Denn wir werden Schwestern bleiben - Patricia Küll - E-Book

Denn wir werden Schwestern bleiben E-Book

Patricia Küll

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Beschreibung

Caroline, Jule und Marlene stehen am Grab ihrer jüngsten Schwester. Vivienne ist mit 44 Jahren bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen. Bei der Beerdigung machen sie sich gegenseitig Vorwürfe, sie hätten Vivi im Jahr zuvor zu sehr vernachlässigt. Hätten sie den Unfall verhindern können, wenn sie mehr füreinander da gewesen wären? Plötzlich tritt ein alter Mann hinzu und bietet ihnen eine unglaubliche Möglichkeit: Sie können das letzte Jahr erneut erleben. Die Frauen nehmen die zweite Chance an und stürzen sich in ein gemeinsames, intensives Jahr, das sie als Schwestern auf viele Proben stellt. Schaffen sie es, das Schicksal zu ändern?

Ein berührender Roman über Familie, der von der ersten Seite an fesselt

»Wie weit kann, wie weit muss Schwesternliebe gehen? Hatte nach dem Lesen das dringende Bedürfnis, meine Schwester anzurufen. Ein Buch für Schwestern - aber nicht nur für die!« Evelin König, Fernsehmoderatorin

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Seitenzahl: 348

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungStammbaum1. SeptemberMarleneCaroline1. SeptemberMarleneVivienneCaroline, Jule, MarleneVivienneMarleneJuleVivienneJuleCarolineDr. von BahrCarolineMarleneJuleMarleneOktoberMarleneVivienneMarleneJuleNovemberMarleneCarolineVivienneMarleneDezemberCarolineJuleCarolineMarleneVivienneCarolineMarleneJuleMarleneJuleCarolineJanuarJuleMarleneCarolineVivienneMarleneFebruarJuleCarolineMarleneVivienneCarolineMärzMarleneJuleCarolineAprilVivienneMarleneDanielMarleneDanielMarleneVivienneCarolineMarleneVivienneCarolineJuleMaiCarolineMarleneJuniVivienneJuleCarolineJuliJuleMarleneJuleMarleneCarolineAugustMarleneCaroline, Jule, Marlene, Vivienne1. SeptemberDie drei SchwesternDanke

Über dieses Buch

Caroline, Jule und Marlene stehen am Grab ihrer jüngsten Schwester. Vivienne ist mit 44 Jahren bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen. Bei der Beerdigung machen sie sich gegenseitig Vorwürfe, sie hätten Vivi im Jahr zuvor zu sehr vernachlässigt. Hätten sie den Unfall verhindern können, wenn sie mehr füreinander da gewesen wären? Plötzlich tritt ein alter Mann hinzu und bietet ihnen eine unglaubliche Möglichkeit: Sie können das letzte Jahr erneut erleben. Die Frauen nehmen die zweite Chance an und stürzen sich in ein gemeinsames, intensives Jahr, das sie als Schwestern auf viele Proben stellt. Schaffen sie es, das Schicksal zu ändern? Ein berührender Roman über Familie, der von der ersten Seite an fesselt »Wie weit kann, wie weit muss Schwesternliebe gehen? Hatte nach dem Lesen das dringende Bedürfnis, meine Schwester anzurufen. Ein Buch für Schwestern – aber nicht nur für die!« Evelin König, Fernsehmoderatorin

Über die Autorin

Patricia Küll arbeitet beim Südwestrundfunk und moderiert das Flaggschiff des SWR, die Landesschau Rheinland-Pfalz, sowie die Kultursendung LandesArt. Zudem ist sie diplomierte systemische Coach und zertifizierte Beraterin für Persönlichkeitsentwicklung. Sie schreibt Fachbücher und hält Vorträge zu dem Thema »gelingendes Leben«.

Patricia Küll hat selbst drei Schwestern. Ihr Romandebüt trägt autobiografische Züge. Sie lebt mit Mann und zwei Kindern in Mainz.

Mehr über die Autorin finden Sie unter: www.patricia-kuell.de

PATRICIA KÜLL

Dennwir werdenSchwesternbleiben

ROMAN

LÜBBE

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch

die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlagmotive: © vectortwins – stock.adobe.com | © Patricia Küll

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2098-4

luebbe.de

lesejury.de

Für Simone und IrisUnd im Gedenken an Adrienne (1969–2013)

1. September

Marlene

So hatte Marlene sich das nicht vorgestellt, als sie ihren Schwestern vorgeschlagen hatte, Vivienne noch einmal gemeinsam zu sehen. Sie hatte ihren Vater nach seinem Tod ein letztes Mal am offenen Sarg besucht, und das war völlig in Ordnung gewesen. Aber ein Mensch, der im Bett eingeschlafen ist, sieht anders aus als einer, der aus dem zweiten Stock gefallen ist. Das musste Marlene mit einem plötzlichen Schaudern feststellen. Ihre kleine Schwester war kaum wiederzuerkennen. Wenn sie nicht so hartnäckig darauf bestanden hätte, wäre Vivi einfach im zugenagelten Sarg in die Kapelle gestellt worden. Aber nein, was sie sich vornahm, das zog sie durch. Und nun stand sie zusammen mit ihren älteren Schwestern Caroline und Jule in dem fensterlosen Raum, in dem Vivi aufgebahrt lag. Es gab bestimmt Aufbahrungsräume, die mit Kerzen und bunten Glasfenstern Hoffnung verströmten, dieser Raum hingegen hätte keinen Preis für irgendwas gewonnen. Außer vielleicht für das größtmögliche Verbreiten von Tristesse. Marlene bereute in diesem Moment zutiefst, dass sie wieder einmal mit dem Kopf durch die Wand gewollt hatte.

Gerade mal eine halbe Stunde zuvor hatte sie die Schwestern mit ihrem Auto eingesammelt. Sie wollte rechtzeitig auf dem Friedhof sein, damit sie in Ruhe Abschied nehmen konnte, bevor die Trauergesellschaft kam, die egoistisch Aufmerksamkeit für den eigenen Kummer einforderte. Selbst Jule hatte es ausnahmsweise geschafft, überpünktlich vor dem Haus zu stehen. Und so konnten sie in ihrem Schmerz noch eine kleine Weile unter sich bleiben, noch einmal ein paar Minuten allein sein mit ihrer jüngsten Schwester Vivienne. Um die Wahrheit zu sagen, hatte Caroline überhaupt keinen Wert darauf gelegt, aber ihr war keine gute Ausrede eingefallen, deswegen musste sie nun auch den traurigen Anblick ertragen.

»Wenn wir uns nicht alle im letzten Jahr von ihr zurückgezogen hätten, wär das vielleicht nicht passiert«, sagte Jule schniefend zum wiederholten Mal. »Wir …«

»Quatsch«, unterbrach Caroline, die Älteste, sie scharf. »Der Typ ist schuld. Wenn der nicht diese Spielchen mit ihr gespielt hätte, dann hätte sie nicht so viel gesoffen, und dann müssten wir jetzt nicht an diesem verdammten Sarg stehen.«

»Wir hätten da erst recht für sie da sein sollen. Waren wir aber nicht«, konterte Jule noch einmal, bevor Marlenes bittender Blick sie erreichte. Sie hatten eigentlich ausgemacht, am Beerdigungstag die Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen bleiben zu lassen.

Caroline wedelte sie beide mit einer ungeduldigen Handbewegung aus dem Raum. Ein bisschen mehr Pech und sie wäre es gewesen, die hier in einem Sarg gelegen hätte. Sie hätte sicherlich nicht so ramponiert ausgesehen, aber dafür mit einer großen Narbe auf der Brust. Nun gut, das war jetzt übertrieben, die Narbe war kaum zu sehen. Dennoch: Der Gedanke an den eigenen Tod machte sie dünnhäutig. In diesem Zustand wollte sie nicht streiten. Und außerdem – am offenen Sarg vor Vivi rumzuzicken fand selbst sie unpassend.

So machten sie sich zu dritt schweigend auf den kurzen Weg zu der kleinen Kapelle, vor der bereits einige Freunde von Vivi und ihr Ehemann Roberto warteten.

»Lieber Herr Rossa, liebe Familie, liebe Freunde von Vivienne, liebe Trauergemeinde! Wir sind heute hier zusammengekommen, um Vivienne Rossa auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Es ist für die Hinterbliebenen immer schwer, wenn ein Mensch zu Gott berufen wird. Passiert es aber unter so tragischen Umständen und ist er so jung, ist es besonders traurig.«

Der Pfarrer bemühte sich redlich, tröstende Worte zu finden und die Verstorbene, die er persönlich gar nicht gekannt hatte, noch einmal lebendig werden zu lassen. Sie hatten im Vorgespräch mit dem Geistlichen so anschaulich und quirlig über die kleine Schwester erzählt, es hätte ein Leichtes sein können, Vivienne mit ihrem breiten, ansteckenden Lachen vor den geistigen Augen der Anwesenden auferstehen zu lassen. Aber der Pfarrer wählte Worte, die so trocken waren wie Dörrobst. Da konnte nichts lebendig werden. Schon gar nicht eine junge Frau, die vollgepumpt mit Schmerztabletten aus dem Fenster gefallen und fast unmittelbar nach dem Aufprall gestorben war.

Marlene hoffte, ihre innere Unruhe zähmen zu können. Immer wieder hatte sie Versuche unternommen, sich der Kirche und dem Glauben zu nähern, aber jedes Mal scheiterte sie spätestens bei den Predigten. Geistliche fanden nie Worte, die sie trösteten oder aufheiterten. Im Gegenteil. Ihre Ungeduld wuchs von Satz zu Satz, und sie musste sich meistens auf ihren Atem konzentrieren, um nicht einfach aufzuspringen und aus der Kirche zu laufen. Seitdem sie täglich meditierte, konnte sie ihre Ungeduld besser unter Kontrolle bringen. Bei früheren Beerdigungen oder an Weihnachten, also bei den wenigen Gelegenheiten, in denen sie eine Kirche besucht hatte, war sie nach einer Weile immer nervös auf der Bank hin und her gerutscht. Was alle anderen um sie herum einfach kirre machte. Dass ausgerechnet ihre Tochter Lilith seit Jahren Messdienerin war, empfand Marlene als Ironie des Schicksals. Verstehen konnte sie es beim besten Willen nicht. Sie vermutete, dass es mit der Theaterleidenschaft ihres Mannes Daniel zu tun hatte. Die musste Lilith geerbt haben. Die Kirchgänger waren ihr Publikum, der Weihrauchbehälter ihr liebstes Requisit, der gemeinsame Gesang ihr Applaus.

»Aus den Erzählungen der Schwestern konnte ich heraushören, dass Vivienne Rossa eine sehr lebenslustige Person war, die auch in schweren Zeiten immer noch andere zum Lachen brachte …«

Marlene schweifte gedanklich ab. Der eintönige Singsang des Pfarrers führte sie weit weg von diesem Ort. Auf den Tag genau ein Jahr zuvor waren sie und ihre drei Schwestern in einem Café am Waldrand verabredet gewesen. Vivi, wie sie von allen nur genannt wurde, hatte ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen gehabt. Sie selbst hatte deswegen extra für ein paar Stunden Familie, Jobs und sämtliche Projekte ruhen lassen. Was ihr nicht leichtgefallen war. Denn meistens hatte sie so viel zu tun, dass sie es sich nicht leisten konnte, einfach so einen Vormittag zu verbummeln. Als sie, wie immer ziemlich abgehetzt, in das Café gekommen war, hatten die Schwestern schon bei einem Glas Aperol Spritz zusammengesessen. Auch sie liebte dieses Getränk, das mit der leuchtenden Farbe im langstieligen Glas so viel Eleganz und Lebensfreude versprühte. Sie hatte allerdings nicht verstehen können, warum man schon morgens um elf Uhr Alkohol trinken musste. Na gut, wenigstens Caroline hatte einen Cappuccino vor sich stehen gehabt und ein dickes Stück Sachertorte.

Was die beiden anderen trinken, futtert sie, hatte Marlene wenig liebevoll gedacht. In der Tat war Caroline in den letzten Jahren ziemlich auseinandergegangen. Von ihnen vieren sah sie am altbackensten aus, das lag aber auch daran, dass sie sich gern elegant und wahnsinnig einfallslos kleidete, während sie selbst, Vivi und Jule immer noch eher im praktischen Jeanslook herumliefen. Hätte sie selbst jemals in ihrem Leben eine beige Chanel-Jacke getragen, hätte sie wenigstens eine Jeans und ein einfaches weißes T-Shirt dazu gewählt, aber Caroline kombinierte zu der biederen Jacke auch noch eine sandfarbene Seidenbluse und eine Bundfaltenhose. Und dann noch der wenig originelle braune Pagenkopf – Carolines Aussehen war an klassischer Langeweile wirklich nicht zu toppen.

Im Vorbeigehen hatte Marlene bei der Kellnerin einen Latte Macchiato bestellt, schnell allen Schwestern Küsschen auf die Wangen gedrückt und sich auf den letzten freien Stuhl gesetzt.

»Also, was ist los?«, war sie sofort herausgeplatzt.

Geduld und Ruhe waren nicht ihre Stärken. Sie war es gewohnt, Zeit immer sehr sinnvoll zu nutzen. So drückte sie es aus. Man könnte auch sagen, sie war im Dauerstress, weil sie ständig neue Projekte anleierte. Nach ihrer direkten Frage hatten alle drei Schwestern gespannt zu Vivienne geguckt. Die hatte es sichtlich genossen, so im Mittelpunkt zu stehen. Das war sie nicht gewohnt, denn schon als Kind hatte sie sich bei den temperamentvollen Schwestern kein Gehör verschaffen können. Wenn die ganze Familie zum Essen zusammenkam, durfte diejenige am meisten von ihren Erlebnissen erzählen, die am schnellsten und lautesten reden konnte. Und das war nie Vivienne gewesen. So hatte sie sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt, einfach nichts mehr zu sagen.

Doch in diesem Moment im Café am Waldrand war es anders gewesen. Mit blitzenden Augen und einem schelmischen Lächeln hatte sie tief Luft geholt … und dann erst mal geschwiegen. Gekonnt hatte sie eine Pause eingelegt und war dann doch herausgeplatzt: »Ich hab mich verliebt.«

Ein Knuff in die Seite holte Marlene aus der Vergangenheit zurück. Sie blickte nach links, da saß Jule, die sie gerade erneut anstoßen wollte.

»Du bist dran«, flüsterte Jule.

Sie hatte gar nicht bemerkt, dass der Pfarrer seine Rede beendet hatte und nun sie – wie ausgemacht – ein paar Worte sprechen sollte. Langsam ging sie nach vorne, drei Stufen hinauf auf die kleine Kanzel aus Holz, drehte sich um und blickte in viele Gesichter, die kummervoll, müde oder gespannt zurückschauten. In diesem Moment quietschte noch einmal das Schloss der schweren alten Kirchentür.

Wer kommt denn da so unbotmäßig zu spät?, empörte sie sich innerlich und sah zum Eingang der Kapelle. Da schlich sich doch tatsächlich der Arsch herein und ließ sich leise in der hintersten Reihe nieder. Marlene hätte es fast den Atem verschlagen. Na, der ist ja ganz schön dreist, hier aufzutauchen, dachte sie empört. Ein Hüsteln und noch eins ließ sie wieder zur Gemeinde blicken. Jule sah sie mit leicht schief gelegtem Kopf fragend an und gab ihr mit einer kleinen Geste einen Schubs. Marlene wiederum sah Jule intensiv in die Augen und versuchte, ihr mittels Gedankenübertragung mitzuteilen, dass der arschigste Arsch, der auf dieser Welt herumlief, gerade in die Kirche gekommen war. Aber Jule blickte nur mit verquollenen Augen müde zurück. Da ihre Empörung hier offensichtlich nicht verstanden wurde, sah sie zu Daniel, der mit ihren beiden Kindern auf der anderen Seite des Mittelganges saß. Er nickte ihr aufmunternd zu, und so atmete sie tief aus und wieder ein und begann.

Es war gut, dass sie gern vor Leuten stand und redete, denn so konnte sie die vorbereitete kleine Traueransprache problemlos vorbringen, obwohl sie gedanklich noch immer bei dem Treffen vor einem Jahr war. Vivi hatte so glücklich und beschwingt gewirkt, als sie über ihre neue Lebenssituation erzählt hatte, die sie und ihre beiden Schwestern natürlich sofort kritisch hinterfragt hatten.

»Wie? Du hast dich verliebt?« Sie hatte ihre Schwester wenig intelligent angeschaut.

»Na, herzlichen Glückwunsch«, hatte Jule dazwischengegluckst, »das wurde ja auch Zeit. Mit Roberto läuft doch schon lange nichts mehr, oder? Wer ist es denn? Kennen wir ihn?«

»Erinnert ihr euch noch an Steve?«

Wieder hatte Vivienne eine kleine Kunstpause gemacht und die verdutzten Gesichter ihrer Schwestern genossen. Man hatte förmlich hören können, wie diese ins Denken gekommen waren.

»Steve? Wer war das gleich noch mal?«, hatte Caroline gefragt. Diese Worte und ein großes Fragezeichen hatten auch über ihrem und Jules Kopf gestanden.

»Wisst ihr nicht mehr, DERSTEVE, mit dem ich zusammen war, bevor ich Roberto kennengelernt habe. DERSTEVE, der mich mit nach Irland nehmen wollte, aber damals war ich doch noch nicht volljährig.«

»Ach du Scheiße«, war es Caroline rausgerutscht.

Sie hatte im Ausland gelebt und von dem Drama nur aus der Entfernung gehört, das hatte ihr allerdings schon gereicht. Es war eine On-off-Beziehung gewesen. Ständig hatte einer der beiden Schluss gemacht, dann hatten sie unter Tränen wieder zusammengefunden, nur damit sich kurze Zeit später der andere trennen konnte. Es war eine hysterische, emotionale Beziehung gewesen, an die sie alle drei mit Grausen zurückgedacht hatten. Was waren sie froh gewesen, als der Typ nach Irland abgedampft war und Vivi kurze Zeit später mit dem stillen, zuverlässigen Roberto zusammengekommen war.

»Vor vier Monaten hab ich ihn wiedergetroffen«, hatte Vivienne zu schwärmen angefangen. »Plötzlich stand er vor mir, als ich gerade auf dem Weg zur Bank war, um Geld abzuheben.«

»Komm auf den Punkt«, hatte sie ungeduldig gemurmelt. Doch Vivi hatte sich nicht beirren lassen.

»Ich hab ihn sofort wiedererkannt. Und er mich auch. Erst standen wir ein bisschen blöd voreinander, und dann hat er mich gefragt, ob ich Zeit für einen Kaffee hab, und irgendwann saßen wir halt in dem Café, und da hat er dann meine Hand genommen.«

»Er hat ja wohl hoffentlich nicht um sie angehalten?«, hatte Caroline forsch und ziemlich unsinnig eingeworfen, wohl um der Geschichte ein wenig die Dramatik zu nehmen, was leider nicht ganz gelang.

»Nein«, hatte Vivi zögerlich gemeint, »aber ich hab mich von Roberto getrennt.«

»Ach du Scheiße«, war es Caroline ein zweites Mal rausgerutscht.

»Es ist so wunderschön.« Vivi war wieder im Schwärmmodus gewesen. »Er ist so lieb und aufmerksam. Und endlich spüre ich mich wieder. Ich fühl mich so jung und lebendig. Irgendwie hatte ich schon fast vergessen, wie sich das anfühlt, wenn ein Mann einen begehrt, und …«

»Keine Details bitte«, hatte sie selbst ihre Schwester unsanft unterbrochen, »die Bilder will ich nicht in meinem Kopf haben. Sag mir lieber, wie es jetzt weitergeht. Bist du schon ausgezogen und wohnst jetzt bei ihm?«

»Das geht leider nicht. Steve ist immer nur zu Besuch da, weil seine kleine Tochter die meiste Zeit hier bei seiner Mutter lebt. Na ja, und dort wohnt er dann auch.«

»Und was ist mit der Mutter des Kindes?«, hatte sie nachgehakt.

Sie war in der Familie für ihre inquisitorischen Fragen bekannt und gefürchtet. Gern legte sie den Finger genau dorthin, wo es besonders wehtat. Und auch diesmal hatte sie schlafwandlerisch den wunden Punkt gefunden, denn Vivienne hatte kleinlaut geantwortet: »Die gibt es natürlich«, um dann, nachdem sie die kritischen Augen von gleich drei Schwestern bemerkt hatte, noch schnell nachzulegen: »Sie arbeitet nachts oft in einer Kneipe. Meiner Meinung nach ist sie ’ne kleine Schlampe, und deswegen will er sich auch scheiden lassen.« Und dann ließ sie noch eine Bombe platzen. »Aber wir kriegen das alles hin, denn ich hab seit vier Wochen eine eigene Wohnung.«

Marlene holte sich aus ihren Erinnerungen zurück und kam zum Ende ihrer Rede. »Ich werde nie vergessen, wie begeistert Vivienne von Mary Poppins war. Sie wünschte sich, seitdem sie dieses Buch kannte, auch so eine Tasche, aus der sie alles, was sie brauchte, hätte hervorzaubern können. Als ich mich auf diese Rede vorbereitet habe, ist mir wieder ein Satz eingefallen, den Mary Poppins einmal gesagt hat: Wenn du denkst, du hast etwas oder jemanden verloren, den du liebst, dann halte dir vor Augen: Nichts geht je verlor’n und nichts ist je ganz fort, es geht nur etwas weiter, wechselt nur den Ort. Vivienne ist auch nicht ganz fort, sie hat nur den Ort gewechselt. Ihre Liebe, ihre strahlenden Augen, ihr breites Lachen und ihr großes Herz werden immer bei uns bleiben.«

Sie hatte es mit ihrer kleinen Rede geschafft, Vivis Charakterzüge, ihren Humor, ihre Großzügigkeit, ihre Lebenslust hochleben zu lassen. Über die Eigenschaften, die dazu beigetragen hatten, dass sie so tief gefallen war, ihre Sturheit, ihren Stolz, ihre Uneinsichtigkeit hatte sie kein Wort verloren. Als sie nun die Kanzel verließ, ging sie auf Roberto zu, der auf seine Schuhspitzen starrte. Vielleicht auch auf den Marmorboden. So genau konnte Marlene das nicht erkennen. Roberto war zwanzig Jahre älter als Vivienne. Das war irgendwie ein Tick in der Familie. Ihr Vater war vierundzwanzig Jahre älter als die Mutter gewesen, und alle vier Schwestern hatten sich für deutlich ältere Männer entschieden. Roberto sah in diesem Moment aber noch viel älter aus, als er war. Fast wie ein Greis. Was die junge, muntere Vivi an diesem durchschnittlichen Mann gefunden hatte, hatte sie nie verstanden.

Immerhin ist er nett. Wenn auch ziemlich langweilig, dachte sie, um sich gleich selbst zu ermahnen, dass dies nun wahrlich nicht gerade die nettesten Gedanken während einer Beerdigung waren. Dreiundzwanzig Jahre waren Vivi und Roberto zusammen gewesen. Wenn man das letzte Jahr nicht mitrechnete. Dieses verdammte letzte Jahr, dachte Marlene erneut, ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen.

Sie setzte sich neben ihren Schwager, nahm seine Hand und drückte sie liebevoll. Er hatte Vivi wirklich geliebt und litt schon lange. Erst an der Beziehung, dann daran, dass sie ihn verlassen hatte, und nun an ihrem viel zu frühen Tod.

Es wurde unruhig in der Kirche, denn ein Song erklang. Elvis Presley. Are you lonesome tonight? Vivi hatte Elvis vergöttert. Er war ihr Traummann gewesen, der sie durch alle Höhen und Tiefen ihres Lebens begleitet hatte. Ihre Schwester war eine Meisterin darin gewesen, jeden Kummer mit ein paar Elvis-Songs und jeder Menge Alkohol noch größer zu machen. Natürlich durfte Elvis bei der Beerdigung nicht fehlen. Caroline und sie selbst hätten darauf verzichten können, aber Jule hatte hartnäckig darauf bestanden. Sie wollte, dass jeder bei der Beerdigung weinte. Jeder! Und sei es nur wegen der Liedauswahl. Das Ziel hatte Jule auf jeden Fall erreicht. Es gab in diesem Augenblick niemanden in der kleinen Kapelle, der keine Tränen in den Augen hatte.

Nach dem Schlusssegen stand sie auf, nahm Robertos Hand und zog ihn von der Bank hoch. Möglichst unauffällig drehte sie sich um und suchte mit den Augen die Kirche ab, konnte den Arsch aber nicht entdecken. Na hoffentlich hat er sich rechtzeitig verdrückt, dachte sie grimmig.

Der Pfarrer lief im angemessenen Trauertempo zum Ausgang der Kirche. Ihm folgte Caroline. Sie hatte links und rechts jeweils einen Zwilling fest an der Hand. Dahinter trottete Bernhard, der Stiefvater von Tillmann und Sophie und zweite Mann von Caroline. Er wirkte angesichts dieser innigen Familienbeziehung ein wenig verloren, als ob er sich ausgeschlossen fühlte. Jule durchbrach diese Aura der Einsamkeit, indem sie ihn anstupste und ihm aufmunternd zuzwinkerte. Dabei schien auch sie eine große Verlassenheit in sich zu spüren.

Caroline, Jule, Vivienne und sie selbst waren schon immer sehr unterschiedlich gewesen, und so hatten sich von klein an Allianzen gebildet. Caroline und sie waren die Vernünftigen, Jule und Vivienne die Wilden gewesen. Sogar im Familienauto hatten sie jeweils neben ihren Verbündeten auf der Rückbank gesessen. Außen an den Türen des Mercedes Caroline und Jule und in der Mitte sie selbst und Vivienne. Aber sie immer neben Caroline und Vivi immer neben Jule. Viel später hatten die Vernünftigen Kinder bekommen und die Wilden nicht. Zufall oder Schicksal? Auf jeden Fall hatten sich dadurch die Teams verfestigt. Nun hatte Jule ihre Teampartnerin verloren, und das schien sie in diesem Moment besonders hart zu spüren. Zumindest war von ihrer gewohnten Energie gerade nichts vorhanden, ihr Gang und ihre Haltung strahlten Müdigkeit und Traurigkeit aus.

Caroline

Auf dem Platz vor der Kirche schien die Sonne und tauchte die kleine Kiesfläche in ein warmes Licht. Caroline blinzelte.

»Jetzt einen Prosecco und statt einer Beerdigung eine Hochzeit«, flüsterte Marlene ihr zu.

»Ich weiß nicht. Prosecco ja, aber wenn Hochzeit bedeutet, dass Vivi den Arsch heiratet, dann vielleicht doch lieber eine Beerdigung. Müsste ja nicht ihre sein, könnte auch seine sein.«

So unterschiedlich die Schwestern auch waren, über schwarzen Humor, der sich selbst in todtraurigen Zeiten blicken ließ, verfügten sie alle.

»Caroline, hast du gesehen, dass er da war?«, wisperte Marlene ihr zu.

Sie konnte es nicht glauben und machte große Augen. »Wer? Der Arsch? Nicht dein Ernst!«

Marlene nickte mit verschwörerischem Blick, tippte sich dann aber mit dem Zeigefinger an die Lippen. Es war das falsche Thema zum absolut falschen Zeitpunkt. Roberto stand nur ein paar Meter von ihnen entfernt, das sah sie jetzt auch, und außerdem kamen in diesem Moment die Sargträger mit Vivis Sarg aus der Kirche. So musste Caroline ihre Neugier bezähmen, was ihr, Beerdigung hin oder her, sichtlich schwerfiel.

Schweigend folgten sie den schwarz gekleideten Trägern und dem Pfarrer. Erst Roberto, dann sie drei. Jule hakte sie und Marlene unter. Schweigend gingen sie ein Stück, doch nach nur wenigen Metern konnte Jule die Tränen und die Schuldzuweisungen nicht zurückhalten.

»Vielleicht war es doch unsere Schuld. Wenn wir sie nicht so völlig alleingelassen hätten, wäre es vielleicht nicht passiert.«

Wie auf Kommando gingen sie beide auf Abstand. Caroline nervte das fruchtbar. Mit Gefühlsduselei konnte sie wenig anfangen. So wie sie auch mit der kleinen Schwester wenig hatte anfangen können. Ja, es war furchtbar traurig, dass sie so jung und auf so dumme Weise hatte sterben müssen. Aber wer weiß, wofür es gut war?, dachte sie insgeheim. Wer weiß, was ihr dadurch erspart bleibt?, überlegte sie an jedem einzelnen Tag, seitdem das Unglück passiert war. Und diesem Gedanken folgte immer noch ein weiterer: Wer weiß, was uns damit erspart bleibt. Dass das Schicksal jederzeit ungebremst und ungerecht zuschlagen konnte, hatte Caroline gerade erst am eigenen Leib erfahren müssen – noch bevor Vivienne durch ihren unnötig frühen Tod für zusätzlichen Kummer gesorgt hatte.

Überhaupt: Ihre Schwestern hatten in ihrem Leben hauptsächlich für Unbill und Unruhe gesorgt. Die ersten vier Jahre ihres Lebens war sie der alleinige Augenstern der Eltern gewesen, das Wunschkind. Doch dann war jedes Jahr ein »Verkehrsunfall« gekommen. So hatte der Vater immer gesagt, und es hatte verdammt lange gedauert, bis Caroline kapiert hatte, was er mit »Verkehrsunfall« eigentlich gemeint hatte. Das änderte nichts an der Tatsache, dass sie jedes Jahr eine nervige Schwester mehr zu betreuen gehabt hatte und nichts, absolut nichts mehr mit ihren Freunden allein hatte machen können. Die Eltern hatten mit dem kleinen Schuhgeschäft genug zu tun gehabt, sodass sie als Älteste immer der Babysitter gewesen war. Für sie waren die Schwestern wie ein schwerer, riesiger Klotz am Bein, der daran schuld gewesen war, dass sie sich niemals frei und unbeschwert fühlen konnte. Und auch später hatten besonders Jule und Vivienne ständig für Aufregung gesorgt. Die falschen Männer, die falschen Jobs, zu viel Alkohol, zu viel Ärger. Die Liste der Verfehlungen, die Caroline den beiden heimlich zum Vorwurf machte, war lang. Nicht mal jetzt, an Viviennes Beerdigungstag, war sie frei von Groll.

Wahrscheinlich sind die beiden sogar an meiner Krankheit schuld, dachte sie wütend, wäre ja auch kein Wunder bei all dem Ärger und Stress, den sie schon immer verursacht haben. Sie wusste, dass sie in diesem Moment verdammt ungerecht war, aber da sie weder weinen noch schreien konnte – damit hatte sie irgendwann zwischen der ersten und zweiten Ehe abgeschlossen –, blieb ihr nur der Zorn. Und da es einfacher ist, auf andere wütend zu sein als auf sich selbst, waren eben die Schwestern schuld. An allem. Egal was.

Caroline hätte die Kontakte zu Vivi und Jule ganz gern reduziert, die Schwestern jedoch waren anhänglich gewesen. Vor allem Vivi. Wann immer sie zu viel getrunken hatte – und das war häufiger vorgekommen –, hatte sie angerufen. Viel zu oft war sie selbst in den zweifelhaften Genuss gekommen. Bei dem Gedanken schauderte Caroline. Es waren furchtbare Gespräche gewesen, denn im angetrunkenen Zustand war Vivi von Vernunft noch weiter entfernt gewesen als sonst schon. Mit guten Argumenten hatte man der Kleinen ohnehin selten kommen können. Sie hatte immer saudumme Ausreden gefunden, warum sie das eine getan und das andere gelassen hatte. Und wenn dann noch Alkohol im Spiel gewesen war, dann war jede Diskussion zwecklos gewesen. Doch leider hatte Vivi das ganz anders gesehen und mit schwerer Zunge munter drauflosdiskutiert. Diese Telefonate hatten auch Jule und Marlene als Zumutung empfunden.

Der Trauerzug war an der offenen Grabstelle angekommen. Von Beileidsbekundungen am Grab bitten wir Abstand zu nehmen, hatten sie extra noch in die Anzeige geschrieben. Aber keiner hielt sich daran. Nachdem alle eine Rose in Vivis Grab geworfen hatten, drückte jeder jeden und betonte ausdrücklich, wie furchtbar leid es ihm täte. Bei Jule liefen schon wieder die Tränen. Ihre Wimperntusche hatte sich aufgelöst und dunkle Spuren hinterlassen. Nachdem alle Hände geschüttelt und ein paar leise Worte gewechselt waren, standen die Trauernden noch ein kleines Weilchen unschlüssig herum und verabschiedeten sich dann nach und nach grüppchenweise. Selbst die Männer und ihre und Marlenes Kinder hatten sich bereits auf den Weg gemacht. Die Schwestern hatten alle gebeten, schon einmal in das kleine Café am Waldrand, wo das Traueressen stattfinden sollte, vorzufahren. Sie wollten in Ruhe in Marlenes Auto nachkommen. Und so blieben am Ende nur noch Jule, Marlene und sie selbst am Grab übrig.

»Wer hätte gedacht, dass unsere Kleine sich als Erste verabschiedet …«, murmelte Marlene.

Und Caroline sprach endlich aus, was sie die ganze Zeit dachte. »Wer weiß, wofür es gut ist. Wer weiß, was sie sich und uns damit erspart hat.«

»Du spinnst doch total!«, platzte es aus Jule heraus. »Wie kannst du so was sagen? Du bist so ein kaltherziges Biest. Selbst deine Krankheit hat dich nicht geändert. Im Gegenteil. Dir geht es immer nur um dich. Wir sind dir letztendlich völlig egal. Was hast du im letzten Jahr für Vivi getan? Nichts. Wirklich gar nichts. Warst immer nur mit dir beschäftigt – übrigens auch schon, bevor du krank wurdest. Und ich möchte wetten, wenn wir das Jahr zurückdrehen könnten, würdest du nichts tun, damit sich irgendwas ändert.«

»Jetzt halt mal die Luft an«, fauchte sie zurück. »Was hast du denn für Vivi getan? Bist mit ihr saufen gegangen. Ja, super. Das hat ihr bestimmt geholfen.«

»Wenigstens hab ich Zeit mit ihr verbracht und ihr zugehört und sie getröstet, wenn der Arsch wieder mega arschig war. Und glaub mir, ich würde mir ein Bein ausreißen und alles, was ich besitze, hergeben, wenn ich Vivi dadurch wieder lebendig machen könnte. Du würdest nicht mal dein bescheuertes Hermès-Tuch hergeben.«

»Das ist mir einfach zu blöd, mit dir hier zu diskutieren, wenn, wenn, wenn. Wenn eine Katze ein Pferd wäre, könnte man den Baum hochreiten. Wir können es nicht mehr ändern. Vivi ist tot. Und basta.«

Die letzten Sätze hatte sie fast ausgespuckt. Sie konnte also doch emotional werden, auch wenn sie das, wenn möglich, vermied. Nach diesem Ausbruch blitzte sie Jule noch einmal giftig an und schluckte dann alles Weitere, was sie an dieser Stelle gern noch losgeworden wäre, herunter. Es trat ein betretenes Schweigen ein. Sie standen alle drei mit gesenkten Köpfen vor der offenen Grabstelle. Ein kleiner Vogel hüpfte auf dem Kies hin und her, pickte hier und da etwas auf und flog dann davon. Es herrschte buchstäblich Totenstille.

Jemand räusperte sich, und sie sahen einen alten Mann mit grau meliertem Haar, der zwei Gräber weiter stand. Er schaute zu ihnen herüber. Sie hatten ihn bislang gar nicht bemerkt, ignorierten ihn auch gleich wieder. Er räusperte sich noch einmal. Etwas lauter diesmal, und sie sahen erneut hin. Der Mann hatte ein zerfurchtes Gesicht. Mit Augen wie Murmeln – graubraunen Murmeln. Darüber weiße buschige Brauen. An irgendwen erinnerten diese Augen Caroline, aber sie wusste in diesem Augenblich nicht, an wen. Marlene und Jule anscheinend auch nicht.

»Meine Damen«, setzte der Mann sehr freundlich an, »es ließ sich leider nicht vermeiden, Ihre letzten Worte mit anzuhören. Es ist tragisch, wenn ein Mensch so jung und unter besonderen Umständen gehen muss. Manchmal gibt es allerdings eine zweite Chance. Ich habe die Macht, einmal im Jahr eine solche zweite Chance zu vergeben. Sie sollen sie bekommen. Sie wünschen sich die Wiederholung des letzten Jahres? Ihr Wunsch wird erfüllt. Aber bedenken Sie: Auch ein Wiederholungsjahr geht schnell vorbei.«

Damit drehte er sich um und humpelte langsam, sich auf einen Gehstock stützend, davon. Sie blieben alle drei ungläubig zurück. Schließlich sahen sie sich an. Wortlos.

Als Erste fand Caroline ihre Fassung wieder. »Was war das denn? Der gehört ja wohl in die Klapsmühle.« Jule und Marlene starrten dem Alten perplex hinterher, bis sie sich besannen, wo sie gerade waren. »Kommt, Mädels, lasst uns gehen, die anderen warten bestimmt schon auf uns.«

Auf dem Weg zum Auto hingen sie ihren Gedanken nach.

Hoffentlich läuft im Laden alles gut, dachte Caroline. Sie hatte sich vor einiger Zeit einen Traum erfüllt. Ein Einrichtungsgeschäft, in das ein kleines Bistro integriert war. Sie war mächtig stolz darauf, denn es war der gemütlichste Platz in der ganzen Stadt. Alles war überaus stilvoll, aber nicht zu elegant. So wie sie, Caroline, es gern hatte. Nach außen hin, und auch in ihrem Inneren. Polierte Flächen und nicht allzu viel Emotionales. Mit dieser Kombination schützte sie sich vor Verletzungen. Und damit stand sie im krassen Gegensatz zu Vivienne, die immer ihr Herz ohne Gedanken an die Konsequenzen über den Zaun geschmissen hatte und hinterhergeklettert war.

Jule drehte sich im Kreis mit ihren Überlegungen. »Vielleicht hätten wir doch etwas ändern können, wenn wir uns mehr um sie gekümmert hätten«, sagte sie einmal mehr.

Ihre hochgewachsene, schlanke Schwester mit dem auffällig blond gefärbten Kurzhaarschnitt war die Ambivalenteste von ihnen. Auf der einen Seite ein Seelchen, das immer für andere da war. Auf der anderen Seite ein Teufelchen, das sich diebisch freute, wenn es die Gesellschaft schockieren konnte. Marlene nannte sie »ein gesellschaftliches Risiko«, denn man musste bei ihr stets damit rechnen, dass sie die peinlichsten Familiengeschichten für ein paar billige Lacher ausposaunte.

Marlene hingegen war gedanklich schon wieder pragmatisch unterwegs und überlegte, wie sie ihre To-do-Liste des Tages doch noch irgendwie abgearbeitet bekäme.

Kaum saßen sie im Auto, klingelte Marlenes Handy. An Tagen wie diesen von den Toten Hosen ertönte der Klingelton. Marlene saß am Steuer, ihre Handtasche lag auf der Rückbank neben Jule.

»Geh mal schnell ran, Jule, das ist bestimmt Daniel, der wissen will, wo wir bleiben.«

»Wo ist dein Handy denn? Ich kann es nicht finden.«

»… durch das Gedränge der Menschenmenge, bahnen wir uns den altbekannten Weg …«

»In der Handtasche, das hörst du doch«, antwortete Marlene nun schon leicht genervt.

Caroline drehte sich zu Jule um. Die durchwühlte die Tasche ihrer Schwester, die riesig war.

»… an Tagen wie diesen …«

»Warum musst du auch ständig dein ganzes Leben mit dir rumschleppen, verdammt? Da findet man doch nie was drin.«

»Dann schütte sie halt aus«, fuhr Marlene dazwischen.

»Hier ist es.«

Jule hielt das Handy triumphierend in die Höhe, da war plötzlich Ruhe. An Tagen wie diesen hatte mit einem kurzen Vibrieren gestoppt.

»Guck doch mal, ob es wirklich Daniel war, dann rufen wir ihn kurz zurück«, gab Marlene Anweisungen.

Jule machte Marlenes Handy an und guckte verdutzt.

»Du musst Vivis Handynummer löschen. Das war sie.«

»Wie, das war Vivi?«, mischte sich Caroline vom Beifahrersitz ein. »Das ist doch Quatsch. Das kann sie doch gar nicht gewesen sein. Vielleicht hat Roberto ihr Handy.«

»Nein, hat er nicht«, widersprach Jule, »ich hab das Handy persönlich beim Ausmisten ihrer Wohnung zum Sondermüll gebracht. War echt nicht mehr das neuste Modell.«

»Vielleicht hat es dort irgendjemand gefunden und benutzt es jetzt?«, fragte Marlene zweifelnd.

»Papperlapapp, ich hab doch die SIM-Karte vorher entfernt, unter ihrer Nummer kann überhaupt niemand mehr anrufen.« Jules Stimme wurde lauter und leicht schrill.

In diesem Moment klingelte Carolines Handy. Hektisch kramte sie in ihrer Tasche, die zwischen ihren Beinen im Fußraum stand, und zerrte sie schließlich ungeduldig auf ihren Schoß. Sie war kein bisschen kleiner als Marlenes Handtasche. Es klingelte unbeirrt weiter, ein nerviger, hoher Piepston. Als Caroline endlich ihr Handy in den Händen hielt, hörte auch dieser auf.

»Wer war es?«, fragte Jule verunsichert.

»Vivi«, murmelte Caroline halblaut.

»Wir lassen uns doch jetzt hier nicht verrückt machen, das kann nicht Vivi sein, verdammt noch mal«, rief Marlene.

Die Strecke zum Café am Waldrand war nicht lang, aber in diesem Moment schien sie Caroline ewig.

»Denk mal dran, was der Alte gerade auf dem Friedhof zu uns gesagt hat«, kam es von der Rückbank.

»Mann, Jule, schalt mal dein Gehirn ein, so was geht doch gar nicht«, fauchte Caroline nach hinten.

»Los, ruf zurück«, sagte jetzt Marlene gefährlich leise. »Ruf die Nummer zurück.«

Caroline sah Marlene an. Marlene sah im Rückspiegel zu Jule. Ein Netz von angespannten, ungläubigen, neugierigen Blicken.

»Los, ruf jetzt zurück«, wiederholte Marlene.

Da drückte Jule auf die Taste mit dem grünen Telefonemblem und kam damit auf die Liste der Menschen, die zuletzt angerufen hatten. Ganz oben stand »Vivienne«. Sie tippte den Namen an, dann noch einmal die Taste mit dem grünen Symbol und zuletzt die Lautsprechertaste. Die Verbindung wurde aufgebaut. Es dauerte. Und dauerte. Unendliche Sekunden hörten sie das Wartesignal. Und plötzlich ging jemand dran.

»Verdammter Mist, wo bleibt ihr denn? Ich warte jetzt schon seit einer Stunde in diesem blöden Café am Waldrand auf euch. Ich hab doch gesagt, dass ich euch was Wichtiges sagen muss.«

Es war Vivienne.

1. September

Das Jahr der zweiten Chance

Marlene

Als Caroline, Jule und Marlene am Waldrand ankamen, war der Parkplatz erstaunlich leer. Schweigend, aber mit höchster Aufmerksamkeit, als würde es um ihr Leben gehen, gingen sie auf das Café zu.

»Wenn sie jetzt wirklich da drinsitzt, lasse ich mich in die Geschlossene einw…«, murmelte Caroline.

»Sei vorsichtig, was du sagst«, unterbrach Marlene sie, »ich sehe Vivi. An dem Tisch, an dem sie uns vor einem Jahr von dem Arsch erzählt hat.«

In diesem Moment entdeckte Vivi sie und machte mit wildem Winken auf sich aufmerksam. Die Kellnerin brachte ihr gerade ein Glas Aperol Spritz. Und nahm ein leeres mit.

»Ich glaub, ich brauch jetzt auch Alkohol«, murmelte Caroline. »Allerdings etwas Stärkeres.«

»Ich auch!« Marlene trank tagsüber eigentlich nie Alkoholisches. Aber nur, weil sie es sich nicht leisten konnte, während des Tages einen Schwips zu haben. Dafür hatte sie einfach immer viel zu viel zu tun. »Ich hätte gern einen Ramazotti.«

»Auweia, ich erinnere mich mit Grausen an unser letztes Ramazotti-Besäufnis. Das war an Vivis Hochzeit«, gab Jule zu bedenken.

Marlene schlug alle Warnungen in den Wind. »Ja genau«, wisperte sie, »das passt doch jetzt. Vielleicht wache ich ja morgen mit einem Filmriss auf und weiß nicht mehr, was hier gerade passiert, und es ist alles so, wie ich noch vor einer Stunde glaubte, dass es sei.«

Vivienne

»Wow, ihr kommt alle drei zusammen. Das ist ja erstaunlich«, begrüßte Vivi ihre Schwestern gut gelaunt. Die Verärgerung über das Zuspätkommen war verflogen. Umso größer war ihre Verwunderung, dass sie von allen dreien gleichzeitig fest gedrückt wurde. Hatte sie sich getäuscht, oder rollten bei Jule sogar Tränchen die Wangen herunter? »Wow, was ist denn mit euch los, so lange ist es ja nun auch wieder nicht her, dass wir uns gesehen haben«, murmelte sie verlegen zwischen all den Armen und Köpfen und Haaren. Eine drückte sie so fest, dass es fast wehtat, und hatte tatsächlich Marlene eben gemurmelt, wie lieb sie sie habe und wie froh sie sei, sie, Vivi, zu sehen? Caroline war die Erste, die sich löste, ihren Ramazotti, den sie im Vorbeigehen bei der Kellnerin bestellt und den diese gerade brachte, in einem Zug runterkippte, sich danach die Haare richtete und auf einem Stuhl Platz nahm. Marlene tat es ihr gleich. Nur Jule drückte sie noch ein bisschen länger, bevor sie sich verstohlen die Tränen vom Gesicht wischte und sich ebenfalls setzte. Vivienne war bewegt, aber auch irritiert. Was war nur mit den Mädels los? War irgendwas passiert, wovon sie nichts wusste? Das konnte eigentlich nicht sein, denn bei ihnen vieren blieb kein Geheimnis lange geheim. Spätestens, wenn Jule Wind von einer Sache bekam, wussten es alle – auch außerhalb der Familie. Das sorgte immer wieder für Ärger und Zwist zwischen ihnen, weil vor allem Caroline und Marlene ständig befürchteten, dass Jule bei irgendeinem Fest mal wieder ein Familiengeheimnis ausplaudern könnte. Falls irgendetwas vorgefallen war, wollte sie es aber nicht wissen. Nicht in diesem Moment. Das war ihr Moment. Sie wollte jetzt endlich die Bombe platzen lassen. »Wollt ihr nicht wissen, was passiert ist?«, fragte sie strahlend in die Runde.

Die drei Älteren blickten sich mit vielsagenden Blicken über den Tisch an, doch keine sagte etwas. Sie rutschte aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her, man merkte ihr bestimmt an, dass sie gleich platzte, sollte sie ihr Geheimnis nicht sofort teilen können.

»Also, was ist los?«, murmelte dann doch Marlene, ohne ihr dabei in die Augen zu schauen.

Das war das Stichwort, auf das Vivienne gewartet hatte. Mit blitzenden Augen und einem schelmischen Lächeln sagte sie … erst mal gar nichts. Gekonnt legte sie eine Pause ein, holte tief Luft und platzte dann doch heraus: »Ich hab mich verliebt.«

In diesem Moment klingelte ihr Handy, und sie wusste, was ihre Schwestern jetzt dachten – das Strahlen in ihren Augen hatte ihnen mit Sicherheit sofort verraten, dass kein anderer als Steve anrief.

Caroline, Jule, Marlene

Sie nutzten den Moment, um sich zu dritt auf die Toilette zu verabschieden. Wie in Kindertagen quetschten sich Jule und Marlene zusammen in eine Kabine. Sie waren es von klein auf gewohnt, zusammen pinkeln zu gehen, fanden das sehr gemütlich, weil sie auf der Toilette die besten Gespräche hatten. Nur Caroline zog es mittlerweile vor, allein aufs Klo zu gehen, und so stand sie vor der geschlossenen Tür der Kabine, um mit den Schwestern zu reden.

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Jule zum wiederholten Mal mit überschnappender Stimme. Sie saß auf dem Toilettendeckel, während Marlene an der geschlossenen Tür lehnte.

»Sie darf es auf keinen Fall erfahren«, insistierte Marlene. »Hörst du, Jule, du darfst es ihr auf keinen Fall verraten. Wenn sie erfährt, dass sie aus dem Fenster gefallen ist wegen dem Arsch, dann weiß ich nicht, ob alles nicht noch schlimmer wird.«

»Was sollte denn noch schlimmer werden können?«, fragte Caroline kühl dazwischen. »Es ist ja wohl schon so schlimm wie es nur irgend sein kann. Aber vielleicht wäre es ganz gut, wenn sie es wüsste. Dann könnte sie selbst auf sich aufpassen«, sinnierte sie weiter.

»Das ist ja wieder mal typisch für dich«, meldete sich jetzt Jule, »Hauptsache, du musst dich nicht darum kümmern und kannst weiter dein Ding machen.«

»Ich hab mich genug um euch gekümmert«, entgegnete Caroline sofort giftig.

»Könnt ihr euch nachher weiterstreiten und euch jetzt mal ganz kurz mit mir einigen, wie wir mit dieser Situation umgehen?«, grätschte nun Marlene dazwischen, »gleich steht nämlich Vivi auch noch hier, um zu fragen, wo wir stecken.«

Vivienne

Eine gute Stunde später trennte sich Vivienne vor dem Café am Waldrand von ihren Schwestern. Sie selbst war total beschwingt und steuerte zielstrebig ihre Lieblingskneipe an. Das Lokal hatte schon bessere Zeiten gesehen. Die dunkle Holzverkleidung war an vielen Stellen abgenutzt. Etliche Flecken auf den Tischen und auf dem Boden zeugten von verschüttetem Bier oder Schlimmerem. Glücklicherweise war das Licht so funzelig, dass die vielen angeranzten Stellen nicht weiter auffielen. Sie hatte ohnehin kein Auge für die Inneneinrichtung, sondern ausschließlich für Steve, der wohl schon länger dort aufgeschlagen war. Das frisch gezapfte Bier, das vor ihm auf dem Tresen stand, war vermutlich nicht sein erstes. Sie tranken beide viel und regelmäßig. Ausreichend beschwipst sah das Leben gleich viel rosiger aus. Da machte die Nochfrau von Steve keinen Ärger, sein Chef und die Bank, bei der er hohe Schulden hatte, ebenfalls nicht. Und auch sie, Vivi, konnte nach ein paar Gläsern ihren Kummer mit Roberto und das Mobbing der Kollegen verlässlich für einige Stunden vergessen. Wenn ihr Steve dann noch sagte, wie sehr er sie begehrte, war die Welt ganz wundervoll.

»Und wie haben deine Schwestern reagiert?«, wollte er wissen, nachdem er sie an sich gezogen und ausgiebig geküsst hatte.