschen oft erst am Ende ein. Solange wir jung sind und das ganze Leben noch vor uns liegt, vertagen wir es oft. »Nächstes Jahr will ich mehr Zeit in der Natur verbringen - oder mehr lachen oder mehr lieben. Nächstes Jahr werde ich mehr Zeit mit meinen Kindern verbringen und alle großen Werke der Literatur lesen. Nächstes Jahr will ich mehr Sonnenuntergänge beobachten und intensivere Freundschaften aufbauen. Aber momentan habe ich noch jede Menge zu erledigen und muss zig Leute treffen.« So hört sich die Standardlitanei in unserem Zeitalter an. Nun, ich habe die Erfahrung gemacht, dass das Leben einem übel mitspielt, wenn man sich am Spiel des Lebens nicht wirklich beteiligt. Aus Tagen werden Wochen und Monate, und bevor man sich noch versieht, ist das Leben auch schon vorbei. Die darin enthaltene Weisheit liegt eigentlich auf der Hand: Hören Sie auf, Ihr Leben fremdbestimmt zu führen, und fangen Sie an, es selbst zu gestalten. Mischen Sie bei dem Spiel wieder mit und ergreifen Sie Maßnahmen, um sich die reiche Realität zu schaffen, die Ihnen - wie Sie im Grunde Ihres Herzens wissen - zusteht. Fangen Sie heute an, Ihr Leben so zu führen, wie Sie es sich auf dem Sterbebett wünschen würden. Oder, um es mit Mark Twain zu sagen, leben Sie Ihr Leben in vollen Zügen, damit sogar dem Totengräber bei Ihrer Beerdigung noch die Tränen kommen.
* * *
Wir leben in einer seltsamen Welt. Wir können punktgenau Raketen über den Globus senden, aber es fällt uns schwer, über die Straße zu gehen, um einen neuen Nachbarn zu begrüßen. Wir verbringen mehr Zeit mit Fernsehen als mit unseren Kindern. Wir behaupten, dass wir die Welt verändern wollen, sind aber nicht willens, uns selbst zu verändern. Wenn dann in unserem Leben die Sonne untergeht, nehmen wir uns ein wenig Zeit, um kurz und intensiv nachzudenken. Wir erhaschen einen Blick auf die Freuden, die wir hätten erfahren können, auf die Freundlichkeit, die wir hätten geben können, und auf die Art Mensch, die wir hätten sein können. Aber dann ist es schon zu spät. Bis die meisten von uns zum Leben erwachen, ist es Zeit zu ruhen. Zum Glück kam mein Erwachen dann doch früher.
Ich war nach San Francisco unterwegs, um bei einer High-Tech-Konferenz über den Erfolg von BraveLife.com zu sprechen. Um ein Haar hätte ich wegen eines Schneesturms, der fast die ganze Stadt samt Autoverkehr lahmlegte, meinen Flieger verpasst. Endlich an Bord des Flugzeugs machten meine beiden Geschäftspartner und ich es uns in unseren Erste-Klasse-Sitzen bei einem hervorragenden Glas Wein bequem. Wir diskutierten, wie wir die anstehende Präsentation am besten über die Bühne bringen wollten. Wir unterhielten uns rund 30 Minuten, dann entschuldigte ich mich. Nach dem langen, anstrengenden Tag war ich müde und nickte ein.
Plötzlich wurde ich von einer Ansage des Piloten geweckt: »Wir haben recht garstiges Wetter hier oben, Leute. Und so wie es aussieht, wird es gleich noch rauer. Bitte vergewissern Sie sich, dass Ihr Sicherheitsgurt geschlossen ist und klappen Sie Ihr Tablett nach oben«, lautete die vertraute Anweisung. Auch wenn er sich größte Mühe gab, ruhig zu klingen, verriet ihn seine Stimme. Mir schoss durch den Kopf, ob es sich nicht doch um etwas Ernsteres handelte. Mein Herz schlug schneller, als er fortfuhr: »Wie es aussieht, ist dieses unerfreuliche Wetter für uns an Bord eine echte Herausforderung. Bleiben Sie also angeschnallt. Ich informiere Sie über den Sturm, sobald wir Näheres wissen.«
In dem Moment ging auch schon das Licht in der Kabine aus und die Notbeleuchtung sprang an. Das Flugzeug wurde kräftig durchgeschüttelt, Teller fielen zu Boden. Die anfangs noch halbwegs erträgliche Turbulenz war dann doch zu viel für mich und mir wurde übel. Ich schaute meinem Partner Jack ins Gesicht - er sah aus wie Warren Beatty in jungen Jahren und hatte wie ich zwei kleine Kinder zu Hause. Normalerweise wusste er Ausnahmesituationen zu meistern, doch jetzt war er eindeutig entsetzt und fing an zu hyperventilieren. Als er zittrig meine Hand nahm, presste er ein paar Worte hervor, die ich nie vergessen werde: »Catherine, ich glaube, der Vogel stürzt ab.«
* * *
Es ist schwierig zu beschreiben, wie ich mich in den folgenden Minuten gefühlt habe. Ich wusste, dass Jack recht hatte, aber aus irgendwelchen seltsamen Gründen überkam mich so etwas wie Frieden und Akzeptanz. Ich umklammerte seine Hand und schloss die Augen. Und ich dachte an meine Kinder. Mir wurde das Herz schwer, als ein Bild des lächelnden Porter vor meinem geistigen Auge erschien. Ich erinnerte mich, wie er seine ersten Worte stammelte, und auch an die ersten Schritte dieses tollen kleinen Burschen. Ich sah ihn lachend in dem Baumhaus, das Jon hinter dem Haus für ihn gebaut hatte. Ich sah, wie er an einer Karotte knabberte, die er in Erdnussbutter stippte - eine Leckerei, die ihn seiner Meinung nach später einmal zum Superhelden machen würde. Ich sah, wie Sarita kichernd auf ihrem Bett auf und nieder hopste, wobei sie aus voller Kehle Kinderlieder sang. Und dann sah ich Jon, wie er sich auf der Veranda hinter dem Haus neben dem Grill entspannte - er liebt diesen Ort angeblich mehr als mich, wie er im Scherz immer sagt -, während er ein eisgekühltes Corona mit einer Limonenscheibe oben drauf trinkt. Fast schon in Zeitlupe sah ich dann uns vier bei unserem einzigen Familienurlaub, den wir je miteinander verbracht haben. Wir waren durch die kanadischen Rockies gereist. Das eigentlich Interessante bei all dem ist allerdings: Mir gingen in den letzten paar Minuten, bevor das Flugzeug abstürzte, Unmengen Gedanken durch den Kopf, aber nicht einer hatte mit mir oder dem Geschäft zu tun. Ich denke, es stimmt, was weise Leute seit Jahrhunderten sagen: Am Ende deines Lebens wirst du feststellen, dass alles, was du für wichtig gehalten hast, eigentlich Nichtigkeiten waren, und alles, was du für Nichtigkeiten gehalten hast, wirklich wichtig war.
In diesem Augenblick meines Lebens, als ich dem Tod ins Gesicht starrte, dachte ich nicht über das Geld nach, das ich verdiente, oder das Auto, das ich fuhr, oder den Titel, der auf meiner Visitenkarte stand. Meine Gedanken wanderten nicht ab in Richtung Gewinn, den unsere Firma erwirtschaftet hatte, oder zum Titelblatt einer Zeitschrift, auf der ich abgebildet gewesen war. Ich konnte nur an meine Familie denken. Und daran, wie sehr ich sie liebte, wie sehr ich sie vermissen würde und wie sehr ich es bereute, ihr nicht mehr Zeit geschenkt zu haben. Mein Vater sagte immer, er habe nie gesehen, dass hinter einem Leichenwagen ein Möbelwagen zum Friedhof fährt. Er wollte damit ausdrücken, dass man nichts mitnehmen kann, egal wie viel man im Lauf seines Lebens zusammengerafft hat. Das Einzige, was wir mitnehmen können, sind unsere Erinnerungen - Erinnerungen an die Dinge, die wirklich zählen. Jetzt, da ich mit dem Tod konfrontiert war, kam ich zu der abschließenden Erkenntnis: Meine Familie war mir am wichtigsten.
An das Heroische im Menschen zu glauben bringt Helden hervor.
Benjamin Disraeli
Ich weiß noch, dass ich aufwachte, als ich von einigen brüllenden Sanitätern in die Notaufnahme geschafft wurde. Ich verlor mehrmals das Bewusstsein und kam kurz wieder zu mir und hörte, wie jemand schrie: »Sie stirbt uns. Kaum noch Vitalfunktionen. Die Frau muss sofort auf den OP-Tisch!«
Du meine Güte, ging es mir durch den Kopf. Ich habe gerade ein Flugzeugunglück überleb. Meine Kleidung war blutdurchtränkt und an meinen Armen und Beinen klafften Wunden. Mir war kalt und ich hatte die Orientierung verloren. Und ich hatte Durst; in meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solchen Durst gehabt. Dann wurde mir klar, dass ich ja auf dem OP-Tisch sterben könnte.
Ich hatte keine Ahnung, in welcher Stadt ich mich befand. Ich wusste nicht, ob meine Familie von dem Unglück verständigt worden war. Ich wusste nicht, ob meine beiden Partner noch am Leben waren. Aber bald verwandelte sich meine Angst in Gelassenheit, und aus irgendeinem Grund wusste ich, dass ich durchkommen würde. Ich habe seitdem gelernt, dass das Universum sich immer so entfaltet, wie es soll, und dass alles, was uns im Leben widerfährt, einen Grund hat. Rückschläge erweisen sich unausweichlich als Segen und erteilen uns eine Lektion, die wir lernen müssen, um auf eine höhere Entwicklungsstufe zu gelangen. Der große amerikanische Dichter Henry Wadsworth Longfellow brachte diese Tatsache so auf den Punkt: »Es hat mir gutgetan, von der Hitze des Lebens ausgetrocknet und vom Regen durchnässt zu werden.« Ich wusste, dass ich diesen tragischen Unfall aus irgendeinem Grund überlebt hatte. Ich kam nur nicht darauf, was dieser Grund sein könnte. Und ich hatte auch keine Ahnung, worin die Lektion bestehen könnte.
* * *
Nachdem ich fast zwölf Stunden im OP zugebracht hatte, schaffte man mich auf die Intensivstation, wo dann meine zermürbende Rekonvaleszenz begann. Am nächsten Morgen wachte ich durch die beiden schönsten Laute auf, die ich je gehört habe - die Stimmen von Porter und Sarita. »Mami, wach auf! Mami, wach auf! Wir haben dich so lieb!«, wiederholten sie wie ein Mantra immer wieder. Als es mir schließlich gelang, die Augen zu öffnen, sah ich Porter in seinem liebsten Curious-George-T-Shirt und Sarita in einem roten Overall, den sie unbedingt immer anziehen wollte. Jon stand bei ihnen, die Tränen liefen ihm über die Wangen, er brachte kein Wort heraus. Dann umarmten sie mich. Wir alle fingen an zu weinen.
Ich sollte Monate in diesem Krankenhausbett verbringen. Das Flugzeugunglück hatte vielen Menschen das Leben gekostet, darunter auch Jack und Ross, meinen beiden Geschäftspartnern - ich war am Boden zerstört. Wir drei hatten in den letzten Jahren so viel miteinander erlebt, und ich war nicht daran interessiert, das Geschäft ohne die beiden weiterzuführen. Sie waren nicht nur die Mitbegründer von BraveLife.com, sondern auch meine besten Freunde. Die Unglücksursache war laut Luftaufsichtsbehörde angeblich ein »Pilotenfehler«. Die Rechtsanwälte schalteten sich ein, um ihre Schadensersatzforderungen zu stellen, aber ich schwor mir, diesen Schicksalsschlag zu überwinden und alles Nötige zu tun, um wieder auf die Beine zu kommen und zu meiner Familie zurückzukehren. Obwohl Jon und die Kinder mich jeden Tag besuchten, verbrachte ich die meiste Zeit in der Reha und bemühte mich, den Heilungsprozess zu beschleunigen. Die Ärzte und Schwestern im Krankenhaus waren wie Engel und überschütteten mich schier mit Aufmerksamkeit, Freundlichkeit und Mitgefühl. So gingen die Tage dahin und ich wurde langsam kräftiger - meine Zukunft sah nicht mehr so düster aus. Aber dann passierte mir eines Nachts etwas überaus Seltsames.
Die Besuchszeit war gerade vorüber, und Jon war mit den Kindern nach Hause gefahren. Ich hatte soeben angefangen, ein wunderschönes Buch zu lesen - Hoffnung für die Blumen von Trina Paulus -, das mich nicht nur inspirierte, sondern irgendwie auch erleuchtete. Als ich nach der Tasse Tee auf meinem Nachttisch griff, sah ich, wie jemand enorm schnell in einem Elektrorollstuhl den Gang vor meinem Zimmer entlangsauste.
Ich war überrascht, dass jemand zu so später Stunde mit so einem Tempo dahinflitzte, lenkte meine Aufmerksamkeit dann aber wieder auf mein Buch. Ich hatte wegen meiner enormen Arbeitsbelastung aufgehört zu lesen, mir aber nach dem Flugzeugabsturz geschworen, wieder alles zu machen, was wirklich zählt. Jeden Tag eine Weile kluge, inspirierende Literatur zu lesen gehörte dazu. Diese Katastrophe war für mich wie eine Offenbarung gewesen, eine Art Weckruf, den ich gebraucht hatte, um meine Prioritäten neu zu überdenken und mein Leben in Ordnung zu bringen. In meinem einsamen Krankenzimmer begann ich nach vielen Jahren erstmals wieder ernsthaft zu reflektieren, wie ich mich verhalten hatte - als Mutter, Partnerin und Mensch. Mir war, als hätte ich eine zweite Chance zu leben bekommen. Und diesmal wollte ich mit mehr Weisheit, Anstand und Tugend leben. Ich kam zu dem Schluss, dass ich zu einem guten, einfacheren Dasein zurückkehren wollte.
»Das Beste befindet sich ganz in der Nähe: Atem in den Nasenlöchern, Licht in den Augen, Blumen zu Füßen, anstehende Pflichten, den Weg der Rechtschaffenheit vor sich. Greife nicht nach den Sternen, sondern erfülle die ganz alltäglichen Aufgaben des Lebens, wie sie auf dich zukommen, in der Überzeugung, dass die täglichen Pflichten und das tägliche Brot die schönsten Dinge im Leben sind«, schrieb Robert Louis Stevenson.
Als ich mich gerade wieder auf mein Buch konzentrierte, passierte es noch einmal. Die Person im Rollstuhl flitzte erneut an meinem Zimmer vorbei - sogar noch schneller. Und noch erstaunlicher war, dass dieser Mann nun auch noch aus vollem Halse sang. Ich kannte das Lied - ich hatte es seit Jahren nicht gehört. Meine Eltern hatten es mir immer vorgesungen, als ich noch klein war, und ich war überrascht, dass dieser seltsame Besucher den Text konnte. Ich wollte wissen, wer er war. Aber war das eine gute Idee? Was, wenn es sich bei dem Mann um einen durchgeknallten Spinner handelte, der einfach von der Straße hier hereingekommen war? Meine Neugier war jedoch stärker, und ich rollte mich aus dem Bett und griff mir mein Gehwägelchen.
Ich ging langsam auf den Gang hinaus, um mir den Spinner genauer anzuschauen. Aber da war nichts zu sehen. Der Gang war völlig leer, alles war ruhig, abgesehen von zwei diensthabenden Schwestern. »Ach, hallo«, sagte ich freundlich, als ich mich durch den Korridor kämpfte.
»Hi, Catherine«, erwiderten sie. »Alles in Ordnung?«
»Ja klar«, antwortete ich. »Ich habe mich nur gefragt, wer da vor ein paar Minuten den Gang runtergerast ist. Der Typ war doch viel zu schnell. Er hätte jemanden verletzen können. Und warum hat er gesungen? Wenn Sie ihn noch mal sehen, sagen Sie ihm bitte mal, dass er langsamer machen soll. Und außerdem, dass er Gesangsstunden nehmen soll, wenn Sie schon dabei sind«, meinte ich mit einem Lächeln.
»Wir haben niemanden gesehen«, erwiderten die beiden Schwestern einstimmig.
»Wirklich nicht?«, fragte ich verlegen.
»Nein, leider, Catherine. Vielleicht haben Sie bloß schlecht geträumt.«
»Nein, das war kein Traum. Ich habe so einen seltsamen Kauz in einem Elektrorollstuhl gesehen, wie er den Gang da runtergeflitzt ist. Und er hat ein Kinderlied gesungen, das mir, als ich klein war, immer gefallen hat. Ich habe das Lied jahrelang nicht mehr gehört.«
Mir wurde langsam bewusst, wie dämlich sich mein Gerede anhören musste. Die Schwestern lachten.
»Sie wollen uns wohl auf den Arm nehmen, oder?«
»Nein, es ist mein Ernst. Wenn Sie ihn sehen, reden Sie mit ihm«, sagte ich streng. »Er sollte sich nicht so verantwortungslos verhalten.«
»Na gut, Catherine, das machen wir«, antwortete eine der Schwestern kichernd.