Dead Zone – Das Attentat - Stephen King - E-Book

Dead Zone – Das Attentat E-Book

Stephen King

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Beschreibung

Erster Roman des Castle-Rock-Zyklus

Johnny erwacht nach fünf Jahren aus dem Koma und besitzt auf einmal hellseherische Fähigkeiten. Als er einem Politiker die Hand schüttelt, hat er die Vision, dass dieser als zukünftiger US-Präsident den Dritten Weltkrieg auslösen wird. Johnny ringt mit seinem Gewissen und beschließt ein Attentat ...

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STEPHEN KING

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von

Joachim Körber

auf Grundlage einer Übersetzung von

Alfred Dunkel

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

DAS BUCH

Der junge Highschool-Lehrer Johnny Smith hat ein Auge auf seine Kollegin Sarah Bracknell geworden und führt sie aus. Nach einem gemeinsamen Volksfestbesuch gerät Johnny mit dem Taxi in einen Unfall, bei dem er so schwere Kopfverletzungen davonträgt, dass er in ein fast fünfjähriges Koma fällt. Als er 1975 wieder erwacht, hat sich zu Johnnys Schrecken in der idyllischen kleinen Heimatstadt Castle Rock einiges geändert. So ist Sarah nun verheiratet und hat einen kleinen Sohn.

Bei medizinischen Tests, die Johnny durchläuft, kommt heraus, dass er bestimmte Objekte nicht visualisieren kann, weil die Erinnerungen daran in jenen Hirnregionen gespeichert waren, die nun geschädigt sind – seiner jetzigen »Dead Zone«. Es wird aber auch bald klar, dass sich bei Johnny noch etwas grundlegend verändert hat: Er besitzt auf einmal die Gabe, die Zukunft der Menschen vorherzusehen, mit denen er in Berührung kommt. Als er eines Tages bei einer Veranstaltung dem Lokalpolitiker Greg Stillson die Hand schüttelt, sieht er ihn als den zukünftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten – der einen Atomkrieg auslösen wird. Um das zu verhindern, beschließt Johnny ein Attentat …

DER AUTOR

Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, veröffentlichte schon als Student Kurzgeschichten. Sein erster Romanerfolg, Carrie, erlaubte ihm, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seitdem hat er weltweit 400 Millionen Bücher in mehr als 40 Sprachen verkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk. Bei Heyne erschien zuletzt sein Bestseller Love.

Titel der Originalausgabe: DEAD ZONE

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Der Verlag weist ausdrücklich daraufhin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 10/2007 Copyright © 1979 by Stephen King Copyright © 2006 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Umschlagfotos: © Ralph Morse/Getty Images; Department of Energy/Getty Images Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, München – Zürich Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

eISBN: 978-3-641-20613-0V001

www.heyne.de

www.randomhouse.de

Vorbemerkung des Autors

Dies ist eine rein fiktive Geschichte. Alle Hauptakteure sind frei erfunden.

Da die Handlung vor dem historischen Hintergrund der 1970er-Jahre spielt, kann der Leser gewisse Gestalten der Wirklichkeit erkennen, die während der Siebzigerjahre eine Rolle gespielt haben.

Ich hoffe, keine dieser Gestalten falsch interpretiert zu haben.

Einen dritten Kongress-Distrikt in New Hampshire und auch eine Stadt Castle Rock in Maine gibt es allerdings nicht.

Chuck Chatsworths Leseübung stammt aus Fire-Brain von Max Brand, zuerst erschienen bei Dodd, Mead and Company, Inc.

Das ist für Owen.Ich liebe dich, alter Bär.

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorCopyrightVorbemerkung des AutorsWidmungProlog
12
ERSTER TEIL - DAS GLÜCKSRAD
Erstes Kapitel
1 2 3 4
Zweites Kapitel
1 2
Drittes Kapitel
1 2 3 4 5 6
Viertes Kapitel
1
Fünftes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Sechstes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7
Siebtes Kapitel
1 2
Achtes Kapitel
1 2
Neuntes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Zehntes Kapitel
1 2 3 4
Elftes Kapitel
1 2 3
Zwölftes Kapitel
1 2
Dreizehntes Kapitel
1 2
Vierzehntes Kapitel
1 2
Fünfzehntes Kapitel
1 2 3 4 5 6
Sechzehntes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
ZWEITER TEIL - DER LACHENDE TIGER
Siebzehntes Kapitel
1 2
Achtzehntes Kapitel Neunzehntes Kapitel
1 2
Zwanzigstes Kapitel
1 2 3 4
Einundzwanzigstes Kapitel
1 2 3 4
Zweiundzwanzigstes Kapitel
1 2 3 4
Dreiundzwanzigstes Kapitel
1 2 3 4 5
Vierundzwanzigstes Kapitel Fünfundzwanzigstes Kapitel
1 2 3
Sechsundzwanzigstes Kapitel
1 2 3 4 5 6 7 8
Siebenundzwanzigstes Kapitel
1 2 3 4 5 6
DRITTER TEIL - NOTIZEN AUS DER TOTEN ZONE
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

Prolog

1

Als John Smith das College abschloss, hatte er den bösen Sturz längst vergessen, den er an jenem eiskalten Januartag des Jahres 1953 auf dem Eis getan hatte. Es wäre ihm schon schwergefallen, sich noch daran zu erinnern, als er die Grundschule verließ. Und seine Mutter und sein Vater hatten nie davon erfahren.

Sie waren auf einer geräumten Fläche des Runaround Pond in Durham Schlittschuh gelaufen. Die größeren Jungen hatten mit alten, geklebten Stöcken Eishockey gespielt und dabei Kartoffelkisten als Tore benutzt. Die Jüngeren kurvten einfach herum, wie Kinder es schon seit undenklichen Zeiten getan haben – ihre Knöchel knickten komisch nach innen und außen um, ihr Atem stand wie Raureif in der frostkalten Luft von minus fünf Grad. In einer Ecke der abgeräumten Fläche brannten rußend zwei Gummireifen, ein paar Eltern saßen in der Nähe und beobachteten ihre Kinder. Das Zeitalter des Schneemobils lag noch in weiter Ferne, und der Winterspaß bestand immer noch darin, den Körper zu belasten statt einen Benzinmotor.

Johnny war von seinem Haus direkt hinter der Pownal-Grenze heruntergekommen, die Schlittschuhe hatte er über die Schulter geworfen. Er war mit seinen sechs Jahren schon ein recht geschickter Schlittschuhläufer. Noch nicht gut genug, um sich am Hockeyspiel der älteren Jungen zu beteiligen, aber er konnte doch schon Kreise um die anderen Erstklässler ziehen, die ständig mit den Armen ruderten oder auf dem Hosenboden landeten.

Jetzt glitt er am äußeren Rand der geräumten Fläche herum und wünschte sich, auch schon rückwärts laufen zu können, so wie Timmy Benedix, lauschte, wie das Eis weiter draußen unter der Schneedecke geheimnisvoll knisterte und knackte, lauschte den fernen Rufen der Hockeyspieler, dem Dröhnen eines Lastwagens, der auf dem Weg nach U.S. Gypsum in Lisbon Falls die Brücke überquerte, den murmelnden Unterhaltungen der Erwachsenen. Er war sehr froh, an diesem schönen kalten Wintertag am Leben zu sein. Er hatte keine Sorgen, nichts bedrückte ihn, er wollte nichts … nur eins, wie Timmy Benedix rückwärts Schlittschuh laufen zu können.

Er glitt am Feuer vorbei und sah, dass zwei oder drei der Erwachsenen eine Flasche Fusel kreisen ließen.

»Geben Sie mir auch was davon!«, rief er Chuck Spier zu, der in eine dicke Strickjacke und grüne Flanellhose eingemummt war.

Chuck grinste ihn an. »Verschwinde von hier, Junge! Ich höre, wie deine Mutter nach dir ruft.«

Der sechsjährige Johnny Smith grinste ebenfalls und lief weiter. Dann sah er, wie Timmy Benedix persönlich den Hang herunterkam, seinen Vater im Schlepptau.

»Timmy!«, schrie Johnny. »Pass mal auf!«

Er drehte sich um und begann unbeholfen, rückwärts zu laufen. Dabei geriet er, ohne es zu merken, in den Bereich des Eishockeyspiels.

»He, Junge!«, rief jemand. »Geh aus dem Weg!«

Johnny hörte es nicht. Er konnte es! Er lief rückwärts! Er hatte den richtigen Rhythmus erfasst … ganz plötzlich. Es kam auf ein ganz bestimmtes Schwenken der Beine an …

Er blickte fasziniert nach unten, um zu sehen, was seine Beine jetzt machten.

Der alte, zerschrammte und schon arg ramponierte Puck der größeren Jungen zischte vorbei. Johnny sah es nicht. Einer der großen Jungen, kein allzu guter Schlittschuhläufer, jagte Hals über Kopf hinterher.

Chuck Spier sah es kommen. Er sprang auf die Beine und schrie: »Johnny! Pass auf!«

Johnny hob den Kopf … und im nächsten Moment prallte der unbeholfene Schlittschuhläufer in vollem Tempo und mit seinen ganzen einhundertsechzig Pfund gegen den kleinen Johnny Smith.

Johnny flog durch die Luft und fuchtelte wild mit den ausgestreckten Armen. Einen knappen Moment später knallte sein Kopf aufs Eis, und es wurde schwarz um ihn.

Schwarz … schwarzes Eis … schwarz … schwarzes Eis … schwarz. Schwarz.

Sie sagten ihm, dass er ohnmächtig geworden war. Doch in seinem Kopf wiederholte sich merkwürdigerweise immer nur ein Gedanke, während er aufblickte und einen Kreis von Gesichtern um sich sah … erschrockene, verängstigte Eishockeyspieler, besorgte Erwachsene, neugierige kleine Kinder. Timmy Benedix grinste spöttisch. Chuck Spier hielt Johnny fest.

Schwarzes Eis. Schwarz.

»Was?«, fragte Chuck. »Johnny … Alles okay? Du hast einen höllischen Sturz getan.«

»Schwarz«, brachte Johnny kehlig heraus. »Schwarzes Eis. Nicht überbrücken, Chuck!«

Chuck blickte sich ein bisschen ängstlich um, dann sah er Johnny wieder an. Er berührte behutsam die große Beule, die auf der Stirn des Jungen anschwoll.

»Tut mir leid«, sagte der unbeholfene Eishockeyspieler. »Aber ich hab ihn doch überhaupt nicht gesehen! Kleine Kinder sollen sich nicht auf der Hockeyfläche aufhalten. Das ist Vorschrift.« Er sah sich unsicher um und suchte offenbar nach Unterstützung.

»Johnny?«, sagte Chuck. Ihm gefiel der Ausdruck in den Augen des Jungen ganz und gar nicht. Sie waren dunkel und abwesend, distanziert und kalt. »Bist du okay?«

»Nicht überbrücken!«, sagte Johnny, ohne zu wissen, was er sagte. Er dachte nur an Eis … an schwarzes Eis. »Die Explosion. Die Säure!«

»Was meinst du? Sollen wir ihn zu einem Doktor bringen?«, fragte Chuck Bill Gendron: »Er weiß nicht, was er redet.«

»Lass ihm noch ’ne Minute Zeit«, riet Bill.

Sie ließen ihm eine Minute Zeit, und allmählich klärte sich Johnnys Kopf. »Ich bin okay«, murmelte er. »Lassen Sie mich aufstehen!« Timmy Benedix grinste immer noch spöttisch. Der Teufel soll ihn holen!, dachte Johnny. Er beschloss, Timmy ein, zwei Dinge zu zeigen. Bis zum Wochenende würde er es bestimmt schaffen, im Kreis um Timmy herumzufahren … rückwärts und vorwärts!

»Komm mit rüber zum Feuer, Johnny, und setz dich ’ne Weile hin«, schlug Chuck vor. »Du bist wirklich höllisch hingefallen.«

Johnny ließ sich von den Männern zum Feuer bringen. Der durchdringende Gestank des brennenden Gummis bereitete ihm Übelkeit. Er hatte Kopfschmerzen. Neugierig betastete er die Beule über dem linken Auge. Sie schien eine Meile nach vorn zu ragen.

»Kannst du dich erinnern, wer du bist und so weiter?«, fragte Bill.

»Na, klar! Sicher kann ich das. Ich bin völlig okay.«

»Wer sind dein Dad und deine Mom?«

»Herb und Vera. Herb und Vera Smith.«

Bill und Chuck sahen sich achselzuckend an.

»Ich denke, er ist wirklich okay«, sagte Chuck, und dann wiederholte er zum dritten Mal: »Aber er ist höllisch hingefallen, was? Wumm!«

»Sind eben Kinder«, sagte Bill und sah dabei liebevoll seine achtjährigen Zwillingsmädchen an, die Hand in Hand übers Eis liefen, dann wieder zu Johnny. »Ein Erwachsener hätte es wahrscheinlich nicht überlebt.«

»Ein Polack schon!«, erwiderte Chuck, und dann brachen beide Männer in Lachen aus. Die Flasche Bushmill’s machte wieder die Runde.

Zehn Minuten später war Johnny wieder auf dem Eis, die Kopfschmerzen ließen bereits nach, nur die Beule leuchtete bunt verfärbt auf der Stirn. Doch als er zum Mittagessen nach Hause ging, hatte er den bösen Sturz schon wieder vergessen. In seiner Freude, endlich das Rückwärtslaufen begriffen zu haben, dachte er auch nicht mehr daran, dass er für eine Weile ohnmächtig gewesen war.

»Gütiger Gott!«, sagte Vera Smith, als sie ihn sah. »Wie bist du denn dazu gekommen?«

»Bin hingefallen«, sagte er und begann Campbell’s Tomatensuppe zu schlürfen.

»Alles in Ordnung mit dir, Johnny?«, fragte sie und berührte behutsam die Beule.

»Klar, Mom.« Das war er auch – bis auf die gelegentlichen Albträume, die er im Laufe des nächsten Monats hatte … diese schlechten, schweren Träume und die Neigung, tagsüber manchmal sehr schlaftrunken zu werden, was ihm früher nie passiert war. Doch das hörte etwa zur gleichen Zeit auf wie die schlechten Träume.

Es war in Ordnung.

Mitte Februar stellte Chuck Spier eines Morgens fest, dass die Batterie seines alten ’48er De Soto leer war. Er wollte sie an seinem Lastwagen überbrücken. Als er die zweite Klemme an der Batterie des De Soto befestigte, explodierte sie ihm direkt ins Gesicht. Er wurde von Splittern und vor allem von der ätzenden Säure der Batterie überschüttet. Er verlor ein Auge. Vera sagte, dass es nur Gottes Güte zu verdanken war, dass er nicht beide eingebüßt hatte. Johnny hielt es für eine schreckliche Tragödie, eine Woche nach dem Unfall besuchte er mit seinem Vater Chuck im Lewiston General Hospital. Der Anblick von Big Chuck, wie er da im Krankenhausbett lag und so merkwürdig verbraucht und klein aussah, hatte Johnny sehr erschüttert – und in dieser Nacht träumte er, dass er dort lag.

In den folgenden Jahren hatte Johnny ab und zu Ahnungen – er wusste, welche Schallplatte als Nächste im Radio zu hören sein würde, noch bevor der Diskjockey sie angespielt hatte, und ähnliche Sachen –, aber er brachte sie niemals mit seinem damaligen Unfall auf dem Eis in Verbindung. Den hatte er mittlerweile vergessen.

Und diese Ahnungen waren auch niemals erschreckend oder sehr häufig. Erst am Abend auf dem County-Rummelplatz und mit der Maske ereignete sich etwas Seltsames. Vor dem zweiten Unfall.

Später dachte er noch oft daran.

Die Sache mit dem Glücksrad war vor dem zweiten Unfall passiert.

Wie eine Warnung aus seiner eigenen Kindheit.

2

In diesem Sommer des Jahres 1955 war der Reisevertreter in der glühenden Sonnenhitze kreuz und quer durch Nebraska und Iowa unterwegs. Er saß hinter dem Steuer einer ’53er Mercury Limousine, die schon mehr als siebzigtausend Meilen hinter sich hatte. Bei dem alten Merc machte sich schon ein Klappern der Ventile bemerkbar. Der Vertreter war ein großer Mann, der immer noch wie ein maisgenährter Junge aus dem Mittelwesten aussah. In diesem Sommer 1955, nur vier Monate, nachdem sein Malergeschäft in Omaha Pleite gemacht hatte, war Greg Stillson erst zweiundzwanzig Jahre alt.

Kofferraum und Rücksitz des Mercury waren mit Kartons gefüllt, die überwiegend Bücher enthielten, in der Hauptsache Bibeln in allen möglichen Formen und Größen. Da war zunächst einmal die Grundausführung, die American Truthway Bible, mit sechzehn Farbillustrationen und mit Flugzeugleim verklebt, die einen Dollar neunundsechzig kostete und garantiert zehn Monate hielt; für den ärmeren Schlucker gab es das American Truthway New Testament für fünfundsechzig Cent, das zwar keine Farbtafeln enthielt, dafür aber waren die Worte Unseres Herrn Jesus Christus in Rot gedruckt; und für den Spendierfreudigen gab es eine Ausgabe von Gottes Wort in Luxusausführung für neunzehn Dollar fünfundneunzig, sie war in weißes Kunstleder gebunden, der Name des Käufers wurde in Gold auf den Umschlag gedruckt, sie enthielt vierundzwanzig Farbtafeln und in der Mitte einen Abschnitt, in dem man Geburten, Eheschließungen und Todesfälle eintragen konnte. Die Luxusausgabe vom Wort Gottes konnte bis zu zwei Jahren in einem Stück bleiben. Darüber hinaus hatte er noch einen Karton voll mit Taschenbüchern mit dem Titel Die kommunistisch-jüdische Verschwörung gegen unsere Vereinigten Staaten von Truthway.

Mit diesen Taschenbüchern, die auf billigstem holzhaltigem Papier gedruckt waren, machte Greg ein besseres Geschäft als mit allen Bibeln zusammen. Man konnte darin nachlesen, wie die Rothschilds und die Roosevelts und die Greenblatts die Wirtschaft und die Regierung der Vereinigten Staaten übernommen hatten. Es enthielt Diagramme, die verdeutlichten, wie die Juden in direkter Beziehung zur kommunistisch-marxistisch-leninistisch-trotzkistischen Achse standen und von dort aus zum Antichrist persönlich.

Die Tage des McCarthyismus waren in Washington noch nicht lange vorbei; im Mittelwesten war Joe McCarthys Stern noch nicht gesunken, und Margaret Chase Smith aus Maine wurde wegen ihrer berühmten Declaration of Conscience immer noch als »das Miststück« bezeichnet. Abgesehen von dem Geschwätz über den Kommunismus schienen Greg Stillsons bäuerliche Farmkunden ein morbides Interesse an der Vorstellung zu haben, dass die Juden die Weltherrschaft übernehmen könnten.

Jetzt bog Greg in die staubige Zufahrt zu einem Farmhaus etwa zwanzig Meilen westlich von Ames in Iowa ein. Das Anwesen machte einen verlassenen Eindruck – die Jalousien waren heruntergelassen, und alle Stall- und Schuppentüren waren abgeschlossen –, aber man konnte nie wissen, ob nicht doch noch jemand zu Hause war. Dieses Motto war Greg Stillson stets gut zustatten gekommen, seit er und seine Mutter vor ungefähr zwei Jahren von Oklahoma nach Omaha gezogen waren. Das Geschäft mit dem Hausanstreichen war kein großer Erfolg gewesen, aber er hatte das Bedürfnis gehabt, den Geschmack von Jesus – man verzeihe die kleine Blasphemie – für eine Weile aus dem Mund zu bekommen.

Er machte die Wagentür auf, und als er auf der staubigen Auffahrt ausstieg, kam ein großer, bösartig aussehender Farmhund mit angelegten Ohren aus dem Stall gerannt. Er bellte wie verrückt. »Hallo, Köter!«, sagte Greg mit seiner leisen, wohltönenden Stimme, die weithin zu hören war. Er hatte mit seinen zweiundzwanzig Jahren bereits eine Stimme, die eine größere Menge in Bann schlagen konnte.

Der Köter reagierte jedoch keineswegs auf die Freundlichkeit in dieser Stimme. Er kam weiter heran und hatte offenbar die Absicht, einen Vertreter zum Mittagessen zu verspeisen. Greg zog sich schleunigst in den Wagen zurück, machte die Tür zu und drückte zweimal kräftig auf die Hupe. Schweiß lief ihm übers Gesicht und machte den Stoff seines weißen Anzugs unter den Achseln kreisförmig und auf dem Rücken baumförmig dunkel. Wieder hupte er, aber wieder erfolgte keinerlei Reaktion. Die Bauerntrampel waren offenbar in ihre International Harvester oder ihre Studebaker gestiegen und in die Stadt gefahren.

Greg lächelte.

Statt den Rückwärtsgang einzulegen und die Auffahrt wieder zu verlassen, langte er nach hinten und brachte eine Flit-Spritze zum Vorschein, nur war diese statt mit Flit mit Salmiakgeist geladen.

Greg zog den Stöpsel zurück und stieg wieder aus dem Auto aus. Er lächelte flüchtig. Der Hund, der sich auf die Hinterbeine gehockt hatte, stand sofort wieder auf und kam knurrend näher.

Greg lächelte weiter. »So ist’s recht, Köter«, sagte er mit dieser angenehmen, weit tragenden Stimme. »Komm nur her! Komm und hol’s dir!« Er hasste diese hässlichen Farmhunde, die sich auf ihrem kleinen Hof wie arrogante Caesaren gebärdeten. Zugleich verrieten sie auch einiges über ihre Herren.

»Miese Bande von Bauernlümmeln!«, murmelte Greg. Er lächelte immer noch. »Na, komm schon, Hündchen!«

Und der Hund kam. Er federte sich auf den Hinterbeinen ab, um Greg anzuspringen. Im Stall muhte eine Kuh, und der Wind raschelte zärtlich durch den Mais. Als der Hund sprang, verzog Greg das Gesicht zu einer harten und bitteren Grimasse. Er drückte den Flit-Kolben hinein und spritzte dem Hund die Salmiakladung direkt in Augen und Nase.

Das wütende Bellen des Hundes verwandelte sich sofort in kurzes, gequältes Winseln und dann, als der Salmiakgeist so richtig seine Wirkung tat, in schmerzliches Geheul. Er machte sofort kehrt und kniff den Schwanz ein. Jetzt war er kein Wachhund mehr, sondern nur noch ein besiegter Köter.

Greg Stillsons Gesicht hatte sich verdunkelt. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengezogen. Er machte rasch ein paar Schritte nach vorn und versetzte dem jaulenden Hund noch einen gemeinen Fußtritt mit der Spitze seiner Stride-King-Schuhe in die Hinterbeine. Der Hund gab einen hohen, schrillen Laut von sich. Von Angst und Schmerz getrieben, drehte er sich um und besiegelte damit erst recht sein Schicksal, indem er seinen Peiniger angriff, statt sich im Stall in Sicherheit zu bringen.

Knurrend und zähnefletschend schnappte er blindlings zu. Seine scharfen Zähne erwischten den Aufschlag von Gregs weißer Leinenhose und fetzten ein Stück Stoff heraus.

»Du Mistköter!«, schrie Greg erschrocken und wütend und trat wieder nach dem Hund, diesmal hart genug, um das Tier auf den Boden zu schleudern. Doch damit noch nicht genug. Laut brüllend versetzte er dem Hund noch einen Tritt. Jetzt begriff der Hund, dessen Augen tränten und dessen Nase mörderisch vom Salmiakgeist brannte, der eine Rippe gebrochen und eine zweite böse angeknackst hatte, dass ihm von diesem Wahnsinnigen ernsthafte Gefahr drohte, aber da war es schon zu spät.

Greg Stillson jagte den Hund auf dem Hof herum und schrie dabei keuchend, Schweiß strömte ihm übers Gesicht. Wieder und immer wieder trat er die misshandelte Kreatur, bis der Hund kaum noch imstande war, sich durch den Staub zu schleppen. Er blutete aus einem halben Dutzend Wunden. Er würde sterben.

»Hättest mich eben nicht beißen sollen!«, sagte Greg mit seiner leisen Stimme. »Hast du gehört? Hast du gehört? Du hättest mich nicht beißen sollen, du Scheißköter! Niemand kommt mir in die Quere! Hast du gehört? Niemand!« Noch einmal trat er mit der blutbeschmierten Schuhspitze zu, aber der Hund konnte nur noch einen halb erstickten, winselnden Laut von sich geben. Es gab Greg keine große Befriedigung. Er hatte Kopfschmerzen. Das kam von der Sonne. Einen Hund in dieser Sonnenglut herumjagen! Kann ja noch von Glück sagen, wenn ich nicht ohnmächtig werde!

Er machte einen Moment die Augen zu und atmete sehr schnell und keuchend, dicke Schweißtropfen perlten auf seinem Gesicht wie Tränen und funkelten wie Edelsteine in seinem Bürstenschnitt. Der Hund lag sterbend zu seinen Füßen auf dem Boden. Hinter seinen geschlossenen Lidern huschten Farbpunkte im Rhythmus seines Herzschlags durch die Dunkelheit.

Er hatte Kopfschmerzen.

Manchmal fragte er sich, ob er auf dem Weg sei, verrückt zu werden. So wie jetzt. An sich hatte er dem Hund doch nur eine gehörige Dosis Salmiakgeist aus der Flit-Spritze verpassen wollen, um ihn in den Stall zurückzutreiben. Greg hatte seine Geschäftskarte in einen Spalt der Haustür stecken und ein andermal zurückkommen wollen, um ein Geschäft abzuschließen. Und nun das hier! So ein Schlamassel! Seine Karte konnte er jetzt wohl schlecht hinterlassen, oder?

Er machte die Augen auf. Der Hund lag zu Gregs Füßen und hechelte sehr schnell. Blut troff aus seiner Schnauze. Greg Stillson blickte nach unten. Der Hund leckte unterwürfig Gregs Schuhe, als wollte er anerkennen, den Kürzeren gezogen zu haben, dann machte er sich wieder daran, zu sterben.

»Hättest mir eben die Hose nicht zerreißen dürfen«, sagte er zu ihm. »Diese Hose hat fünf Scheinchen gekostet, du Scheißköter!«

Er musste von hier fort. Es würde ihm schlecht ergehen, wenn Clem Kadiddlehopper und seine Frau mit ihren sechs Kindern in dem alten Studebaker aus der Stadt zurückkommen und sehen würden, wie Fido hier sterbend auf dem Boden lag … zu Füßen des bösen, schlimmen Hausierers! Greg würde seinen Job verlieren. Die American Truthway Company beschäftigte keine Verkäufer, die Hunde von guten Christenleuten töteten!

Greg kicherte nervös, ging zum Mercury zurück, stieg ein und setzte den Wagen schleunigst von der Auffahrt zurück. Er bog nach Osten auf den Landweg ein, der schnurgerade durch das Maisfeld führte, und bald brauste er mit achtzig Stundenkilometern dahin und hinterließ eine zwei Meilen lange Staubfahne.

Er wollte ganz entschieden seinen Job nicht verlieren. Noch nicht. Er verdiente gutes Geld – zu den Kniffen, von denen die American Truthway Company wusste, hatte Greg noch so manchen eigenen hinzugefügt, von dem die Firma nichts wusste. Jetzt hatte er es so gut wie geschafft. Außerdem kam er viel im Land herum und lernte eine Menge Leute kennen … eine Menge Mädchen. Es war schon ein gutes Leben, nur …

Nur war er eben noch nicht zufrieden damit.

Er fuhr weiter. Sein Kopf dröhnte. Nein, er war noch ganz und gar nicht zufrieden. Er hatte das Gefühl, für größere Dinge bestimmt zu sein, als im Mittelwesten herumzukutschieren und Bibeln zu verkaufen und dabei die Bücher zu frisieren, um jeden Tag zwei, drei Piepen extra zu verdienen. Er war bestimmt für …

Größe!

Jawohl, das war es! Das war es ganz entschieden! Vor ein paar Wochen war er mit einem Mädchen auf den Heuboden geklettert, deren Eltern in Davenport gewesen waren, um eine Wagenladung Hühner zu verkaufen. Das Mädchen hatte mit ihm angebändelt, indem es ihm ein Glas Limonade angeboten hatte, und dann hatte eins zum anderen geführt, und nachdem er sie auf dem Heuboden gehabt hatte, hatte das Mädchen gesagt, es wäre beinahe so gewesen, als sei sie von einem Prediger gepimpert worden, und da hatte er sie geschlagen, ohne zu wissen, warum. Er hatte sie geschlagen und war dann gegangen.

Hm … nein.

Er hatte sie tatsächlich drei-, viermal geschlagen. Erst als sie laut um Hilfe geschrien hatte, war er wieder zur Vernunft gekommen und hatte aufgehört und allen Charme, der ihm von Gott verliehen worden war, dazu benutzt, sich mit dem Mädchen wieder auszusöhnen. Damals hatte er auch diese Kopfschmerzen gehabt, diese grellbunten Flecken, die über sein Gesichtsfeld tanzten, und er hatte sich einzureden versucht, dass nur die Hitze daran schuld gewesen sein konnte, die explosive Hitze auf dem Heuboden, aber seine Kopfschmerzen stammten sicherlich nicht nur von Hitze. Er hatte dasselbe Gefühl vorhin auf dem Bauernhof gehabt, als der Hund ihm die Hose zerrissen hatte, etwas Dunkles und Verrücktes.

»Ich bin nicht verrückt!«, sprach er im Wagen laut vor sich hin. Er kurbelte rasch das Fenster herunter und ließ die Sommerhitze sowie den Geruch nach Staub, Getreide und Mist herein. Er schaltete das Radio ein und erwischte einen Patt-Page-Song. Die Kopfschmerzen ließen ein wenig nach.

Es kam nur darauf an, sich zu beherrschen und eine weiße Weste zu behalten. Wenn man das tat, konnte einem niemand etwas anhaben. Er kam ja auch schon wesentlich besser mit beidem zurecht. Er träumte längst nicht mehr so oft von seinem Vater, wie er damals vor ihm gestanden hatte, den steifen Hut in den Nacken geschoben. »Du taugst nichts, Bengel!«, hatte der Vater ihn angebrüllt. »Du taugst zu gar nichts, verdammt noch mal!«

Er hatte diese Träume jetzt deshalb nicht mehr so oft, weil sie nicht stimmten. Er war kein Bengel mehr. Okay, er war als Junge viel krank gewesen und anfangs recht klein geblieben; aber dann war er gewachsen. Er sorgte für seine Mutter und …

Und sein Vater war tot. Sein Vater konnte das alles nicht mehr sehen. Greg konnte seinen Vater nicht dazu veranlassen, seine Worte von damals zurückzunehmen, weil er bei einer Bohrturm-Explosion auf einem Ölfeld gestorben war. Jetzt würde Greg ihn ganz gern wenigstens noch ein einziges Mal ausgraben, um ihm ins verweste Gesicht schreien zu können: »Du hast dich geirrt, Dad! Du hast dich in mir geirrt!« Und dann würde er ihm einen heftigen Tritt versetzen wie … Wie er diesem Hund einen Tritt versetzt hatte.

Die Kopfschmerzen waren unterschwellig wieder da.

»Ich bin nicht verrückt!«, sagte er abermals im Lärm der Musik.

Seine Mutter hatte ihm oft gesagt, dass er für etwas Großes bestimmt war, für etwas Großartiges, und Greg glaubte es. Es ging nur darum, solche Dinge – ein Mädchen zu schlagen und einen Hund zu treten – zu beherrschen und eine weiße Weste zu behalten.

Er würde diese Größe, worin auch immer sie bestehen mochte, schon erkennen, wenn es so weit war. Davon war er felsenfest überzeugt.

Er dachte wieder an den Hund, und diesmal löste der Gedanke ein schwaches Lächeln ohne Mitgefühl oder Humor aus.

Seine Größe war bereits unterwegs. Gewiss, sie konnte noch Jahre entfernt sein – er war ja noch jung, und es war nicht schlimm, noch jung zu sein, solange man begriff, dass man nicht alles auf einmal haben konnte. Solange man fest daran glaubte, dass man es schließlich doch schaffen würde. Das glaubte er.

Und Gott und Sonny Jesus sollten jedem beistehen, der es wagen sollte, ihm in die Quere zu kommen.

Greg Stillson steckte einen sonnengebräunten Ellbogen aus dem Fenster und begann, zur Radiomelodie zu pfeifen. Er trat aufs Gaspedal und jagte den alten Mercury auf neunzig Stundenkilometer hoch, und so rollte er die gerade Farmstraße in Iowa hinab … der Zukunft entgegen, wie immer sie auch aussehen mochte.

ERSTER TEIL

DAS GLÜCKSRAD

Erstes Kapitel

1

Sarah erinnerte sich später an zwei Dinge dieses Abends: seine Glückssträhne am Glücksrad und die Maske. Aber im Lauf der Zeit dachte sie eigentlich nur noch an die Maske … falls sie sich dazu zwingen konnte, überhaupt noch an jenen schrecklichen Abend zu denken. Er wohnte in einem Apartmenthaus in Cleaves Mills. Sarah traf dort um Viertel vor acht ein, parkte den Wagen um die Ecke und läutete. Sie mussten heute ihren Wagen nehmen, weil Johnnys Auto in Tibbets’ Garage in Hampden war; irgendeine Sache mit dem Lenkrad. Etwas Teures, hatte Johnny am Telefon gesagt, und dann hatte er ein typisches John-Smith-Lachen gelacht. Sarah wäre in Tränen ausgebrochen, wenn es um ihren Wagen gegangen wäre … und um ihre Geldbörse.

Sarah ging durchs Foyer zur Treppe, vorbei am Anschlagbrett, das dort angebracht war. Üblicherweise war dieses Brett mit allerhand Zetteln gespickt, die etwas anpriesen, dazu Gesuche von Leuten, die nach Kansas oder Kalifornien fahren wollten, oder von Leuten, die nach Florida fuhren und Mitfahrer brauchten, damit man sich beim Fahren abwechseln konnte und die Benzinkosten erträglicher wurden, Schreibdienste, Motorräder, Stereoanlagen. Aber heute Abend wurde das Brett von einem großen, knalligen Plakat beherrscht; es zeigte eine geballte Faust vor rotem Hintergrund, der wohl Feuer andeuten sollte. Auf dem Poster stand nur ein Wort: STREIK! Es war Ende Oktober 1970.

Johnny hatte das vordere Apartment im zweiten Stock; das Penthouse, wie er es nannte. Dort konnte man im Frack dastehen wie Ramon Navarro, ein großes Glas Wein in der Hand, und hinabblicken auf das pulsierende Herz von Cleaves Mills: die späten Müßiggänger, die brausenden Taxis, die Neonreklamen. Die Stadt birgt fast siebentausend Geschichten. Dies ist eine von ihnen gewesen.

An sich bestand Cleaves Mills in der Hauptsache aus einer Main Street mit einer Verkehrsampel an der Kreuzung (nach 18 Uhr nur eine Blinkanlage), etwa zwei Dutzend Geschäften und einer kleinen Schuhfabrik. Wie in den meisten Städten rund um Orono, wo sich die Universität von Maine befand, bestand das Geschäftsleben eigentlich nur darin, die Studenten zu versorgen … mit Bier, Wein, Benzin, Rock-’n’-Roll-Musik, Drogen, Schnellgerichten, Unterkunft und Filmen. Das Kino hieß The Shade. Wenn Schule war, zeigte es Kunstfilme und Nostalgie-Streifen aus den Vierzigerjahren; während der Sommerpause verkam es zu Clint-Eastwood-Spaghetti-Western.

Johnny und Sarah hatten die Schule bereits ein Jahr hinter sich und unterrichteten an der Cleaves Mills High, einer der wenigen Highschools in dieser Gegend, die sich noch nicht zu einem Drei- oder Vierstädte-Distrikt konsolidiert hatten. Lehrkörper und Verwaltung der Universität sowie Studenten benutzten Cleaves gewissermaßen als Schlafzimmer, und der Ort hatte eine beneidenswerte Steuerbasis. Er hatte außerdem eine gute, schöne Highschool mit einem brandneuen Medienflügel. Die Stadtbewohner nörgelten vielleicht wegen der Studenten mit ihrem altklugen Geschwätz und ihren Kommunistenmärschen, um den Krieg zu beenden, und ihre Einmischungen in die Stadtpolitik, aber sie sagten niemals nein zu den Steuerdollars, welche alljährlich auf die geräumten Fakultätswohnhäuser und Mietskasernen in jener Gegend gezahlt wurden, die einige Studenten Maklers Freude und andere wiederum Profitallee nannten.

Sarah klopfte an die Tür, und Johnny rief mit merkwürdig gedämpfter Stimme: »Ist offen, Sarah!«

Sie runzelte ein wenig die Stirn und machte die Tür auf. Johnnys Apartment lag völlig im Dunkeln, das einzige Licht stammte von der Blinkanlage an der einen halben Block entfernten Straßenkreuzung. Die Möbel waren nur als vage dunkle Schatten zu sehen.

»Johnny …?«

Sarah machte zaghaft einen Schritt nach vorn und fragte sich, ob eine Sicherung durchgebrannt sein konnte – und dann tauchte dieses Gesicht vor ihr auf. Es schwebte in der Dunkelheit; ein abscheuliches Gesicht aus einem Albtraum. Es schimmerte wie verwest in geisterhaftem Grün. Ein Auge war weit offen und schien Sarah mit verletzter Angst anzustarren. Das andere war in düsterem Hohn zusammengekniffen. Die linke Hälfte des Gesichts, die Hälfte mit dem offenen Auge, schien normal zu sein. Aber die rechte Hälfte war das Gesicht eines Monstrums, verzerrt und unmenschlich, die dicken Lippen waren zurückgezogen und enthüllten faulige Zahnstummel, die ebenfalls leuchteten.

Sarah stieß einen halb erstickten, schrillen Schrei aus und taumelte einen Schritt zurück. Dann wurde das Licht eingeschaltet, und statt einer dunklen Vorhölle war wieder Johnnys Apartment zu sehen. Nixon an der Wand versuchte, Gebrauchtwagen zu verkaufen, auf dem Fußboden lag der Teppich, den Johnnys Mutter geflochten hatte, die leeren Weinflaschen, die in Kerzenhalter verwandelt worden waren. Das monströse Gesicht hörte zu glühen auf, und sie sah, dass es eine billige Halloween-Maske war, sonst nichts. Aus den Augenlöchern blinzelten ihr nur noch Johnnys Augen zu.

Er nahm sie ab und lächelte liebenswürdig; er war mit verschossenen Jeans und braunem Sweater bekleidet.

»Fröhliches Halloween, Sarah!«, sagte er.

Ihr Herz schlug immer noch wie wild. Er hatte sie wirklich erschreckt. »Sehr witzig!«, sagte sie und drehte sich um, als wollte sie sofort wieder gehen. Es gefiel ihr nicht, wenn man sie so erschreckte.

Er holte sie an der Tür ein. »He … es tut mir leid!«

»Das will ich hoffen!« Sie sah ihn kalt an – oder versuchte es wenigstens. Ihr Zorn schmolz bereits wieder dahin. Man konnte Johnny einfach nicht lange böse sein, das war es ja eben. Zwar versuchte Sarah immer noch, sich darüber klar zu werden, ob sie ihn liebte oder nicht, aber es war unmöglich, sich in seiner Gegenwart lange unglücklich zu fühlen oder einen Groll gegen ihn zu hegen. Sie fragte sich, ob jemals jemand auf Johnny Smith hatte böse sein können, und dieser Gedanke war so absurd, dass sie lächeln musste.

»Na, also, schon besser. Mann, ich dachte schon, dass du mit mir Schluss machen wolltest.«

»Ich bin kein Mann.«

Er sah sie von oben bis unten an. »Das habe ich auch schon bemerkt.«

Sarah trug einen dicken Pelzmantel – Waschbärimitation oder etwas ähnlich Billiges –, und seine unschuldige Lüsternheit brachte sie erneut zum Lachen. »In diesem Ding hier kann man das doch gar nicht sehen!«

»O doch, ich schon!«, sagte er. Er legte einen Arm um sie und küsste sie. Anfangs wollte sie den Kuss nicht erwidern, aber dann tat sie es natürlich doch.

»Tut mir leid, dass ich dir Angst gemacht habe«, sagte er und rieb zärtlich seine Nase an ihrer Nase, bevor er sie wieder losließ. Er hielt die Maske hoch. »Ich dachte, das würde dir auch Spaß machen. Ich werde sie am Freitag in der Schule tragen.«

»O Johnny, das wird aber nicht gut für die Disziplin sein.«

»Ich werde mich schon durchmogeln«, sagte er grinsend.

Und das Schlimme war, das würde er. Sie kam jeden Tag zur Schule, eine große schulmeisterliche Brille auf der Nase, das Haar straff zurückgekämmt und im Nacken zu einem großen Dutt frisiert, der so streng wirkte, dass es beinahe lächerlich war. In einer Zeit, da der Rocksaum der meisten Mädchen nur knapp über den unteren Rand ihrer Höschen reichte, trug Sarah ihre Röcke immer noch knielang (und dabei habe ich hübschere Beine als alle anderen!, dachte sie verärgert). Sie achtete auf eine alphabetische Sitzordnung in der Klasse, was nach dem Zufallsprinzip die Unruhestifter voneinander fernhalten sollte, und sie verwies besonders ungezogene Schüler stets an die stellvertretende Direktorin, und zwar mit der Begründung, dass diese fünfhundert Dollar jährlich zusätzlich bekam, um als Rammbock zu fungieren, und sie nicht. Und trotzdem war ihr ganzer Tag ein ununterbrochener Kampf mit der Disziplin, diesem Dämon frisch gebackener Lehrer. Disziplin. Schlimmer noch, sie fing an zu spüren, dass es eine unausgesprochene kollektive Jury gab – vielleicht eine Art Schulbewusstsein –, die jeden neuen Lehrer beurteilte, und dass das Urteil über sie nicht unbedingt positiv ausfallen würde.

Johnny dagegen schien die Antithese von allem zu sein, was ein guter Lehrer sein sollte. Er bewegte sich wie in Trance von Unterricht zu Unterricht. Oft kam er zu spät in die Klasse, weil er unterwegs mit irgendjemandem geplaudert hatte. Er ließ die Kinder sitzen, wo sie wollten, sodass die Gesichter stets woanders zu sehen waren (und die Klassenrowdys landeten unweigerlich immer in den hinteren Reihen). Sarah wäre nicht imstande gewesen, die Namen ihrer Schüler vor März zu behalten, aber Johnny schien bereits alle sehr genau zu kennen und sich die Namen eingeprägt zu haben.

Er war ein großer Mann mit einer gewissen Neigung zur Schlaksigkeit. Die Kinder nannten ihn Frankenstein. Das schien Johnny jedoch eher zu amüsieren als zu ärgern oder zu empören. Und doch ging es in seiner Klasse beim Unterricht meistens sehr ruhig zu. Alle Schüler benahmen sich einigermaßen anständig und wohlgesittet. Im Gegensatz zu Sarah, die ständig mit diesem Problem zu kämpfen hatte, schwänzte bei Johnny auch kaum jemand den Unterricht. Und eben die besagte Jury würde sicher zu seinen Gunsten sprechen. Er war ein Lehrer, dem man in zehn Jahren das Schuljahrbuch widmen würde. Sie nicht. Und wenn sie manchmal überlegte, warum nicht, konnte sie das fast zum Wahnsinn treiben.

»Möchtest du noch ein Bier, bevor wir gehen? Oder ein Glas Wein? Irgendetwas?«

»Nein, aber ich hoffe, dass du gut bei Kasse bist«, sagte sie, nahm seinen Arm und beschloss, Johnny nicht mehr böse zu sein. »Ich esse nämlich gewöhnlich mindestens drei Hot dogs! Besonders dann, wenn’s der letzte Rummelplatz im Jahr ist.« Sie wollten nach Esty, zwanzig Meilen nördlich von Cleaves Mills. Der einzige und obendrein noch zweifelhafte Anspruch auf Ruhm bestand für diese Stadt darin, dass hier DER ABSOLUT LETZTE LANDWIRTSCHAFTLICHE RUMMELPLATZ DES JAHRES IN NEUENGLAND stattfand. Er würde Freitag schließen, an Halloween.

»Wenn man bedenkt, dass Freitag Zahltag ist, bin ich noch gut dran. Ich hab noch acht Piepen.«

»O … mein … Gott!«, sagte Sarah und verdrehte die Augen. »Ich wusste ja, dass ich eines Tages einen Sugar Daddy kennenlernen würde, wenn es mir gelingt, bis dahin keusch und züchtig zu bleiben!«

Er lächelte und nickte. »Wir Zuhälter machen grooooßes Geld, Baby! Na, lass mich noch rasch meine Jacke holen, dann können wir abschwirren.«

Sie sah ihm voll hoffnungsloser, ergebener Zuneigung nach, und die Stimme, die immer häufiger in ihren Gedanken laut wurde – unter der Dusche, wenn sie ein Buch las, den Unterricht vorbereitete oder ein einsames Mahl zubereitete –, meldete sich erneut, wie einer dieser dreißigsekundigen Werbespots im Fernsehen: Er ist ein sehr netter Mann und all das, man kann gut mit ihm auskommen. Macht Spaß. Und er bringt einen niemals zum Weinen. Aber … ist das Liebe? Ich meine, ist das schon alles, was dazugehört? Selbst wenn man Radfahren lernt, muss man erst ein paarmal runterfallen und sich die Knie aufschürfen. Das gehört nun mal dazu. Und das war nur eine Kleinigkeit.

»Ich muss noch schnell aufs Klo«, rief er ihr zu.

»Hmhm …« Sie lächelte ein wenig. Johnny gehörte zu den Leuten, die unweigerlich ihre natürlichen Bedürfnisse erwähnten … mochte der Himmel wissen, warum.

Sarah ging zum Fenster hinüber und schaute hinaus auf die Main Street. Kinder spielten auf dem Parkplatz neben O’Mike’s, dem hiesigen Pizza- und Bierlokal. Plötzlich wünschte sich Sarah, noch eins dieser Kinder zu sein, und diese verwirrende Sache hinter ihr – oder noch vor ihr. Die Universität war sicher. Sie war eine Art von Niemandsland, wo alle, selbst die Lehrer, zu Peter Pans Bande gehören konnten und niemals erwachsen werden mussten. Und es würde immer einen Nixon oder Agnew geben, der Kapitän Hook spielte.

Sarah hatte Johnny kennengelernt, als sie im September den Unterricht aufgenommen hatte, aber sein Gesicht war ihr schon von Vorlesungen her bekannt, die beide gemeinsam besucht hatten. Damals war Sarah mit einem Delta Tau Delta liiert gewesen, und keins der Kriterien, die auf Johnny zutrafen, hätte man Dan zuschreiben können. Er war nahezu makellos stattlich gewesen; witzig auf eine scharfe, unruhige Art, die Sarah immer ein wenig Unbehagen bereitet hatte; ein starker Trinker, ein leidenschaftlicher Liebhaber. Wenn er zu viel getrunken hatte, konnte er manchmal gemein werden. Sarah erinnerte sich noch an eine Nacht in Bangor’s Brass Rail; damals war das auch passiert. Dan hatte etwas über das UMO-Footballteam gesagt. Jemand in der Nebennische hatte darüber eine scherzhafte Bemerkung gemacht. Dan hatte ihn gefragt, ob er gern mit nach hinten gedrehtem Kopf nach Hause gehen wollte. Der Mann hatte sich entschuldigt, aber Dan hatte keine Entschuldigung gewollt; er hatte es auf eine Prügelei abgesehen. Deshalb begann er, Bemerkungen über die Begleiterin des anderen zu machen. Sarah hatte Dan eine Hand auf den Arm gelegt und ihn gebeten, damit aufzuhören. Dan hatte ihre Hand abgeschüttelt und sie dabei aus seinen grauen Augen so merkwürdig angesehen, dass ihr alle Worte, die sie sonst vielleicht noch gesagt hätte, in der Kehle steckengeblieben waren. Schließlich waren Dan und der andere Bursche hinausgegangen. Dan hatte ihn mörderisch verprügelt! Er hatte ihn so zusammengeschlagen, dass der andere Mann – er war schon Ende dreißig gewesen und hatte einen Bauchansatz gehabt – laut geschrien hatte. So hatte Sarah noch nie zuvor einen Mann schreien hören … und sie wollte es auch nie wieder hören. Sie hatten das Lokal schleunigst verlassen müssen, weil der Barkeeper die Polizei verständigt hatte. Sarah wäre in dieser Nacht am liebsten allein nach Hause gegangen. (Ach, wirklich? Bist du ganz sicher?, fragte eine ungezogene innere Stimme), aber bis zum Campus zurück waren es zwölf Meilen, seit achtzehn Uhr fuhr schon kein Bus mehr, und Sarah hatte Angst gehabt, per Anhalter zu fahren.

Dan hatte auf dem Heimweg nichts gesagt. Er hatte einen Kratzer auf der Wange. Nur einen Kratzer. Im Studentenwohnheim Hart Hall hatte Sarah dann Dan gesagt, dass sie ihn nie mehr wiedersehen wollte. »Wie du meinst, Baby«, hatte er so gleichgültig geantwortet, dass es Sarah unwillkürlich kalt den Rücken hinabgerieselt war – und als Dan sie nach dem Zwischenfall im Brass Rail zum zweiten Mal angerufen hatte, war sie doch wieder mit ihm ausgegangen. Ein Teil von ihr hatte sich dafür gehasst.

So war es das ganze Herbstsemester ihres Seniorjahres weitergegangen. Dan hatte Sarah erschreckt und gleichzeitig angezogen. Er war ihr erster richtiger Liebhaber, und selbst jetzt – zwei Tage vor Halloween 1970 – war er noch immer ihr einziger Liebhaber gewesen. Sie und Johnny waren noch nicht zusammen ins Bett gegangen.

Dan war sehr gut gewesen. Er hatte sie benutzt, aber er war sehr gut gewesen. Da er sich geweigert hatte, irgendwelche Verhütungsmaßnahmen zu treffen, war Sarah in die Universitäts-Klinik gegangen und hatte verlegen etwas von ungewöhnlich starken Menstruationsbeschwerden erzählt, um die Pille zu bekommen. In sexueller Hinsicht hatte Dan sie völlig beherrscht. Viele Orgasmen hatte sie bei ihm nicht bekommen, aber manchmal hatte gerade seine robuste Derbheit Sarah zum Höhepunkt gebracht, und im Lauf der letzten Wochen vor dem Ende hatte Sarah wie eine reife Frau das Verlangen nach gutem Sex verspürt, ein Verlangen, das auf bestürzende Weise mit anderen Gefühlen vermischt war: Missfallen an Dan und ihr selbst, das Gefühl, dass Sex, wenn er so stark auf Demütigung und Dominieren beruhte, nicht als »guter Sex« bezeichnet werden konnte, und Selbstverachtung wegen ihrer Unfähigkeit, eine Beziehung abzubrechen und zu beenden, die nur auf destruktiven Gefühlen zu basieren schien.

Es war dann Anfang dieses Jahres sehr schnell vorbei gewesen. Er stieg aus. »Wo willst du denn jetzt hin?«, hatte sie ihn zaghaft gefragt, während sie auf dem Bett seines Zimmergenossen gesessen und zugesehen hatte, wie er seine Sachen in zwei Koffer warf. Sie hatte noch mehr fragen wollen, persönlichere Fragen. Wirst du hier in der Nähe bleiben? Wirst du einen Job annehmen? Abendkurse besuchen? Habe ich noch einen Platz in deinen Plänen? Aber gerade diese letzte Frage hatte sie nicht stellen können. Weil sie auf keine Antwort vorbereitet gewesen war. Die Antwort, die er auf ihre neutrale Frage gab, war schon schockierend genug gewesen.

»Vietnam, denke ich.«

»Was?«

Er hatte einige Papiere von einem Regal genommen, sie flüchtig durchgeblättert und ihr dann einen Brief zugeworfen. Das Schreiben war von der Einberufungsbehörde in Bangor und enthielt den Bescheid, sich zur Musterung zu melden.

»Kannst du das nicht irgendwie umgehen?«

»Nein. Vielleicht. Ich weiß es nicht.« Er hatte sich eine Zigarette angezündet. »Ich glaube, ich möchte es nicht mal versuchen.«

Sie hatte ihn schockiert angestarrt.

»Ich bin diese ganze Szenerie hier leid. College und einen Job suchen und eine kleine Frau finden. Um die Stelle der kleinen Frau hast du dich wohl beworben, nehme ich an. Und glaube ja nicht, dass ich nicht darüber nachgedacht habe. Es würde nicht klappen. Das weißt du genauso gut wie ich. Wir passen nicht zusammen, Sarah.«

Damit waren alle ihre unausgesprochenen Fragen beantwortet gewesen, und sie hatte das Zimmer fluchtartig verlassen und ihn nie wiedergesehen. Seinen Zimmergenossen hatte sie ein paarmal getroffen. Er hatte zwischen Januar und Juni drei Briefe von Dan bekommen. Dan war eingezogen und irgendwo nach Süden zur Ausbildung geschickt worden. Das war die letzte Nachricht gewesen, die der Zimmergefährte erhalten hatte. Und seitdem hatte auch Sarah Bracknell nichts mehr gehört.

Anfangs hatte sie geglaubt, sie würde darüber hinwegkommen. Jene traurigen, schmalzigen Lieder, die man nach Mitternacht immer im Autoradio hören konnte, schienen auf sie nicht zuzutreffen. Auch nicht die üblichen Klischees über das Ende von Liebschaften oder das heulende Elend. Sie fing nicht an, wahllos Männer aufzureißen, und hing auch nicht in Bars herum. An den meisten Abenden in diesem Frühjahr lernte sie still und leise in ihrem Zimmer. Es war eine Erleichterung. Kein Schlamassel.

Erst als Sarah im letzten Monat Johnny bei einer Kennenlern-Party für die neuen Lehrer getroffen hatte, war ihr zu Bewusstsein gekommen, welch ein Horror ihr letztes Schulsemester gewesen war. So etwas begreift man eben nicht, wenn man mittendrin steckt; es ist zu sehr Teil von einem selbst. Zwei Esel begegnen sich auf einer Straße in einer Stadt im Westen. Einer ist ein Stadtesel, der außer einem Sattel nichts auf dem Rücken hat. Der andere ist der Esel eines Goldsuchers, er ist mit Säcken, Camping- und Kochgeschirr und vier Fünfzigpfundsäcken voll mit Erz beladen. Das Gewicht biegt seinen Rücken gehörig durch. Der Stadtesel sagt: Ganz ordentliche Last, die du da mit dir herumschleppst. Worauf der Esel des Goldsuchers antwortet: Was für eine Last?

Zurückblickend war es vor allem die Leere, die sie so sehr erschreckte, fünf Monate lang Cheyne-Stokes-Atemholen. Acht Monate, wenn man den Sommer mitzählte, als sie sich eine kleine Wohnung in der Flagg Street in Veazie gemietet und dort nichts anderes getan hatte, als sich um Jobs zu bewerben und Taschenbücher zu lesen. Sie stand auf, frühstückte, ging zum Unterricht oder zu Vorstellungsgesprächen, die sie vereinbart hatte, kam heim, aß, machte ein Nickerchen (diese Nickerchen konnten manchmal bis zu vier Stunden dauern), aß wieder, las bis gegen elf Uhr dreißig, sah sich Cavett an, bis sie schläfrig wurde, ging zu Bett. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie während dieses Zeitraums ihres Lebens jemals gedacht hatte. Das Leben bestand aus Routine. Manchmal verspürte sie eine Art unbestimmtes Verlangen zwischen den Beinen, ein unerfülltes Verlangen, wie vornehme Romanautorinnen sich mitunter auszudrücken pflegten, und dagegen nahm sie entweder ein kaltes Bad oder eine kalte Dusche. Nach einer Weile wurden diese Duschen schmerzhaft, was ihr eine verbitterte, abwesende Art von Befriedigung verschaffte.

In dieser Zeit beglückwünschte sie sich manchmal dazu, wie erwachsen sie die ganze Angelegenheit hinnahm. Sie dachte kaum jemals an Dan – Dan Wer, ha-ha. Erst später wurde ihr klar, dass sie in diesen acht Monaten praktisch an nichts anderes gedacht hatte. Während dieser Zeit war das ganze Land von schweren Erschütterungen getroffen worden, aber Sarah hatte kaum etwas davon mitbekommen. Die Protestmärsche, die Polizisten mit ihren Schutzhelmen und Gasmasken, die zunehmenden Angriffe durch Agnew auf die Presse, die Kent-State-Schießereien; der Sommer der Gewalttätigkeiten, als Schwarze und radikale Gruppen auf die Straßen gegangen waren – alle diese Dinge hätten nur in den TV-Spätnachrichten stattgefunden haben können. Sarah war ausschließlich damit beschäftigt, wie wunderbar sie doch über ihre Affäre mit Dan hinweggekommen war; wie gut sie sich inzwischen angepasst hatte; wie erleichtert sie darüber war, dass alles einfach prima war. Was für eine Last?

Dann hatte sie an der Cleaves Mills High angefangen, und das war ein persönlicher Umbruch gewesen, nach sechzehn Jahren Schule stand sie nun endlich auf der anderen Seite des Pultes. Die Begegnung mit Johnny Smith während der Party (konnte er mit einem so absurden Namen wie John Smith eigentlich völlig real sein?). Sie war genügend aus sich herausgegangen, um zur Kenntnis zu nehmen, wie gut er sie angesehen hatte. Nicht lüstern, sondern mit guter, gesunder Anerkennung für ihr Aussehen in diesem hellgrauen Strickkleid, das sie damals angehabt hatte.

Er hatte sie zu einem Kinobesuch eingeladen – im Shade war Citizen Kane gezeigt worden –, und sie hatte zugestimmt. Sie hatten sich gut unterhalten, und Sarah hatte gedacht: Kein Feuerwerk: Sie hatte seinen Gutenachtkuss akzeptiert und gedacht: Ein Errol Flynn ist er nicht gerade! Er hatte sie mit seinem munteren Geplauder, das unablässig gewesen war, zum Lächeln gebracht und sie hatte gedacht: Er möchte Henny Youngman sein, wenn er erwachsen wird.

Spät an diesem Abend hatte sie in ihrem Schlafzimmer gesessen und auf dem TV-Bildschirm beobachtet, wie Bette Davis eine verbiesterte Karrierefrau gespielt hatte. Da waren einige der zuvor gehegten Gedanken noch einmal zurückgekommen, und sie hatte schockiert über ihre eigene Ungerechtigkeit mit in einen Apfel gebissenen Zähnen innegehalten.

Und eine Stimme, die den größten Teil des Jahres geschwiegen hatte – nicht so sehr eine Stimme des Gewissens, als vielmehr der Einsicht –, hatte sich abrupt zu Wort gemeldet. In Wirklichkeit meinst du doch nur, dass er kein Dan ist! Ist es nicht so?

Nein!, hatte sie sich resolut versichert, und dabei war sie nicht nur ziemlich schockiert gewesen. Ich denke überhaupt nicht mehr an Dan! Das … ist schon lange vorbei.

In den Windeln liegen, hatte die innere Stimme geantwortet, das ist lange vorbei. Dan hat dich gestern verlassen.

Plötzlich wurde ihr klar, dass sie spät in der Nacht ganz allein in ihrem Apartment saß und im Fernsehen einen Film ansah, der sie überhaupt nicht interessierte, und das tat sie nur, weil es leichter war als denken, denken war eigentlich schrecklich langweilig, wenn man nur an sich selbst und an eine verlorene Liebe denken konnte.

Jetzt war sie sehr schockiert gewesen.

Sie war in Tränen ausgebrochen.,

Sarah war mit Johnny ausgegangen, als er sie ein zweites und drittes Mal darum gebeten hatte, und das war eine Offenbarung gewesen, was aus ihr geworden war. Sie konnte schlecht sagen, dass sie eine andere Verabredung hatte, denn das stimmte nicht. Sie war ein kluges, hübsches Mädchen, und nach dem Ende ihrer Affäre mit Dan war sie oft zum Ausgehen eingeladen worden, aber sie hatte allenfalls Verabredungen mit Dans Zimmergenossen akzeptiert, und auch das nur auf einen Hamburger im Den. Jetzt hatte sie plötzlich begriffen, dass sie diese absolut harmlosen Verabredungen nur eingegangen war, um den armen Burschen über Dan auszuhorchen. Was für eine Last?

Nach dem Schulabschluss waren die meisten ihrer Freundinnen hinter dem Horizont verschwunden. Bettye Hackman war mit dem Friedenskorps in Afrika, sehr zum völligen Missfallen ihrer reichen, alteingesessenen Eltern aus Bangor, und manchmal fragte sich Sarah, was die Ugander wohl mit Bettye und ihrer weißen, unmöglich zu bräunenden Haut, ihrem aschblonden Haar und ihrem kühlen, guten Studentinnenaussehen anfangen mochten. Deenie Stubbs besuchte die Grad School in Houston. Rachel Jurgens hatte ihren Typen geheiratet und ging momentan irgendwo in der Wildnis von Westmassachusetts schwanger.

Leicht benommen war Sarah zu der Schlussfolgerung gezwungen worden, dass Johnny Smith der erste neue Freund war, den sie seit langer, langer Zeit hatte, dabei war sie im letzten Jahr auf der Highschool von der Klasse zur Miss Popularity gewählt worden. Sie hatte sich von ein paar anderen Cleaves-Lehrern zu Verabredungen einladen lassen, nur um nicht jeglichen Kontakt zu verlieren. Einer von ihnen war Gene Sedecki gewesen, der neue Mathematiklehrer – offensichtlich ein langweiliger Veteran. Der andere, George Rounds, hatte versucht, sofort mit ihr ins Bett zu gehen. Sie hatte ihm ins Gesicht geschlagen – und am nächsten Tag hatte er noch die Frechheit besessen, ihr auf dem Flur zuzublinzeln.

Dagegen machte es Spaß, mit Johnny zusammen zu sein, mit ihm war leicht auszukommen. Und er übte auf Sarah auch eine sexuelle Anziehungskraft aus – nur konnte Sarah nicht sagen, wie stark diese war, jedenfalls noch nicht. Vor einer Woche waren sie zum Oktober-Lehrerkonvent in Waterville gewesen, und er hatte Sarah nach der Rückkehr noch zu einem Spaghettiessen in sein Apartment eingeladen. Während die Soße kochte, war er noch schnell um die Ecke gesprungen, um etwas Wein zu holen, und er war mit zwei Flaschen Apple Zapple zurückgekommen. Das gehörte irgendwie zu Johnnys Stil, so wie er immer anzukündigen pflegte, wenn er aufs Klo ging.

Nach dem Essen hatten sie vor dem Fernseher gesessen, und allmählich war es zu Petting gekommen. Wozu das noch hätte führen können, war unbeantwortet geblieben, weil zwei von Johnnys Freunden aufgetaucht waren, Dozenten von der Universität; sie hatten Johnny gebeten, einen von ihnen verfassten Artikel über akademische Freiheit zu lesen und ihnen zu sagen, was er davon hielte. Das hatte Johnny auch getan, aber mit wesentlich geringerer Begeisterung als üblich. Das hatte sie mit Entzücken festgestellt, und das Verlangen in ihrem Schoß – das unerfüllte Verlangen – hatte sie ebenfalls entzückt; in dieser Nacht hatte sie es nicht mit einer kalten Dusche abgetötet.

Sie wandte sich vom Fenster ab und ging zum Sofa hinüber, wo Johnny die Maske hingelegt hatte.

»Fröhliches Halloween«, schnaubte Sarah und lachte ein wenig.

»Was?«, rief Johnny.

»Ich habe gesagt, dass ich allein losfahre, wenn du nicht bald wieder da rauskommst.«

»Komme sofort.«

»Prächtig.«

Sie strich mit einem Finger über diese Jekyll-and-Hyde-Maske; die linke Hälfte der freundliche Dr. Jekyll, die rechte der wilde Untermensch Hyde. Wo werden wir an Thanksgiving sein?, überlegte sie. Oder zu Weihnachten?

Der Gedanke jagte einen kleinen Schauer der Erregung durch sie hindurch.

Sie mochte ihn. Er war ein ganz normaler, lieber Mann.

Wieder blickte Sarah auf die Maske hinab, der abscheuliche Hyde wuchs wie ein Krebsgeschwür aus Jekylls Gesicht. Sie war mit einer fluoreszierenden Substanz bestrichen, sodass sie im Dunkeln leuchtete.

Was war normal? Nichts, niemand. Jedenfalls nicht unbedingt. Wenn er so normal war, wie konnte er da planen, dieses grässliche Ding in seiner Schulklasse aufzusetzen und schon jetzt so zuversichtlich davon überzeugt sein, trotzdem Ruhe und Ordnung aufrechterhalten zu können? Und wie konnten seine Schüler ihn Frankenstein nennen und ihn dennoch respektieren und mögen! War das normal?

ENDE DER LESEPROBE