Defy Me - Tahereh Mafi - E-Book

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Tahereh Mafi

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Beschreibung

Juliette Ferrars ist nicht, wer sie bisher glaubte zu sein und nichts ist, wie es scheint.

Sie dachte, sie hätte das Reestablishment geschlagen. Sie dachte, sie hätte endlich die Kontrolle über ihr Leben, ihre Macht, ihren Schmerz. Doch als all die Lügen ans Licht kommen, die sie ihr Leben lang geglaubt hat, ändert das alles.

Stärker, mutiger und widerstandsfähiger als je zuvor muss Juliette erneut für ihr Leben und ihre Liebe kämpfen. Doch zuerst muss sie sich erinnern, wer sie ist.

Die TikTok Sensation – Mitreißende Young Adult Romantasy-Reihe mit Suchtfaktor für alle Fans von Leigh Bardugo, Sarah J. Maas und Victoria Aveyard.

Erstmals in deutscher Übersetzung!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 294

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Tahereh Mafi

DEFY ME

Aus dem amerikanischen Englischvon Mara Henke

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2019 Tahereh Mafi

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Defy Me« bei Harper, an imprint of Hitzfeld Publishers, New York.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück, 30161 Hannover.

© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem amerikanischen Englisch von Mara Henke

Lektorat: Ulla Mothes

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie

Cover art © 2014 by Colin Anderson.

Cover art inspired by a photograph by Sharee Davenport

skn · Herstellung: bo

E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31390-6V001

www.cbj-verlag.de

KENJI

Sie schreit.

Sie schreit nur Worte, denke ich. Nur Worte. Aber sie schreit mit aller Kraft, mit einer fast übertrieben dramatischen Verzweiflung. Und das verursacht eine Verwüstung, die ich mir niemals hätte ausdenken können. Es kommt mir vor, als würde Juliette gerade komplett ausrasten.

Es wirkt völlig irreal.

Ich meine, ich weiß, dass sie enorme Kräfte hat – und dass wir das Ausmaß alle noch nicht kennen. Aber dass sie zu so etwas imstande ist, hätte ich niemals geglaubt.

Das hier passiert:

Die Decke bekommt Risse. Alles bebt so heftig, dass mir die Zähne klappern. Die anderen im Raum sind erstarrt, werden nur von den Beben erschüttert. Die Kronleuchter geraten in Schwingung, das Licht flackert. Und dann, beim nächsten Beben, brechen drei der schweren Leuchter aus ihrer Verankerung und zerbersten mit ohrenbetäubendem Klirren am Boden.

Glassplitter fliegen durch die Luft. Der Raum liegt jetzt in unheimlichem Halbdunkel, man kann kaum noch etwas erkennen. Ich werfe einen Blick auf Juliette, die mit offenem Mund auf das Desaster starrt, das sie angerichtet hat, und merke, dass sie aufgehört hat zu schreien. Aber sie kann nicht mehr rückgängig machen, was sie ausgelöst hat. Sie hat diese Energie in die Welt hinausgelassen, und jetzt –

Tobt die sich aus.

Eine neue Kraftwelle reißt Boden und Wände und Menschen auf.

Ich kann es zuerst kaum glauben, aber da ist Blut. Einen Moment lang kommt es mir wie eine Täuschung vor, all die leblosen Körper mit der aufgeplatzten Brust. Es sieht aus wie eine schlechte Inszenierung im Theater oder im Film. Aber als ich dann sehe, wie das Blut strömt, Kleider und Polster durchnässt, von schlaffen Händen heruntertropft, weiß ich, dass das alles real ist.

Juliette hat gerade sechshundert Menschen auf einen Schlag getötet.

Das ist nicht mehr rückgängig zu machen.

Ich gehe zwischen meinen Freunden hindurch, die starr sind vor Schock, höre Brendans leises Stöhnen, Winstons beruhigende Stimme, als er seinem Freund versichert, dass die Wunde nicht so schlimm ist, dass er schon viel Übleres durchgemacht und überlebt hat –

und weiß, dass ich mich zuerst um Juliette kümmern muss.

Als ich bei ihr bin, ziehe ich sie in meine Arme, und ihr kalter starrer Körper erinnert mich daran, wie sie damals vor Anderson stand, die Pistole auf seine Brust gerichtet. Sie war so entsetzt – so überrascht – von sich selbst, dass sie nicht sprechen konnte. Damals sah Juliette aus, als sei sie irgendwie in sich selbst verschwunden, als habe sie eine Kammer in ihrem Gehirn gefunden, in der sie sich eingeschlossen hatte. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich sie aus diesem Zustand rausgeholt hatte.

Und damals hatte sie nicht mal jemanden umgebracht.

Jetzt versuche ich sie zu wärmen, rede ihr gut zu, sage ihr, dass sie zu sich kommen, in die Realität zurückkehren muss.

»Ich weiß, das ist alles völlig crazy grade, aber du musst raus aus diesem Zustand, J. Komm zu dir. Raus aus deinem Kopf. Wir müssen hier verschwinden.«

Sie blinzelt nicht mal.

»Bitte, Prinzessin«, dränge ich und schüttle sie ein bisschen. »Wir müssen weg hier – jetztsofort –«

Als sie sich nicht rührt, wird mir klar, dass ich sie selbst in Bewegung versetzen muss. Ich ziehe sie mit mir. Ihr regloser Körper ist schwerer, als ich erwartet habe, und sie gibt einen ächzenden Laut von sich, der wie ein Schluchzen klingt. Ich merke, wie mich die Angst packt. Ich bedeute Castle und den anderen mit einem Nicken, dass sie mitkommen sollen. Aber dann fällt mir auf, dass Warner nirgendwo zu sehen ist.

Was als Nächstes passiert, haut mich fast um.

Der Raum kippt zur Seite. Mir wird schwarz vor Augen, dann sehe ich kurz wieder klar, bevor mir erneut schwindlig wird. Das alles dauert höchstens eine Sekunde. Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist, stolpere.

Und dann, plötzlich –

Ist Juliette verschwunden.

Nicht im übertragenen Sinn, sondern ganz real. Sie ist einfach weg. Eben noch habe ich sie festgehalten, jetzt sind meine Arme leer. Ich blinzle, blicke wild um mich, zweifle an meinem Verstand. Dann sehe ich, wie die Leute im Publikum sich zu rühren beginnen. Ihre Kleider sind zerfetzt, die Gesichter sind blutbeschmiert, aber niemand scheint tot zu sein. Stattdessen rappeln sie sich verwirrt auf und setzen sich in Bewegung, und jemand schubst mich hart. Es ist Ian, der mich laut fluchend vorwärtsschieben will, damit wir abhauen, und ich will mich wehren, ihm sagen, dass wir Juliette verloren haben – und dass Warner nirgendwo zu sehen ist –, aber Ian hört nicht auf mich, zerrt mich nur von der Bühne, und als das Murmeln des Publikums zum Gebrüll wird, weiß ich, dass mir nichts anderes übrig bleibt.

Ich muss mitgehen.

WARNER

»Ich bring ihn um«, sagt sie mit Tränen in den Augen, ballt die kleinen Hände zu Fäusten. »Ich bring ihn um –«

»Sei doch nicht blöd, Ella.« Ich entferne mich von ihr.

»Wenn er nicht aufhört«, sie rennt hinter mir her, »mach ich das irgendwann, ich schwör’s dir. Du wirst schon sehen.«

Ich lache.

»Das ist nicht witzig!«, schreit sie.

Ich drehe mich zu ihr um. »Meinen Vater kann niemand umbringen«, sage ich. »Der ist unverletzbar.«

»Das ist niemand«, widerspricht sie.

Ich reagiere nicht.

»Warum unternimmt deine Mum nichts dagegen?« Ella packt mich am Arm.

Ich werfe ihr einen Blick zu. Sie sieht jetzt anders aus. Verängstigt.

»Warum tut niemand was dagegen?«, drängt sie.

Die Wunden auf meinem Rücken sind vernarbt, schmerzen aber trotzdem. Nur Ella weiß davon, nur sie weiß, was mein Vater mir seit meinem Geburtstag vor zwei Jahren antut. Letztes Jahr, als die Familien alle bei uns in Kalifornien zu Besuch waren, kam Ella in mein Zimmer gerannt, um zu fragen, wo Emmaline und Nasira steckten, und ertappte mich dabei, wie ich im Spiegel meinen Rücken betrachtete.

Ich habe sie damals inständig gebeten, niemandem davon zu erzählen. Sie fing an zu weinen und sagte, das müssten wir aber, sie würde es ihrer Mutter sagen, und ich habe erwidert: »Wenn du das machst, wird es nur noch schlimmer. Bitte sag nichts, ja? Er macht es bestimmt nie wieder.«

Doch das tat er.

Und beim nächsten Mal war er wütender. Er sagte, ich sei jetzt sieben und zu alt zum Weinen.

»Wir müssen doch was dagegen tun«, sagt Ella jetzt mit zittriger Stimme. Eine Träne rinnt ihr übers Gesicht, die sie hastig wegwischt. »Wir müssen jemanden einweihen.«

»Hör endlich auf damit. Ich will nicht mehr darüber reden.«

»Aber –«

»Ella. Bitte.«

»Nein, wir müssen aber –«

»Ella«, unterbreche ich sie. »Ich glaube, mit meiner Mum stimmt etwas nicht.«

Sie sieht schockiert aus. »Was?«

Seit Wochen fürchte ich mich davor, das auszusprechen, weil meine Angst dann Wirklichkeit wird. Jetzt pocht mein Herz wie wild.

»Was meinst du damit?«, fragt Ella. »Was stimmt nicht mit ihr?«

»Sie ist … krank.«

Ella blinzelt verwirrt. »Aber dann können wir sie heilen. Meine Eltern können das, die sind so schlau, die können alle heilen, auch deine Mum.«

Mein Herzschlag dröhnt in meinen Ohren. »Nein, Ella, du verstehst nicht – ich glaube –«

»Was?« Sie ergreift meine Hand. Drückt sie. »Was denn?«

»Ich glaube, mein Vater bringt sie langsam um.«

KENJI

Wir rennen los.

Das Hauptquartier ist nicht weit entfernt und zu Fuß kommen wir am schnellsten weg. Sobald wir draußen im Freien sind, werden alle – ich, Castle, der verletzte Brendan, Winston und Alia – unsichtbar. Jemand raunt mir Danke zu – aber ich bin dafür gar nicht verantwortlich.

Ich balle die Fäuste.

Nasira.

Diese Frau macht mich seit Tagen völlig irre. Ich hätte ihr nie vertrauen dürfen. Erst ist sie abweisend und überheblich, und dann beschließt sie plötzlich, dass ich doch kein Arschloch bin, und will mit mir befreundet sein? Ich kann nicht fassen, dass ich so blöd war, darauf reinzufallen. Ich bin so ein Vollidiot. Sie hat die ganze Zeit nur mit mir gespielt. Diese Frau erscheint aus dem Nichts, freundet sich mit Juliette an – und dann werden wir bei der Konferenz attackiert und Juliette bringt vermeintlich sechshundert Menschen um?

Verarschen kann ich mich alleine.

Das ist alles kein Zufall.

Juliette hat an der Konferenz teilgenommen, weil Nasira sie dazu animiert hat. Nasira hat Juliette davon überzeugt, dass das notwendig ist. Und fünf Sekunden, bevor Brendan angeschossen wird, sagt Nasira mir, wir sollen weglaufen? Und dass wir die gleiche Superkraft haben?

Glaubt doch kein Schwein.

Ich fasse es einfach nicht, dass ich mich von einem hübschen Gesicht habe täuschen lassen. Ich hätte lieber Warner glauben sollen, als er gesagt hat, sie würde irgendwas verbergen.

Warner.

Gott, ich weiß nicht mal, was mit dem passiert ist.

Sobald wir im Hauptquartier ankommen, werden wir plötzlich wieder sichtbar. Wir sind immer noch am Rennen, weshalb ich nicht sehe, ob Nasira verschwunden ist, deshalb mache ich unsere Gruppe schnell wieder unsichtbar. Wir müssen erst einmal einen sicheren Raum erreichen, auch das Hauptquartier bietet uns jetzt nicht genug Schutz. Die Soldaten werden auf jeden Fall Fragen stellen, und im Moment hat keiner von uns Antworten parat.

Die Soldaten werden aufgebracht sein, wenn sie hören, dass ihre Befehlshaberin spurlos verschwunden ist.

Wir fahren in den fünfzehnten Stock hoch, zu unserem neuen Bereich, den Warner für uns hat ausbauen lassen. Er hat die gesamte oberste Etage für uns räumen und renovieren lassen; wir waren gerade erst eingezogen, und prompt läuft alles schief. Ich verbiete mir, jetzt an so was zu denken.

Mir wird speiübel davon.

Als wir uns im größten Gemeinschaftsraum versammeln, zähle ich alle durch. Sämtliche ursprünglichen Mitglieder von Omega Point sind anwesend. Adam und James sind gekommen und wollen wissen, was passiert ist, Tana und Randa stellen rasch ein paar Fragen, bevor sie Brendan in die Krankenstation schaffen, dicht gefolgt von Winston.

Nur von Juliette und Warner keine Spur.

Alle berichten schnell, was sie im Konferenzraum gesehen haben. Im Großen und Ganzen haben alle das Gleiche wahrgenommen: Verwüstung und blutende leblose Körper – und dann deren erstaunliches Wiedererwachen zum Leben. Niemand scheint so verblüfft zu sein wie ich über dieses absurde Theater. Ian sagt nur: »Hier passiert doch ständig irgend so ein übernatürlicher Scheiß, ist nichts Besonderes.« Aber viel wichtiger ist: Keiner hat mitgekriegt, was mit Warner und Juliette passiert ist.

Nur ich habe erlebt, wie sie verschwunden ist.

Ein paar Sekunden lang starren alle wortlos in die Runde. Mein Herz schlägt wie verrückt, und mir ist glühend heiß vor Wut.

Ich will es einfach nicht glauben.

Alia spricht als Erste. »Ihr denkt aber nicht, dass sie tot sind, oder?«

»Wahrscheinlich schon«, sagt Ian.

Ich springe auf. »NEIN! Sie sind nicht tot.«

»Wie kannst du da so sicher sein?«, fragt Adam.

»Ich würde das wissen.«

»Was? Aber woher –«

»Ich würde es einfach wissen, okay?«, unterbreche ich ihn. »Ich würde es spüren. Sie sind nicht tot.« Ich atme langsam ein, um mich zu beruhigen. »Wir werden jetzt nicht durchdrehen«, sage ich dann so beherrscht wie möglich. »Es muss eine logische Erklärung geben. Menschen verschwinden nicht einfach spurlos.«

Alle sehen mich verwundert an.

»Ach, kommt schon«, sage ich gereizt. »Wir wissen doch alle genau, dass Juliette und Warner nicht einfach so zusammen abhauen würden. Vor der Konferenz hatten sie sich sogar getrennt. Am wahrscheinlichsten ist also, dass sie entführt worden sind.« Ich schaue in die Runde. »Oder?«

»Sie könnten auch tot sein«, sagt Ian.

»Wenn du weiter so einen Scheiß redest, Sanchez, sorge ich dafür, dass eine gewisse Person heute Abend wirklich tot ist.«

Ian seufzt. »Hör zu, ich will echt kein Arschloch sein. Ich weiß, wie nah du dich den beiden fühlst, vor allem Juliette. Aber seien wir doch mal ehrlich: Das ist bei allen anderen hier nicht so. Deshalb bin ich emotional vielleicht weniger beteiligt. Und kann es rationaler betrachten.«

Er wartet ab, wie ich reagiere.

Ich bleibe stumm.

Ian seufzt noch mal. »Ich will damit nur sagen, dass deine Gefühle gerade über deine Vernunft dominieren. Natürlich willst du glauben, dass sie nicht tot sind. Aber die Wahrscheinlichkeit ist eben ziemlich hoch. Warner hat Hochverrat am Reestablishment begangen. Mich wundert es eher, dass er nicht schon früher umgebracht worden ist. Und Juliette – ich meine, das liegt doch auf der Hand, oder? Sie hat Anderson getötet und sich selbst zur Obersten Befehlshaberin von Nordamerika erklärt.« Er zieht vielsagend die Augenbrauen hoch. »Diese beiden sind schon die ganze Zeit als bewegliche Zielscheiben unterwegs.«

Ich knirsche förmlich mit den Zähnen vor Wut. Versuche mich zu entspannen.

»Also«, fügt Ian leise hinzu, »müssen wir besonnen handeln. Sollten die beiden tot sein, brauchen wir einen Plan, wie wir als Nächstes handeln wollen. Wo sollen wir hingehen?«

»Warte mal – was meinst du damit?« Adam beugt sich vor. »Glaubst du, dass wir hier wegmüssen?«

»Ohne Warner und Juliette sind wir hier nicht mehr in Sicherheit, denke ich«, sagt Lily und ergreift Ians Hand, um ihn zu unterstützen, was mich auf die Palme bringt. »Die Soldaten haben beiden den Eid geschworen – vor allem Juliette. Befehle von uns werden die bestimmt nicht befolgen.«

»Und wenn das Reestablishment Juliette ermordet hat«, fügt Ian hinzu, »ist das erst der Anfang. Dann werden die jeden Moment den Sektor 45 angreifen. Unsere beste Chance zu überleben, ist, jetzt zu überlegen, wie wir das Team retten können. Ich denke, wir sollten von hier verschwinden, und zwar schnell.« Er hält kurz inne. »Vielleicht sogar heute Abend noch.«

»Sag mal, spinnst du jetzt komplett?« Ich lasse mich wieder auf meinen Stuhl fallen, würde am liebsten herumschreien. »Wir können doch nicht einfach abhauen. Wir müssen die beiden suchen. Eine Rettungsmission planen!«

Alle schauen mich an, als habe ich den Verstand verloren.

»Castle? Sir?« Mein Tonfall gerät zu scharf, ich kann es nicht verhindern. »Möchten Sie auch mal was dazu sagen?«

Aber Castle starrt nur wortlos zur Decke hoch. Er sieht völlig benommen aus.

Ich habe keine Zeit, mich um ihn zu kümmern, denn jetzt sagt Alia leise:

»Kenji. Tut mir leid, aber Ian hat recht. Ich glaube auch, dass wir hier nicht mehr sicher sind.«

»Wir bleiben hier«, sagen Adam und ich gleichzeitig.

Verblüfft sehe ich ihn an, werde von einer heftigen Hoffnung erfasst. Vielleicht empfindet Adam mehr für Juliette, als er sich anmerken lässt. Vielleicht wird er uns alle überraschen. Vielleicht wird er endlich aufhören, sich im Hintergrund zu halten und zu verstecken. Vielleicht, denke ich, ist unser alter Adam zurückgekehrt.

»Danke«, sage ich und deute mit einer Geste auf ihn, die besagt:

Seht ihr? Das ist Loyalität!

»James und ich werden nicht mehr flüchten«, sagt Adam entschieden. »Ich verstehe, wenn ihr verschwinden wollt, aber James und ich bleiben hier. Ich war Soldat im Sektor 45. Ich habe auf diesem Stützpunkt gedient. Vielleicht gewähren die mir Immunität.«

Ich runzle die Stirn. »Aber –«

»James und ich gehen nicht von hier weg«, wiederholt Adam laut und deutlich. »Ihr könnt eure Pläne ohne uns machen. Wir müssen jetzt ohnehin schlafen gehen.« Er steht auf, sagt zu seinem Bruder: »Komm, Bettzeit.«

Der Junge rührt sich nicht, starrt auf den Boden.

»James«, sagt Adam mit warnendem Unterton.

»Ich will hierbleiben und zuhören.« James verschränkt trotzig die Arme vor der Brust. »Du kannst ohne mich schlafen gehen.«

»James –«

»Aber ich habe eine Theorie«, sagt der Zehnjährige. Er spricht das Wort aus, als sei es ein tolles Abenteuer. »Die will ich Kenji mitteilen.«

Adam wirkt so angespannt, dass mir selbst vom Hingucken die Schultern wehtun. Mir fällt erst jetzt auf, dass ich ihn offenbar in letzter Zeit zu wenig beachtet habe, denn er sieht nicht nur erschöpft, sondern völlig fertig aus. So heruntergekommen und erledigt, als könne er jeden Moment kollabieren.

James schaut mich von gegenüber mit großen Augen erwartungsvoll an.

Ich seufze.

»Also gut. Was ist denn deine Theorie, junger Mann?«

James’ Gesicht erhellt sich. »Ich denke mir, dass diese ganze Szene mit den Toten, die dann gar nicht tot waren, eine Ablenkung war.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch.

»Damit jemand Warner und Juliette entführen konnte«, fügt James hinzu. »Du hast das doch vorher auch gesagt. Und so eine Szene wäre eine perfekte Ablenkung, oder nicht?«

»Hm. Ja, schon«, sage ich stirnrunzelnd. »Aber weshalb sollte das Reestablishment ein Ablenkungsmanöver brauchen? Die haben Geheimnistuerei doch gar nicht nötig. Wenn sie Warner oder Juliette entführen wollen, können sie einfach mit einer Scheißarmee aufmarschieren und sich nehmen, was sie haben wollen, oder nicht?«

»Ausdrucksweise!«, ermahnt mich Adam empört.

»Sorry. Streich das Wort ›Scheiß‹ aus dem Protokoll.«

Adam, der aussieht, als würde er mich am liebsten würgen, schüttelt den Kopf. Aber James grinst, und nur das zählt.

»Nee, ich glaube nicht, dass die dann hier einfach mit jeder Menge Soldaten ankommen würden«, sagt James mit funkelnden Augen. »Vor allem nicht, wenn sie was zu verbergen haben.«

»Du meinst, das Reestablishment will etwas verbergen?«, hakt Lily nach. »Vor uns?«

»Na ja, weiß nicht«, antwortet James. »Manchmal verbergen Leute eben was.« Er wirft Adam einen kurzen Blick zu, der mir einen Angstschauer über den Rücken jagt, und ich will gerade reagieren, als Lily mir zuvorkommt.

»Möglich wäre das natürlich schon«, sagt sie. »Aber das Reestablishment macht keinen Hehl mehr aus seiner Regierungsweise. Die täuschen ja auch nicht mehr vor, dass sie andere Meinungen gelten lassen, sondern lassen einfach Leute auf offener Straße erschießen, wenn ihnen danach zumute ist. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie vor uns irgendetwas verbergen wollen.«

Castle lacht plötzlich lauthals, und alle starren ihn verblüfft an. Ich bin froh, dass er überhaupt irgendwie reagiert, aber er scheint irgendwelchen Gedanken nachzuhängen und sieht wütend aus. Ich habe Castle noch nie zuvor wütend erlebt.

»Oh doch, das Reestablishment verbirgt sehr viel vor uns«, sagt er in scharfem Tonfall. »Und die Befehlshaber haben auch viele Geheimnisse voreinander.« Castle atmet tief ein, steht dann langsam auf. Lächelt müde den zehnjährigen Jungen an. »Du bist wirklich sehr schlau, James.«

»Danke schön«, sagt James und blinzelt.

»Castle, Sir?« Meine Stimme klingt härter als beabsichtigt. »Würden Sie uns jetzt bitte erklären, was zum Teufel hier vor sich geht? Wissen Sie etwas?«

Castle seufzt. Reibt sich mit der Hand das stoppelige Kinn. »Okay, Nasira«, sagt er in den Raum hinein, als spräche er mit einem Geist. »Legen Sie los.«

Als Nasira im nächsten Moment sichtbar wird, bin ich nicht der Einzige von uns, der stinksauer aussieht. Na ja, okay, vielleicht bin ich doch der Einzige.

Aber die anderen gucken zumindest ziemlich verdutzt.

Erst starren sie Nasira an, dann tauschen sie Blicke. Und schließlich sehen alle mich durchdringend an.

»Bro, wusstest du das?«, fragt Ian.

Ich mache ein finsteres Gesicht.

Unsichtbarkeit ist meine besondere Gabe, verflucht. Meine übernatürliche Fähigkeit.

Niemand hat mich darauf vorbereitet, dass ich die vielleicht mal mit jemandem teilen müsste. Vor allem nicht mit jemandem wie Nasira, die eine manipulative, hinterlistige –

umwerfend wunderbare Person ist.

Scheiße.

Ich starre die Wand an. Ich darf mich einfach nicht mehr von Nasira ablenken lassen. Sie weiß, dass ich in sie verknallt bin – mein Zustand ist offenbar für jeden auf den ersten Blick zu erkennen, sogar für Castle –, und hat meine Blödheit schamlos ausgenutzt.

Schlau. Respekt für die Taktik.

Das heißt aber auch, dass ich mir null Blöße erlauben kann, solange Nasira in meiner Nähe ist. Ich sollte sie nicht mehr anstarren. Mich nicht in Tagträumen über sie verlieren. Nicht mehr darüber nachdenken, wie sie aussah, als sie mich angelächelt hat. Nicht mehr rätseln, was ihr Lachen zu bedeuten hatte, als es aufrichtig wirkte, am selben Abend, an dem sie mich anblaffte, weil ich ganz vernünftige Fragen gestellt habe. Und außerdem –

Ich fand es nicht verrückt, dass ich sie gefragt habe, wie die Tochter eines Obersten Befehlshabers es sich erlauben kann, einen Hijab zu tragen, obwohl das offiziell verboten ist. Später hat Nasira mir erzählt, dass sie ihn ab und zu symbolisch trägt, weil es dauerhaft nicht möglich ist. Aber als ich das an dem Abend eingewendet habe, hat sie mich fertiggemacht. Und dann runtergeputzt, weil ich verwirrt war.

Und verwirrt bin ich noch immer.

Jetzt hat sie ihr Haar nicht bedeckt, aber das scheint niemandem weiter aufzufallen. Vielleicht haben die anderen Nasira schon so erlebt. Vielleicht haben die anderen das identische Gespräch mit ihr auch schon geführt.

Dass sie das Tuch heimlich trägt, wenn ihr Vater sie nicht sehen kann.

»Kenji«, sagt sie jetzt, mit so schneidendem Tonfall, dass ich abrupt aufschaue und sie ansehe, obwohl ich mir strengstens befohlen hatte, nur die Wand anzustarren. Nur zwei Sekunden Blickkontakt, und mein Herz dreht durch.

Dieser Mund. Diese Augen.

»Ja?« Ich verschränke die Arme vor der Brust.

Nasira sieht überrascht aus, als habe sie nicht damit gerechnet, dass ich sauer sein könnte, aber das ist mir egal. Sie soll das ruhig wissen. Sie soll wissen, dass ich finde, Unsichtbarkeit ist nur meine besondere Stärke. Dass mir meine Kleinlichkeit bewusst und scheißegal ist. Und dass ich ihr nicht über den Weg traue. Und außerdem: Wieso sehen diese Kinder von den Obersten alle so verdammt gut aus? Kommt mir fast vor, als sei das Absicht, als würde man die in Gläsern züchten oder so.

Ich schüttle den Kopf, um ihn klarzukriegen.

Nasira sagt vorsichtig: »Ich denke, du solltest dich lieber setzen, bevor ich loslege.«

»Nicht nötig.«

Sie runzelt die Stirn, sieht einen Moment lang gekränkt aus. Aber bevor ich mich deshalb mies fühlen kann, zuckt sie mit den Schultern und wendet den Blick ab.

Und was sie dann sagt, bringt mich fast um.

JULIETTE

Ich sitze auf einem orangefarbenen Stuhl in einem spärlich beleuchteten Gebäude. Der Stuhl besteht aus billigem Plastik, rau an den Kanten. Der glänzende Linoleumboden haftet immer wieder an meinen Schuhsohlen. Ich weiß, dass ich zu laut atme, kann aber nichts dagegen tun. Ich setze mich auf meine Hände, lasse die Füße baumeln.

Ein Junge taucht auf. Er bewegt sich so lautlos, dass ich ihn erst bemerke, als er sich mir gegenüber an die Wand lehnt und ins Leere starrt.

Ich betrachte ihn einen Moment lang.

Er scheint in meinem Alter zu sein, trägt aber einen Anzug und wirkt sonderbar blass und steif, wie jemand, der tot ist.

»Hi«, sage ich, versuche zu lächeln. »Möchtest du dich setzen?«

Er lächelt nicht, sieht mich auch nicht an. »Ich stehe lieber«, sagt er leise.

»Okay.«

Wir schweigen eine Weile.

Schließlich sagt er: »Du bist nervös.«

Ich nicke. Meine Augen sind wahrscheinlich gerötet vom Weinen, ich hatte gehofft, dass es niemandem auffallen würde. »Bist du auch hier, weil du eine neue Familie bekommst?«

»Nein.«

»Ah.« Ich wende den Blick ab. Halte die Füße jetzt still. Meine Unterlippe fängt zu zittern an, ich beiße fest drauf. »Warum bist du dann hier?«

Er zuckt mit den Schultern. Wirft einen verstohlenen Blick auf die drei leeren Stühle neben mir, macht aber keine Anstalten, sich zu setzen. »Mein Vater hat mich hierhergeschickt.«

»Dein Vater?«

»Ja.«

»Aber warum?«

Der Junge starrt auf seine Fußspitzen, runzelt die Stirn. »Weiß nicht.«

»Müsstest du nicht in der Schule sein?«

Statt zu antworten, fragt er: »Woher kommst du?«

»Wie meinst du das?«

Jetzt sieht er mich zum ersten Mal an. Seine Augen haben eine ungewöhnliche Farbe, leuchtend grün.

»Du hast einen Akzent«, sagt er.

»Ach so. Ja.« Ich schaue zu Boden. »Ich bin in Neuseeland geboren. Da habe ich gelebt, bis meine Eltern gestorben sind.«

»Das tut mir leid.«

Ich nicke. Lasse wieder die Beine baumeln. Ich will gerade eine weitere Frage stellen, als die Tür am Ende des Flurs aufgeht. Ein großer Mann mit einer Aktentasche kommt auf mich zu. Er trägt einen dunkelblauen Anzug.

Es ist Mr Anderson, mein Sozialarbeiter.

Er strahlt mich fröhlich an. »Alles ist geregelt. Deine neuen Eltern können es kaum erwarten, dich kennenzulernen. Wir müssen noch ein paar Dinge erledigen, aber es dauert nicht mehr lange, bis du –«

Ich kann mich nicht mehr beherrschen.

Ich fange an zu schluchzen, Tränen tropfen auf das neue Kleid, das er mir gekauft hat, auf den orangen Stuhl, auf den Boden.

Mr Anderson stellt seine Aktentasche ab und lacht. »Schätzchen, da gibt es nichts zu weinen. Das ist ein toller Tag! Du solltest dich freuen!«

Aber ich kann nicht sprechen.

Ich fühle mich, als sei ich an dem Sitz festgeleimt. Als sei meine Lunge verklebt. Es gelingt mir, mit dem heftigen Schluchzen aufzuhören, aber jetzt habe ich Schluckauf, und immer noch rinnen mir Tränen aus den Augen. »Ich will … ich will … nach H-hause –«

»Du kommst ja nach Hause«, erwidert Mr Anderson, noch immer lächelnd. »Darum geht es ja gerade.«

Und dann –

»Dad.«

Ich schaue auf, als ich seine Stimme höre. So ruhig und ernst. Der Junge mit den grünen Augen. Mir wird klar, dass Mr Anderson sein Vater ist. »Sie hat schreckliche Angst.«

»Angst?« Mr Anderson schaut von mir zu seinem Sohn und wieder zurück. »Wieso denn Angst?«

Ich wische mir übers Gesicht. Versuche vergeblich, den Tränenstrom zu stoppen.

»Wie heißt sie?«, fragt der Junge. Er sieht mich unverwandt an, und ich erwidere den Blick. Da ist etwas in seinen Augen, das mich beruhigt.

»Das ist Juliette«, antwortet Mr Anderson und mustert mich. »Tragische Figur«, er seufzt, »wie die Julia aus dem Drama.«

KENJI

Nasira hatte recht. Ich hätte mich hinsetzen sollen.

Ich schaue auf meine Hände, beobachte, wie sie zu zittern anfangen. Fast gleiten mir die Fotos aus den Fingern. Ein ganzer Stapel. Die Fotos, die Nasira herumgehen ließ, nachdem sie uns eröffnet hatte, dass Juliette nicht die Person ist, für die wir alle sie halten.

Benommen starre ich auf diese Bilder.

Ein kleines braunhäutiges und ein kleines weißhäutiges Mädchen laufen über ein Feld, breit grinsend mit Zahnlücken, die langen Haare wehen im Wind, am Arm tragen beide Körbchen mit Erdbeeren.

Nasira und Emmaline im Erdbeerfeld, steht auf der Rückseite.

Die kleine Nasira, die gleichzeitig von zwei weißhäutigen Mädchen umarmt wird, und alle drei biegen sich förmlich vor Lachen.

Ella, Emmaline, Nasira, steht auf der Rückseite.

Ein Porträt von einem Mädchen mit großen blaugrünen Augen. Es lächelt direkt in die Kamera, das Gesicht ist umrahmt von glattem braunem Haar.

Ella an Weihnachten.

»Ella Sommers«, sagt Nasira.

Juliettes wirklicher Name. Sie heißt Ella Sommers, ihre Schwester ist Emmaline Sommers, beide sind die Töchter von Maximillian und Evie Sommers.

»Da stimmt was nicht«, sagt Nasira.

»Irgendetwas läuft da gerade«, sagt sie. Und berichtet, dass sie sich vor sechs Wochen beim Aufwachen an Juliette – pardon, Ella – erinnert hat –

»Ich habe mich an sie erinnert«, sagt Nasira. »Was bedeutet, dass ich sie vorher vergessen hatte. Und als ich mich an sie erinnert habe, fiel mir auch Emmaline wieder ein, und dass wir zusammen aufgewachsen sind, dass unsere Eltern Freunde waren. Die Erinnerung war da, aber ich habe sie nicht gleich verstanden. Ich dachte zuerst, ich würde Träume mit Erinnerungen verwechseln, auch weil die sich so langsam eingestellt haben, dass ich sie eine Zeit lang für Halluzinationen hielt.«

Aber weil diese vermeintlichen Halluzinationen nicht wieder verschwanden, begann Nasira mit Nachforschungen.

»Und ich habe herausgefunden«, fährt sie fort, »dass zwei kleine Mädchen dem Reestablishment überlassen wurden. Für Ella wollte der Staat nicht das Sorgerecht behalten, deshalb bekam sie Adoptiveltern. Wurde weggegeben, wuchs an einem anderen Ort auf. Die Eltern der beiden gehörten dem Reestablishment an, beides Mediziner. Ella, die ihr als Juliette kennt, ist die Tochter von Evie Sommers, der Obersten Befehlshaberin von Ozeanien. Ich bin gemeinsam mit Ella aufgewachsen. Wie wir anderen Kinder von Obersten war auch sie dazu bestimmt, dem Reestablishment zu dienen.«

Ian flucht laut, Adam scheint es die Sprache verschlagen zu haben.

Dann sagt er: »Ausgeschlossen. Juliette – das Mädchen, mit dem ich zur Schule gegangen bin? Sie war«, er schüttelt fassungslos den Kopf, »ich kenne sie seit vielen Jahren. Sie war nicht wie du oder Warner. Sondern still, schüchtern und immer total lieb und nett. Wollte immer gut zu anderen sein und alles richtig machen. Dem kleinen Jungen in dem Laden wollte sie nur helfen, aber dann … endete das so furchtbar, und sie ist in dieses ganze Chaos geraten, und ich habe wirklich versucht«, er sieht verzweifelt aus, »ich habe versucht, ihr zu helfen, sie zu schützen. Wollte sie vor schlimmen Erlebnissen bewahren. Ich habe versucht –«

Er bricht ab, versucht sich zu fassen.

»Sie war früher nicht so«, fährt er fort, starrt auf den Boden. »Erst nachdem sie mit Warner zusammenkam. Danach – ich verstehe nicht richtig, was da passiert ist. Sie hat sich so sehr verändert. Ist nach und nach eine andere Person geworden.« Er schaut auf. »Aber Juliette ist nicht wie ihr oder Warner. Sie kann unmöglich die Tochter von Obersten sein – sie ist nicht zur Mörderin geboren. Außerdem«, er atmet tief ein, »wenn sie wirklich aus Ozeanien stammen würde, hätte sie doch einen Akzent.«

Nasira beäugt Adam, legt den Kopf schräg.

»Das Mädchen, das du kanntest, hat massive körperliche und psychische Traumata erlebt«, sagt sie. »Ihr Gedächtnis wurde anteilig gelöscht. Sie wurde als Kind auf einem anderen Erdteil bei Adoptiveltern untergebracht, die sie misshandelt haben.« Nasira schüttelt langsam den Kopf. »Das Reestablishment – allen voran Anderson – hat dafür gesorgt, dass Ella sich nicht mehr daran erinnern kann, warum es ihr so schlecht geht. Aber die fehlende Erinnerung ändert ja nichts an ihrer Wahrnehmung. Sie wurde von diversen grausamen Personen für deren Zwecke benutzt und misshandelt. So etwas hinterlässt Spuren.«

Sie sieht Adam durchdringend an.

»Du verstehst das vielleicht noch nicht richtig«, fügt Nasira hinzu. »Ich habe alle Berichte gelesen. Ich habe mich in die Akten meines Vaters gehackt und habe alles gefunden. Was Ella in all den Jahren angetan wurde, ist unsäglich. Deshalb ist es ganz klar, dass du eine andere Person in Erinnerung hast. Aber ich glaube nicht, dass Ella zu jemandem geworden ist, die sie früher nicht war. Sondern denke, dass sie sich endlich getraut hat, ihre echten Kräfte zu zeigen. Und falls du das nicht kapierst, bin ich froh, dass es mit euch beiden nicht geklappt hat.«

Jetzt liegt so eine Spannung in der Luft, als könne demnächst irgendetwas explodieren.

Adam sieht aus, als würden gleich Flammen aus seinen Augen schlagen. Als sei das seine neue Superkraft.

Ich räuspere mich, zwinge mich zum Reden, um das Schweigen zu brechen. »Ähm, okay, Leute, also … ihr wusstet auch schon Bescheid über Adam und Juliette, oder? Hm. Interessant. War mir nicht klar.«

Nasira dreht sich langsam zu mir und sieht mich an, als sei ich komplett vertrottelt.

Weshalb ich mal vorerst lieber die Klappe halte.

»Woher hast du diese Fotos?«, fragt Alia – ein noch drastischerer Themawechsel. »Wie können wir sicher sein, dass die echt sind?«

Nasira fixiert sie einen Moment lang schweigend. Sagt dann in resigniertem Tonfall: »Ich weiß nicht, wie ich euch davon überzeugen soll, dass die Fotos echt sind. Ich kann es euch nur versichern.«

Wieder tritt ein Schweigen ein.

»Aber wieso beschäftigst du dich überhaupt damit?«, fragt jetzt Lily. »Mit Juliette – Ella? Was hast du davon, wenn du dich auf unsere Seite stellst? Und deine Eltern verrätst?«

Nasira lehnt sich zurück. »Mir ist klar, dass ihr alle denkt, wir Kinder der Obersten seien nur ein Haufen egomanischer amoralischer Psychopathen, die quasi als Roboter ihrer gestörten fanatischen Eltern funktionieren. Aber so einfach ist das nicht. Unsere Eltern sind gemeingefährliche Fanatiker, die die Weltherrschaft an sich reißen wollen – das stimmt tatsächlich. Aber was dabei gern übersehen wird, ist, dass unsere Eltern sich dafür freiwillig entschieden haben. Wir dagegen sind dazu gezwungen worden. Und nur weil wir zum Töten ausgebildet wurden, heißt das noch lange nicht, dass wir das wollen. Keiner von uns findet es toll, dass man uns Foltermethoden beigebracht hat, bevor wir alt genug waren, um Autofahren zu lernen. Und ganz ehrlich, auch schreckliche Menschen suchen manchmal einen Weg aus ihrer eigenen Düsternis.«

Nasiras Augen funkeln leidenschaftlich, während sie spricht, und ihre Worte treffen mich direkt ins Herz. Meine Gefühle geraten wieder völlig außer Rand und Band.

Mist.

»Ist das denn so unglaubwürdig, dass mir die Mädchen etwas bedeuten, die ich früher geliebt habe, als seien es meine eigenen Schwestern?«, spricht Nasira weiter. »Oder dass ich es unerträglich finde, wie meine Eltern mich belogen haben? Mich gezwungen haben zuzusehen, wie sie Menschen umbrachten? Oder vielleicht noch einfacher: dass mir eines Tages klar wurde, wie ich zum Rädchen im Getriebe eines Systems gemacht wurde, das skrupellos Menschen niedermetzelt und die ganze Welt zerstört?«

Oh Scheiße.

Ich spüre, wie mein Herz regelrecht anzuschwellen scheint, meine ganze Brust ausfüllt, bis ich nicht mehr atmen kann. Ich will Nasira nicht mögen. Will nicht ihr Leid empfinden oder mich mit ihr verbunden fühlen. Ich will gar nichts fühlen. Nur meinen Verstand einsetzen. Gelassen bleiben.

Ich zwinge mich dazu, an einen albernen Witz zu denken, den James erzählt hat – irgendwas mit Muffins, der Witz war zum Heulen schlecht. Ich rufe mir die Szene wieder vor Augen, wie James selbst beim Essen so darüber lachen musste, dass ihm ein Bissen aus dem Mund fiel. Darüber muss ich grinsen, und ich werfe einen Blick auf James, der aussieht, als würde er gleich einschlafen.

Nach und nach lässt der Druck in meiner Brust nach.

Ich lächle in mich hinein und höre, wie Ian sagt:

»Ist ja nicht so, dass ich dich für herzlos halte, Nasira. Aber diese Fotos sind eben so zweckdienlich – wie du das alles vorbereitet hattest …« Er blickt auf das Bild, das er in der Hand hält. »Und diese Kinder könnten doch irgendwer sein.«

»Schau genau hin.« Nasira steht auf und tritt zu ihm, blickt über seine Schulter. »Was glaubst du – wer ist das?«

Ian sitzt neben mir, ich spähe auch auf das Foto. Und es gibt keinerlei Zweifel, die Ähnlichkeit ist verblüffend.

Juliette. Ella.

Sie ist vielleicht vier oder fünf. Hält lächelnd einen Strauß Löwenzahn in die Kamera. Neben ihr steht ein kleiner Junge mit weißblonden Haaren, der auf einen einzelnen Löwenzahn in seiner Hand starrt.

Ich falle fast vom Stuhl. Juliette – ist klar. Aber das hier –

»Ist das etwa Warner?«, sage ich.

Adam schaut ruckartig auf. Wirft mir einen Blick zu, dann Nasira, springt auf und tritt zu ihr. Als er das Bild sieht, reißt er verblüfft die Augen auf.

»Das gibt’s doch nicht«, sagt er.

Nasira zuckt nur mit den Schultern.

»Aber das kann doch nicht sein«, sagt Adam fassungslos. »Das ist unmöglich. Wie sollen die beiden sich denn schon so lange kennen? Warner hatte keine Ahnung, wer Juliette war, bevor sie hierher zu uns kam.« Als Nasira nicht reagiert, fügt Adam hinzu: »Im Ernst jetzt. Ich weiß, dass du mich für einen Idioten hältst, aber ich irre mich nicht. Ich war dabei. Warner hat mich als Zellengenosse für sie ausgewählt und vorher quasi verhört. Er war Juliette damals noch nie persönlich begegnet. Mich hatte er ausgesucht, weil er wusste, dass ich sie von früher kannte. Das fand er nützlich. Hat mich stundenlang nach ihr ausgefragt.«