Denn es wird kein Morgen geben - Angélique Mundt - E-Book

Denn es wird kein Morgen geben E-Book

Angélique Mundt

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Beschreibung

Ein neuer Fall für die Hamburger Therapeutin Tessa Ravens.

Als der beliebte Feuerwehrmann Martin König verschwindet, wird Psychotherapeutin Tessa Ravens vom Kriseninterventionsteam gebeten, sich um die Frau des Vermissten zu kümmern. Schnell findet Tessa heraus, dass dahinter Explosives steckt: König verschwand nach einem heftigen Streit mit seiner Frau. Die hatte auf seinem PC Fotos der gemeinsamen Tochter gefunden. Fotos, die ein Vater nie von seiner Tochter machen sollte. Dann wird Martin König tot aufgefunden. Hauptkommissar Koster übernimmt die Ermittlungen, ohne zu wissen, dass auch Tessa in den Fall involviert ist. Seit ihrer kurzen Affäre vor über einem Jahr herrscht Funkstille zwischen den beiden. Nun müssen sie sich zusammenraufen, in einem Fall, der beide bis an ihre Grenzen bringt.

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Seitenzahl: 396

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Als der beliebte Feuerwehrmann Martin König verschwindet, wird Psychotherapeutin Tessa Ravens vom Kriseninterventionsteam gebeten, sich um die Frau des Vermissten zu kümmern. Schnell findet Tessa heraus, dass dahinter Explosives steckt: König verschwand nach einem heftigen Streit mit seiner Frau. Die hatte auf seinem PC Fotos der gemeinsamen Tochter gefunden. Fotos, die ein Vater nie von seiner Tochter machen sollte. Dann wird Martin König tot aufgefunden. Hauptkommissar Koster übernimmt die Ermittlungen, ohne zu wissen, dass auch Tessa in den Fall involviert ist. Seit ihrer kurzen Affäre vor über einem Jahr herrscht Funkstille zwischen den beiden. Nun müssen sie sich zusammenraufen, in einem Fall, der beide bis an ihre Grenzen bringt.

ANGÉLIQUE MUNDT wurde 1966 in Hamburg geboren. Nach ihrem Studium der Psychologie arbeitete sie lange in der Psychiatrie, bevor sie sich als Psychotherapeutin mit einer eigenen Praxis selbstständig machte. Sie ist ehrenamtlich im Kriseninterventionsteam des Deutschen Roten Kreuz tätig, das Menschen bei traumatisierenden Ereignissen »Erste Hilfe für die Seele« leistet. Über diese Aufgabe sagt sie: »An der Situation kann ich nichts ändern. Aber ich kann den Menschen helfen, sie zu überstehen.« Denn es wird kein Morgen geben ist nach Nacht ohne Angst ihr zweiter Roman in der Serie um die Psychotherapeutin Tessa Ravens und Hauptkommissar Torben Koster.

Angélique Mundt lebt in Hamburg.

ANGÉLIQUE MUNDT

DENN ES WIRD KEIN MORGEN GEBEN

KRIMINALROMAN

Zitat aus dem Song »Everybody Hurts«, aus dem Album »Automatic for the People« 1992, von R.E.M. (Writer: Bill Berry, Peter Buck, Mike Mills and Michael Stipe; Verlag: Warner Bros. Records).

1. Auflage

Originalausgabe April 2015

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © 2014 by Angélique Mundt

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Arcangel Images/Joanna Jankowska

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MP · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-14490-6www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

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KAPITEL EINS

Ein schneller Tod, dachte Polizeioberkommissar Bruns, während er aus dem Fenster sah. Draußen schneite es seit Stunden. Es war der 3. Dezember und schon klirrend kalt. Fast zehn Grad unter dem Gefrierpunkt. Leicht und geräuschlos schwebten die dicken weißen Flocken im Licht der Straßenlaternen zur Erde. Kaum auf dem Boden aufgetroffen, verschwanden sie in der Masse der vorhandenen Schneekristalle. Ihrer Einzigartigkeit für immer beraubt.

Er löste sich von dem Schauspiel und wandte sich der Blonden zu. Sie stand vor dem Empfangstresen und redete, seit sie hereingestürmt war, in ihrem hohen Sopran auf ihn ein. Beinahe Mitternacht. Woher nahm sie die Energie? War sie nicht müde? Also, er war müde. Dennoch bemühte er sich, ihr zu folgen.

»Verstehen Sie nicht, er ist weg! Er meldet sich nicht. Ich habe alle Freunde und Kollegen angerufen. Sie müssen nach ihm suchen«, sagte sie und nestelte nervös an den Griffen ihrer Handtasche, die sie wie ein Schutzschild vor sich auf den Tresen gelegt hatte.

Eine attraktive Frau. Groß und schlank, das ahnte er trotz der dicken Daunenjacke. Sie war offensichtlich verzweifelt, aber er bekam keinen rechten Draht zu ihr, und das passierte ihm selten.

»Sie möchten Ihren Mann als vermisst melden. Nur gibt es keinen Anhaltspunkt, dass ihm etwas zugestoßen ist, stimmt das?«, fragte er sicherheitshalber nach. Vielleicht hatte er mehr verpasst, als er ohnehin befürchtete.

»Himmel, ja doch«, schrie sie ihn an, und rote Flecken flammten plötzlich an ihrem Hals auf. Bruns kam es vor, als wollte sie ihn mit ihrem durchbohrenden Blick dazu bewegen, dass er sofort raus in den Schnee lief und ihren Kerl suchte.

»Wissen Sie was? Kommen Sie mal rum. Wir setzen uns in Ruhe hin, trinken eine Tasse Tee und ich nehme das Protokoll auf. Und Sie beruhigen sich, ja?«

»ICH … BIN … RUHIG! Ich verlange, dass Sie meinen Mann suchen! Ich muss wissen, wo er ist«, drängte sie. »Helfen Sie mir!«

Stumm hielt Bruns ihr die Durchgangstür zum Innenraum der Polizeiwache auf. Ein Hauch ihres Parfums wehte ihn an, und er sah ihre müden Augen. Mit einem Seufzer sank sie auf den ihr zugewiesenen Stuhl und kramte in ihrer Handtasche.

»Möchten Sie einen heißen Tee?«, fragte er. »Nein? Ich glaube, der würde Ihnen guttun … Na, nun weinen Sie doch nicht gleich. Der kommt zurück. Wo soll er denn auch hin, bei diesem Wetter?«

Aber die Frau weinte nicht. Was er irrtümlich für Schluchzen gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein verärgertes Murmeln, dass sie noch nicht gefunden hatte, wonach sie offenbar suchte.

»Er hat das Auto …«, meinte er herauszuhören. »Ich bin mit dem Taxi …«

Geld ist schon mal nicht das Problem, dachte Bruns und füllte ihr eine Tasse mit heißem Tee aus der Thermoskanne. Kaffee konnte er nichts abgewinnen. Im Laufe der Zeit hatte er festgestellt, dass eine Tasse heißer Tee wahre Wunder wirken konnte. Die Frau kramte immer noch. So groß war die Tasche nun auch wieder nicht. Reiß’ dich zusammen, ermahnte er sich und wandte sich dem Monitor zu. Er suchte das richtige Dokument, um die Vermisstenanzeige aufzunehmen.

»Also, Sie melden Ihren Ehemann Martin König, 40 Jahre, als vermisst. Sie wohnen im Mellingburgredder …« Mist, das war die falsche Zeile. »Moment, ich hab’s gleich.«

»Nie würde er uns … und … seine Arbeit im Stich lassen, es muss etwas Schreckliches geschehen sein.« Ihre Stimme klang so endgültig, dass es Bruns nicht gewundert hätte, wenn sie ihm gleich offenbaren würde, was ihrem Mann widerfahren sei. Aber sie funkelte ihn nur zornig an.

»Haben Sie Kinder?«, fragte er und nahm die Hände von der Tastatur. Er musste herausfinden, was ihr wichtig war. Wenn er das schaffte, konnte er vielleicht zu ihr durchdringen. Sonst wäre nur schwer etwas aus ihr herauszubekommen, das wusste er. Wenn es etwas gab, das er in seinen Jahren als Polizist gelernt hatte, dann das.

Ihre Energie schien erschöpft. Sie schluchzte und flüsterte, dass ihre Tochter Amelie fünf Jahre alt sei.

»Ich weiß, es ist schwierig. Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?«

»Er ist Feuerwehrmann und Rettungsassistent, das sagte ich bereits. Er kam gestern nicht heim. Als ich heute Morgen in der Wache anrief, motzten die rum, dass er nicht zum Dienst erschienen ist.«

Sie seufzte, als ob Bruns schwer von Begriff wäre.

»Bestimmt ist er verunglückt!« Ihre Stimme überschlug sich.

»Hatte er vielleicht einen belastenden Einsatz in der letzten Zeit?«, fragte er.

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Hatte er Probleme mit den Kollegen? Oder zu Hause? Ein Streit?«

Sie presste die Lippen zusammen.

Er konnte sich nicht vorstellen, dass alles nur heile Welt gewesen sein sollte. Wo gab es denn so etwas? Oder gehörte er zu den Männern, die nur schnell mal Zigaretten holen wollten und dann nie wiederkamen? Die gab es schließlich öfter, als man annahm.

»Er war ein wenig nervös in den letzten Tagen. Und wir hatten einen Streit. Aber das ist doch kein Grund …« Sie fing an zu weinen.

Treffer! Eine Auseinandersetzung. Und weiter? Aber statt mehr zu sagen, wühlte sie erneut in ihrer Handtasche.

»Worüber haben Sie gestritten?« Er bekam keine Antwort. »Zu wem könnte er gegangen sein? Gibt es da jemanden?«, fragte er geduldig und sah sich gleichzeitig auf dem Schreibtisch nach Taschentüchern um. Nichts.

Inzwischen flossen Tränen ungehindert ihre Wangen hinab und hinterließen schwarze Spuren von Wimperntusche. Sie reichte ihm Fotos über den Tisch.

Das war es, was sie die ganze Zeit in ihrer überdimensionierten Tasche gesucht hatte, dachte er. »Gibt es eine andere Frau? Eine Affäre? So etwas soll vorkommen.«

Sie schüttelte den Kopf, starrte auf ihre Handtasche. Dann flehte sie ihn an, irgendetwas zu unternehmen. Ob man nicht sein Handy orten könnte?

»Sie sagen, dass sein Mobiltelefon ausgeschaltet ist. Dann funktioniert keine Ortung. Sehen Sie, ich möchte Ihnen ja helfen, aber Ihr Gatte ist ein erwachsener Mann.« Er bemühte sich um einen sanften Tonfall. Ihre Verzweiflung rührte ihn. »Er kann gehen, wohin er will.« Er drückte ihr die Tasse mit dem heißen Tee, der unberührt vor ihr stand, in die Hand. »Er ist nicht krank oder verwirrt und es gibt keinen Hinweis darauf, dass er nicht freiwillig gegangen ist. Und … für Aufenthaltsermittlungen ist die Polizei nicht zuständig, verstehen Sie?«

»Das hat Martin vor vier Wochen, am Geburtstag meiner Tochter aufgenommen. Sie heißt Amelie.« Tränen tropften auf den Tisch. Sie schien es nicht zu bemerken.

»Niedlich, die Kleine. Ich frage bei den Rettungsdiensten nach, vielleicht hatte er doch einen Unfall«, sagte Bruns. Die Frau starrte auf das Foto ihrer Tochter. »Mehr kann ich im Moment nicht für Sie tun.« Er überlegte, warum ihr die Aufnahme ihrer Tochter wichtiger war als die ihres Ehemannes. »Darf ich?« Er griff nach dem anderen Foto, das unbeachtet auf dem Schreibtisch lag. Ein schlanker Mann in Feuerwehruniform lachte direkt in die Kamera. Nett. Sicher ein guter Kollege und Nachbar. So einer half beim Rasenmähen und beim Zurückschneiden der Bäume. Was sollte er mit der Frau machen? Für ihn sah es nicht danach aus, als ob dem Mann etwas zugestoßen war. Wohl eher ein gewöhnlicher Ehestreit. Er verspürte Mitleid mit ihr. Sie weinte lautlos, die Aufregung war verraucht. Nun wirkte sie regelrecht apathisch. Wenn nur nicht so ein furchtbares Wetter wäre! So konnte er sie wohl kaum in das Schneetreiben zurückschicken. Wer sollte sich um die Frau kümmern? Bei der Kälte. Um diese Uhrzeit.

»Wer passt denn heute Nacht auf Ihre Tochter auf?«

Keine Antwort … Wie auch immer, sie konnte jedenfalls nicht ewig auf der Wache bleiben. Aber in diesem Zustand durfte er sie nicht gehen lassen. Sie stand kurz vor dem Zusammenbruch. »Gibt es jemanden, den ich verständigen kann, der Sie abholen kommt?«

Die Teetasse baumelte schräg in ihrer Hand, als verließe sie die Kraft, sie zu halten. Schnell nahm er ihr die Tasse ab.

»Eine Freundin vielleicht? Familie?«

Warum redete sie nicht mehr mit ihm? Er wusste auch nicht weiter. Die Kollegen hatten sich seit geraumer Zeit nicht mehr in der Nähe seines Zimmers blicken lassen. Toll, wenn man Unterstützung brauchte, waren sie alle wahnsinnig beschäftigt.

Dann hatte er eine Idee. Das Kriseninterventionsteam vom Roten Kreuz. Schließlich befand sich die Frau eindeutig in einer Krise und konnte psychologische Betreuung wirklich gebrauchen. Allerdings musste er vorher das Protokoll fertig aufnehmen. Mist. Er drehte sich zur Pinnwand um. Richtig, da hing die Telefonnummer vom KIT. Er informierte die Leitstelle, und wenige Minuten später klingelte sein Apparat. Eine Frau Doktor Ravens sei auf dem Weg ins Kommissariat. Klingt gut, dachte er erleichtert.

»Noch etwas Tee?«, versuchte er es ein letztes Mal.

*

»Verdammtes Sauwetter!«

Die Frau mit den langen dunklen Haaren, die in einer gelben Einsatzjacke hereingestürmt kam, schimpfte leise anstelle einer Begrüßung. Sie stampfte mit den Füßen auf, um den Schnee von den Stiefeln zu schütteln. Bruns rappelte sich vom Stuhl hoch.

»Ich bin total geschliddert.« Sie stand mit vorwurfsvoller Miene am Tresen und schnippte mit einer kurzen Bewegung den Schnee von der Schulter. »Tessa Ravens vom KIT.«

»Wie schön, dass Sie gekommen sind, Frau Doktor Ravens. Eine Tasse Tee?« Er strahlte sie an. Die zweite gutaussehende Frau, die innerhalb kurzer Zeit auf seine Wache kam. Solche Nachtschichten gab es leider viel zu selten.

Sein Lächeln zeigte Wirkung. Ihr Gesicht entspannte sich.

»Sehr gerne. Die Leitstelle konnte mir nicht viel sagen. Eine Frau vermisst ihren Mann?«

»Die Blonde dort.« Er zeigte durch die Scheibe in das angrenzende Büro. »Elisabeth König. Sie vermisst ihren Mann Martin seit gestern. Wahrscheinlich ein Streit. Sie will …«

»Seit gestern? Das ist doch nicht vermissen … Wenn sie sich gestritten haben, kühlt er sich irgendwo ab.«

Vielleicht war das doch nicht seine Nacht.

»Sie ist sich sicher, dass ihm etwas passiert ist«, erklärte er. Und trotz ihrer hochgezogenen Augenbrauen setzte er hinzu: »Intuition und so …«

Ihre Augenbrauen blieben oben. Aber sie lächelte und zeigte ihre strahlend weißen Zähne. »Aha. Weibliche Intuition. Das ist natürlich ein schlagendes Argument.« Jetzt lachte sie. »Was unternimmt die Polizei? Suchen Sie?«

»Naja, es gibt beim besten Willen keinen Anhaltspunkt für ein Verbrechen. Aber ich frage die Krankenhäuser ab und gebe eine Funkfahndung raus. Es wäre schön, wenn Sie mit Frau König sprechen könnten. Sie ist wirklich vollkommen aufgelöst. Ich telefoniere in der Zwischenzeit ein bisschen rum und lass die Streifenwagen eine extra Runde drehen.«

»Okay, ich rede mit ihr und bringe sie sicher nach Hause. Aber viel mehr kann ich auch nicht tun.«

Sie tauschten ihre Telefonnummern aus und versprachen, sich auf dem Laufenden zu halten.

»So, dann will ich Sie beide mal miteinander bekannt machen.« Doch während er sich gerade umwandte, war Tessa bereits an ihm vorbeigeeilt und streckte nun der Frau ihre Hand hin.

Definitiv nicht meine Nacht, dachte er.

*

Tessa äugte zum wiederholten Male zur Beifahrerseite, doch die Frau blickte stur geradeaus durch die Windschutzscheibe und schwieg. Tessa wartete. Die verflixte Eispiste forderte ohnehin ihre ganze Aufmerksamkeit. Aber neugierig war sie schon. Wohin mochte der Ehemann verschwunden sein? Ahnte Elisabeth König wirklich nicht, warum er wie vom Erdboden verschluckt war?

»Warum machen Sie das?«, fragte die Frau in die Stille.

»Was?« Tessa begriff nicht gleich.

»Krisenintervention? Was für ein Name.«

»Wir versuchen Menschen in seelischen Extremsituationen beizustehen.«

»So wie bei mir?«

»So wie bei Ihnen.« Tessa drehte die Wagenheizung höher. Elisabeth Königs Stimme zitterte. Vor Kälte?

»Es ist etwas Schreckliches passiert. Ich weiß es.«

»Was vermuten Sie?«

Die Frau schaute sie zum ersten Mal an. Ihr Gesicht war tränenverquollen.

»Sie glauben mir?«

»Ich nehme an, Sie kennen Ihren Mann am besten.«

»Nein, ich kenne ihn nicht mehr.«

Sie wandte sich brüsk ab und blickte aus dem Seitenfenster ins Schneegestöber. »Wir haben furchtbar gestritten«, flüsterte sie.

»Hmmm.«

»Die Fotos …«

»70/05 von Leitstelle.« Der Funk plärrte derart unvermittelt los, dass beide Frauen erschrocken zusammenzuckten.

»Entschuldigung«, murmelte Tessa, griff nach dem Hörer des Funkgeräts und drückte die Sprechtaste: »70/05 hört.«

»Frage: Standort.«

»Standortwechsel PK 35 nach Mellingburgreeeeeeeeder … scheiße … ist das glatt.«

Der Wagen brach nach links aus und begann sich zu drehen. Tessa nahm den Fuß vom Gas und versuchte, den Wagen in die Spur zurückzubekommen.

Das Auto reagierte nicht.

Sie schleuderten um die eigene Achse.

Unaufhaltsam in den Gegenverkehr.

Tessa konnte nichts tun. Gar nichts.

Der Wagen schlingerte unkontrolliert an den Fahrbahnrand. Ein Schneehaufen fing sie schließlich ab.

Sie standen.

Kein Gegenverkehr.

Tessa atmete tief durch.

Langsam gab sie Gas und brachte das Fahrzeug wieder auf die eigene Spur zurück.

Das war gerade noch mal gutgegangen.

Ein Blick nach rechts zeigte, dass auch Elisabeth König erschrocken war. Ihre Hand krampfte sich um den Haltegriff, und ihr Atem ging schwer.

»Es hätte schlimmer kommen können …«, murmelte Tessa.

»70/05 von Leitstelle. Wiederholen«, quäkte es aus dem Lautsprecher.

Herrje. Tessa griff nach dem Hörer, den sie hatte fallenlassen. »Mellingburgredder 48.« Ihre Stimme bebte.

»Verstanden. Ende.«

»Was für Fotos?«, fragte Tessa, nachdem sie eine Weile gefahren waren und das Adrenalin in ihrem Körper nachgelassen hatte.

»In welchen Krisen helfen Sie?«

»Die Polizei fordert uns bei traumatisierenden Ereignissen an.« Tessa warf ihr einen kurzen Blick zu. »Wissen Sie, für Opfer, Überlebende, Angehörige oder Zeugen von schweren Unfällen oder Gewalttaten.«

Elisabeth König antwortete nicht.

Tessa vermutete, dass die Frau von den Fotos ablenken wollte. Was es wohl damit auf sich hatte? Hörte sie ihr überhaupt zu? »Wir haben in den schwersten Stunden für diese Menschen Zeit und sorgen dafür, dass sich aus der Katastrophe keine Traumastörung entwickelt.«

»Katastrophe … ja, das kann man wohl sagen«, flüsterte die blonde Frau.

»Was sind das für Fotos?«, fragte Tessa noch mal.

»Wir sind da.« Elisabeth König zeigte geradeaus. »Das zweite Haus auf der linken Seite.«

Tessa parkte den Wagen in der Auffahrt eines weißen Einfamilienhauses. Auf der Rasenfläche vor dem Häuschen stand ein Schneemann. Liebevoll dekoriert mit Möhre, Knopfaugen und Hut auf dem Kopf.

Die Haustür öffnete sich, und eine Frau lief ihnen entgegen.

»Habt ihr Martin gefunden?«, rief die Frau, noch während sie die Beifahrertür aufriss. Eine Daunenjacke hing lose über ihren Schultern.

Elisabeth schüttelte stumm den Kopf und stapfte wortlos durch den Schnee ins Haus.

Die Frau blickte Tessa fragend an. Doch auch sie konnte nur mit den Schultern zucken.

Drinnen schlug ihr eine wohltuende Wärme entgegen.

»Nikola Altenberger.« Die hochgewachsene Frau hielt ihr zur Begrüßung die Hand hin und schloss die Haustür. »Ich bin Elisabeths beste Freundin. Unsere Töchter gehen gemeinsam in den Kindergarten. Ich wohne nur ein paar Häuser weiter. Ich … habe nach Amelie gesehen. Sie wacht ständig auf und fragt nach ihrer Mama.«

Nikola sah Elisabeth so ähnlich, dass sie Schwestern sein könnten. Blond gesträhnt, blaue Augen und schlank. Wahrscheinlich verbrachten die beiden ihre Vormittage im Fitnessstudio oder beim Friseur. So also sehen die Vorstadtmamis neuerdings aus, dachte Tessa, murmelte ein paar erklärende Worte und rieb sich wärmend die Hände aneinander. Sie wollte gerne mehr von Elisabeth König hören. Was waren das für Fotos? Eine Geliebte? Worum ging es in dem Streit?

Tessa folgte Nikola Altenberger ins Wohnzimmer. Dort auf dem Sofa lag, eingekuschelt in eine Bettdecke, ein kleines Mädchen und sprach mit Elisabeth. Nikola und Tessa blieben in der Tür stehen, um die beiden nicht zu stören.

»Jetzt bleibt die Mama zu Hause. Ich bringe dich in dein Bettchen.«

»Ist Papa da?«, nuschelte die Kleine verschlafen.

»Der kommt später.« Elisabeth nahm ihre Tochter auf den Arm und stand vom Sofa auf. »Hast du dein Püppchen?« Tessa konnte das Gesicht der Kleinen nicht sehen. Helle Locken verdeckten es. Sie sah vor allem die vielen grinsenden schwarzen Pinguine auf dem Schlafanzug des Mädchens.

»Der Papa arbeitet und rettet die anderen Menschen«, murmelte die Kleine und ließ den Kopf auf die Schulter ihrer Mutter sinken.

Elisabeth schluchzte auf, aber das hörte ihre Tochter nicht mehr. Sie war schon wieder eingeschlafen.

Tessa durchzuckte eine Erinnerung.

Ein Bild.

Die aufgelöste Mutter mit ihrem Kind im Arm.

Das Köpfchen auf der Schulter. Doch nicht friedlich schlafend, sondern schwer verletzt.

Das Bild war so schnell verschwunden, wie es gekommen war. Das hier war nicht die Familie Yilmaz. Und es war Jahre her.

Es war vorbei.

Tessa ließ ihren Blick durch das Wohnzimmer schweifen. An den Wänden hingen Fotos der Familie. Neben dem grauen Sofa stand ein Beistelltisch, auf dem ein Stapel Bücher lag. Auf dem Teppich davor war eine zerfledderte Tageszeitung übrig geblieben. In einer Ecke des Zimmers war ein Puppenhaus aufgebaut. Ein Traum in Rosa. Es wirkte alles ungezwungen und gemütlich. Liebevolle Unordnung einer kleinen Familie.

Ob das Ehepaar Yilmaz auch einmal so gewohnt hatte?

Tessa schüttelte die Erinnerung ab.

Kurze Zeit später verabschiedete Elisabeth ihre Freundin Nikola und stellte ein Tablett mit zwei Bechern und einer Kanne Tee auf den Wohnzimmertisch. Sie legte ein schwarzes Moleskine-Notizbuch dazu. Eine Hand ruhte schützend darauf, während sie stockend zu erzählen begann, wie sie sich in ihren Martin verliebt hatte. Sie war Mitte zwanzig, und ein Küchenbrand bei ihrer Freundin hatte die Feuerwehr auf den Plan gerufen. Genaugenommen hatte es nur gekokelt, aber der hübsche Feuerwehrmann wollte gar nicht wieder gehen. Er war im ersten Praktikum seiner Ausbildung zum Berufsfeuerwehrmann und voller Tatendrang. Sie strahlte glückselig, als er ihr einen Zettel mit seiner Handynummer zusteckte. Zwei Tage später fasste sie sich ein Herz und rief ihn an. Von da an ging es immer nur bergauf. Martin hatte keine Eltern mehr, und Elisabeth wurde schnell zu seiner Familie. Sie klebten aneinander wie Briefmarken auf dem Kuvert. Sie liebten Campingausflüge in die Natur und die Musik von Amy Winehouse, aßen lieber Vollkornspaghetti als Steak, schliefen bei geöffnetem Fenster und spielten leidenschaftlich gern Doppelkopf. Deutsches Blatt.

Als ein paar Jahre später ihr Wunschkind Amelie zur Welt kam, hörte Elisabeth auf, in der Arztpraxis um die Ecke zu arbeiten, und das Familienglück war perfekt. Martin bestand darauf, an den Stadtrand ins Grüne zu ziehen. Es sollte seiner Familie an nichts mangeln. Sie fanden ein kleines Haus in Sasel, direkt am Naturschutzgebiet Hainesch Iland, und verschuldeten sich mit einem glücklichen Grinsen auf dem Gesicht. Martin verdiente als Feuerwehrmann zwar keine Reichtümer, aber das war ihnen egal. Sie genossen ihr Glück.

Kurze Zeit später wechselte Martin an eine nahe Feuerwehrwache und sparte sich den langen Arbeitsweg durch die ganze Stadt. Sie waren eine harmonische Familie, und Elisabeths Welt hätte nicht schöner sein können. Sie renovierten das Haus und luden in lauen Sommernächten Freunde zum Grillen ein.

Dann ging Elisabeths Laptop kaputt.

Sie bestellte ein Ersatzteil.

Und wäre die Post schneller angekommen, oder hätte sie die Adresse von Martins Tante nicht so dringend gebraucht, um die verspätete Geburtstagskarte auf den Weg zu bringen, dann wäre heute noch alles gut.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Tessa. Endlich kamen sie der Sache näher, und sie wollte um jeden Preis verhindern, dass Elisabeth sich wieder zurückzog.

»Martin rückte zu einem Großbrand in einer Lagerhalle aus. Ich konnte ihn nicht nach der Adresse fragen. Also habe ich seinen Computer hochgefahren. Ich kenne sein Passwort, wir haben keine Geheimnisse voreinander.« Sie seufzte. »Ich suchte nach der Anschrift. Dabei bin ich auf einen Ordner namens Hotel gestoßen. Ich war neugierig. Vielleicht plante er ja einen Überraschungsurlaub?«

Elisabeth strich behutsam über das schwarze Büchlein und löste das Gummiband.

»Hmmm.« Tessa traute sich nicht, Elisabeth in ihren Gedanken zu unterbrechen. Was immer sie in diesem Ordner gefunden haben mochte, es hatte ihre Welt verändert. Sie rutschte auf ihrem Stuhl nach vorne.

»Ich habe sie ausgedruckt«, sagte Elisabeth, als hätte sie Tessas Gedanken gelesen. »Ich konnte es nicht glauben. Das ist alles gar nicht wahr. Ich musste wissen, was das zu bedeuten hat … Wir sind doch eine glückliche Familie.« Sie zögerte. »Dass er weg ist, ist meine Schuld.«

Elisabeth öffnete das Büchlein und nahm zwei gefaltete Blätter heraus. Sie schlug sie so vorsichtig auf, als ob sie zerbrechen könnten.

Also doch eine Geliebte, dachte Tessa. Sie konnte noch nichts erkennen.

Elisabeths Blick starrte ins Leere. Dann drehte sie die Blätter um und schob sie zu Tessa rüber.

»Mein Gott!« Tessa konnte den Aufschrei nicht unterdrücken.

Sie sah zu Elisabeth, die jedoch nicht reagierte. Tessa wandte sich wieder den beiden ausgedruckten Fotos zu.

Amelie.

Amelie auf einem Bett.

Mit geöffneten Lippen und einem verstörten Blick.

Entblößt.

Die Beine gespreizt. Splitterfasernackt.

Tessa spürte Übelkeit aufsteigen. Das arme Mädchen.

Sie zwang sich, das zweite Foto anzusehen. Eine Variation der ersten Aufnahme. Eine andere Pose. Tessa faltete die Ausdrucke zusammen und schob sie zur Seite. Sie hatte genug gesehen.

Neben ihr weinte Elisabeth lautlose Tränen.

Tessa war sprachlos.

Kinderpornografie? Unmöglich. Alles hätte sie erwartet.

Das nicht. Nicht in dieser Familie.

»Ich weiß nicht mehr, wie lange ich vor den Fotos gesessen habe, bevor ich sie ausdruckte.« Ihre Stimme war nur ein tonloses Flüstern, und sie starrte auf ihre Hände. »Ich habe den Computer ordentlich runtergefahren, als ob nichts gewesen wäre. Aber ich konnte an nichts anderes mehr denken. Diese Fotos … in meiner Tasche … ich wollte sie nicht mehr anfassen. Missbraucht mein eigener Mann unsere Tochter? Er ist ihr Vater! Ich habe fieberhaft nach einer anderen Erklärung gesucht. Aber mir fiel keine ein. Er hatte die Bilder auf seinem Computer. Ich bin duschen gegangen. Ich habe mich wie von Sinnen abgeschrubbt. Fast hätte ich Sagrotan genommen. Verstehen Sie? Dieser unerträgliche Ekel. Ich spürte ihn am ganzen Körper. Ich wollte ihn abwaschen.«

Tessa nickte. Am liebsten hätte sie Elisabeth in den Arm genommen. Stattdessen würgte sie an der Frage: »Gibt es weitere Aufnahmen von Amelie? Oder von anderen Kindern?«

»Nein … Ich weiß es nicht.« Elisabeth blickte ihr für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen, bevor sie den Kopf wieder senkte.

»Dann wurde ich wütend. Mein Martin? Niemals. Aber wer dann? Wer hat die Fotos gemacht? Wie sind sie auf den Laptop meines Mannes gekommen und warum hat er sie mir nicht gezeigt? Wir hätten sofort zur Polizei gehen müssen. Das Schwein finden, das die Fotos gemacht hat.«

»Haben Sie Ihren Mann zur Rede gestellt?«

»Er kam erschöpft und gereizt von dem Lagerbrand. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, aber ich war vollkommen hysterisch. Ich habe Amelie keine Sekunde mit ihm allein gelassen«, flüsterte Elisabeth heiser. Sie war anscheinend ganz in die Erinnerung des folgenschweren Abends versunken. »Ich hatte diese unerträglichen Bilder im Kopf. Aber ich war mir sicher, dass Martin nie, nie, nie, niemals so etwas Ungeheuerliches tun könnte. Er liebt Amelie mehr als irgendetwas anderes auf der Welt. Mehr als mich. Er würde sein Leben für sie geben.« Elisabeth machte eine Pause. »Oder liebt er sie zu sehr? Ich war vollkommen fertig, und er hat natürlich sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Er hat gefragt, ob etwas passiert wäre, ich sei so komisch. Später, als Amelie schlief, habe ich die Tür zu seinem Arbeitszimmer zugemacht und ihm gesagt, dass ich die Fotos gefunden hätte und Antworten verlange.« Elisabeth streichelte sich über den Arm, als ob sie sich trösten wollte. »Ich bin ausgerastet und wie eine Furie auf ihn losgegangen. Ich habe ihn angeschrien und geheult. Er hatte keine Chance. Es ist alles meine Schuld.«

»Warten Sie, Elisabeth, nicht so schnell. Was ist Ihre Schuld?«

»Dass er weg ist.«

»Das verstehe ich nicht. Was hat er gesagt?«

Elisabeth zögerte. Als ob die Last dessen, was sie zu sagen hatte, zu schwer wog. Sie nahm ihren Becher mit beiden Händen und trank einen Schluck Tee.

»Er ist kalt.«

Tessa nickte. Ihr Becher stand ebenfalls unberührt. Zu schockiert war sie von Elisabeths Beichte.

»Er hat gezittert und war kreideweiß, aber gesagt hat er nichts. Verstehen Sie? Ich hatte gehofft, dass er eine Erklärung dafür hat. Dass er vielleicht sogar von den Fotos nichts weiß. Das ist natürlich Unsinn, aber …«

»Er wusste davon«, vollendete Tessa den Satz.

»Er saß da wie ein geprügelter Hund mit dem Kopf in den Händen. Jammerte, dass er alles erklären könne, es wäre anders, bla, bla, bla. Aber er hat nichts erklärt. Und da habe ich angefangen, auf ihn einzuschlagen. Ich habe geschrien, dass ich ihn bei der Polizei anzeige, wenn er unsere Tochter angefasst hat, dass er uns nie wieder sehen wird. Ich habe ihm wehgetan. Er war panisch und hat gestammelt, dass er uns liebt, dass er Amelie niemals etwas antäte, dass alles ganz anders wäre …« Ihr Gesicht verzog sich vor Ekel. »Er hat immer wiederholt, dass er noch nicht darüber sprechen kann, dass er es aufklärt und dann … Scheiße. Alles eine große Scheiße. Dann hat er gebettelt. Ich soll ihm vertrauen. Aber wie bitte kann ich das? Ich liebe ihn, aber kann ich ihm vertrauen? Ich habe geschrien, dass er gehen soll. Sofort. Das hat er getan. Er zog eine Jacke über und sagte, dass er uns liebt. Dann war er weg. Und er ist nicht wiedergekommen. Verstehen Sie? Er ist verschwunden. Wo ist er? Bei diesem Wetter? Und wenn ich ihn zu Unrecht beschuldigt habe? Es muss eine andere Erklärung geben!«

Tessa schauderte vor der Vorstellung, dass ein Mann dieses süße, unschuldige Mädchen missbraucht haben könnte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Da half auch kein Tee mehr.

»Elisabeth, Sie müssen damit zur Polizei«, sagte sie mit allem Nachdruck. Die konnten herausfinden, ob König diese Fotos von Amelie gemacht hatte. Sie warf einen Blick auf die beiden Bögen, die unberührt in der Tischmitte lagen. Zogen sie die richtigen Schlüsse? Was war dran an seinen Beteuerungen? War er wirklich der liebende Vater und Ehemann? Dass er verschwunden war, konnte man nur als Schuldeingeständnis werten, oder?

Und schließlich die wichtigste Frage.

Sie hing drückend wie eine Gewitterwolke im Raum: Wo war Martin König?

KAPITEL ZWEI

Tessas Gedanken hatten sich stundenlang wie ein Karussell immer weiter im Kreis gedreht. An Schlaf war nicht zu denken gewesen. Jetzt, um acht Uhr morgens, brannten ihre Augen und sie fröstelte. Sie saß mit einer Schale Milchkaffee und in eine Strickjacke gekuschelt in ihren neuen Praxisräumen in einem tiefen Ledersessel. Im Hintergrund die Gitarrenklänge von Mojave 3. Die bittersüßen Songs der britischen Band passten zu ihrer Stimmung und zum Wetter. Draußen war es dunkel und eisig.

Sie hatte die Uni-Klinik kurz nach dem Skandal um eine gefälschte Medikamentenstudie und einen entsetzlichen Mord verlassen. Einer ihrer Patienten hatte eine Mitpatientin getötet, und sie hatte es nicht verhindern können. Im Gegenteil: Sie musste sich eingestehen, dass sie den Ernst der Lage und seiner Psychose viel zu spät erkannt hatte. Dann war sie selbst in Lebensgefahr geraten. Der schwer gestörte Patient hatte sie als Geisel genommen.

Ein paar Monate halfen Tessa Gespräche mit einer Kollegin, bis sie die Ereignisse verarbeitete. Vergessen konnte sie nicht. Dazu lernte sie die bittere Lektion, dass der Mann, in den sie verliebt war, ihre Gefühle nicht im gleichen Maße erwiderte. Lange wartete sie traurig und verzweifelt auf ihn. Danach war sie einfach nur wütend – auf alles und jeden – und schließlich resignierte sie. Monate der Besinnung und des Neuanfangs lagen hinter ihr. Die Praxis war eine neue Existenz. Eine neue Liebe war allerdings nicht in Sicht. Doch so blieb ihr mehr Zeit, um sich in der Krisenintervention zu engagieren, und das bereicherte sie ungemein. Die Konfrontation mit dem plötzlichen, unvorhersehbaren Tod erinnerte sie täglich daran, demütig und dankbar mit ihrem eigenen Leben umzugehen.

Sie zog sich die Kaffeeschale dichter unter die Nase und atmete den köstlichen Duft ein.

Torben … Manchmal glaubte sie, dass er immer noch eine kleine Ecke ihres Herzens besetzt hielt. Sie hatte gedacht, sein Interesse an ihr wäre aufrichtig. Nach all den intensiven Gesprächen. Sie hatte die Zeit genossen, sich begehrt gefühlt.

Es war nur ein kurzer Moment geblieben. Nachdem er den Mord auf der Station aufgeklärt hatte, bat er sie um Zeit. Er wollte seine Gefühle sortieren und dann entscheiden. Schließlich war er verheiratet und seiner Frau ein Versprechen schuldig. Doch das Versprechen ihr gegenüber hielt er nicht. Sie hörte nie wieder von ihm. Tessa lernte auf die harte Tour, dass Verliebtheit und Begehren nicht ausreichten, um den Mann ihres Herzens zu gewinnen. Vielleicht half ihm ihre Affäre sogar noch, sich wieder seiner Frau anzunähern. Sie hatte gewusst, dass er verheiratet war. Aber Gefühle fragen nun mal nicht nach dem Beziehungsstatus.

Ach, verdammt, sie vermisste ihn immer noch.

Sie nahm einen Schluck Milchkaffee. Sascha fand, dass sie die Milch viel zu heiß kochte, aber Tessa hasste es, lauwarmen Milchkaffee zu trinken. Was konnte man gegen heiße Milch haben?

Sascha. Warum nur kam ihr immer, wenn sie an Torben dachte, ihr Bruder in den Sinn? Auch er war einer der wichtigen Männer in ihrem Leben. Vermutlich der Mensch auf dieser Welt, der sie besser kannte als jeder andere. Und das, obwohl sie schon immer ein schwieriges Verhältnis zueinander hatten. Oder gerade deswegen? Schon früh herrschte unter den Geschwistern ein ständiger Wettbewerb, ein Tauziehen um die Gunst der Eltern. Dann nahm sich der Vater das Leben und ließ die Kinder mit der überforderten Mutter zurück. Statt zusammenzurücken suchten sich Tessa und ihr Bruder ihre eigenen Nischen. Führten ihren Überlebenskampf allein. Darunter verschüttet lag eine tiefe Liebe zueinander. Sie wusste, dass sie füreinander da waren, wenn einer der beiden die Größe hatte, sich schwach zu zeigen.

Sie seufzte.

Auch Sascha war allein. Keine Frau, keine feste Bindung. Vielleicht suchte er nicht. Tessa vermutete, dass seine ständig wechselnden Affären Ausdruck einer Bindungsstörung waren. Wer könnte es ihm verdenken? Ein Vater, der seinen Sohn im Stich ließ, und eine Mutter, die in ihrer Trauer hoffte, ihr Junge könnte ein Ersatz für den Ehemann sein. Nein, Sascha ließ sich nicht mehr auf jemanden ein. Dabei konnte er jede Frau haben, die er wollte. Er sah gut aus, er war klug und witzig, er war spontan. Irgendwo da draußen musste doch die eine Frau für ihn sein, die erkannte, dass hinter seinem Zynismus ein verletzlicher Kern steckte, und ihn akzeptierte, wie er war. Tessa war sicher, dass es sie gab. So wie sie sicher war, dass es einen besonderen Mann für sie gab. Gleichwohl sie genau das Gegenteil von Sascha lebte. Affären waren nicht ihr Ding. Da blieb sie lieber allein, bis der Richtige kam. Auch eine Bindungsstörung? Vielleicht. Aber immerhin glaubte sie noch an die große Liebe – und wollte keine faulen Kompromisse eingehen, nur um nicht allein zu sein.

Alleinsein – damit konnten nicht viele umgehen.

Auch Martin König wollte nicht allein sein und hatte eine Familie gegründet. Obwohl er um seine pädophilen Neigungen wusste? Ein liebender Familienvater, der in Wirklichkeit ein Monster war? Der seine Tochter missbrauchte und sich aus dem Staub machte, als er aufflog? Oder war die Wahrheit viel komplizierter?

Was hätte sie an Elisabeths Stelle getan?

Die Ehefrau suchte verzweifelt nach alternativen Erklärungen. Sie konnte den Mann, den sie seit Jahren liebte und mit dem sie eine Familie gegründet hatte, nicht von einem auf den anderen Tag hassen. Das war nur verständlich. Elisabeth König hoffte darauf, dass es nur ein böser Traum war. Auch Tessa fehlte die Fantasie, sich vorzustellen, dass dieser Vater bei seinem Kind alle Grenzen überschritten hatte. Konnte ein Feuerwehrmann, der tagtäglich andere Menschen rettete, sein eigenes Kind so gering schätzen? Hätte Elisabeth nicht irgendetwas merken müssen? Oder hatte sie es nicht sehen wollen? Nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Und die Kleine? Die Erinnerung an Amelies verstörten Ausdruck auf dem Foto ließ Tessa erschaudern.

Ihr Blick streifte die Fensterbank, auf der sie ihre Muschelsammlung dekoriert hatte. Damit hatte sie irgendwann, ganz am Anfang ihrer Zeit an der Uni-Klinik angefangen, und ihre Fundstücke waren natürlich mit in die neue Praxis gezogen. Für jeden Patienten suchte sie eine schöne Muschel oder einen Donnerkeil an der Ostseeküste. Eine Art bleibende Erinnerung einerseits und Abschluss der Behandlung andererseits. Sollte sie für Amelie eine Muschel suchen? Nein, Amelie war schließlich nicht ihre Patientin.

Tessa trank ihren Kaffee aus und war dankbar, dass sie in dieser schönen Praxis sitzen durfte und ihre eigene kleine Welt in Ordnung gebracht hatte.

Das war auch einmal anders gewesen. Vor gerade mal anderthalb Jahren. Sie hatte qualvoll erkennen müssen, wie schmal der Grat zwischen Normalität und Wahnsinn war. Sie sah sein Gesicht immer noch deutlich vor sich. Er war in der Klinik, weil er selbst Schreckliches erlebt hatte. Dann ermordete er eine andere Patientin, die ihn zurückgewiesen hatte. Auch Tessa kränkte ihn … Beinahe zahlte sie dafür mit ihrem Leben. Der Messerstich in die Schulter verfehlte nur knapp die Halsarterie. Torben und sein Kollege Michael Liebetrau retteten ihr das Leben.

Wenn Liebetrau nicht geschossen hätte … Sie bekam eine Gänsehaut. Besser nicht darüber nachdenken.

Eine Weile verfolgte sie Torbens Arbeit noch in der Tagespresse. Mord und Totschlag waren schließlich die Lieblingsaufmacher der Journalisten, und so las sie ab und zu über ihn. Es war selbstzerstörerisch, wie eine Droge, doch sie schaffte es schließlich, damit aufzuhören.

ENDE DER LESEPROBE