Der blaue See ist heute grün - Jutta Treiber - E-Book

Der blaue See ist heute grün E-Book

Jutta Treiber

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Beschreibung

Zu ihrem Lieblingsplatz, dem See, zu gehen, ist für Gisela Gelegenheit, sich über ihre Gefühle und Gedanken klar zu werden, mit sich selbst ins Reine zu kommen, die eigenen Stimmungen zu reflektieren. Die kluge und gescheite, aber wenig lebens- oder gar liebeserfahrene Gisela wird schwanger. So wie der See je nach Wetterlage seine Farbe ändert, setzt damit auch in Giselas Leben eine Vielfalt an Stimmungsschwankungen ein: Soll sie das Kind behalten? Ängste und Zweifel bestimmen Giselas Tage, aber auch eine stille Freude: "Mein Kind, dachte sie. Mein Kind!" Gisela entscheidet sich für das Kind, schließt die Schule mit der Matura ab und beginnt, sich Schritt für Schritt aus dem Zugriff ihrer dominanten Mutter zu lösen, die Giselas Baby immer mehr als ihr Eigentum betrachtet. Gisela findet für sich und ihr Kind einen Platz im Leben und weist auch Georgs Wunsch, Verantwortung für das gemeinsame Kind zu nehmen, nicht länger zurück.

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Jutta Treiber,

geboren in Oberpullendorf im Burgenland, studierte Germanistik und Anglistik und arbeitete als Lehrerin. Seit 1988 freie Schriftstellerin. Sie erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter den Kinderbuchpreis der Stadt Wien und den Leserstimmenpreis der Bibliotheken.

Unter www.juttatreiber.com ist die Autorin im Internet zu finden.

Der blaue See ist heute grün wurde 1996 mit dem Österreichischen Jugendbuchpreis ausgezeichnet.

Jutta Treiber

Der blaue See ist heute grün

Der blaue See ist heute grün

von Jutta Treiber

Von Jutta Treiber unter anderem im G&G Verlag als E-Book erschienen „Vergewaltigt”, ISBN 978-3-7074-1733-3

1. digitale Auflage, 2015

www.ggverlag.at

ISBN E-Book 978-3-7074-1734-0 ISBN Print 978-3-8000-5125-0

© 2015 G&G Verlagsgesellschaft mbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Grün

Schwarz

Weiß

Grau

Blau

Grün

 

Zwischen Schilf ein grauer Himmel. Die Föhren, die das andere Ufer säumten, spiegelten sich im Wasser. Wenn die Sonne schien, lag das Bild eines blauen Seidenhimmels darin. Aber dieser graue Himmel konnte nichts ausrichten.

Der blaue See war heute grün.

Sie war hierher gekommen, denn sie hatte es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Hatte das Gefühl gehabt, dass ihre Haut platzen würde. Weg, nur weg. Gehen. Laufen. Irgendeine Art von Fortbewegung.

Sie war mit dem Rad gefahren, schnell. Die wenigen Kilometer aus dem Dorf, das sich Stadt nannte, auf der Landstraße, und dann den Forstweg entlang zum blauen See. Hatte gekeucht, als sie abgestiegen war. War den lehmigen Weg durchs Dickicht gegangen, hatte sich an den Rand des Wassers gesetzt. Beruhigte sich allmählich, keuchte nicht mehr so schwer.

Auf dem Wasserspiegel tanzten Schattenbilder.

Als sich im Teströhrchen ein kleiner roter Ring abgezeichnet hatte, war in ihrem Inneren eine Tür zugefallen und ein schwerer Riegel hatte sich vorgeschoben. Lebenslänglich! Plötzlich hatte sie Mauern um sich wachsen gefühlt, die sie von allem trennten, was ihr Leben bisher ausgemacht hatte. Nie wieder würde irgendetwas so sein wie bisher.

Im ersten Moment hatte sie sich einer trügerischen Hoffnung hingegeben. Ein Test war nicht hundertprozentig sicher. Sie machte die Augen zu, löschte alle Bilder im Kopf. Schaute wieder auf das Teströhrchen. Der rote Ring war da. Sie war nicht enttäuscht, weil sie die Täuschung schon vorher als solche erkannt hatte.

Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt.

Sie saß wie versteinert auf dem Boden. War lange Zeit unfähig sich zu rühren. Kauerte sich zusammen, schlang die Arme um die Beine, wiegte sich hin und her. Ihre Wangen brannten, sie drückte ihr Gesicht gegen die Knie.

Und plötzlich war diese Unruhe in ihr aufgestiegen, und Gisela hatte das Gefühl gehabt, ihre Haut müsse platzen. Und war dem Gefühl davongelaufen. Davongefahren.

Ein Frosch zappelte im See, das Wasser kreiselte. Wind strich durch das Schilf. Wenn der See blau gewesen wäre, hätte er vielleicht mehr Trost geben können. Aber der graue Himmel hatte wenig Kraft.

Sie war schon oft hierher gekommen, an den blauen See, der versteckt im Wald lag. »Mein blauer See«, hatte sie immer gedacht und sich gewundert, als sie einmal auch andere Leute dort gesehen hatte. Jetzt war Gisela allein.

Sie nahm einen flachen Stein, warf ihn übers Wasser. Wenn er zweimal aufspringt, geht alles gut, dachte sie und wusste selbst nicht, was gut gehen sollte. Der Stein hüpfte einmal auf und versank.

Die Baumwipfel bewegten sich stärker im Wind. Die Wolken waren dunkler geworden. Regentropfen tauchten ins Wasser. Wenn Gisela nicht klatschnass werden wollte, musste sie nun gehen. Konnte sie der Mutter gegenübertreten ohne sich zu verraten? Die Mutter bemerkte jede Veränderung, jede Stimmungsschwankung. Du hast irgendwas, sagte sie. Und ließ nicht locker, bis Gisela ihr gesagt hatte, was sie bedrückte. Früher hatte sie das als angenehm empfunden, erleichternd, doch mehr und mehr empfand sie es als Kontrolle. Gewissenspolizei. Sie war siebzehn und hatte ein Recht auf ein eigenes Leben. Doch wie weit würde es jemals noch ihr eigenes Leben sein?

Sie schaute auf die Uhr, wunderte sich, wie kurz die Zeit gewesen war, die sie am blauen See zugebracht hatte. Ging durchs Dickicht zurück zum Forstweg, wo sie ihr Rad abgestellt hatte.

Ein grüngrauer Jeep fuhr vorbei, und Giselas Stimmung sank wieder. Wegen eines vorbeifahrenden Jeeps, das war lächerlich. Dennoch, es schien ihr, als hätte der Jeep den kleinen Trost, den der See hatte geben können, wieder fortgenommen.

Sie bog in die Landstraße ein. Autolärm und Abgasgeruch schlugen ihr entgegen. Ich werde der Mama nichts sagen, dachte Gisela, während das Rad die Straße entlangrollte. Heute nicht. Ich werde niemandem etwas sagen, Georg am allerwenigsten. Die Sache geht ihn nichts mehr an, das ist meine Angelegenheit. Ich hasse ihn!, dachte sie und erschrak bei dem Gedanken.

Ich werde nichts sagen. Bis ich mir selbst im Klaren bin.

Wenn man Gedanken abstellen könnte! Abschalten wie einen Fön; damit sie aufhören würden zu surren und einem den Kopf heiß zu machen. Ich will nichts mehr denken. Ich will nichts mehr denken. Ich will nicht … Sie trat fester in die Pedale.

Die Mutter blickte sie forschend an. »Wo warst du?«

»Radfahren!«

»Bei dem Wetter?«

»Was für ein Wetter?«

»Ist irgendwas?«, fragte die Mutter.

»Was soll sein?«

»Ich weiß nicht«, sagte die Mutter, »du klingst so merkwürdig.«

Mutters Röntgenblick in die Seele. Ich klinge immer merkwürdig, wenn ich nicht wie vorprogrammiert reagiere. Und dann bin ich im ersten Moment stolz auf mich, und im nächsten Moment habe ich Schuldgefühle.

Entweder Ja (+) oder Nein (–).

So sicher wie im Labor.

Der Test liefert ein klares und unmissverständliches Ergebnis. Er reagiert schon auf geringe Konzentrationen des Schwangerschaftshormons HCG.

Zwei rote Linien nach fünf Minuten.

Das Ergebnis war positiv. Wobei positiv negativ war.

Etwas wuchs in ihr. Etwas, das sie nicht gewollt hatte. Etwas, das ein Mensch werden konnte, wenn sie es zuließ.

Gisela packte die Schultasche für den nächsten Tag. Das Leben ging weiter. Alle banalen Sätze kamen ihr in den Sinn, die sie immer gehasst hatte. All diese Erwachsenen mit all diesen Banalitäten. Das Leben geht weiter, mein Gott, wo sollte es sonst hingehen?

Mathematikbuch – das Leben geht weiter.

Geografiemappe – das Leben geht weiter.

Englischvokabeln – das Leben geht weiter.

Literaturliste – das Leben geht weiter.

Ein merkwürdiges Gefühl, dass das Leben tatsächlich weiterging.

Sie zog die Decke bis zum Hals. Die Mutter klopfte, kam ins Zimmer, setzte sich an den Bettrand. »Gisela«, sagte sie, »ich hab das Gefühl, dass dich etwas bedrückt. Dass du mir etwas verheimlichst. Möchtest du mir nichts sagen?«

Gisela schüttelte den Kopf. Nichts. Mama, es ist nichts, es ist schon was, aber ich kann noch nicht, lass mir Zeit, lass mich die Situation begreifen, lass mich … »Nein«, sagte sie, »es ist alles okay.«

Sie legte die Hände auf ihren Bauch. Der fühlte sich an wie sonst. Und dennoch: Die Tatsache, dass darin ein winziges Anderes war, machte sie ihrem eigenen Körper fremd.

Wenn man die Zeit zurückdrehen könnte! Wenn man an einen bestimmten Punkt seines Lebens zurückreisen könnte, wenn man Ereignisse ungeschehen machen könnte …

Ich kann es ungeschehen machen, dachte Gisela und wusste im selben Augenblick, dass es nicht wahr war. Ich kann die Folgen ungeschehen machen, nicht das Ereignis. Alle Ereignisse hinterließen Spuren, und es würde niemals mehr so sein, als wäre nichts geschehen. Dieses Ereignis würde die Zeitrechnung in ihrem Leben für immer teilen. In eine Zeit davor und eine Zeit danach.

Sie dachte an die Zeit davor. An die Pausengespräche mit ihren Freundinnen. Mit den anderen Mädchen in der Klasse. Die meisten nahmen die Pille. Sie sprachen sehr offen über ihre Erfahrungen. Gabi verbrachte die Wochenenden fast immer in der Wohnung ihres Freundes. Die anderen, deren Eltern nicht so tolerant waren wie Gabis, berichteten von Erlebnissen in abgelegenen Waldstücken, »sturmfreien Buden« und auf zurückgeklappten Autositzen. Bei solchen Gesprächen konnte Gisela nicht mitreden. Ihr war eher ein Rätsel, wieso die anderen es konnten. Manchmal dachte sie, die anderen würden die Geschichten nur erfinden. Um dazuzugehören. Manchmal fühlte sie sich wie in einem Druckkessel. Spürte rundum die mehrfach unausgesprochene Frage: Und wann ist es bei dir endlich so weit? Wann wird unser Superhirn mitreden können? Sie konnte sich denken, was die anderen über sie sagten: Gisi, das vergeistigte Wesen, hat für so was keinen Sinn. Muss lernen. Muss Wissen in sich reinstopfen. Hat keine Lust zum Schminken. Liest Sartre, nicht die Vogue.

Dabei mochte sie die anderen. Besonders Evamaria. Aber auch Gabi und Liane. Und die anderen mochten sie. Gisela war anerkannt, als »Superhirn« der Klasse; jederzeit bereit etwas zu erklären, bei Schularbeiten abschreiben zu lassen oder Schwindelzettel zu verteilen; sie gehörte dazu, war Teil der Klassengemeinschaft. Nur sexuelle Erfahrungen hatte sie noch keine, und das wurde, je länger dieser Zustand andauerte, ein immer größeres Manko.

Gisela nahm die Pille nicht. Es hatte wenig Sinn, sich mit Hormonen voll zu stopfen, wenn man keinen Freund hatte. Klüger, viel klüger wäre es gewesen, die Pille zu nehmen und dann ein selbstsicheres Lächeln aufzusetzen und zu signalisieren: Ich bin bereit! Aber das war nicht Giselas Stil.

Sie fand sich selbst ziemlich hässlich: die Oberschenkel zu dick, die Beine zu kurz, die Brust zu groß, die kurzen Haare kraus und widerspenstig. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemals einem Mann gefallen würde. Ihre Mutter war wesentlich attraktiver. Sie war immer noch eine sehr hübsche, gepflegte Frau. Wusste sich gut anzuziehen, hielt Diät, schminkte sich dezent, ging regelmäßig ins Fitnessstudio. Wenn Gisela mit der Mutter einkaufen oder spazieren ging, zog die Mutter die Blicke der Männer auf sich, nicht Gisela. Manchmal fühlte sie sich neben ihrer Mutter uralt.

Auch im Vergleich mit den Schulfreundinnen kam sich Gisela plump vor. Gabi hatte lange Beine und glatte weiche Haare mit einem einfachen, aber exakten Schnitt vom teuersten Friseur der Stadt. An Gabi konnte man nicht vorbeigehen ohne sie zu beachten. Evamaria hatte lange dunkle Haare. Und ihre Augen strahlten eine besondere Kraft aus, so empfand es Gisela jedenfalls. Und Liane mit der blonden Strubbelfrisur hatte diese unkomplizierte Direktheit, die viele lustig fanden. Wenn man von Giselas Vorzügen sprach, hieß es immer, sie sei intelligent, eine ausgezeichnete Schülerin, sie werde Karriere machen. Dann fühlte Gisela, dass man sie bewunderte, aber nicht liebte.

Wenn sie mit den anderen Mädchen in der Disco war, wurde sie nie angesprochen. Ihre Freundinnen immer. Manchmal wunderte sich Gisela über die Leichtigkeit, mit der die anderen Kontakt schließen konnten. Wunderte sich ebenso über die Belanglosigkeiten, die sie austauschten, und wie lange man Selbstverständlichkeiten hin- und herwiegen konnte, bis es schien, als hätten sie Gewicht. Ihr dagegen fiel es schwer, Gesprächsstoff zu finden. Alles schien ihr unwichtig, nicht erzählenswert. Manchmal, wenn eine ihrer Freundinnen über irgendeine Begebenheit in der Schule sprach und dabei die Lacher auf ihrer Seite hatte, dachte Gisela: Das hab ich doch auch erlebt! Das hätte ich auch erzählen können. Das interessiert die anderen offenbar. Aber sie selbst hätte es nicht für erwähnenswert erachtet.

Der Discjockey legte schon die längste Zeit Hip-Hop auf. Gisela mochte diese Musik nicht sehr, außerdem war es ihr in der Disco wie immer viel zu laut.

Gabi saß mit ihrem Freund an der Bar, Liane hatte sich irgendjemanden angelacht, Evamaria tanzte mit Felix. Felix wohnte in derselben Siedlung wie Evamaria, einen Stock über ihr. Er verdiente sein Geld mit Gelegenheitsarbeiten, fühlte sich aber zum Künstler berufen, malte, schnitzte, machte Collagen aus Altmetall, aus Zahnrädern, Schlössern, Türklinken. Ab und zu gelang es ihm, ein Bild oder ein Objekt zu verkaufen, und so schlug er sich durch. Er war ein guter Freund, der Evamaria in ihrer eigenen künstlerischen Arbeit bestärkte, und er war der liebenswürdig-verrückte Nachbar vom ersten Stock.

Die Lichtorgel zerhackte die Zeit, ließ in Intervallen Lianes weißes T-Shirt violett aufleuchten. Jemand steuerte auf Giselas Tisch zu. Er war nicht sehr groß, ein wenig bullig, hatte eine blonde Stoppelfrisur.

»So allein?«, fragte er.

»Nein«, sagte Gisela, »da sind doch genug andere Leute.« Er war verwirrt. Seine Unsicherheit gab ihr ein Gefühl der Überlegenheit. »Hältst du das für einen guten Gesprächseinstieg?«, fragte sie.

Er schaute sie verwundert an. Sie lud ihn mit einer Handbewegung zum Sitzen ein.

Plötzlich war da jemand, der sie interessant fand. Den es erstaunte, dass sie anders war als die anderen. Manchmal hatte sie das Gefühl, er verstehe ihre Bemerkungen nicht gleich, er reagiere langsam und ein wenig schwerfällig. Aber das spielte keine Rolle. Plötzlich war da einer, der sie treffen wollte. So oft wie möglich.

Er rief sie an. Die Mutter hob ab.

»Ein gewisser Georg ist am Telefon«, sagte sie. Und als das Gespräch beendet war: »Wer ist Georg?«

»Einer von der Disco.«

Die Mutter schaute sie mit ihrem Röntgenblick an.

»Er ist nett«, sagte Gisela.

»Was ist er von Beruf?«

»Fliesenleger.«

Täuschte sie sich oder verzog die Mutter wirklich ein wenig das Gesicht?

Irgendwann später hörte Gisela zufällig, wie die Mutter einer Bekannten von Georg erzählte. Nur Wortfetzen hatte sie aufgeschnappt. »Vorläufig«, hatte sie die Mutter sagen hören, »bis wir etwas Besseres gefunden haben.« In dem Moment hatte Gisela sich geschworen, der Mutter nicht mehr alles anzuvertrauen.

Er sagte ihr, sie habe schöne Augen. Sie war verwundert, dass irgendjemand etwas an ihr schön fand. Manchmal verstand er sie nicht, dann lachte sie. Er ging mit ihr aus. Er tanzte mit ihr. Er bewunderte sie, weil er fand, sie sei so »gescheit«. Sie lachte darüber, tat es mit einer Handbewegung ab und freute sich trotzdem. Manchmal ging ihnen der Gesprächsstoff aus. Dann saßen sie einander gegenüber, Verlegenheit machte sich breit, er nahm ihre Hand und dann küsste er Gisela. Sie mochte es, wenn er sie küsste. Nur sollte der Kuss nicht aus Stummheit geboren sein.

Sie fragte sich, ob das Verliebtsein war. Es war angenehm, mit ihm zusammen zu sein. Als er einmal am Wochenende arbeiten musste, merkte sie, er fehlte ihr. Doch ob sie wirklich in ihn verliebt war, konnte sie immer noch nicht sagen. Sie mochte ihn wie einen guten Freund. Oder wie man einen Bruder mochte. Oder wie Gisela sich vorstellte, dass man einen Bruder mochte. Und sie wartete darauf, dass dieses Gefühl sich ändern würde.

»Der ist nichts für dich!«, sagte die Mutter, nachdem Georg das erste Mal in der Wohnung gewesen war um Gisela abzuholen.

»Wieso nicht?«

»Er ist so – wie soll ich sagen – so schwerfällig.«

»Du hast nur was gegen ihn, weil er Fliesenleger ist. Du willst was Besseres für deine klassenbeste Tochter.«

»Das ist nicht wahr«, sagte die Mutter. »Ich habe absolut nichts gegen seinen Beruf. Ich glaube nur, dass er von seinem Wesen her nicht zu dir passt, das ist alles. Also, sei gescheit.«

Sei gescheit! Das hatte man immer von ihr verlangt. Und in der Schule war sie es auch.

Sie waren bei einer Party gewesen. Gabi hatte zu ihrem achtzehnten Geburtstag ein großes Fest veranstaltet, in der Wohnung ihres Freundes. Sie hatte ein tolles Buffet vorbereitet. Evamaria und Liane hatten Gitarre gespielt, sie hatten gesungen, später getanzt. Und alle hatten sehr viel getrunken. Gisela fühlte sich irgendwie schwebend, wie in Watte verpackt. Alles erschien ihr aquarellartig, auch ihre Gedanken waren verwischt. Als sie nach der Party bei Georg im Auto saß – es berührte sie eigenartig, dass er einen großen BMW fuhr, das passte nicht zu ihm –, bog er von der Straße ab und hielt auf einem Waldweg. Er küsste sie, streichelte ihr Haar, ihr Gesicht. Er knöpfte ihre Jacke auf, seine Hand glitt unter ihren Pullover, er streichelte ihre Brust. Fragte, ob er sie ausziehen dürfe. Sie wehrte sich nicht.

»Ich liebe dich!«, sagte er, und da erschrak sie.

Nachtschwarz ragten die Bäume um sie auf, am Horizont wartete eine zaghafte Morgendämmerung.

»Ich will mit dir schlafen«, sagte er.

Sie schwieg, war irgendwie starr. Es ist das erste Mal, wollte sie sagen, ich nehme die Pille nicht, wollte sie sagen, ich weiß nicht, ob ich dich liebe, wollte sie sagen, doch alles verschwamm. Dann formte sich ein Satz, tauchte aus ihren aquarellartigen Gedanken, ein Satz, den sie vor wenigen Tagen im Kino gehört hatte: »Das Kondom schützt. Vor unerwünschter Schwangerschaft und vor Aids.« Aber wie das sagen? Wie ihm begreiflich machen, dass er …

»Hast du ein Kondom dabei?«, fragte sie zaghaft. Er hielt inne, in der Dunkelheit konnte sie nicht ausmachen, ob er sie verwundert oder befremdet ansah, dann sagte er: »Ich dachte, du nimmst die Pille.« Vielleicht sollte das heißen: Alle nehmen sie, wieso du nicht?

Sie fühlte Angst und Beklemmung, war froh, dass es dunkel war. Wehrte ihn ab, er aber beruhigte sie: »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich pass schon auf.« Er beugte sich über sie, klappte den Autositz zurück, grub sein Gesicht zwischen ihre Brüste. Sagte ihr wieder, dass er sie liebe. Streichelte sie, dann spürte sie sein Glied. Seine Erregung übertrug sich auf sie. Er atmete immer schneller, immer heftiger, plötzlich fuhr er mit einem Ruck auf: »Scheiße! Shit! Sch…«. Da begriff sie, was geschehen war, fühlte etwas Warmes und Klebriges.

Plötzlich war nichts mehr aquarellartig, sondern alles klar und nüchtern. Und ihre Sprachlosigkeit hatte scharfe Kanten.

»Gisela«, sagte er, »es war so … du bist so unheimlich, so, du weißt gar nicht, wie … Mir ist das noch nie passiert. Gisela, es tut mir Leid.«

»Bring mich nach Hause!« Sie zog sich an, klappte den Sitz hoch und saß wie versteinert, bis er vor ihrer Haustür hielt. »Mach dir keine Sorgen, es ist sicher nichts passiert … Einmal ist keinmal …«

»Gute Nacht!«

Gisela war eingeschlafen. Mit beiden Händen auf ihrem fremden Bauch.

Keine morgendliche Übelkeit. Kein Erbrechen. Keine Beschwerden. Nichts von alldem, was man in Aufklärungsbüchern las. Nur ein Gefühl der Fremdheit in ihrem Körper.

Seltsam, dass in der Schule alles seinen gewohnten Gang ging. Niemand merkte etwas. Gabi nicht, Liane nicht. Der Klassenvorstand nicht. Nur einmal, als der Geografielehrer Gisela eine Frage stellte und sie nicht gleich darauf reagierte, fragte Evamaria: »Ist irgendwas?«

»Nein, wieso?«, sagte Gisela, betont forsch.