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Welche sieben Dinge brauchen wir wirklich in unserem Leben? Susanne Niemeyer zählt sie auf: Freiheit, Heimat, Freunde, Liebe, Arbeit, Gerechtigkeit und Vertrauen. Das Gute an ihnen: Sie wiegen nichts, kosten nichts und brauchen keinen Stauraum. Sie sind wie das Manna aus der biblischen Geschichte. Es gibt genug davon. Nimm, soviel du brauchst. Wie man diese Siebensachen im Alltag (wieder)finden kann, darum geht es in diesem Buch - nachdenkend, spielerisch, praktisch. Inspiriert von neu erzählten Weisheitstexten der Bibel gewinnt das Leben Sinn und Sinnlichkeit. "Ein tolles Geschenk für jeden und besonders für sich selbst. Damit schenkt man ALLES – nämlich genau so viel wie gebraucht wird." (Stimme einer Leserin)
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Seitenzahl: 149
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Susanne Niemeyer
Soviel du brauchst
Aktualisierte Neuausgabe 2021
© Kreuz Verlag in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013
ISBN 978-3-451-61185-8
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Sabine Hanel, Gestaltungssaal
Umschlagmotiv: Gestaltungssaal unter Verwendung von © Kotchamol – shutterstock und © Danussa – shutterstock
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN E-Book 978-3-451-82535-4
ISBN Print 978-3-451-38863-7
Pack deine Siebensachen, wir gehen!
Wohin?
Ins Leben!
(bitte ankreuzen)
Schokolade ◻ Ruhe ◻ Liebe ◻ viel Liebe ◻ Zeit ◻ Fotoalben ◻ etwas mehr Geld als nötig ◻ Freunde ◻ Trost ◻ einen Traum ◻ Fleisch ◻ Rituale ◻ Hoffnung ◻ Gebete ◻ ein Zuhause ◻ Wohlwollen ◻ Kinder ◻ einen Beruf ◻ einen Beruf, der erfüllt ◻ Musik ◻ ein Klavier ◻ ein Fahrrad ◻ Tiere ◻ Wochenenden ◻ Urlaub ◻ Sonne ◻ Schlaf ◻ Mut ◻ Unverwundbarkeit ◻ Versöhnung ◻ Vergebung ◻ einen Garten ◻ Erfolg ◻ Überraschungen ◻ meinen Mann ◻ meine Frau ◻ Sicherheit ◻ Glauben ◻ Heirat ◻ meine Eltern ◻ Bewegung ◻ Sport ◻ einen Rucksack ◻ einen Fernseher ◻ Gott ◻ Vertrauen ◻ Herausforderungen ◻ Blumenwiesen ◻ Theater ◻ genug zum Leben ◻ schöne Bettwäsche ◻ Wunder ◻ eine Küche ◻ Malzeug ◻ Auswege ◻ ein Auto ◻ Wein ◻ Wasser ◻ Servietten aus Stoff ◻ Vergangenheit ◻ Familie ◻ schöne Kleidung ◻ Mitsprache ◻ Bücher ◻ Nachrichten ◻ Freiheit ◻ eine Wahl ◻ das Recht auf Sünde ◻ das Recht auf Irrtum ◻ das Internet ◻ Wärme ◻ Zeichen ◻ Abwechslung ◻ Ermutigung ◻ Geheimnisse ◻ Ansehen ◻ Lob ◻ Rücksicht ◻ Anfänge ◻ Fußball ◻ Sex ◻ Wünsche ◻ Platz ◻ Geborgenheit ◻ Luxus ◻ Zärtlichkeit ◻ den Tod ◻ das Leben ◻ einen, der sagt, wo es langgeht ◻ eine, die weiß, wo es langgeht ◻ den Wald ◻ Erlösung ◻ Schmuck ◻ Erfüllung ◻ Leere ◻ ein Zimmer für mich ◻ eine zweite Chance ◻ das Fremde ◻ Äpfel ◻ ein Navi ◻ Facebook ◻ einen Weihnachtsbaum ◻ Engel ◻ ein Vorbild ◻ alles ◻ nichts ◻ ………◻
(Bitte falten und frei Haus senden an: Gott, Adresse bekannt)
Am Anfang
Soviel du brauchst (nach 2. Mose 16,1–21)
Eins. Freiheit
Die Freiheit kosten (nach 1. Mose 2,15–3,24)
1. Geh’ ins Blaue!
2. Vergib jemandem
3. Wirf etwas weg
4. Tu so, als ob
5. Pflanze einen Garten
6. Entscheide dich
7. Streich’ das Wort »Muss«
Zwei. Heimat
Heimat finden (nach Lukas 14,16–23)
1. Sei Gast
2. Finde einen Lieblingsplatz
3. Schalt ab
4. Mach’ dich schön
5. Räum’ auf
6. Geh’ in eine Kirche
7. Sag ja
Drei. Freundschaft
Freundschaft leben (nach Lukas 24,13–35)
1. Schreibe eine Postkarte
2. Bitte um etwas
3. Lade ein
4. Grüß Gott
5. Tröste jemanden
6. Frag’ was
7. Zeig’ dich
Vier. Liebe
Auf die Liebe setzen (nach Johannes 12,1–8)
1. Tu etwas Mutiges
2. Liebe alles
3. Mach etwas heil
4. Verschenke etwas
5. Wundere dich
6. Lobe jemanden
7. Sei großzügig
Fünf. Arbeit
Arbeit tun (nach Lukas 12,16–31)
1. Tu nichts
2. Scheitere heiter
3. Schaffe etwas Großes
4. Sei Diener
5. Lebe ohne Geld
6. Tu, was du gern tust
7. Geh in die Sonne
Sechs. Gerechtigkeit
Für Gerechtigkeit sorgen (nach Johannes 6,1–13)
1. Kauf gerecht
2. Streiche das Wort »egal«
3. Gib einen Euro
4. Verzichte auf dein Recht
5. Habe eine Vision
6. Beschwer’ dich
7. Hör’ auf zu betrügen
Sieben. Vertrauen
Vertrauen üben (nach Matthäus 14,22–32)
1. Schreibe ein Glücksbuch
2. Triff dich mit Gott
3. Geh mit geschlossenen Augen
4. Lerne etwas auswendig
5. Sing!
6. Schreibe deinen Psalm
7. Gehe auf einen Friedhof
Am Ende
Weitergehen (nach 1. Könige 19,4–15)
Liebe Leserin, lieber Leser,
dieses Buch ist ein Gedankenspiel: Wie wäre es denn, wenn alles schon da wäre? Wenn alles, was wir brauchen, bereits vor uns läge, lockend und verheißungsvoll wie auf einem Gabentisch? Essen und Trinken, Liebe und Vertrauen, Heimat und Sinn – und wir könnten einfach zugreifen?
Wie wäre es, wenn es einen Geber gäbe, und er hieße Gott. Und Gott breitete, was wir brauchen, vor uns aus. Vielleicht anders als vorgestellt. Vielleicht zeitversetzt und an unerwarteten Orten. Vielleicht nicht wie gewünscht, aber am Ende doch gut.
Dieses Buch ist eine Einladung, für die Spanne eines Spiels darauf zu setzen. Diese Spanne kann – angelehnt an die sieben Kapitel des Buchs – sieben mal sieben Tage dauern oder sieben mal sieben Wochen. Es kann eine Fastenzeit begleiten oder gleich ein ganzes Leben.
Dieses Buch ist eine Einladung, immer wieder auszuprobieren, wo sich das Leben finden lässt, und zu kosten, was satt macht. Die alten biblischen Texte erzählen in hunderten Geschichten davon. Eine ist jedem Kapitel vorangestellt. Nichts davon ist erwiesen. Es gibt keine Garantien. Weil es für das, was wirklich zählt, nie Garantien gibt und auch keine Beweise. Nicht für die Liebe, nicht für das Vertrauen, nicht für die Seligkeit. Es ist ein Griff nach dem Möglichen. Himmelsbrot für’s Erdenglück. Nimm, soviel du brauchst.
(nach 2. Mose 16,1–21)
Evelyn lebt seit siebzehn Jahren mit Hartmut zusammen. Hartmut will seine Ruhe. Wenn er von Evelyn spricht, dann sagt er nicht ihren Namen, sondern »sie«. Früher hat Evelyn davon geträumt, ein Wochenende ans Meer zu fahren. Hand in Hand durch die Stadt zu bummeln. Beim Abendbrot einander vom Tag zu erzählen. Rosen geschenkt zu bekommen (dass das kitschig klingt, war ihr egal). Jetzt ist Evelyn meistens traurig. Wenn Hartmut lospoltert und ihr zu verstehen gibt, dass sie ohne ihn nichts wäre. Dass er so manche andere haben könne und sie doch mal ihr Haar machen lassen solle. »Trenn’ dich von dem«, sagt Evelyns Freundin Judith. »Ich kann nicht«, antwortet Evelyn dann. »Ich liebe ihn doch.« »Du verwechselst Liebe mit Gewohnheit. Wo sind deine Träume hin?«
Judith hat gerade Jacob bekommen. Als Clara geboren wurde, da saß Judith acht Wochen später wieder am Schreibtisch. Vier Tage nach der Geburt beantwortete sie die ersten E-Mails. Sie wollte zuverlässig und belastbar sein. Als sie jetzt mit Jacob ein halbes Jahr Elternzeit nehmen will, sieht ihr Chef sie erstaunt an: »Ich dachte, Sie wollen bei uns was werden.«
Herr von Meiden ist ein pflichtbewusster Chef. Die Firma hat er von seinem Vater übernommen. Ein kleines, solides Familienunternehmen. Herr von Meiden wird von allen gelobt für sein Geschick und sein Verantwortungsbewusstsein auch in Krisenzeiten. Sie wissen nicht, dass die Schulden hoch sind und täglich wachsen. Herr von Meiden versteht es, den Schein zu wahren. Aber nachts schläft er nicht. »Du musst Insolvenz anmelden, sonst kommst du in Teufels Küche«, drängt der einzige, der von all dem weiß. René ist Herr von Meidens Freund. Sie waren Nachbarsjungen. »Da bin ich doch schon längst«, seufzt Herr von Meiden. »Ich würde alles verlieren, meine Kunden, meine Geschäftspartner. Was bliebe mir dann noch?« René sieht ihn an: »Freiheit?«
René hat immer viel zu tun. Er sucht sich die Dinge. Das braucht er. Abends baut er an seiner Gartenhütte oder bessert das Dach aus. »Die Pflicht«, sagt er. »Einer muss ja ran.« Wenn er dann spät in seinen Sessel fällt, holt er sich ein Bier, und weil das schnell leer ist, ein zweites und ein drittes. »Zum Entspannen«, sagt René und schläft vorm Fernseher ein. Wenn er morgens die Flaschen wegräumt, schämt er sich manchmal. »Heute Abend gibt es nur Cola«, sagt er sich. Aber Cola trägt ihn nicht davon.
Eines Nachts haben Evelyn und Judith und Herr von Meiden und René den gleichen Traum. Eine Stimme flüstert: »Du sollst frei sein. Brich auf. Verlass deinen Alltag. Ich zeige dir ein Land, in dem Milch und Honig fließen.« Evelyn träumt von der Liebe, die warm ist und sie auf Händen trägt. Judith träumt von dem Moment, in dem sie die Kündigung auf den Tisch legt und mit leichtem Schritt davongeht. Herr von Meiden träumt von einem neuen Anfang ohne Versteckspiele und René vom Schlaf, der von selbst kommt. Als sie alle am Morgen aufwachen, da wundern sie sich, denn der Traum hört nicht auf. »Du sollst frei sein«, wiederholt die Stimme, und die Stimme sitzt in ihren Herzen.
Da brechen sie auf. Sie brechen auf und machen sich auf die Suche nach diesem Land, wo sie sein können, wie sie sein wollen, diesem Land, das es gut mit ihnen meint.
Was sind die ersten Wochen für eine Befreiung! »Alles wird gut«, denkt Evelyn, als sie ihr neues Wohnzimmer streicht. »Alles wird gut«, denkt Judith, als sie mit Jacob spielt. »Alles wird gut«, denkt Herr von Meiden, als er seinem Berater gegenüber sitzt. »Alles wird gut«, denkt René, als er weit vor Mitternacht ins Bett geht.
Aber dann. Vergeht die Zeit. Aber dann. Verfliegt die Anfangseuphorie. Aber dann kommt die Wüste. Evelyn ist auf einmal einsam. Hartmut war wenigstens da. Judith spürt immer häufiger die Angst, nie wieder einen Einstieg zu finden. Herr von Meiden wird nicht mehr eingeladen zu Businessdinners. Und René beschleichen Gedanken, die er nicht haben will.
»Wo ist das Land, das wunderbare?«, rufen sie. »Was ist mit den Versprechen von Freiheit und Glück und anderem Leben? Hätten wir doch alles gelassen, wie es ist. Was haben wir denn jetzt?«
In dieser Nacht lässt Gott Manna vom Himmel fallen. Liebe, Mut und Zuversicht und alles andere Lebenswichtige, Seelenproviant zum Durchhalten. »Nimm«, sagt Gott, »soviel du brauchst.« Gierig greifen sie zu, sie stopfen sich die Taschen voll, es soll reichen, jetzt und morgen und für immer. Aber Gott schüttelt den Kopf. »Das könnt ihr nicht sammeln. Ihr könnt Manna nicht horten. Morgen gibt es wieder etwas und übermorgen und alle Tage.«
Am Morgen wachen sie auf, jeder an seinem Ort, und sie wundern sich, weil sie sich plötzlich eins Komma fünf Gramm leichter fühlen als zuvor.
»Alles ist erlaubt. Aber nicht alles dient dem Guten. Alles ist erlaubt. Aber nichts soll mich gefangen nehmen.«
(1. KORINTHER 6,12)
• Wie viel Freiheit brauchst du? • Ist die Ehe eine Einengung? • Würdest du eher auf die Meinungs- oder auf die Versammlungsfreiheit verzichten? Und warum? • Kennt deine Fantasie Grenzen? • Wäre es eine Befreiung, ewig zu leben? • Bedeutet ein Auto für dich Freiheit? Und ein Fahrrad? • Wenn du könntest: Wen würdest du befreien und wovon? • Was nimmt dich gefangen? • Wer könnte das ändern? • Hast du schon mal ein Tier befreit? Würdest du es gern? • Kennst du alle zehn Gebote? Welches findest du am schwierigsten? • Kontrollierst du jemanden? Muss das sein? • Wenn du einen Tag frei hättest – welche drei Dingen würdest du am liebsten tun? • An wen oder was bist du gebunden? Bist du es gern? • Glaubst du, Gott kann befreien? Wovon? • Welche Freiheit würdest du dir gern nehmen?
(nach 1. Mose 2,15–3,24)
Am Anfang war die Anzeige: »Wohnen im Grünen, großer Garten, viel Platz, alle Möglichkeiten.« Das klingt so fantastisch, dass sie es kaum glauben können. Ein Haus! Im Grünen! Und keine Nachbarn in Sicht! »Ruf an«, drängelt Eva, »ruf schon an!« Adam, von Natur aus zurückhaltender, versucht ihre Begeisterung zu bremsen: »Es wird längst weg sein.« Aber dann ruft er doch an.
Der Vermieter ist ein älterer Herr. Er klingt nett. Ja, das Haus sei noch da, ja mitten im Grünen, völlig ungestört, wenn man wolle, könne man sogar nackt durch den Garten laufen. Tiere gäbe es auch, und im Übrigen seien sie die einzigen Bewerber.
»Kommen Sie vorbei«, sagt er. »Es ist alles noch frei. Sie sind die ersten.«
»Frag«, flüstert Eva, »frag nach einem Termin!«
»Sofort«, antwortet der Vermieter, der offenbar gute Ohren hat, »Sie können sofort kommen.«
Der Garten ist ein Paradies. Es gibt Apfelbäume und Schlehen. Sonne blitzt durch die Blätter. Orchideen wippen an einem türkisen Teich. Fische tauchen auf. Staunend stehen sie da. Ein Eichhörnchen und ein Feldhase spielen miteinander Verstecken. »Schau nur«, ruft Eva entzückt, »wie zahm sie sind, als hätten sie noch nie einen Menschen gesehen!«
Adam, etwas pragmatischer veranlagt, räuspert sich.
»Und die Miete?«, fragt er. »Was schulden wir Ihnen?«
»Nichts«, antwortet der alte Herr zu ihrem Erstaunen. »Sie können hier frei wohnen. Achten Sie ein bisschen auf die Tiere. Schauen Sie nach den Äpfeln.« Dann lächelt er stolz. »Wissen Sie, das alles habe ich selbst geschaffen. Mir ist wichtig, dass es erhalten bleibt. Verstehen Sie?«
Sie werden wunderbare Nachbarn. Manchmal schaut der alte Herr vorbei. Dann plaudern sie am Gartenzaun. So vergehen die Tage. Sie lieben einander und das Glück an ihrer Seite. Auf den Morgen folgt der Abend und auf den Abend ein neuer Morgen. Aber eines Tages kommt die Nacht. Aus ihrem Dunkel steigt ein Schatten. Er flüstert in ihre Träume: »Und noch?« Er schlängelt sich in ihre Gedanken: »Und noch?« Er kreist sie ein, er taucht auf, wo sie ihn nicht vermuten. »Und noch?«, wispert er und versetzt ihre Herzen in Unruhe. »Reicht euch das? Ihr könntet mehr haben. Ihr könntet größer sein. Ihr könntet die Regeln bestimmen.«
Sie lernen die Skepsis kennen: »Werden wir immer hier leben? Wird die Liebe bleiben? Wer gibt uns eine Garantie?« Eine Frage zieht die nächste nach sich. Sie lehrt sie Worte, die neu sind. Unabhängigkeit. Macht. Gier. Haben. Wollen. Sie schmecken süß. Der alte Herr warnt sie: »Esst nicht von diesen Früchten. Sie kosten euch das Leben.«
Sie tun es doch. Sie können nicht von ihnen lassen. Sie beißen an. Sie beißen zu.
Da erkennen sie: Wir sind nackt. Wir wissen nichts. Wir haben nichts. Wir sind verletzbar. Alles scheint möglich, alles ist offen. Es gibt keine Sicherheit. Die Angst holt sie ein: Wo können wir uns bergen?
Der alte Herr sucht nach ihnen. Er ruft. Sie antworten nicht. Sie halten seinem Blick nicht mehr stand. Sie fühlen sich durchschaut.
Da erkennt auch er: »Ihr wollt die Freiheit. Ihr wollt das Leben und den Tod. Ihr wollt Antworten und Fragen. Ihr wollt alles. Das gibt es nicht ohne das Nichts.«
Er zeigt ihnen das Tor. Es steht weit offen. »Geht«, sagt er. »Geht und nehmt euch das Leben.« Er hilft ihnen in den Mantel. Er führt sie hinaus in die Weite. Die Feuerlilien leuchten. Eine Schneetaube fliegt auf. Sie sehen ihr nach und ringen um Fassung.
»Was haben wir getan!?«, ruft Adam. »Der alte Herr hat gesorgt für uns wie ein Vater. Was machen wir jetzt?«
»Komm«, antwortet Eva und nimmt seine Hand. »Zeit, erwachsen zu werden.«
»Wohin gehen wir?«, fragt er.
»Ins Paradies.«
»Aber verstehst du nicht?«, ruft Adam, »Es ist weg!«
»Nicht ganz. Wir haben die Erinnerung. Wir bauen es da draußen.«
Dann brechen sie auf. Sie kommen zur Welt.
Einmal wolltest du die Welt erobern und das Glück dazu. Hundert Jahre saßt du an deinem Schreibtisch, hundert Jahre träumtest du davon, was man alles tun könnte, hundert Jahre putztest du deine Fenster, damit die Sonne hereinkäme, denn du kamst nicht hinaus.
Am hundertersten Morgen öffnest du die Tür, und der Verkehr rauscht, Mülltonnen stehen am Straßenrand, und du brichst auf.
Einen kleinen Rucksack hast du dabei, ein bisschen Geld und die Schuhe an deinen Füßen. Du denkst an die Märchenhelden deiner Kindheit, die in die Welt zogen und das Glück suchten, Erlösung oder die Liebe, sie zogen los, um das Fürchten kennen zu lernen oder etwas Besseres als den Tod. Sie ahnten, dass das Leben draußen spielt und dass ein Weg mehr Entdeckungen bereithält als ein Sofa. Also lässt du die Straßenschluchten hinter dir und die Einkaufslisten auch, die Wolken lässt du ziehen und die Gedanken dazu.
Als die Stadt endet, folgst du den Feldwegen. Mohnblumen nicken dir entgegen, die Gerste ist gelb, und du überlegst, wie viele Kornsorten deines morgendlichen Sechskornbrotes du wohl erkennen würdest. Manchmal überholst du Ameisen, mit den Augen folgt du Drosseln und einem Habicht. Einmal misst du deinen Schritt mit dem Sprung eines Grashüpfers und staunst, dass ihr Kopf an Kopf liegt.
Du fühlst dich wie ein Ausbrecher, der entwischt ist. Das Handy liegt zu Hause. Niemand soll fragen: Wo bist du gerade? Du bist frei. Du gehörst nicht der Angst, die wispert: Und wenn dir was passiert? Du gehörst nicht der Pflicht, die mahnt: Und wann erledigst du deine Aufgaben? Auch der Trägheit gehörst du nicht, die dir einreden will, dass das hier sinnlos ist. Du gehörst dir und diesem Tag. Du folgst keinem Zweck, du hast kein Ziel. Du willst weder abnehmen, noch deiner Gesundheit auf die Sprünge helfen, und einen Schrittzähler hast du auch nicht dabei. Du gehst, weil du Füße hast. Und du neugierig bist, wohin sie dich tragen.
Deine Gedanken lässt du laufen, sie tollen herum wie kleine Hunde. Es war höchste Zeit, sie von der Leine zu lassen, denn wie sollen sie Spaß haben und Neues entdecken, kurz gehalten auf immer gleichen Pfaden? An einem Baum findest du kleine Zeichen, ein weißes Kreuz, einen roten Punkt. Der Fernwanderweg E1. Den kennst du, weil du ihn schon in Schweden und in Ligurien gegangen bist. Plötzlich siehst du Birkenwälder und einen italienischen Markt. Du malst dir aus, wie in diesem Moment auf demselben Weg zweitausend Kilometer südlich ein anderer geht. Die Welt ist groß, aber nicht größer als mit deinen Füßen erreichbar. Schritt für Schritt näherst du dich dem Mittelmeer oder dem Nordlicht, und auch wenn du heute nicht dort ankommen wirst, weißt du: Es geht. Geh in das Land, das ich dir zeigen werde. Milch und Honig werden dort fließen, und du glaubst an dieses Versprechen. Die Welt ist weiter, als du siehst, und dein Weg verheißt mehr als das, was vor der nächsten Biegung liegt.
Am Abend steigst du in einen Bus und fährst nach Hause. Das Abendessen wartet und der Schreibtisch auch, nur die Wände haben sich verschoben und die Luft im Zimmer riecht nach Feigenbäumen.
So geht’s:
»Gott führt mich hinaus ins Weite, er reißt mich heraus; denn er hat Lust zu mir.« Geh ins Blaue.
Psalm 18,20