Dass du nicht mehr lebst - Tatjana Ustinowa - E-Book

Dass du nicht mehr lebst E-Book

Tatjana Ustinowa

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Beschreibung

Belojarsk, Sibirien: Der Gouverneur ist tot. Angeblich Selbstmord. Inna, die Leiterin der Informationsabteilung, traut dem Ganzen nicht. Ihr Verdacht wird bestätigt, als die Witwe sie auf der Beerdigung unauffällig um ein Treffen bittet. Als Inna sie am Abend besucht, findet sie die Gouverneurswitwe erschossen im Schlafzimmer. Natürlich ist Inna die Hauptverdächtige. Um ihre Unschuld zu beweisen, muss sie den Mörder finden. Zu spät merkt sie, dass der Mörder noch einen Namen auf seiner Liste hat …

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Tatjana Ustinowa

Dass du nicht mehr lebst

Aus dem Russischen von Judith Elze

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Russlands erfolgreichste Krimi-Autorin

 

Belojarsk, Sibirien: Der Gouverneur ist tot. Angeblich Selbstmord. Inna, die Leiterin der Informationsabteilung, traut dem Ganzen nicht. Ihr Verdacht wird bestätigt, als die Witwe sie auf der Beerdigung unauffällig um ein Treffen bittet. Als Inna sie am Abend besucht, findet sie die Gouverneurswitwe erschossen im Schlafzimmer.

Natürlich ist Inna die Hauptverdächtige. Um ihre Unschuld zu beweisen, muss sie den Mörder finden. Zu spät merkt sie, dass der Mörder noch einen Namen auf seiner Liste hat …

Über Tatjana Ustinowa

Tatjana Ustinowa, geboren 1968, studierte Aerodynamik am renommierten Moskauer Physikalisch-Technischen Institut. Bevor sie zu schreiben begann, arbeitete sie beim Fernsehen. Inzwischen hat sie in Russland 14 Kriminalromane veröffentlicht – mit Millionenauflagen.

Inhaltsübersicht

Ljudmila Seliwanowa gewidmet1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. KapitelEpilog

Ljudmila Seliwanowa gewidmet

Frauen wie sie gibt es selten. Sie tauchen wie der

Halleysche Komet nur einmal in hundert Jahren

bei uns auf.

 

Der Feind ist an allen Fronten geschlagen.

Aus den Meldungen von M. 1. Kutusow an Alexander I.

1

«HABE ICH IHRE FRAGE BEANTWORTET?»

Die Augen des Moderators glitzerten boshaft.

«Jaja», antwortete er heftig, fuhr dann aber plötzlich vertraulich fort: «Es heißt außerdem … es heißt, Sie wechseln jeden Tag Ihre Pelzmäntel. Stimmt das?»

Inna lächelte.

«O ja», gab sie mit der Schärfe eines Bumerangs zurück, «natürlich stimmt das, Garik!»

Sie beugte sich über den blau glänzenden Tisch und fügte fast flüsternd hinzu – dabei war es natürlich sowohl in den Kopfhörern der gesamten Aufnahmecrew als auch auf der anderen Seite des Bildschirms, wo sich das so genannte «Publikum» befand, wunderbar zu hören:

«Garik», flüsterte sie, «Ihnen will ich es gestehen. Ich wechsele jeden Tag die Pelzmäntel, die Brillanten und die Männer! Aber sagen Sie es nicht weiter!»

Das hatte der Moderator nun wirklich nicht erwartet, und schon gar nicht in aller Öffentlichkeit. Seine Augen schauten verwirrt hinter den runden Gelehrtenbrillengläsern hervor.

Inna schwieg. Garik hielt es für das Beste, zu lachen – es klang etwas unsicher. Sie kam ihm nicht zu Hilfe.

«Und», setzte er neu an, «Sie geben das so einfach zu?»

«Was denn, Garik?», fragte sie langsam, und er begriff, dass er geradewegs in die Falle getappt war.

Jetzt hätte er die Sache mit den «Pelzmänteln, Brillanten und Männern» wiederholen müssen, aber das war natürlich undenkbar. Er musste zusehen, dass er sich an der Gefahrenstelle vorbeimogelte.

«Äh, äh», stotterte Garik beklommen und ging wie ein Trampeltier direkt zum nächsten Thema über: «Inna, haben Sie ein gutes Verhältnis zum Gouverneur von Bjelojarsk?»

«Garik, haben Sie ein gutes Verhältnis zum Minister für das Pressewesen?»

Dieses Miststück wollte ihm doch wirklich den Garaus machen!

«Zum Minister für das Pressewesen?», wiederholte er klagend. «Warum bitte … Ja, nein, ich habe gar kein Verhältnis zu ihm, weder ein gutes noch ein schlechtes!»

«Und ich habe weder ein gutes noch ein schlechtes Verhältnis zum Gouverneur von Bjelojarsk.»

«Verzeihen Sie, aber Sie arbeiten doch … in der Administration der Bjelojarsker Region, an deren Spitze der Gouverneur steht.»

«Und Sie arbeiten für das Fernsehen, an dessen Spitze der Minister steht.»

«Aber er übt keinen direkten Einfluss auf uns aus!» – Es hatte ihm noch gefehlt, dass sie jetzt ein Gespräch über die Freiheit des Wortes anfing, jetzt, wo nur noch dreißig Sekunden bis zum Ende der Sendung blieben!

«Der Gouverneur von Bjelojarsk übt auch keinen … direkten Einfluss auf mich aus, Garik!»

Das war alles zweideutig, voller Fallen, und dann noch solchen, mit denen er nicht umgehen konnte!

Durch den Kopfhörer erhielt er den Hinweis, dass es Zeit war, sich zu verabschieden. Erfreut und erleichtert sagte er also, während er in das schwarze Loch der Kamera starrte:

«Heute war Inna Wassiljewna Seliwerstowa bei uns zu Gast, die Ressortchefin der Presse- und Informationsabteilung in der Administration der Region Bjelojarsk. Ich hoffe, Sie morgen wieder begrüßen zu dürfen bei unserer Sendung ‹Der einzige Held›. Mein Name ist Garik Brjuster, auf Wiedersehen.»

Dann saßen sie noch eine Weile unbewegt und mit einem gläsernen Lächeln auf den Lippen da.

Auf dem Monitor fing die Reklame an, und eine Stimme aus dem Nirgendwo sagte ziemlich säuerlich ins Studio hinein:

«Großartig. Vielen Dank an alle.»

Auch ohne die säuerliche Stimme war klar, dass die Sendung schlecht gelaufen war.

«Vielen Dank, Inna Wassiljewna», sagte Garik verärgert.

«Nichts zu danken, Garik», erwiderte sie.

Ihr Lächeln war eisig und süß zugleich. Garik fröstelte, als liefen ihm das Eis und die Süße direkt in den Kragen.

Ein paar tatkräftige junge Leute sprangen herbei und klemmten Inna und den gescheiterten Garik geschickt von den Mikrophonen los.

Hinter den Kameras erschien im Halbdunkel die Producerin, eine Frau mittleren Alters in Hosen und einem zerknitterten Jackett.

«Innalein, es ist wunderbar gelaufen! Am Ende war es ein bisschen … unglücklich, aber das macht nichts! Unser Garik ist einfach ein bisschen durcheinander gekommen. Nochmal vielen Dank, dass Sie gekommen sind.»

Garik ist nicht nur «ein bisschen durcheinander gekommen», er wäre fast in Ohnmacht gefallen, berichtigte Inna sie innerlich.

«Wir können Ihnen die Kassette mit der Aufzeichnung zuschicken. Brauchen Sie sie?»

«Das wäre schön.»

Sie musste schauen, wo und welche Fehler sie gemacht hatte, und überhaupt – wie sie gesessen, geschaut, geantwortet hatte, was für einen Eindruck sie gemacht hatte. Sie analysierte ihre Auftritte immer sehr sorgfältig, genau und objektiv, als ob es sich nicht um sie, sondern irgendjemand anderen handelte. Und dieser distanzierte, kritische Blick erlaubte ihr immer, ihre eigenen Versäumnisse zu finden, ihnen Rechnung zu tragen und sie das nächste Mal zu vermeiden.

Sie stand auf und ging auf ihren hohen Pfennigabsätzen ganz sicher bis zum Rand des Podiums, auf dem sich die Dekoration befand. Dort angekommen, streckte sie, ohne hinzuschauen, ihre Hand aus.

Sofort reckte sich ihr eine Männerhand entgegen, die ihr höflich dabei half, auf den Boden des Studios herunterzusteigen.

«Danke», sagte sie zurückhaltend.

«Die Königin von Saba», flüsterte ein Kameramann dem anderen ins Ohr, «angeblich ist sie ein grässliches Miststück – man muss die Finger von ihr lassen.»

«Dafür hat sie umwerfende Beine», antwortete der Kollege, der als Schürzenjäger bekannt war.

Sie folgten ihr mit den Blicken – ihrem geraden Rücken, den kurzen hellblonden Haaren, den kleinen Ohren mit den traubenförmigen Brillanten, dem feinen Duft ausgefeilten Parfüms.

Pelzmäntel, Brillanten und Männer, jeden Tag neu! Das war eine Frau!

Sie verließ das Studio und schaltete als Erstes das Handy ein. Sie wusste, dass man in der einen Stunde, während deren es nicht empfangsbereit gewesen war, wahrscheinlich zehnmal, vielleicht sogar zwanzigmal versucht hatte, sie zu erreichen, aber bevor sie ihre Mailbox abhören konnte, klingelte das Telefon.

«Inna, ich bringe Sie hinaus», hörte sie hinter sich die Stimme der Producerin, aber sie antwortete nur mit einem schnellen Lächeln und drehte ihr wieder den Rücken zu, um nicht gestört zu werden.

Es war der Mann, der vor zwei Monaten ihr Ex geworden war. Oder besser gesagt, die Scheidung hatte erst gestern stattgefunden, zwei Monate vorher hatte er ihr nur endgültig mitgeteilt, dass «alles vorbei» sei.

Vorher hatte er das auch schon mehrfach getan, aber da war er nicht gegangen, vor zwei Monaten dagegen hatte er sie wirklich verlassen.

«Hallo», sagte er besorgt, «wo bist du? In Moskau?»

«Genau.»

«Ach ja!», besann er sich plötzlich. «Ich hab dich ja gerade im Fernsehen gesehen!»

«Und wie hat’s dir gefallen?»

«Ich hab’s mir nicht angeschaut», bekannte er bereitwillig, und sofort begriff sie, dass er es überhaupt nur deshalb erwähnt hatte, um ihr sagen zu können, dass er es sich «nicht angeschaut» hatte – er hatte auf Fußball umgeschaltet.

«Und wie war das Spiel?»

«Wie?», fragte ihr Exmann etwas verwirrt. «Ach so, ganz in Ordnung. Hör mal, wo ist eigentlich mein Anzug? Weißt du, der mit der Weste? Irgendwie kann ich ihn nicht finden, und Anja, das Aas, hat sich einfach so verdrückt.»

«Anja, das Aas», die Haushälterin, hatte sich durchaus nicht einfach so verdrückt.

«Wenn ich ihn sehe», hatte sie gesagt und dabei die Tränen kaum zurückhalten können, «dann spring ich ihm an die Kehle! Und für Sie wird es dann nur noch schlimmer. Geben Sie mir frei, ja?»

Inna hatte ihr freigegeben, sodass ihr Ex sich seinen Teil des «gemeinsam erworbenen Besitzes» jetzt ganz allein zusammensuchen musste.

Es ist nicht leicht für den Armen, dachte Inna.

Sein Leben lang war er verwöhnt worden – zuerst von der Mutter und der Großmutter, dann von seiner ersten Frau, schließlich von ihr, Inna. Jetzt musste er sich also seine Sachen allein zusammensuchen, dabei hatte er sich nie in seinem Leben darum gekümmert, wo sie eigentlich lagen. Das, zum Teufel, war eine Aufgabe!

Dafür wusste Inna umso genauer Bescheid: über die Anzüge, die Hemden, die Shorts, den Doppelband von Mandelstam, das Rasierzeug, die Schachtel mit den CDs – Jazz natürlich! –, über ein Dutzend Seidenkrawatten und ein halbes Dutzend schwierige, stilbildende Filme von Woody Allen und Peter Greenaway.

Mehr war von ihrem Mann nicht übrig geblieben.

«Lassen Sie mich alles zusammenpacken und vor die Tür stellen», hatte Anja hasserfüllt vorgeschlagen. «Wenn er selber damit anfängt, bringt er nur alles durcheinander!»

Aber Inna wollte ihm sein ohnehin sorgloses Leben nicht noch mehr erleichtern.

«Wenn er was durcheinander bringt, räumen wir es wieder auf», hatte sie der Haushälterin düster geantwortet und war zur Aufnahme gefahren.

«Inna, wo ist der Anzug?»

«Im Kleiderschrank rechts. Hinter deiner Winterjacke», antwortete sie automatisch. Die Producerin hinter ihr sprach mit irgendjemand anderem, ihre Stimme klang unzufrieden.

«Die Jacke hab ich schon eingepackt», verkündete ihr Mann fröhlich, «aber der Anzug … Warte mal, ich schau gleich nach.»

Und sie wartete. Wie immer. Sie legte nicht auf, sie schaltete das Handy nicht aus, sie schickte ihn nicht zum Teufel.

Ihm gefiel es, dass sie so abhängig war von ihm. Sie war so gehorsam. Sie litt.

In der letzten Zeit hatte er das alles sehr genossen: Sie, die Schöne, die Kluge, die erfolgreiche Inna, sie flehte ihn an, sie nicht zu verlassen, doch noch einmal darüber «nachzudenken», es «noch einmal zu probieren», sie versprach, dass «jetzt alles anders wird», sie weinte, schlief nicht, rauchte und wurde richtig hässlich, so sehr grämte sie sich!

Während er Theater spielte, was das Zeug hielt, und zwar mit Leib und Seele: die Rolle des enttäuschten Ehemanns, geschlagen durch das Unverständnis seiner Frau, die das «große schöne Gefühl mit den Füßen trat», erniedrigte, beleidigte und eigenhändig zerstörte – und es nicht besser verdiente! Er ging zu einer anderen, die verstand, mit ihm teilte, das richtige «Wertesystem» hatte, mit dieser anderen und ihrem passenden System konnte er nach Herzenslust Jazz hören und von früh bis spät Mandelstam deklamieren – die andere verstand!

Dieser Clark Gable, zum Teufel mit ihm!

«Gefunden», sagte er fröhlich in den Hörer. Er wusste, dass sie noch wartete, und hatte sich nicht getäuscht.

«War das alles, Viktor?», fragte sie kalt.

«Komm her», forderte er sie auf. «Dann können wir uns wenigstens verabschieden wie ordentliche Menschen!»

«Viktor, wir haben es versucht wie ordentliche Menschen und sind daran gescheitert.»

«Du bist gescheitert.» Er lachte boshaft. «Ich hab dir gesagt, du sollst aufhören, an mir zu zerren. Du brauchst mich nicht, und ich brauche dich nicht.»

«Ich brauche dich», sagte sie durch die Zähne.

Himmel, wieso erlaubte sie ihm schon wieder, sie in diese albtraumhafte Diskussion zu verwickeln, die nun schon seit einem halben Jahr immer wieder von vorne anfing!

Ihm gefiel es, sich über sie lustig zu machen, die Schlinge enger zu ziehen und wieder zu lockern, in der ihr Kopf – ihr Kopf! – steckte. Sie konnte genau sagen, wann es ihm gefiel: wenn er erklärte, dass «alles vorbei» war – wie im Kino! – und sie losweinte und ihn anflehte zu bleiben. Und er blieb, gab sich ihren Schwächen gegenüber nachsichtig, freute sich über ihre Erniedrigung, er, der Mann, der Sieger, der sich innerhalb einer Minute die Asche eines zehnjährigen gemeinsamen Lebens von der Hand pustete.

«Komm doch», sagte er in den Hörer, «lass uns einen Kaffee trinken, ich hab einen Beaujolais mitgebracht.»

«Viktor, wenn du nicht weißt, wo deine Sachen sind, wird Anja morgen alles zusammensuchen. Ich komme nicht.»

«Na dann, lass gut sein», sagte er gutmütig, «und mach es dir nicht so schwer. Du bist ja selbst dran schuld. Weißt du noch, wie ich …»

Aber jetzt gab sie nicht nach.

«Tschüs», verabschiedete sie sich entschieden. Ihr Magen fühlte sich kalt und schwer an, als hätte sie Steine aus dem Fluss verschluckt. «Sag unserer jungen Schönen einen Gruß. Sag ihr, dass ich Mitleid mit ihr habe. Vor ihr liegt ein Haufen interessanter und unterhaltsamer Entdeckungen.»

«Du bist ein Miststück», sagte ihr Mann gleichgültig, und das Besetztzeichen ertönte.

Inna hob die Hand von ihrem Rock hoch und sah einen feuchten Abdruck auf dem Stoff.

«Inna Wassiljewna! …»

«Ja.»

«Gehen Sie schon? Der Chef bat mich, Sie sofort zu ihm zu bringen! Er wusste nicht, dass Sie heute hier sind, und bittet um Verzeihung, dass er Sie nicht begrüßt hat …»

«Mein Flugzeug geht bald», log sie, «in einer Stunde. Ich … bin schon spät dran. Sagen Sie Pascha einen schönen Gruß.»

Pascha – Pawel Alexejewitsch – war der Direktor, und bei dem Gedanken daran, ihn treffen und – Schreck lass nach – mit ihm zu Abend essen, sich unterhalten, zuhören zu müssen … bei diesem Gedanken gerieten die Steine in ihrem Magen in Bewegung und stießen wie wild gegeneinander.

Mein Mann sammelt jetzt in meiner Wohnung seine Sachen zusammen, um mich für immer zu verlassen, dachte sie.

Er war dabei, für immer aus ihrem Leben zu verschwinden, während sie – wie blöd von ihr – gedacht hatte, dass ihr so etwas nie passieren könnte! Sie war sich so sicher gewesen, dass er zu klug war, um sich einfach so mit genau demselben Mandelstam, dem Jazz und dem Beaujolais, mit denen auch ihr «glückliches Leben» begonnen hatte, in eine neue Beziehung zu stürzen.

Der Fahrer wusste Bescheid. Er fuhr sie schon seit sieben Jahren: Zuerst war sie stellvertretende Direktorin eines Fernsehsenders gewesen, dann war sie in den Rang einer Pressesprecherin aufgestiegen, und jetzt war sie zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit der riesigen sibirischen Region.

Er wusste alles. Und machte alles auf seine Art.

Inna wusste genau, dass sie ihm nichts gesagt hatte, als sie zum Wagen kam, und er hatte nichts zu ihr gesagt. Sie sagte auch jetzt nichts, als sie sich auf dem Rücksitz zusammenkrümmte und unablässig an die Jacke dachte, die ihr Mann wahrscheinlich inzwischen schon in seinen Rucksack gesteckt hatte, dabei gefiel ihr diese Jacke so sehr, und Viktor gefiel ihr auch. Außerdem dachte sie daran, dass sie morgen nach Bjelojarsk zurückmusste, aber davor war noch ein Treffen mit dem neuen Chef aus der Administration des Präsidenten geplant. Es wäre nicht schlecht, einen Blick auf die Papiere zu werfen, die sie dafür vorbereitet hatte. Und dann musste sie versuchen, auf den Gouverneur Druck auszuüben, der sich nie mit der Presse «abgab» und überhaupt manchmal nicht begriff, wozu sie gut sein sollte, diese Presse – auch daran dachte sie, und an Dutzende anderer wichtiger und nützlicher Dinge. Aber diese Jacke, die er mitnahm, lag wie ein Schleier über allem anderen – das war das Ende, Schluss, aus.

2

SIE SAH AUF, als sie merkte, dass der Wagen stehen geblieben war. Eine bleierne Müdigkeit überkam sie.

«Wo sind wir?» Inna sah aus dem Fenster. «Wo sind wir, Ossip?»

Der Fahrer sah sie durch den Rückspiegel düster an.

«Du solltest dich nicht so quälen, Inna», sagte er traurig. «Du bist jung, schön und reich, und was hast du für eine Karriere gemacht! Dich wegen so einem … pfui! … miesen Kerl so zu geißeln!»

Der Fahrer war ein bewährter Kampfgefährte, der beste Freund, er gehörte zur Familie. Er hatte das Recht, alles zu sagen, was er wollte, und machte nur sehr selten von diesem Recht Gebrauch.

Er hatte das Recht zu sprechen. Sie hatte das Recht, nicht zuzuhören.

«Wo hast du mich hingebracht?»

«In eine Pension hab ich dich gebracht! Als ich hörte, dass heute dein … Julio Iglesias antanzt, rief ich sofort meine Schwester an, sie ist hier die Direktorin. Zu Hause hast du heute nichts zu suchen, du schläfst hier, sie hat schon eine Datscha für dich fertig gemacht! Anja wird morgen früh bei dir zu Hause alles aufräumen, dann kannst du hinfahren, aber heute – warte lieber ab und bleib hier in der Datscha! …»

«Dort gibt es nichts aufzuräumen», sagte sie, «er ist schließlich nicht gestorben!»

«Ja, das ist er leider nicht.»

«Ossip!»

«Ich bring dich nicht nach Moskau zurück! Wenn du willst, kannst du dich selber hinters Steuer setzen und fahren, aber ich bring dich nicht hin! Was willst du dort? Die ganze Nacht Schlafmittel einnehmen?!»

«Ach, Ossip», sagte Inna müde, «von deiner Fürsorge kann man ja verrückt werden.»

Sie stieg aus.

Die kleine Einfahrt war in warmes Licht getaucht, das auch auf die gelben Blätter fiel, die einen dichten Teppich bildeten. Es roch nach Herbst, nach Gras, ein bisschen nach Rauch und nach einem Fluss in der Nähe, wie früher, als sie noch klein gewesen war.

Aus der hellen Wärme kam ihnen eine Frau entgegengelaufen, offenbar die Direktorin und Schwester, die ihrem Bruder überhaupt nicht ähnelte. Sie war schmal, klein und hatte kurze Haare. Kaum war sie bei ihnen angelangt, begann sie lächelnd zu plaudern, führte Inna irgendwo um die Ecke, einen mit weißen Bodenplatten gepflasterten Weg entlang, zu einem märchenhaft aussehenden Gebäude, das dunkel vor einem Wald aufragte. Es war eine Datscha «für eine Person» mit einem Wohnzimmer, einem freundlichen Schlafzimmer und einem Balkon aus Holz. Auch eine Sauna gab es, wie die Gastgeberin stolz betonte, und eine Luxusbadewanne und einen Fernseher auf runden Metallbeinen mit Flachbildschirm – alles, was das Herz begehrte.

«Das Abendessen lasse ich Ihnen hierher bringen, die Sauna ist schon eingeschaltet, da können Sie sich aufwärmen. Ruhen Sie sich aus, und morgen früh fahren Sie weiter. Es wird Ihnen bei uns gefallen! Ein Morgenrock hängt im Kleiderschrank. Sollen Ihre Sachen gebügelt werden?»

Inna lachte:

«Nein, danke. Morgen muss ich ja doch nach Hause.»

Die Frau lächelte zurück, das besorgte Lächeln einer guten Wirtin.

«Was hätten Sie denn gern zum Abendessen – Fleisch, Fisch? Stör, Lachs, Dorsch, Forelle? Kalbfleisch, Schweinefleisch, Schaschlik, Hähnchen?»

Inna war überhaupt nicht nach Essen zumute. Seit einem halben Jahr, seit Viktor ihr verkündet hatte, dass sie alles «kaputtgemacht» und er eine «Entscheidung getroffen» habe, war ihr der Appetit vergangen.

«Fisch», sagte sie, als sie begriff, dass die Frau nicht nachgeben würde.

«Fisch als Vorspeise? Und als Hauptspeise ein bisschen junges Hähnchen? Unser Koch ist Georgier, er kocht so gut, dass die Leute extra herkommen, nur um bei ihm zu essen! Hähnchen, ja?»

Inna seufzte:

«Ja, bitte.»

«Ich muss los … das Abendessen. Machen Sie es sich bequem, ruhen Sie sich aus, mein gutes Täubchen!»

Anscheinend hatte der schwatzhafte Ossip seine ganze Familie eingeweiht. Na, und wennschon.

Sie warf das blaue Kostüm, die Uhr, die Nylonstrümpfe und den Schmuck im Schlafzimmer mitten auf den Teppich und lief in der Unterwäsche ins Bad, öffnete alle Hähne, zog sich ganz aus und schaute sich lange im Spiegel an.

Weiße Haut, schöne Beine, die Brust in bestem Zustand. Sie betrachtete sich so, wie man ein fremdes Bild anschaut, suchte nach Mängeln und Fehlern, aber sie fand nur wenige. Was war ihm nicht gut genug gewesen?

Erbost über sich selbst, dass sie schon wieder daran dachte, zog sie den Morgenrock an und ging ins Wohnzimmer hinüber. Die Nachrichten begannen ungefähr auf allen Kanälen zur gleichen Zeit, irgendwelche, egal welche, musste sie unbedingt sehen. Auf die Kommentare achtete sie nie, sie ärgerten oder belustigten sie nur, je nachdem, wer der Kommentator war – ihr genügte die reine Aufzählung von Fakten.

Inna ließ sich auf das Sofa fallen und streckte die Beine aus, suchte tastend nach der Fernbedienung auf dem niedrigen Tischchen, warf dabei die Zeitungen auf den Boden, bückte sich, um sie wieder aufzuheben, und sah plötzlich, direkt vor ihrer Nase, blitzend saubere Männerschuhe auf dem Perserteppich.

Eine Weile starrte sie sie nur verständnislos an, doch als sie sich plötzlich rührten und bewegten, erschrak sie derart, dass die Hand, auf die sie sich gestützt hatte, umknickte und sie mit der Nase auf den Teppich fiel. Ihr Hintern hob sich, die Beine beschrieben einen Bogen. Ungeschickt rollte sie sich in die Hocke und sprang auf.

«Wer sind Sie?»

«Wer sind SIE?»

«Wie sind Sie hierher gekommen?»

«Und Sie?»

Vor Angst wurden ihr Rücken und ihre Handflächen schweißnass.

Die Hütte stand weit abseits, fast schon am Waldrand. Wie sollte sie hier jemand hören, wenn sie um Hilfe rief?

«Jetzt hören Sie auf zu zittern», riet ihr der Mann gelassen, «ich bin weder ein Bandit noch ein Killer.»

«Wer … sind Sie?»

«Ein Urlauber.»

«Aber … was machen Sie … in meiner Datscha?»

«Moment mal. Sie sind aus irgendeinem Grund in meiner.»

Inna zog die Schläge ihres Morgenrocks übereinander und kam hinter dem Sofa hervor.

«Ich möchte telefonieren», sagte sie schnell, «damit jemand kommt und Klarheit schafft.»

«Tun Sie das», sagte er zustimmend.

Auf dem polierten Tisch stand ein vorsintflutliches gelbes Telefon mit einem Wappen – irgendeine hohe Etage hatte es wohl einmal ausgemustert –, eine Liste mit den Nummern der Wäsche, des Monteurs, der Verwaltung und der Leitung lag daneben.

Während sie nur mit Mühe den Finger in die runden Öffnungen der Plastikwählscheibe bekam und den Verwalter bestellte, schielte sie zu dem Mann hinüber, der derweil die Wände anstarrte, als wären sie mit Fresken von Michelangelo bemalt.

«Er kommt gleich», erklärte Inna vorsichtig. «Wie sind Sie hierher gekommen?»

«Man hat mir gesagt, ich hätte eine Datscha», er zuckte die Achseln, «und hat mir die Schlüssel gegeben. Außerdem wollte man mir sofort den Koffer bringen. Als ich kam, stand die Tür offen. Ich hatte gerade vor, den Fernseher einzuschalten, als Sie …»

«Wer sind Sie?»

«Jastrebow, Alexander Petrowitsch», stellte er sich vor. «Aber Sie kenne ich. Sie sind Inna Seliwerstowa. Ein großes Tier in Bjelojarsk. Stimmt’s?»

«Stimmt», sagte sie.

Er hatte einen dunklen Anzug und ein helles Hemd an, der Knoten der Krawatte war gelockert. Er war stämmig, nicht sehr groß und hatte dunkles Haar.

Nichts Besonderes also. Er sah sie noch einen Moment lang an und starrte dann wieder auf die Wände – als ob es im Raum nichts Interessanteres als diese Wände gäbe!

Der Verwalter kam, der Irrtum wurde aufgeklärt.

«Der verehrte Alexander Petrowitsch hat sich geirrt. Seine Datscha liegt direkt hinter der von Inna Wassiljewna. Wir haben zwei davon. Wir haben Ihnen die Lage wohl nicht deutlich genug erklärt. Verzeihen Sie bitte, Alexander Petrowitsch, und Sie auch, Inna Wassiljewna!»

Dem Verwalter folgte die Direktorin, die dessen Erklärungen wiederholte, Entschuldigungen wurden ausgesprochen und angenommen, und von all dem stupiden Durcheinander bekam Inna plötzlich Kopfschmerzen. Sie klinkte sich aus der allgemeinen Aufregung aus, ging zum Sofa, setzte sich und lehnte den Kopf an die Rückenlehne.

Alexander Petrowitsch Jastrebow sah sie aufmerksam an und hatte im Nu die Direktorin und den Verwalter hinauskomplimentiert. Er selbst blieb.

«Fühlen Sie sich nicht wohl?»

«Ich habe mich gestern von meinem Mann scheiden lassen», hörte sie sich erstaunt mit stumpfer Stimme antworten, «wir haben zehn Jahre zusammengelebt.»

«Warum haben Sie sich … von ihm getrennt? Sind Sie Ihrer großen Liebe begegnet?»

Sie lächelte dünn und rieb sich die Augen.

«Nicht ich hab mich getrennt. Er hat sich getrennt. Er ist seiner großen Liebe begegnet.»

«Wie konnten Sie das zulassen?»

«Ich habe gearbeitet.» Plötzlich ärgerte sie sich über ihren Gesprächspartner. «Ich hatte keine Zeit. Ich war sicher, dass … mir so etwas nie passieren würde.»

«Natürlich.»

«Was heißt das – natürlich?»

«Sie hatten keine Zeit. Er traf seine große Liebe. Das ist ganz normal.»

«Woher wollen Sie wissen, ob es normal ist oder nicht?!»

«Aus dem gleichen Grund, Inna Wassiljewna, aus dem auch Sie es wissen. Auch ich hatte keine Zeit, und meine Frau ist ihrer großen Liebe begegnet.»

Plötzlich hatte Inna brennendes Interesse. So sehr, dass sogar der Kopfschmerz kurz aufflammte, um dann zu verrauchen.

«Sie sind ebenfalls … geschieden?»

«So ist es.»

«Haben Sie Kinder?»

«Einen Sohn. Er lebt bei mir, Gott sei Dank.»

«Ihre Frau hat ihn Ihnen überlassen?»

«Ja. Sie hatte eine neue Liebe, eine neue Familie. Neue Kinder.»

«Und … sind Sie schon lange geschieden?»

«Sechs Jahre.»

«Ich erst seit gestern», beschwerte sich Inna. «Man sagt, Männern fällt es leichter.»

Er zuckte die Schultern:

«Ich weiß nicht.»

Das Abendessen wurde gebracht: ein ganzer Berg märchenhafter Gerichte, eine Flasche im silbernen Eiskübel, zwei weiße Kerzen und zwei Gläser – die Direktorin war wirklich aufmerksam und zuvorkommend! –, ein kleiner Teller mit Piroggen, eine Schüssel mit Erdbeeren und noch alles Mögliche mehr.

«Da sehen Sie», sagte Inna mutlos, «jetzt müssen Sie auch noch romantisch mit mir essen. Wollen Sie?»

Er sah sie flüchtig an.

«Essen will ich», erklärte er entschieden, «aber nicht romantisch.»

«Das müssen Sie aber. Was sollen wir sonst mit den Kerzen und dem Champagner machen?»

«Sie haben Recht», gab er zu, «es führt wohl kein Weg dran vorbei.»

Er zündete die Kerzen an und freute sich eine Weile daran – in seinen dunklen Pupillen tanzten die goldenen Flammen –, aber plötzlich verzog er das Gesicht und schaute sie an.

«Sollen wir sie nicht doch lieber wieder ausmachen?»

«Nein, jetzt nicht mehr», sagte sie entschieden, «jetzt lassen wir sie an. So, Alexander Petrowitsch, nun reicht’s aber mit der Höflichkeit. Ziehen Sie Ihr Jackett aus und lassen Sie uns essen. Es ist schon spät.»

Abgesehen von den Kerzen, dem silbernen Sektkübel und dem schneeweißen leinenen Tischtuch wurde das Abendessen tatsächlich nicht sonderlich romantisch. Sie aßen schnell und abwesend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.

Ein paar Mal sah sie ihn an – er saß einfach da und aß und kümmerte sich ganz offenkundig nicht darum, was für einen Eindruck er machte. Als sie zum x-ten Mal hinschaute, trafen sich ihre Augen, und sie war verlegen – er hatte ihre Blicke also sehr wohl bemerkt …!

Er trank den Wein wie Wasser und fragte gleichgültig:

«Arbeiten Sie unter Muchins Kommando?»

«Ja.»

«Schon lange?»

«Seit einem Jahr.»

«Und wo haben Sie bis davor gearbeitet?»

«Beim Fernsehen. In Moskau.»

«Bjelojarsk ist eine schwierige Stadt. Ein Aluminiumkombinat allein ist ja schon schwierig genug.»

«Waren Sie schon mal da?»

«Inna Wassiljewna, ich lese Zeitung. Über die Aluminiumkriege weiß doch auch der letzte Hinterdörfler Bescheid.»

Sie lächelte:

«Da haben Sie Recht.»

Neunzig Prozent dessen, was die Presse veröffentlichte, hatte Inna selbst erfunden. Sie schrieb nicht selbst, aber sie erfand. Alles über die Kriege und «die Guten und die Schlechten» und die Fabrikdirektoren und die «Bosse der Stadt».

Sie führte ihren eigenen Krieg, im Taschenformat sozusagen.

Der eine kämpfte mit einer Kalaschnikow in der Hand. Der andere benutzte Worte als Waffe.

«Wie sind Sie von Moskau aus unter Muchins Kommando gekommen?»

«Das ist eine lange Geschichte, Alexander Petrowitsch. Muchin ist ein kluger Mensch und weiß Leute zu schätzen, die ihm treu ergeben sind. Ich habe ihm einmal bei einer Sache geholfen.»

«Sie haben dem Gouverneur der Region geholfen?!»

«So ist es. Und als er mir Arbeit angeboten hat, habe ich zugesagt.»

Da erinnerte sie sich plötzlich an die Badewanne. Erschrocken raffte sie die Enden des langen Morgenrocks hoch, riss fast das Weinglas vom Tisch und rannte ins Badezimmer.

Die Badewanne war schlauer gewesen als Inna: Sie war bis zu einem bestimmten Punkt voll gelaufen, dann hatte sich automatisch das Wasser abgestellt.

Es war schon wieder kalt geworden, zu spät für ein Bad.

Plötzlich tat Inna sich selber Leid, es tat ihr Leid um ihr Leben, das heute zu Ende gegangen war, als Viktor seine Jacke aus dem gemeinsamen Schrank herausgenommen hatte, und um das Wasser, in dem sie nicht mehr baden konnte, um das Abendessen, das sie mit einem Unbekannten hatte teilen müssen, und um diesen Abend, wo sie doch nur heulen und sich am Boden hätte wälzen wollen, anstatt völlig überflüssigen Smalltalk zu betreiben. Sie tat sich so Leid, dass sie sich auf den Badewannenrand setzte und lauthals losheulte.

Sie weinte ziemlich lange, und keiner kam, um sie zu trösten. Ihr Gast im Wohnzimmer starrte wahrscheinlich schon wieder begeistert die Wände an.

Irgendwann zog sie den goldenen Stöpsel heraus, sodass das Wasser laut gurgelnd aus der Wanne lief. Und genau wie dieses Wasser abfloss – da war sich Inna sicher –, genauso floss ihr auch ihr ganzes Leben davon.

Irgendwann hörte sie auf zu weinen, stand auf, wischte sich, ohne in den Spiegel zu gucken, das Gesicht ab und schleppte sich wieder ins Wohnzimmer, überzeugt, dass Alexander Petrowitsch so einfühlsam gewesen sein würde, ihre Bleibe zu verlassen.

Alexander Petrowitsch, der keineswegs so einfühlsam gewesen war, trat plötzlich von der Seite an sie heran, nahm sie bei der Hand, drehte sie zu sich herum, sah sie aufmerksam und fast ein bisschen böse an, und dann küsste er sie, küsste sie lange und gefühlvoll. Vor Überraschung quietschte sie leise – seit hundert oder zweihundert Jahren hatte sie niemand mehr geküsst –, aber er nahm keine Rücksicht auf ihr Quietschen.

Sehr schnell lagen sie auf dem Sofa im Wohnzimmer, dann im Schlafzimmer auf dem üppigen Bett, dann in der Wanne, in die wieder Wasser einlief, dann wieder auf dem Sofa.

Es geschah fast ohne Worte. Nur unendliches Staunen war da – so unendlich, dass es nirgendwo hineinpasste, es kroch um sie beide herum und glotzte sie an.

Was war das für ein Mann? Wo war er hergekommen? Was tat sie hier mit ihm auf dem Sofa im Wohnzimmer?

Zehn Jahre lang war sie eine treue Gattin gewesen – und kaum einen Tag nach der Scheidung landete sie mit einem Wildfremden im Bett, von dem sie nichts wusste, außer, dass er Alexander Petrowitsch hieß und sich auch irgendwann einmal hatte scheiden lassen!

Zehn Jahre lang hatte sie sich mit keinem Mann eingelassen außer mit ihrem eigenen, der heute seine Sachen aus ihrem Kleiderschrank mitgenommen hatte, und jetzt machte sie wie verrückt Liebe auf einem Pensionssofa – und wusste überhaupt nicht, mit wem!

Als sie endlich einschliefen, lagen sie quer in dem üppigen Bett – keiner von beiden hatte mehr die Kraft, sich zurechtzurücken.

Von einem Surren im Ohr wachte sie auf, und ihr schien, als hätte sie gar nicht geschlafen, als hätte er sie gerade erst zum letzten Mal losgelassen und noch einmal geküsst. Mühsam öffnete sie die Augen und begriff, dass es schon Morgen war. Ihr Liebhaber schlief fest, sein sonnengebräunter, behaarter Arm hing auf den Teppich hinunter. In ihrer Handtasche klingelte das Handy.

Sie schaffte es irgendwie, aufzustehen, und suchte schwankend nach ihrer Handtasche.

«Hallo.»

Ihre Stimme war heiser und tief – die Stimme einer Frau, die die ganze Nacht hindurch wie verrückt Liebe gemacht hat.

«Inna, bist du’s?»

«Ja. Wer ist da?»

«Bist du in Moskau?»

«Ja. Wer ist da?»

«Hier ist Jakuschew.» Der Erste Stellvertreter des Gouverneurs. «Nimm das nächste Flugzeug, bei uns ist ein Unglück geschehen. Muchin ist umgebracht worden. Heute Nacht.»

3

DIE BEERDIGUNG DES GOUVERNEURS lief wie alle offiziellen Beerdigungen mit falschem Pomp ab und wirkte – ganz wie der in Bjelojarsk einfallende Winter – sehr kalt auf Inna.

In Moskau war dagegen gerade erst der goldene Herbst ausgebrochen – mit blauem Himmel, kalter klarer Luft, Zweigen, die wie mit Tusche rot und gelb getupft waren, und mit von Blättern übersäten Boulevards. Morgens krachte unter den Füßen herzhaft das Eis, tagsüber wärmte sich die Luft so auf, dass der Winter noch ganz weit weg zu sein schien.

Hier in Bjelojarsk war er schon viel näher als in Moskau: Der Wind vom Jenissej blies eisig und wirbelte den Schnee von gestern auf, er kroch in die Pelze und unter die Sonnenbrillen, die man nicht gegen die Sonne, sondern als Schutz gegen die allgegenwärtigen Kameras trug.

Der städtische Friedhof war sogar in seinem privilegierten Teil trostlos und unfreundlich – überall Schnee, Büsche, Granit, dazu noch Marmor, und man hatte keine Ahnung, wer darunter lag – ob Kumpane von der örtlichen Mafia, die sich hier für ein bisschen Geld den letzten Ruheplatz gesichert hatten, Vorgesetzte von hohem Rang, Geistliche oder verbannte Akademiker.

Durch die Sonnenbrille sah der Schnee gelb und der flache Himmel violett aus.

Die Posaunen stöhnten und störten beim Nachdenken. Die Soldaten traten von einem Bein aufs andere, sie froren in ihren abgenutzten Mänteln. Die Moskauer Trauerdelegation, zu der die örtlichen Größen hindrängten, stand mit heuchlerisch gesenkten Köpfen irgendwie zugleich abseits und mitten in der Menge.

Inna wandte sich ab von ihnen. Vielleicht war sie zu «empfindlich», wie der treue Ossip es nannte, aber sie fand, dass Begräbnisse nicht der richtige Ort dafür waren, die eigene Karriere zu schmieden. Zumindest in Anwesenheit der Toten, zumindest für ein Weilchen sollten die Lebenden das tägliche Brot und den einträglichen Posten vergessen. Ob man nun einen einträglichen Posten hat oder nicht – es endet doch alles mit Friedhof und Trauer, Schnee und einer offenen Grube, die Inna aus irgendeinem Grund unanständig vorkam.

«Bist du ganz versunken in deine Trauer, Inna Wassiljewna? Oder frierst du einfach nur?»

Das war Simonenko, der Landwirtschaftsbeauftragte in der Region.

«Ich friere, Wassilij Iwanowitsch.»

«Dein Pelzjäckchen hier ist wirklich schick. Das hast du dir wohl in Europa gekauft?»

Damit gab er zu verstehen, dass er die Sendung «Der einzige Held» gesehen hatte und missbilligte. Zum Teufel mit ihm. Viele missbilligten Inna, aber sie hatte sich schon daran gewöhnt, und meist pfiff sie darauf. Leute, deren Meinung ihr wirklich wichtig war, gab es nur wenige, vor den anderen hatte sie keine Angst, sondern benutzte sie geschickt für ihre eigenen Zwecke.

Keiner wusste, wie schwer das war. Keiner außer ihr allein.

Der Wind fuhr in ihre Pelzjacke hinein. Inna hielt sie mit der Hand zusammen und lächelte mit vor Kälte und «Trauer» erstarrten Lippen.

«Und jetzt, Wassilij Iwanowitsch? Sind schon Wahlen ausgeschrieben?»

«Du weißt doch», brummte er und drehte sich von dem eisigen Wind weg, der wieder vom Jenissej herangebraust kam, «Wlassow hat einen Termin vorgeschlagen, jetzt muss Chrust ihn prüfen und bestätigen.»

Wlassow war Vorsitzender des Wahlkomitees der Region, Chrust Vorsitzender der örtlichen gesetzgebenden Versammlung.

«Das wird ein Ärger», murmelte er vor sich hin. «Wahlen und so weiter … Da werden sonst was für Leute ankommen und versuchen, das Volk zu verkohlen.»

Sie antwortete nicht, weil jetzt der Sarg herabgelassen und das Grab zugeschaufelt wurde, während die Soldaten hastig und – «zum letzten Geleit» – unkoordiniert Schüsse aus ihren Gewehren abgaben. Erschrocken von dem Lärm flog ein Schwarm Dohlen auf und kreiste nun melancholisch krächzend hoch über dem Friedhof.

«Was wird jetzt aus ihnen?», fragte sich Inna.

«Aus wem?»

«Aus Ljubow Iwanowna und Katja und Mitja.»

Simonenko schwieg eine Weile.

«Es wird alles weitergehen wie bisher. Mitja wird weiter trinken, wie er bisher getrunken hat, und Katja wird nach Petersburg zurückkehren.»

«Zurück nach Petersburg …», wiederholte Inna.

Die Tochter des verstorbenen Muchin hatte ihre Mutter untergehakt, ihren Gesichtsausdruck konnte man hinter den dunklen Gläsern der Brille nicht erkennen. Ihr Bruder, der eine ungesunde gelbe Gesichtsfarbe hatte und ungewaschen aussah, zitterte, vergrub fröstelnd seine großen roten Hände in den Taschen und richtete sich ab und zu krampfartig auf.

Der Vater hatte alles getan, um sie zu schützen – er hatte ihnen Arbeit besorgt, Geld, hatte seine Beziehungen spielen lassen, seinen Einfluss geltend gemacht, für den Sohn Ärzte, Scharlatane, Magier engagiert, damit er «Schluss machte» und «mit dem Zeug aufhörte», aber alles vergebens.

Jetzt kondolierten die Trauergäste der verwaisten Gouverneursfamilie – zuerst die Moskauer, dann die Ortsansässigen –, sie flüsterten, drückten die Hände, setzten traurige Gesichter auf, einige wischten sich für alle Fälle über die trockenen Augen, aber die Witwe hielt den Kopf die ganze Zeit gesenkt.

«Jetzt sind wir dran», murmelte Simonenko neben ihr, «o mein Gott …»

Inna hatte sich keine passenden Worte zurechtgelegt. Für sie war der verstorbene Muchin einfach ein Vorgesetzter gewesen – nicht der beste und auch nicht der schlechteste, sie hatte schon schlimmere gehabt in ihrem Leben. Sie drückte der Witwe stumm die Hand und wollte gerade weitergehen, als sie zu ihrer unglaublichen Überraschung eine leise, fast körperlose Stimme hörte:

«Inna …»

Ljubow Iwanowna hatte sich nicht gerührt, ihre Tochter schaute vor sich hin, um den Mund hatten sich ärgerliche Falten gebildet, als sei sie böse auf ihren Vater, dass er es gewagt hatte, einfach so zu sterben. Der Sohn stand zitternd daneben und zog die vereiste Nase hoch.

Wer hatte sie gerufen?

Von hinten drängte man schon höflich – man wollte so schnell wie möglich sein Beileid ausdrücken, das Ende der Prozedur herbeiführen, um sich endlich ins warme Auto setzen zu können, wo der Fahrer schon gemütlich vor sich hin träumte, und dahin fahren, wo man «nach russischem Brauch» des Toten gedenken würde.

«Inna …»

Es war doch Ljubow Iwanowna, obwohl sie den Kopf weiter gesenkt hielt und ihre Füße oder das Grab ihres Mannes anstarrte.

«Ljubow Iwanowna?»

«Kommen Sie heute Abend um zehn zu uns.»

Von hinten drängelte und drückte es wie früher, in der noch gar nicht fernen sozialistischen Vergangenheit, wenn man nach Waschpulver Schlange gestanden hatte.

«Wohin soll ich denn kommen, Ljubow Iwanowna?»

«In die Stadtwohnung. Auf der Datscha können wir wohl kaum … miteinander reden.»

Worüber sollten sie reden? Zu Lebzeiten Muchins hatten sie höchstens ein Dutzend Worte miteinander gewechselt. Inna hatte nie zu den Freunden der Familie gehört, und Ljubow Iwanowna war nach bestem russischem Brauch als Dame der Öffentlichkeit nie in den Vordergrund getreten, hatte an keinen gesellschaftlichen Ereignissen teilgenommen, sich rein kategorisch nicht auf Modeschöpfer und Friseure eingelassen, und wenn ihr Mann sie gebeten hatte, zu irgendeiner wichtigen Protokollveranstaltung zu kommen, hatte sie unweigerlich entgegnet: «Mach du das nur ohne mich, Anatolij Wassiljewitsch. Wie soll ich dir schon beistehen? Ich bin dir doch nur ein Klotz am Bein!»

«Mama!» – Das war die Tochter Katja. Die Stimme klang angespannt.

«Um zehn, Inna. Ich warte auf Sie.»

«Ich werde kommen, Ljubow Iwanowna.»

Ihre Absätze sanken tief in die Erde ein, als sie auf die andere Seite des Grabhügels hinüberlief und nachdenklich ihre Nase in den Pelzkragen steckte.

Die Trauerzeremonie war fast zu Ende, die Leute unterhielten sich schon wieder ganz ungeniert in normaler Lautstärke über die täglichen Geschäfte.

«In zwei Monaten sind die Wahlen. Das heißt also, Ende Dezember.»

«Ausgerechnet zu Neujahr, verflucht nochmal.»

«Die gesetzgebende Versammlung muss den Termin noch bestätigen …»

«Chrust wird ihn bestimmt bestätigen. Es kann nicht in seinem Interesse sein, den Termin hinauszuzögern, er will ja selber kandidieren.»

«Recht hat er. Er ist der zuverlässigste Kandidat.»

«Die Oligarchen müssen ihn unterstützen, aber die sind noch nicht so recht …»

«Stimmt es, dass Admiralow sein Mehrheitspaket für den Kohletrust ‹BjelUgol› verkauft hat?»

«Das wird gemunkelt. Ich selber weiß nichts Näheres.»

«Wer hat denn nun ‹BjelUgol› gekauft? Wenn der bei uns auftaucht, als neuer Stern am Himmel … nachher wird er der neue Gouverneur!»

«Bislang wird hier keiner was, wir sind schließlich eine Region und kein Zirkus!»

Inna trat zur Seite in den Schnee, um die aufgeregte und durchgefrorene Gesellschaft an sich vorbeizulassen.

«Inna Wassiljewna! Bist du schon lange zurück aus Moskau?»

«Seit zwei Tagen. Als ich’s erfahren habe, bin ich sofort hergeflogen.»

«Wer hat es dir gesagt?»

Das war eine sehr wichtige Frage, die wichtigste überhaupt – wer hatte wen angerufen, wer hatte wen wohin bestellt, wer hatte was von wem erfahren.

Der König ist tot, es lebe der König.

Kaum war der Thron frei geworden, hatte jeder Anwärter eiligst begonnen, die Seinen um sich zu scharen. Die, die ihm halfen, auf den hohen warmen Platz hinaufzuklettern und dort Fuß zu fassen, damit er dann die begehrten einträglichen Posten unter ihnen verteilte – vorausgesetzt, es gelang den Anhängern, ihren Zar von der Verlässlichkeit des eigenen Diensteifers zu überzeugen.

Angerufen hatte sie Jakuschew, der die Pflichten des Zaren übernommen hatte – die am heutigen Tag mächtigste Schachfigur im Spiel. So fand sich Inna in der Mannschaft des ersten Anwärters auf den Thron wieder und gewann damit einen besonderen Status. Offiziell war er ihr allerdings noch nicht zugewiesen, denn sie hatte Jakuschew seit ihrer Rückkehr noch nicht gesehen – er war zu sehr mit dem Tod des Gouverneurs und der daraus entstandenen Situation beschäftigt gewesen.

Über Muchins Tod sprach man nur flüsternd und sah sich dabei misstrauisch in alle Richtungen um. Ein seltsamer Tod.

Der Gouverneur war tot in seinem Arbeitszimmer aufgefunden worden, mit einem schwarzen Loch in der Schläfe. Unterhalb seiner rechten Hand hatte auf dem roten «Kreml»-Teppich eine Pistole gelegen. Der Presse verkauften sie den Tod als «unglücklichen Umstand». Die Moskauer Presse hätte sich vermutlich nicht so leicht abspeisen lassen wie die Bjelojarsker. Hier aber schluckte man die Geschichte von der «unvorsichtigen Handhabung einer Waffe», vermutlich vor allem deshalb, weil man überrumpelt war. Die Moskauer Presse war noch nicht auf den Plan getreten, aber Inna wusste genau, dass der Skandal nicht ausbleiben würde.

Als Inna in Bjelojarsk eintraf, gab es für den internen Gebrauch, also nicht für die Presse, bereits eine neue Version: Es war Selbstmord, daran gab es keinen Zweifel. Dafür sprachen die Haltung, die Pistole und die absolut klassische Zeit – der fließende Übergang zwischen der Nacht und dem Morgen, wenn die Dämonen aus der Finsternis aufsteigen und am schwachen menschlichen Verstand nagen, ihm hässliche Gedanken eingeben und fürchterliche Bilder vorgaukeln, vor denen man sich nur durch den Tod retten zu können meint.

Der Mensch ist schwach. Woran hast du gedacht, Anatolij Wassiljewitsch, als du dir die furchtbare, glatte, kalte Mündung an den Kopf gehalten hast? Wer hat dich dazu gebracht? Wie konntest du nur?

Inna nickte schmerzerfüllt, als könnte sie all das nachvollziehen – und glaubte keinen Augenblick an die Selbstmord-Version.

Sie hatte Muchin nicht gut gekannt, aber das, was sie gekannt hatte, reichte, um nicht daran zu glauben.

Er war genauso ein Kaderfunktionär wie Simonenko, gestählt durch den Parteiapparat und von jenem System für die Führung jenes Staates auserwählt. Er war fest davon überzeugt, dass alles, was er tat, nur zum Besten des Volkes war. Und selbst wenn es schadete, war es nur zum Besten des Volkes.

Er machte keine großen Geschäfte, mischte sich nicht in kriminelle Machenschaften ein, entmachtete die Oligarchen nicht und stritt sich nicht mit der zentralen Staatsmacht. Er war vollkommen zufrieden mit der Position, die er innehatte, und der Meinung, zu Recht zum Gouverneur gewählt worden zu sein. Sein Geleit bestand aus mindestens vier Autos mit blinkendem Blaulicht. Die Verkehrspolizisten standen stramm, wenn er vorbeifuhr, das Privatflugzeug mit dem rotsamtenen Interieur flog ihn zuverlässig nach Moskau und zurück, die Kolchosbauern und -bäuerinnen präsentierten ihm zur Begrüßung Brotlaibe auf volkstümlichen Tüchern. Im Kreml begegnete man ihm ebenfalls mit Hochachtung, und wenn er ein Interview gab, achtete er auf eine maximale Nähe zum Volk und sagte mit bedeutungsschwerem Zwinkern: «Wenn die Macht des Gouverneurs stark ist und geachtet wird, herrscht Ordnung im Lande!»

Er hatte keine wilde kriminelle Vergangenheit, er war kein Protegé irgendwelcher wirtschaftlicher Interessengruppen, seinen einzigen ernsthaften Kummer bereitete ihm sein Sohn, an dessen Erziehung er gescheitert war.

«Bist du mit dem Auto hier, Inna Wassiljewna, oder soll ich dich mitnehmen?»

«Ich bin mit dem Auto, aber danke.»

Der unermüdliche Ossip hatte in der Zwischenzeit wahrscheinlich sämtliche Zeitungen gelesen und alle Kreuzworträtsel gelöst.

Was hatte Muchin mitten in der Nacht in seinem Arbeitszimmer gemacht? Er, der sich immer damit gebrüstet hatte, dass er «nach neun kein Gouverneur, sondern ein normaler Mann» sei. Für modische Schlagwörter wie «Arbeiten, Arbeiten, Arbeiten» hatte er nicht viel übrig gehabt. Er war sich seiner selbst zu sicher gewesen, als dass er mehr Zeit mit Arbeit vertan hätte, als «es sich gehört».