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"Was macht das Baby in meiner Krippe?" Was wäre, wenn ein Schaf die Weihnachtsgeschichte erzählen würde? Mal humorvoll, mal nachdenklich, aber immer mit viel Fantasie zeigen Susanne Niemeyers Geschichten Weihnachten aus einer anderen Perspektive. Mit dabei sind das Schaf im Stall, ein Leuchtturmwärter, Gott auf dem Weihnachtsmarkt, eine Familie, die im Schlauchboot übers Meer kommt. Weihnachten kommt eben immer anders, als man denkt. 24 überraschende Geschichten voller Hoffnung und Wunder.
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Seitenzahl: 132
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Susanne Niemeyer
Das Weihnachtsschaf
24 wunderbare Geschichten
Neuausgabe 2020
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © samiola/iStock/Getty Images
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN E-Book 978-3-451-82145-5
ISBN Print 978-3-451-03261-5
Liebes Weihnachtsfest,
1 Das Weihnachtsschaf
2 Schnaps und Kartoffelsalat
3 Gott auf dem Weihnachtsmarkt
4 Was ich mich frage
5 Auf der Flucht
6 Das Geschenk des Nikolaus
7 Warten
8 Der Leuchtturmwächter
9 Deutsche Weihnacht
10 Fünfte Reihe links
11 Tagebuch einer Großmutter
12 Der Neue
13 Lucias Glück
14 Als ich Jesus traf
15 Unsichtbar
16 Der unerklärliche Engel
17 Herberge
18 Das Märchen von der Christrose
19 Herr Wohllieb feiert Weihnachten
20 Die Angst und das Schaf
21 Bei Gott zu Hause
22 Die drei Könige
23 Wo ist Weihnachten?
24 Als Gott Windeln trug
Weihnachtslieder
Die Autorin
vierundvierzig Mal haben wir jetzt schon zusammen gefeiert. Ein paarmal gab es Schnee. Wir saßen zusammen in kalten Kirchen. Wir haben zu viel Pute gegessen und später, in vegetarischen Zeiten, den anderen heimlich die Pute geneidet. Wir haben Playmobil aufgebaut, Opas Kiwitorte gepriesen, die Tode der alten Tanten gezählt. Wir haben um echte Kerzen gekämpft, uns dem Konsum verweigert, keine Geschenke verteilt, viele Geschenke verteilt, aber wenigstens alle in Zeitungspapier verpackt. Wir haben nie zusammen Kartoffelsalat gegessen. Wir haben uns in einer dänischen Hütte getroffen – in dem Jahr, als wir vor einem Höchstaufgebot an Engeln geflohen sind. Einmal haben wir sogar zusammen allein gefeiert. Es war still und überraschend. Wir waren Fremde – du in der Welt und ich bei den Schwiegereltern in spe. Wir haben uns im Rhythmus der alten Worte gewiegt. Gemeinsam haben wir auch die längste Predigt tapfer angehört, um dann endlich aufzustehen und aus voller Kehle O du fröhliche zu singen. Egal wie schief. Wir haben Milde geübt, uns das Jesusfigürchen in der Krippe angesehen, mit dem ich nie viel anfangen konnte. Aber ich habe ja auch nie mit Puppen gespielt. Wir sind zusammen im Wald gewesen, kurz vor der Dunkelheit, wenn nur noch Vögel und Hasen da waren. Wir haben nach der Stille gegriffen.
Liebes Weihnachtsfest, wir waren nie heil. Die Welt lag im Krieg, ich hatte Liebeskummer. Du kamst trotzdem. Oma starb, Papa starb, du kamst trotzdem. Die Wohnung war nicht fertig, die Kisten waren notdürftig mit Lichterketten geschmückt, du kamst trotzdem. Ich verweigerte mich, ich fand, wir zwei bräuchten mal eine Pause, und du kamst auch dieses Mal trotzdem.
All die Jahre hatte ich den Traum, am Heiligen Abend mit allem fertig zu sein. Aber dann blieben die Fenster doch wieder ungeputzt, die Briefe halb geschrieben, ich war nicht beim Friseur. Die Kekse habe ich auf die Schnelle in den Ofen geschoben und sie kamen irgendwie schiefer als im Kochbuch abgebildet wieder heraus. Die Gedichte blieben ungelesen, das Weihnachtsoratorium habe ich nur beim Abwaschen gehört. Du kamst trotzdem.
Das mag ich an dir. Du setzt meiner Welt deinen Glanz entgegen. Du gehst an Orte, an die ich mich nicht wage. Du bist der Leuchtturm in der Zeit, einer wacht über die Nacht. Lass uns das feiern.
Deine Susanne
Etwas liegt in meinem Essen. Ich komme nichts ahnend aus den Bergen zurück und dann liegt das da in meinem Essen. Es schreit. Das irritiert mich und ich wette, Ihnen würde es genauso gehen. Solche Überraschungen mag ich nicht. Hilda behauptet, es ist ein Mensch. Ich habe schon genügend Menschen gesehen, um sagen zu können, dass das hier nicht wie ein Mensch aussieht. Menschen sind groß, haarig und sie schreien nicht. In der Regel. Der Bauer hat schon mal den Schäfer angeschrien, weil wir sein Grünzeug angeknabbert hatten. Angeblich waren es Möhren. Ich fand das kleinlich. Es war grün. Es sah aus wie Gras. Wie soll man das denn unterscheiden? Jedenfalls war sein Schreien anders. Es kamen Worte vor. Dieses da liegt auf dem Rücken und was aus seinem Mund kommt, sind eindeutig keine Worte. Es scheint auch nicht besonders geschickt zu sein. Warum steht es nicht auf?
Ich stupse ein paarmal meine Schnauze in seine Seite, um ihm zu helfen. Hilda sagt, ich solle bloß aufpassen. Am Ende denkt noch jemand, ich will das fressen. Ich werfe ihr einen empörten Blick zu. Fressen! Als ob ich Fleisch fressen würde. Da kann ich mir ja gleich ins eigene Bein beißen.
Doch man weiß ja nie, wie Menschen ticken. Sie machen hektische Bewegungen. Sie hetzen diesen fürchterlichen Hund auf einen. So ein Hund kläfft, und meistens hat er auch noch Flöhe und dann macht er ein Theater, wenn sein Mensch wiederkommt, als wäre er der König persönlich. Das ist unter eines Schafes Würde.
Ich habe beschlossen, es vorerst »das Kleine« zu nennen. Bis wir Genaueres wissen. Das Komische an dem Kleinen ist: Es ist rosa. Hilda sagt, es ist eben nackt. Ich frage sie, was das bedeutet. Sie meint, so sei das eben: Menschen kämen nackt auf die Welt. Ich finde das verstörend. Jedes Lamm hat flauschige Locken und steht nach fünf Minuten auf eigenen Beinen. Nachdenklich schüttele ich den Kopf und versuche, ein paar Halme Heu unter dem Kleinen hervorzuziehen. Es lässt mich gewähren. Offenbar hat es sich an mich gewöhnt.
Ich habe es nun ein paar Stunden beobachtet. Es gibt zwei große Menschen, die nehmen es hoch und füttern es. Die beiden sehen normal aus, fast wie der Schäfer. Das Kleine unterscheidet sich erheblich von ihnen. Es trägt keine Kleider. Es kann nicht stehen. Es ist nicht der Schäfer und auch nicht der Bauer. Es hat keinen Hund. Also kann es kein Mensch sein. Jedenfalls kein normaler. Ich beschließe, die anderen mit meinen Beobachtungen zu konfrontieren.
Hier geht es zu wie beim Scherer. Immer mehr Menschen drängen sich in unseren Stall. Sie wollen das Kleine sehen. Ich frage mich, was es da zu sehen gibt. Überhaupt frage ich mich, was es hier im Stall tut, wenn es doch ein Mensch sein sollte. Menschen haben Häuser. Sogar der Schäfer hat ein Haus. Wir dürfen da nicht rein. Hier dürfen alle rein, ich habe mich bereits beschwert, aber auch der Schäfer hat nur noch Augen für das Kleine. Ich fühle mich vernachlässigt.
Hilda sagt, vielleicht ist es wie wir. Ich frage, wie sie das meine, da es ja offensichtlich nicht wie wir ist. Das müsste jetzt auch das dümmste Schaf begriffen haben. Sie sei ja nicht dumm, erwidert Hilda.
»Vielleicht ist es innen drin wie wir. Friedlich eben.«
Schafe sind sehr friedlich. Von Natur aus. Außer der Ober-Bock, aber das ist eine andere Geschichte. Von unserer Seite spräche jedenfalls nichts dagegen, dass die Wölfe bei den Lämmern liegen.
Irgendetwas Besonderes muss an dem Kleinen sein. Jetzt scheint auch noch so ein heller Stern in unseren Stall. Ich habe die Nacht kein Auge zugetan. Der Lärm, die Leute, jetzt das. Ist Ihnen eigentlich klar, wie sensibel so eine Schafsseele ist?
Heute kamen drei Leute von weit her. Sie sahen völlig anders aus als der Schäfer. Ihre Kleider waren bunt und der eine hatte ein sonderbares Ding auf dem Kopf. Hilda sagte, das sei ein Turban. Sie hatten Geschenke dabei. Das nenne ich anständig. Allerdings waren es sonderbare Dinge. Ich weiß ja nicht, was das Kleine braucht. Ein Lamm braucht jedenfalls nicht viel. Aber das kriegt sein Fell ja auch inklusive.
Der eine brachte etwas Glänzendes. Etwas, das ich noch nie gesehen habe, also kann ich nicht sagen, ob es wichtig ist. Für ein Schaf offensichtlich nicht. Sonst würde ich es ja kennen.
Der andere hatte ein Kraut, das er Myrrhe nannte. Es roch schon von Weitem streng. Was der Dritte mitgebracht hatte, erweckte meine Neugier. Es duftete süß. Ich wollte dran knabbern, aber sie scheuchten mich weg.
»Es könnte Gott sein«, sagt Hannes. Es ist das Erste, was er zu der ganzen Sache sagt. Manchmal schweigt er tagelang. Das liegt an seinem Alter. Hannes ist das älteste Schaf im Stall. Er ist weise.
»Was ist Gott?«, frage ich.
»Der Weltenbeweger«, sagt Hannes. Ich schaue das Kleine an. Undenkbar, dass es etwas bewegen kann. Es kann ja nicht mal den Platz in meiner Krippe räumen.
»Was bewegt er?«
»Er macht die Herzen mild.«
Hannes sagt immer Sachen, die keiner versteht. Ich versuche, logisch zu bleiben. »Kann er einen beschützen?«, frage ich und denke an den Wolf. Hannes nickt. Das wäre ein Pluspunkt. »Auch vor dem Mann mit dem großen Laster?« Hannes betrachtet das Kleine eine Weile. Dann wiegt er den Kopf. »Eher nicht.«
Wäre ja auch zu schön gewesen.
»Hast du Gott schon mal gesehen?« Hannes nickt wieder. Ich staune über seine Erfahrung. »Dann wirst du ihn doch wiedererkennen. Sah er so aus?«
»Anders.«
»Lag er im Essen?« Hannes verneint. Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen jenem Gott und diesem Kleinen.
Ich puste ein bisschen warme Luft an seine Füße. Vielleicht mag es das, egal, was es ist.
Die Leute haben sich mittlerweile häuslich eingerichtet. Unsere Krippe können wir vergessen. Sie kümmern sich sehr um das Kleine. Es scheint wichtig zu sein.
»Wenn es uns nicht vor dem Mann mit dem Lastwagen beschützen kann, wozu ist es dann da?«, frage ich Hannes.
»Für nichts.«
»Dann ist es sinnlos.«
»Wofür bist du da?«
»Zum Essen«, blökt Hilda. Ich werfe ihr einen strafenden Blick zu. Sie ist so vulgär.
»Ich brauche für nichts da zu sein. Ich bin ein Schaf.«
»Eben«, brummt Hannes. »So könnte es mit dem da auch sein.«
»Wie meinst du das?« Der Schäfer ist da, um Heu zu bringen. Der Bauer ist da, um Heu zu machen. Der Mann im Lastwagen hat seinen Beruf verfehlt. Menschen sind für etwas da, oder?
»Es braucht für nichts da zu sein. Es ist Gott. Es ist da.«
Sieh an, denke ich. Vielleicht sind wir einander doch näher, als ich dachte.
Als Opa ins Heim zieht, haben alle ein schlechtes Gewissen. Ich nicht. Opa guckt wie immer. Er packt seine Bücher in drei Kisten und legt das Buddelschiff obendrauf. »Wir können gehen«, sagt er, und Mama seufzt. Mama seufzt viel in letzter Zeit. Ich glaube, Opa geht das auf die Nerven.
»Ach, Vati«, sagt sie, »wenn wir dich nur zu uns nehmen könnten. Aber du weißt, wie eng es bei uns ist ...«
»Passt schon«, brummt Opa und zündet sich eine Zigarette an, die Mama ihm sofort entreißt.
»Sei nicht so unvernünftig! Das ist der sichere Tod für dich!«
»Nichts ist so sicher wie der Tod. So oder so.«
Mama will das nicht hören.
Das Heim ist ein gelbes Haus. Vor dem Eingang stehen zwei Bänke, links eine und rechts eine. Ich reserviere in Gedanken schon mal die linke für Opa und mich. Dann gehen wir rein. Drinnen begrüßt uns eine Frau. Mama sagt, das ist eine Pflegerin. Opa will sein Zimmer sehen. Wir gehen ins zweite Stockwerk, weil Opa sich weigert, den Fahrstuhl zu benutzen. »Meine Beine funktionieren noch!«
Es gibt ein Bett, einen Sessel, einen Tisch mit Häkeldecke, einen Fernseher und ein Katzenbild, das mich an die Kalender erinnert, die immer in der Apotheke liegen. Es riecht ein bisschen komisch. Opa geht zur Wand, nimmt das Bild ab und drückt es der Pflegerin in die Hand. »Ich mag keine Katzen.«
»Aber Vati«, beeilt sich Mama zu sagen, »natürlich magst du Katzen.« Dann dreht sie sich zur Pflegerin um und lächelt entschuldigend: »Lassen Sie mal, das passt schon.«
»Katzen haben mir noch nie gefallen«, brummt Opa, und das stimmt. Alle mögen Katzen, nur Opa nicht.
»Ist doch egal«, zischt Mama. Mir wäre das nicht egal. Wenn jemand zum Beispiel Pferdeposter in mein Zimmer hängen wollte, würde mich das stören. Pferdeposter sind Mädchenzeug.
Opa hört schon nicht mehr zu. Er hat den Fernsehstecker aus der Wand gezogen und versucht, das klobige Gerät hochzuheben.
»Herr Klöckner«, ruft die Pflegerin entsetzt, »was machen Sie denn da?« Opa würdigt sie keines Blickes.
»Ich habe meinen Lebtag noch nicht ferngesehen, also werde ich auch hier nicht damit anfangen.« Wahrscheinlich könnte er etwas netter sein. Man merkt erst, wie nett Opa ist, wenn man ihn länger kennt. Die Pflegerin kennt ihn eindeutig zu kurz. Deshalb herrscht sie ihn an:
»Sie können den nicht einfach rausstellen. Der gehört zum Inventar!« Ich würde ihr am liebsten sagen, dass Opa es nicht mag, wenn man ihn anherrscht, aber Mama wirft mir einen strengen Blick zu, sodass ich lieber schweige. Opa lässt sich nicht beirren und hievt den Fernseher auf den Flur.
»Ist das hier jetzt mein Zimmer oder nicht?«
Mama zieht ihn weg. »Wir essen erst mal ein schönes Stück Kuchen.«
Wir liefern Opa im Speisesaal ab und fahren nach Hause.
Zwei Tage später besuche ich Opa. Die Pflegerin guckt komisch, als ich sage, dass ich zu Herrn Klöckner möchte.
»Warum hat die so komisch geguckt?«, frage ich Opa, als wir allein sind.
»Wahrscheinlich, weil ich ihr Grünzeug nicht will«, brummt er. Es ist Advent. Jedes Zimmer bekommt ein Gesteck. Opa hat seines aus dem Fenster geworfen.
»Das sah aus wie bei meiner eigenen Beerdigung«, sagt er und kichert. Damit ist die Sache für ihn erledigt. Ich muss auch ein bisschen kichern, obwohl ich ahne, dass Mama das nicht lustig fände. Seitdem heißt es: Herr Klöckner ist renitent. Ich weiß nicht, was das ist, und Opa erklärt mir, dass das auch nichts macht, weil es ohnehin Quatsch ist. »Nur weil ich so’n Gedöns nicht will. Hast du Zigaretten?« Ich nicke. Opa setzt sich ans Fenster und raucht. »Darf man auch nicht«, sagt er und zuckt mit den Schultern. Ich wundere mich, dass man so viele Sachen nicht darf. Bisher dachte ich immer, je älter man wird, desto mehr darf man. Hier scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Ich beschließe, später genauer darüber nachzudenken.
Als ich Opa das nächste Mal sehe, wirkt er bedrückt: »Fehlt dir was?« Opa schüttelt den Kopf: »Im Gegenteil. Ich will einfach nur meine Ruhe. Andauernd kommt wer und will Weihnachtslieder singen oder Gymnastik machen. Ich will hier sitzen und Radio hören.«
Ich kann das verstehen. Mama nicht.
»Ich mache mir Sorgen«, sagt sie beim Abendessen, und ihre Stirn ist gefaltet. »Das Heim hat angerufen. Vati nimmt an nichts teil. Nicht mal Strohsterne basteln will er.«
Ich kann mir Opa nicht beim Basteln vorstellen. Papa nuschelt irgendwas und belegt sehr konzentriert sein Brot mit Salamischeiben.
Fünf Tage vor Weihnachten hat Opa es geschafft, alles zu verweigern. Die Strohsterne, das Krippenspiel der Kita, die Adventsandacht der evangelischen Kirche, die Adventsandacht der katholischen Kirche, die meditativen Tänze (auch im Sitzen mitzumachen) und den Vorleseabend einer unbekannten Literatin im Ruhestand. Er wird als depressiv eingestuft. Ich finde, Opa ist wie immer. Wenn ich komme, sitzt er am Fenster und raucht. Ich spiele mit seinen Schachfiguren und freue mich, dass Opa der einzige Mensch auf der Welt ist, der nicht nach meinen Hausaufgaben fragt.
Dann kommt Weihnachten. Mama beschließt nach langem Hin und Her, Opa vor der Kirche aus dem Heim abzuholen und nach der Wildente zurückzubringen. »Mehr schaffst du nicht. Das erschöpft dich zu sehr.« Ich finde, Opa wirkt nicht erschöpft. Mama sagt, das könne ich nicht beurteilen.
Opa schnaubt: »Wildente. So ein Schnickschnack! Ich will Kartoffelsalat und einen Schnaps!«
Mama erklärt ihm, dass Schnaps nichts für 92-Jährige sei und dass er sich in seinem Alter jawohl was Besseres als Kartoffelsalat gönnen könne, worauf Opa ruft, das wolle er gar nicht, worauf Mama ruft, Opa sei stur.
Am Heiligen Abend ist Opa weg. Als Papa ihn um fünf Uhr abholen will, ist sein Zimmer leer. Er kehrt unverrichteter Dinge zurück. Mama schimpft, nicht mal die einfachsten Aufgaben könne man ihm übertragen, ob er auch überall geguckt habe.
»Wie soll man denn bitte in einem 12-Quadratmeter-Zimmer einen ausgewachsenen Menschen übersehen?«
Mama schnappt sich den Autoschlüssel und faucht: »Wenn man nicht alles selber macht!« Ich fahre mit.