Der Circle - Dave Eggers - E-Book
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Der Circle E-Book

Dave Eggers

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Beschreibung

»Das ›1984‹ fürs Internetzeitalter« Zeit online Leben in der schönen neuen Welt des total transparenten Internets: Mit Der Circle hat Dave Eggers einen hellsichtigen, hochspannenden Roman über die Abgründe des gegenwärtigen Vernetzungswahns geschrieben. Ein beklemmender Pageturner, der weltweit Aufsehen erregt. Huxleys Schöne neue Welt reloaded: Die 24-jährige Mae Holland ist überglücklich. Sie hat einen Job ergattert in der hippsten Firma der Welt, beim »Circle«, einem freundlichen Internetkonzern mit Sitz in Kalifornien, der die Geschäftsfelder von Google, Apple, Facebook und Twitter geschluckt hat, indem er alle Kunden mit einer einzigen Internetidentität ausstattet, über die einfach alles abgewickelt werden kann. Mit dem Wegfall der Anonymität im Netz – so ein Ziel der »drei Weisen«, die den Konzern leiten – wird es keinen Schmutz mehr geben im Internet und auch keine Kriminalität. Mae stürzt sich voller Begeisterung in diese schöne neue Welt mit ihren lichtdurchfluteten Büros und High-Class-Restaurants, wo Sterneköche kostenlose Mahlzeiten für die Mitarbeiter kreieren, wo internationale Popstars Gratis-Konzerte geben und fast jeden Abend coole Partys gefeiert werden. Sie wird zur Vorzeigemitarbeiterin und treibt den Wahn, alles müsse transparent sein, auf die Spitze. Doch eine Begegnung mit einem mysteriösen Kollegen ändert alles …Mit seinem neuen Roman Der Circle hat Dave Eggers ein packendes Buch über eine bestürzend nahe Zukunft geschrieben, einen Thriller, der uns ganz neu über die Bedeutung von Privatsphäre, Demokratie und Öffentlichkeit nachdenken und den Wunsch aufkommen lässt, die Welt und das Netz mögen uns bitte manchmal vergessen.

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Seitenzahl: 707

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Dave Eggers

Der Circle

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Kurzübersicht

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▸   Titelseite

▸   Inhaltsverzeichnis

▸   Über Dave Eggers

▸   Über dieses Buch

▸   Impressum

▸   Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motto

Buch 1

Buch 2

Buch 3

Danksagung

Inhaltsverzeichnis

Der zukünftigen Entwicklung war keine Grenze, keine Schranke gesetzt. Es würde noch so kommen, daß man nicht einmal genug Platz mehr haben würde, um all das Glück aufzustapeln.

John Steinbeck – Jenseits von Eden

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

 

Wahnsinn, dachte Mae. Ich bin im Himmel.

Das Gelände war riesig und weitläufig, ein wildes pazifisches Farbenmeer, und doch bis ins kleinste Detail sorgfältig geplant, von überaus gewandten Händen geformt. Früher war hier mal eine Schiffswerft gewesen, dann ein Autokino, dann ein Flohmarkt, dann ein Schandfleck, jetzt gab es hier sanfte grüne Hügel und einen Calatrava-Brunnen. Und einen Picknickbereich, mit Tischen, die in konzentrischen Kreisen aufgestellt waren. Und sowohl Sand- als auch Rasentennisplätze. Und ein Volleyballfeld, auf dem kleine Kinder aus der firmeneigenen Kita kreischend umherliefen, wie wogendes Wasser. Inmitten von alledem befand sich auch eine Arbeitsstätte, hundertsechzig Hektar gebürsteter Stahl und Glas an der Zentrale des einflussreichsten Unternehmens der Welt. Der Himmel darüber war makellos und blau.

Mae, die auf dem Weg vom Parkplatz zur Haupthalle war, bewegte sich durch das alles hindurch und versuchte, so auszusehen, als würde sie dazugehören. Der Fußweg schlängelte sich zwischen Zitronen- und Orangenbäumen hindurch, und seine dezenten roten Pflastersteine waren hier und da mit beschwörenden Inspirationsbotschaften durchsetzt. »Träumt« stand auf einem, das Wort mit Laser in den roten Stein geschnitten. »Bringt euch ein« stand auf einem anderen. Es gab Dutzende: »Sucht Gemeinschaft«, »Seid innovativ«, »Seid fantasievoll«. Sie wäre fast auf die Hand eines jungen Mannes im grauen Overall getreten, der gerade einen neuen Stein einsetzte, auf dem »Atmet« stand.

An diesem sonnigen Montag im Juni blieb Mae vor dem Haupteingang stehen, über dem das in Glas geätzte Firmenlogo prangte. Das Unternehmen war noch keine sechs Jahre alt, doch sein Name und Logo – ein Kreis um ein engmaschiges Gitter mit einem kleinen »c« für »Circle« in der Mitte – zählten bereits zu den bekanntesten auf der Welt. Hier auf dem Hauptcampus waren über zehntausend Mitarbeiter beschäftigt, aber der Circle hatte überall auf dem Globus Büros, stellte jede Woche Hunderte begabte junge Köpfe ein und war schon vier Jahre hintereinander zum beliebtesten Unternehmen der Welt gekürt worden.

Mae glaubte nicht, dass sie Chancen auf eine Stelle in so einem Unternehmen gehabt hätte, wenn Annie nicht gewesen wäre. Annie war zwei Jahre älter, und sie hatten während des Studiums drei Semester lang zusammengewohnt, in einem hässlichen Gebäude, das durch ihre außergewöhnliche Verbindung zueinander bewohnbar gemacht wurde. Sie waren so etwas wie Freundinnen, so etwas wie Schwestern oder Cousinen, die wünschten, sie wären Schwestern und hätten allen Grund, nie getrennt zu sein. Im ersten Monat ihres WG-Lebens hatte Mae sich eines Abends in der Dämmerung den Kiefer gebrochen, nachdem sie grippekrank und unterernährt während der Semesterabschlussprüfungen in Ohnmacht gefallen war. Annie hatte gesagt, sie solle im Bett bleiben, aber Mae war zum 7-Eleven gegangen, weil sie Koffein brauchte, und auf dem Gehweg unter einem Baum aufgewacht. Annie brachte sie ins Krankenhaus und wartete, während Maes Kiefer verdrahtet wurde, und sie blieb die ganze Nacht bei Mae am Bett, schlief auf einem Holzstuhl, und zu Hause dann versorgte sie Mae tagelang, während die nur durch einen Strohhalm essen konnte. Ein so hohes Maß an resolutem Engagement und Tüchtigkeit hatte Mae noch bei niemandem in ihrem Alter oder ungefähr in ihrem Alter erlebt, und von da an war sie auf eine Art loyal, wie sie es sich selbst nie zugetraut hätte.

Während Mae noch am Carleton College war und zwischen Kunstgeschichte, Marketing und Psychologie als Hauptfach hin und her schwankte – ihren Abschluss machte sie in Psychologie, obwohl sie keine Zukunftspläne in der Richtung hegte –, hatte Annie in Stanford ihren Master in Betriebswirtschaft gemacht und sich vor Jobangeboten nicht retten können. Vor allem der Circle hatte sie umworben, und schon wenige Tage nach der Abschlussfeier war sie hier gelandet. Jetzt hatte sie irgendeinen hochtrabenden Titel – Managing Director für Zukunftssicherung, witzelte Annie – und hatte Mae bedrängt, sich auch zu bewerben. Mae tat es, und obwohl Annie beteuerte, sich nicht für sie eingesetzt zu haben, kaufte Mae ihr das nicht ab und war ihr unendlich dankbar. Eine Million Leute, eine Milliarde, wären jetzt furchtbar gern da, wo Mae in diesem Moment war, als sie dieses Atrium betrat, zehn Meter hoch und mit kalifornischem Licht durchflutet, an dem ersten Tag, an dem sie für das einzige Unternehmen arbeitete, das wirklich richtig wichtig war.

Sie drückte die schwere Tür auf. Die Vorhalle war so lang wie ein Exerzierplatz, so hoch wie eine Kathedrale. Oben waren überall Büros, vier Etagen auf beiden Seiten, jede Wand aus Glas. Ihr wurde kurz schwindelig, und als sie nach unten blickte, sah sie in dem makellos glänzenden Fußboden ihr eigenes sorgenvolles Gesicht widergespiegelt. Sie spürte, wie hinter ihr jemand auf sie zukam, und formte den Mund zu einem Lächeln.

»Du musst Mae sein.«

Mae drehte sich um und sah einen schönen jungen Kopf, der über einem scharlachroten Halstuch und einer weißen Seidenbluse schwebte.

»Ich bin Renata«, sagte sie.

»Hi, Renata. Ich wollte zu –«

»Annie. Ich weiß. Sie kommt gleich.« Ein Ton, ein digitales Tropfgeräusch, kam aus Renatas Ohr. »Sie ist gerade …« Renata blickte Mae an, sah aber etwas anderes. Netzhaut-Interface, vermutete Mae. Noch so eine Innovation, die hier entwickelt worden war.

»Sie ist im Wilden Westen«, sagte Renata, wieder auf Mae konzentriert, »müsste aber bald hier sein.«

Mae lächelte. »Ich hoffe, sie hat eine volle Wasserflasche und ein treues Pferd.«

Renata lächelte höflich, lachte aber nicht. Mae wusste von der Unternehmenspraxis, jedes Gebäude auf dem Campus nach einer Geschichtsepoche zu benennen. Das war eine Methode, um einen riesigen Arbeitsplatz weniger unpersönlich, weniger businesslike wirken zu lassen. Jedenfalls besser als »Gebäude 3B-East«, wo Mae bislang gearbeitet hatte. Ihr letzter Tag bei den Strom- und Gaswerken in ihrer Heimatstadt war erst vor drei Wochen gewesen – die Geschäftsleitung war bestürzt, als sie kündigte –, doch es kam ihr jetzt schon unglaublich vor, dass sie so viel Zeit ihres Lebens dort vergeudet hatte. Gott sei Dank bin ich da weg, dachte Mae, raus aus diesem Gulag und allem, wofür er stand.

Renata empfing noch immer Signale aus ihrem unsichtbaren Ohrhörer. »Oh, Moment, sie sagt gerade, dass sie da doch noch was erledigen muss.« Renata blickte Mae mit einem strahlenden Lächeln an. »Am besten, ich bring dich jetzt zu deinem Schreibtisch. Annie sagt, sie trifft dich dort in gut einer Stunde.«

Mae durchlief ein leises Kribbeln bei den Worten dein Schreibtisch, und sie musste gleich an ihren Dad denken. Er war stolz. So stolz, hatte er ihr auf die Mailbox gesprochen; er musste die Nachricht um vier Uhr morgens hinterlassen haben. Sie hatte sie abgehört, als sie aufgewacht war. So unglaublich stolz, hatte er gesagt, mit erstickter Stimme. Mae hatte die Uni erst seit zwei Jahren hinter sich, und jetzt war sie hier, angestellt beim Circle, mit Krankenversicherung, einer eigenen Wohnung in der Stadt, und sie lag ihren Eltern, die reichlich andere Sorgen hatten, nicht mehr auf der Tasche.

Mae folgte Renata aus dem Atrium nach draußen. Auf dem sonnengesprenkelten Rasen saßen zwei junge Leute auf einem künstlichen Hügel, in den Händen eine Art durchsichtiges Tablet, und unterhielten sich angeregt.

»Du arbeitest in der Renaissance, da drüben«, sagte Renata und deutete über den Rasen auf ein Gebäude aus Glas und oxidiertem Kupfer. »Da sind alle von der Customer Experience untergebracht. Warst du schon mal hier?«

Mae nickte. »Ja. Aber nicht in dem Gebäude.«

»Dann hast du ja den Pool schon gesehen und den Sportbereich.« Renata deutete mit der Hand in Richtung eines blauen Parallelogramms und eines dahinter aufragenden eckigen Gebäudes, in dem das Fitnesscenter untergebracht war. »Da drüben wird alles angeboten: Yoga, Crossfit, Pilates, Massagen, Spinning. Ich hab gehört, du machst Spinning? Dahinter sind die Bocciaplätze und die neue Tetherball-Anlage. Die Cafeteria ist gleich dahinten auf der anderen Seite der Wiese …« Renata zeigte auf die üppige, sanft hügelige Grünfläche, auf der sich eine Handvoll junger Leute im Businessoutfit ausgestreckt hatten wie Sonnenbadende. »Und da wären wir.«

Sie standen vor der Renaissance, einem weiteren Gebäude mit einem über zehn Meter hohen Atrium, in dem sich ganz oben langsam ein Calder-Mobile drehte.

»Oh, ich liebe Calder«, sagte Mae.

Renata lächelte. »Das weiß ich.« Sie betrachteten es gemeinsam. »Das da hat mal im französischen Parlament gehangen. Oder so ähnlich.«

Der Wind, der ihnen hineingefolgt war, drehte das Mobile jetzt so, dass einer seiner Arme auf Mae zeigte, als würde es sie persönlich willkommen heißen. Renata fasste sie am Ellbogen. »Können wir? Hiermit geht’s hoch.«

Sie betraten einen Aufzug aus Glas, das leicht orange getönt war. Lämpchen gingen flackernd an, und Mae sah ihren Namen an den Wänden aufscheinen, zusammen mit ihrem Highschool-Jahrbuchfoto. WILLKOMMEN, MAE HOLLAND. Ein Laut, so etwas wie ein Keuchen, entfuhr Maes Kehle. Sie hatte das Foto seit Jahren nicht mehr gesehen, und es hatte ihr auch nicht gefehlt. Das konnte nur auf Annies Mist gewachsen sein, sie damit zu überfallen. Das Foto zeigte tatsächlich Mae – breiter Mund, dünne Lippen, olivfarbene Haut, schwarzes Haar –, aber auf dem Foto, mehr als im wirklichen Leben, verliehen die hohen Wangenknochen ihr eine gewisse Strenge, und die braunen Augen lächelten nicht, waren nur klein und kalt, kampfbereit. Seit dem Foto – sie war damals achtzehn, wütend und unsicher – hatte sie an Gewicht zugelegt, und das war gut so, ihr Gesicht war weicher geworden, und sie hatte Rundungen bekommen, Rundungen, die ihr die Aufmerksamkeit von Männern vielerlei Alters und mit allen möglichen Intentionen einbrachten. Sie hatte seit der Highschool versucht, offener zu werden, positiver, aber der Anblick dieses Dokuments einer längst vergangenen Ära, als sie von der Welt das Schlimmste befürchtete, brachte sie aus dem Konzept. Als sie es kaum mehr ertragen konnte, verschwand das Foto.

»Ja, hier läuft alles mit Sensoren«, sagte Renata. »Der Aufzug liest deinen Ausweis und sagt dann Hallo. Annie hat uns das Foto gegeben. Ihr zwei müsst eng befreundet sein, wenn sie Highschoolfotos von dir hat. Jedenfalls, ich hoffe, es stört dich nicht. Wir machen das hauptsächlich für Besucher. Die sind meistens ziemlich beeindruckt.«

Während der Aufzug nach oben fuhr, erschienen auf jeder Glaswand die empfohlenen Aktivitäten des Tages, wobei Bilder und Text von einem Panel zum nächsten wanderten. Zu jeder Ankündigung gab es ein Video, Fotos, Animation, Musik. Um zwölf gab es eine Vorführung von Koyaanisqatsi, um eins eine Selbstmassage-Demonstration, Kräftigung der Rumpfmuskulatur um drei. Ein Kongressabgeordneter, von dem Mae noch nie etwas gehört hatte, grauhaarig, aber jung, würde um halb sieben eine Town Hall abhalten. Auf den Aufzugtüren sprach er irgendwo anders an einem Rednerpult, die Hemdsärmel hochgekrempelt und die Hände zu ernsten Fäusten geformt, hinter ihm wogende Fahnen.

Die Türen öffneten sich, teilten den Abgeordneten in zwei Hälften.

»Da wären wir«, sagte Renata und trat auf einen schmalen Laufsteg aus Stahlgittern. Mae blickte nach unten und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie konnte bis ins Erdgeschoss sehen, vier Stockwerke tief.

Mae versuchte einen Scherz. »Ich schätze, ihr lasst hier oben nur Leute arbeiten, die schwindelfrei sind.«

Renata blieb stehen und blickte Mae mit ernsthaft besorgter Miene an. »Natürlich. Aber in deinem Profil stand doch –«

»Nein, nein«, sagte Mae. »Ich hab kein Problem damit.«

»Im Ernst. Wir können dich weiter unten unterbringen, wenn –«

»Nein, nein. Wirklich. Alles bestens. Tut mir leid. Sollte bloß ein Witz sein.«

Renata war sichtlich verunsichert. »Okay. Aber sag mir bitte Bescheid, wenn irgendwas nicht in Ordnung ist.«

»Mach ich.«

»Wirklich? Annie ist nämlich wichtig, dass ich auf so was achte.«

»Mach ich. Versprochen«, sagte Mae und lächelte Renata an, die sich wieder eingekriegt hatte und weiterging.

Der Laufsteg erreichte den Hauptraum, breit und mit Fenstern und durch einen langen Flur geteilt. Auf beiden Seiten waren Büros mit Glasfronten vom Boden bis zur Decke, sodass die Mitarbeiter drinnen zu sehen waren. Alle hatten sie ihre Arbeitsplätze aufwendig, aber geschmackvoll dekoriert – ein Büro war voll mit Segelrequisiten, von denen die meisten irgendwie in der Luft schwebten, aufgehängt an den offenen Balken, in einem anderen standen Bonsaibäume aufgereiht. Sie kamen an einer kleinen Küche vorbei, die Schränke und Regale aus Glas, das Besteck magnetisch, in einem ordentlichen Gittermuster am Kühlschrank angeheftet, alles erhellt von einem riesigen mundgeblasenen Kronleuchter, in dem bunte Glühlampen strahlten und dessen Arme sich orange und pfirsichfarben und pink ausstreckten.

»Okay, da wären wir.«

Sie blieben vor einer Bürobox stehen, grau und klein und mit einem Material ausgekleidet, das aussah wie synthetisches Leinen. Mae stockte das Herz. Das Kabuff sah fast genauso aus wie das, in dem sie die letzten achtzehn Monate gearbeitet hatte. Es war das Erste, das sie im Circle sah, das nicht innovativ war, das Ähnlichkeit mit der Vergangenheit hatte. Das Material, mit dem die Wände der Box verkleidet waren, war – sie konnte es nicht fassen, es schien einfach unmöglich – Jute.

Mae wusste, dass Renata sie beobachtete, und sie wusste, dass ihre Miene so etwas wie Entsetzen verriet. Lächele, dachte sie. Lächele.

»Ist das okay?«, sagte Renata, deren Augen hektisch über Maes Gesicht huschten.

Mae zwang ihren Mund, eine gewisse Zufriedenheit anzudeuten. »Super. Sieht gut aus.«

Damit hatte sie nicht gerechnet.

»Okay. Dann lass ich dich jetzt allein, damit du dich mit dem Arbeitsplatz vertraut machen kannst, und gleich kommen Denise und Josiah und zeigen dir alles.«

Mae verzog den Mund zu einem Lächeln, und Renata machte kehrt und ging. Mae setzte sich hin und stellte fest, dass die Stuhllehne halb kaputt war und der Stuhl sich nicht bewegen ließ, weil die Rollen klemmten, alle. Ein Computer war auf den Schreibtisch gestellt worden, doch es war ein uraltes Modell, das sie sonst nirgendwo im Gebäude gesehen hatte. Mae war verwirrt und merkte, dass ihre Laune in ebenjenen Abgrund sank, in dem sie die letzten paar Jahre verbracht hatte.

 

Arbeitete heutzutage wirklich noch irgendwer bei den Strom- und Gaswerken? Wie war Mae überhaupt dahingeraten? Wie hatte sie das ausgehalten? Wenn Leute fragten, wo sie arbeitete, hätte sie am liebsten gelogen und gesagt, sie wäre arbeitslos. Wäre es vielleicht erträglicher gewesen, wenn der Job nicht in ihrer Heimatstadt gewesen wäre?

Nachdem sie rund sechs Jahre lang ihre Heimatstadt verabscheut hatte, ihre Eltern dafür verflucht hatte, dahin gezogen zu sein und ihr die Stadt zugemutet zu haben, mit ihrer Begrenztheit und ihrem Mangel an allem – Unterhaltungsmöglichkeiten, Restaurants, vorurteilsfreien Köpfen –, erinnerte Mae sich seit Neuestem mit einer gewissen Zärtlichkeit an Longfield, eine Kleinstadt zwischen Fresno und Tranquility, 1866 von einem prosaischen Farmer gegründet und getauft. Einhundertfünfzig Jahre später hatte die Einwohnerzahl einen Stand von knapp unter zweitausend Seelen erklommen, von denen die meisten in Fresno arbeiteten, zwanzig Meilen entfernt. Es ließ sich preiswert in Longfield leben, und die Eltern von Maes Freunden waren Sicherheitsleute, Lehrer, Fernfahrer, die gern auf die Jagd gingen. Von den einundachtzig Schülern in Maes Highschool-Abschlussjahrgang war sie eine von zwölf, die aufs College gingen, und die Einzige, die östlich von Colorado studierte. Dass sie so weit wegging und sich so hoch verschuldete, nur um wieder zurückzukommen und bei den Strom- und Gaswerken anzufangen, war für sie ebenso hart wie für ihre Eltern, obwohl sie nach außen hin erklärten, sie würde das Richtige tun, etwas Solides machen und anfangen, ihre Kredite abzuzahlen.

Das Gebäude 3B-East war ein tragischer Zementblock mit schmalen vertikalen Schlitzen als Fenster. Drinnen hatten die meisten Büros Betonsteinwände, und alles war in einem abscheulichen Grün gestrichen. Man kam sich vor wie in einer Umkleidekabine. Mae war mit einem Abstand von etwa zehn Jahren die Jüngste im Gebäude, und selbst die in den Dreißigern waren aus einem anderen Jahrhundert. Sie staunten über Maes Computerkenntnisse, die für Mae Anfängerniveau waren und die jeder beherrschte, den sie kannte. Aber ihre Kollegen bei den Stadtwerken waren verblüfft. Sie nannten sie den Schwarzen Blitz, eine abgeschmackte Anspielung auf ihre Haare, und prophezeiten ihr eine wirklich strahlende Zukunft bei den Strom- und Gaswerken, wenn sie ihre Karten richtig ausspielte. In vier oder fünf Jahren, sagten sie, könnte sie IT-Leiterin der ganzen Unterabteilung werden! Ihre Verzweiflung war grenzenlos. Sie hatte nicht ein 234.000 Dollar teures Studium an einem Elitecollege für so einen Job absolviert. Aber es war Arbeit, und sie brauchte das Geld. Ihre Studienkredite waren gefräßig und verlangten monatliche Fütterungen, daher nahm sie den Job und den Gehaltsscheck und hielt weiter die Augen auf nach besseren Möglichkeiten.

Ihr direkter Vorgesetzter war ein Mann namens Kevin, der bei den Strom- und Gaswerken als angeblicher technischer Direktor fungierte, der aber seltsamerweise nichts von Technologie verstand. Er kannte sich mit Kabeln und Splittern aus. Er hätte zu Hause in seinem Keller ein Amateurfunkgerät bedienen, nicht jedoch Maes Vorgesetzter sein sollen. Jeden Tag, jeden Monat trug er die gleichen kurzärmeligen Button-down-Hemden, die gleichen rostfarbenen Krawatten. Er war ein furchtbarer Angriff auf die Sinne, sein Atem roch nach Schinken, und sein Schnurrbart war pelzig und widerspenstig, wie zwei kleine Pfoten, die südwestlich und südöstlich aus seinen stets geblähten Nasenlöchern auftauchten.

All diese vielen Zumutungen wären ja noch in Ordnung gewesen, wenn er nicht tatsächlich geglaubt hätte, dass Mae zufrieden war. Er glaubte, dass Mae, Carleton-Absolventin, Träumerin von außergewöhnlichen und goldenen Träumen, mit diesem Job bei den Strom- und Gaswerken zufrieden war. Dass es sie bekümmerte, wenn Kevin ihre Leistung an irgendeinem x-beliebigen Tag suboptimal fand. Das machte sie wahnsinnig.

Es war kaum auszuhalten, wenn er sie in sein Büro bat, die Tür schloss und sich auf die Ecke seines Schreibtisches setzte. Wissen Sie, warum Sie hier sind?, fragte er dann, wie ein Verkehrspolizist, der sie auf dem Highway rausgewinkt hatte. Bei anderen Gelegenheiten, wenn er zufrieden war mit irgendeiner Arbeit, die sie an dem Tag gemacht hatte, tat er etwas noch Schlimmeres: Er lobte sie. Er nannte sie seinen Schützling. Er liebte das Wort. Er stellte sie Besuchern mit den Worten vor: »Das ist mein Schützling, Mae. Sie ist ausgesprochen schlau, meistens« – und dabei zwinkerte er ihr zu, als wäre er ein Kapitän und sie seine Erste Offizierin, zwei alte Haudegen, die schon viele raue Abenteuer erlebt hatten und einander für immer verbunden waren. »Wenn sie sich nicht selbst im Weg steht, hat sie hier eine strahlende Zukunft vor sich.«

Sie hielt es nicht aus. An jedem einzelnen Arbeitstag während der achtzehn Monate, die sie dort war, fragte sie sich, ob sie Annie wirklich um einen Gefallen bitten könnte. Sie war nie der Typ gewesen, der um so etwas bat: gerettet zu werden, gefördert zu werden. Diese Art von Bedürftigkeit, Aufdringlichkeit – Unverschämtheit, wie ihr Dad es nannte – war ihr nicht anerzogen worden. Ihre Eltern waren stille Leute, die niemandem im Weg stehen wollten, stille und stolze Leute, die von niemandem etwas annahmen.

Und Mae war genauso, aber der Job machte sie zu jemandem, der alles dafür tun würde, um kündigen zu können. Es war widerwärtig, das alles. Die grünen Betonsteine. Der unsägliche Wasserspender. Die unsäglichen Stempelkarten. Die unsäglichen Verdiensturkunden, wenn jemand etwas gemacht hatte, was als außerordentlich erachtet wurde. Und die Arbeitszeit! Unsäglicherweise von neun bis fünf! Das alles kam ihr vor wie aus einer anderen Zeit, einer zu Recht vergessenen Zeit, und gab Mae das Gefühl, dass nicht nur sie ihr Leben vergeudete, sondern dass dieses ganze Unternehmen Leben vergeudete, menschliches Potenzial vergeudete und die Drehung des Globus behinderte. Die Arbeitsbox dort, ihre Arbeitsbox, war die Destillation von alledem. Die niedrigen Wände um sie herum, die eigentlich die volle Konzentration auf die jeweilige Arbeit fördern sollten, waren mit Jute verkleidet, als ob irgendein anderes Material sie ablenken könnte, sie anstiften könnte, Gedanken an exotischere Möglichkeiten, ihre Tage zu verbringen, heraufzubeschwören. Und so hatte sie achtzehn Monate in einem Büro verbracht, wo man glaubte, von allen Materialien, die Mensch und Natur boten, sollten die Beschäftigten tagaus, tagein, von morgens bis abends ausgerechnet Jute sehen. Eine schmutzige Sorte Jute, eine unveredelte Sorte Jute. Eine Massenwarenjute, eine Arme-Leute-Jute, eine Billigjute. O Gott, dachte sie, als sie den Laden verließ, und sie schwor sich, das Material nie wieder zu sehen oder zu berühren oder seine Existenz auch nur anzuerkennen.

Und sie hätte wirklich nicht damit gerechnet, es wiederzusehen. Wie oft, außerhalb des 19. Jahrhunderts, außerhalb eines Kramladens des 19. Jahrhunderts, stößt man schon auf Jute? Mae hatte angenommen, nie, doch jetzt, hier an ihrem neuen Circle-Arbeitsplatz, war sie wieder umgeben von Jute, und als sie sie betrachtete und ihr der muffige Geruch in die Nase drang, da kamen ihr die Tränen. »Scheißjute«, murmelte sie vor sich hin.

Hinter ihr hörte sie einen Seufzer, dann eine Stimme: »War wohl doch keine so gute Idee.«

Mae drehte sich um und sah Annie, die herabhängenden Hände zu Fäusten geballt, das Gesicht wie ein schmollendes Kind verzogen. »Scheißjute«, sagte Annie und ahmte dabei Maes Schmollgesicht nach. Dann lachte sie schallend los. Als sie fertig war, sagte sie schnaufend: »Das war unglaublich. Vielen, vielen Dank dafür, Mae. Ich wusste, du würdest es hassen, aber ich wollte mit eigenen Augen sehen, wie sehr. Tut mir leid, dass du fast geheult hättest. Menschenskind.«

Mae sah Renata an, die die Hände kapitulierend hoch in die Luft gestreckt hatte. »War nicht meine Idee!«, sagte sie. »Annie hat mich angestiftet! Sei bitte nicht sauer auf mich!«

Annie seufzte zufrieden. »Ich musste die Box tatsächlich bei Walmart kaufen. Und den Computer! Den hab ich eine Ewigkeit gesucht. Ich dachte, wir könnten das Zeug einfach aus dem Keller hochholen oder so, aber wir hatten ehrlich auf dem ganzen Campus nichts, was hässlich und alt genug war. O Gott, du hättest dein Gesicht sehen sollen.«

Maes Herz raste. »Du bist echt pervers.«

Annie täuschte Verwirrung vor. »Ich bin nicht pervers. Ich bin super.«

»Ich glaub’s einfach nicht, dass du den ganzen Aufwand betrieben hast, nur um mich zu schocken.«

»Tja, hab ich aber. So bin ich dahin gekommen, wo ich jetzt bin. Es kommt auf Planung an und darauf, das Ganze auch durchzuziehen.« Sie sah Mae mit einem Verkäufer-Zwinkern an, und Mae musste lachen. Annie war eine Verrückte. »Also, dann mal los. Ich führ dich rum.«

 

Während Mae ihr folgte, musste sie sich in Erinnerung rufen, dass Annie nicht immer eine höhere Führungskraft in einem Unternehmen wie dem Circle gewesen war. Vor gerade mal vier Jahren war Annie noch eine Studentin gewesen, die in schlabbrigen Männerhosen aus Flanell zur Uni, in Restaurants, zu lockeren Dates ging. Annie war ein schrulliges Huhn, wie einer ihrer Exfreunde, und davon gab es viele, immer monogam, immer anständig, sie mal nannte. Aber sie konnte es sich leisten. Sie stammte aus einer Familie mit Geld, altem Geld, und sie war sehr hübsch, mit Grübchen und langen Wimpern und mit Haaren so blond, dass sie nur echt sein konnten. Sie galt bei allen als quirlig und schien außerstande, sich durch irgendwas länger als ein paar Augenblicke beunruhigen zu lassen. Aber sie war eben auch ein schrulliges Huhn. Sie war schlaksig und fuchtelte beim Sprechen gefährlich wild mit den Händen und neigte zu bizarren Themenabschweifungen und seltsamen Obsessionen – Höhlen, Amateurparfüms, Doo Wop. Sie verstand sich gut mit jedem ihrer Exfreunde, mit jedem ihrer Exlover, mit jedem Professor (sie kannte sie alle persönlich und schickte ihnen Geschenke). Sie war an der Uni bei den meisten oder allen Klubs und Interessengruppen Mitglied gewesen oder hatte sie geleitet, und trotzdem hatte sie noch Zeit fürs Studium gefunden – eigentlich für alles –, während sie obendrein auf egal welcher Party die Erste war, die sich zum Narren machte, damit die anderen sich entspannten, und die Letzte, die ging. Die einzige rationale Erklärung für das alles wäre gewesen, dass sie nicht schlief, aber dem war nicht so. Sie schlief dekadente acht bis zehn Stunden pro Tag, konnte überall schlafen – auf einer dreiminütigen Autofahrt, in der schmuddeligen Sitznische eines Diners, auf der Couch von egal wem, egal wann.

Mae wusste das aus erster Hand, denn sie war für Annie so etwas wie eine Chauffeuse auf langen Fahrten gewesen, durch Minnesota und Wisconsin und Iowa, zu zahlreichen und weitgehend bedeutungslosen Geländelauf-Wettkämpfen. Mae hatte ein Teilstipendium als Läuferin am Carleton, und dabei lernte sie Annie kennen, die unangestrengt gut war, zwei Jahre älter, sich aber nur gelegentlich Gedanken darüber machte, ob sie oder das Team gewann oder verlor. Mal war Annie bei einem Wettkampf voll dabei, verspottete die Gegner, machte sich über ihre Trikots oder Fans lustig, und beim nächsten interessierte sie sich nicht die Bohne für den Ausgang, sondern freute sich einfach, mit von der Partie zu sein. Auf den langen Fahrten in Annies Auto – das sie lieber von Mae lenken ließ – legte Annie dann die nackten Füße aufs Armaturenbrett oder streckte sie zum Fenster raus und lästerte über die vorbeiziehende Landschaft und spekulierte stundenlang darüber, was sich in den Schlafzimmern ihrer Coaches abspielte, eines Ehepaars mit gleichen, fast militärischen Haarschnitten. Mae lachte über alles, was Annie sagte, und das lenkte Mae von den Wettkämpfen ab, bei denen sie – im Gegensatz zu Annie – gewinnen oder wenigstens gut abschneiden musste, um die Finanzspritze zu rechtfertigen, die das College ihr gegeben hatte. Sie trafen stets nur Minuten vor Wettkampfbeginn ein, und Annie vergaß unweigerlich, in welchem Rennen sie laufen sollte, oder fragte sich, ob sie überhaupt laufen wollte.

Wie war es daher möglich, dass diese sprunghafte und ulkige Person, die noch immer ein Stück von ihrer Schmusedecke aus der Kindheit in der Hosentasche mit sich herumtrug, im Circle so rasch und so hoch aufgestiegen war? Inzwischen gehörte sie zu den vierzig wichtigsten Köpfen im Unternehmen – der Vierzigerbande – und war in die geheimsten Pläne und Daten eingeweiht. Dass sie Maes Einstellung so mir nichts, dir nichts durchboxen konnte; dass sie das alles innerhalb weniger Wochen, nachdem Mae endlich ihren Stolz runtergeschluckt und sie gefragt hatte, perfekt machen konnte – das war ein Beleg für Annies inneren Willen, einen mysteriösen und fundamentalen Glauben an Bestimmung. Nach außen hin zeigte Annie keinerlei Anzeichen für ausgeprägten Ehrgeiz, aber Mae war sicher, dass es in Annie irgendetwas gab, das darauf bestand, dass sie es auf jeden Fall bis hierher geschafft hätte, in diese Position, egal, woher sie gekommen war. Wäre sie in der sibirischen Tundra aufgewachsen, als blinde Tochter von Schäfern, sie wäre trotzdem inzwischen hier gelandet.

»Danke, Annie«, hörte sie sich sagen.

Sie waren an einigen Konferenz- und Aufenthaltsräumen vorbeigegangen und kamen jetzt durch die neue Galerie des Unternehmens, wo ein halbes Dutzend Basquiats hingen, frisch erstanden von einem Museum in Miami, das kurz vor dem Bankrott stand.

»Nicht der Rede wert«, sagte Annie. »Und es tut mir leid, dass du in der Customer Experience bist. Ich weiß, es klingt beknackt, aber nur zu deiner Information: Ungefähr die Hälfte der Führungskräfte vom Circle haben da angefangen. Das glaubst du mir doch, oder?«

»Klar.«

»Gut, es stimmt nämlich wirklich.«

Sie verließen die Galerie und betraten die Cafeteria im ersten Stock – »Der Glas-Imbiss, ich weiß, der Name ist unmöglich«, sagte Annie –, die so konstruiert war, dass auf neun verschiedenen Ebenen gegessen wurde, mit Böden und Wänden aus Glas. Auf den ersten Blick sah es so aus, als würden hundert Leute in der Luft schwebend essen.

Sie durchquerten den Ausleihraum, wo jeder Beschäftigte sich von Fahrrädern über Teleskope bis hin zu Hängegleitern alles gratis ausborgen konnte, und kamen zum Aquarium, einem Projekt, für das sich einer der Unternehmensgründer eingesetzt hatte. Sie standen vor einem Display, so groß wie sie, wo Quallen sich gespenstisch und langsam ohne ersichtliches Muster oder Motiv hoben und senkten.

»Ich behalte dich im Auge«, sagte Annie, »und jedes Mal, wenn du irgendwas Tolles machst, sorge ich dafür, dass alle davon erfahren, damit du nicht zu lange da bleiben musst. Die Leute steigen hier ziemlich verlässlich auf, und wie du weißt, besetzen wir Positionen fast ausschließlich mit eigenen Mitarbeitern. Also mach einfach deine Sache gut und zieh den Kopf ein, und du wirst baff sein, wie schnell du von der Customer Experience weg bist und bei was richtig Spritzigem mitmischst.«

Mae blickte Annie in die Augen, die im Aquariumslicht leuchteten. »Keine Sorge. Ich bin einfach froh, hier arbeiten zu dürfen.«

»Besser, du bist ganz unten an einer Leiter, die du hochsteigen willst, als in der Mitte einer Leiter, die dich gar nicht interessiert, oder? Besser als irgend so eine Kackleiter!«

Mae lachte. Es war ein Schock, so einen unflätigen Ausdruck aus einem so hübschen Gesicht zu hören. »Hast du schon immer so rumgeflucht? So hab ich dich gar nicht in Erinnerung.«

»Nur wenn ich müde bin, was praktisch immer ist.«

»Du warst früher so ein liebes Mädchen.«

»Sorry. Tut mir echt scheißleid, Mae! Verdammte Scheiße, Mae! Okay. Gehen wir weiter. Zur Hundetagesstätte!«

»Arbeiten wir heute eigentlich noch?«, fragte Mae.

»Arbeiten? Das hier ist Arbeit. Deine Aufgabe am ersten Tag ist: das Gebäude kennenlernen, die Leute, dich akklimatisieren. Weißt du, wie wenn du neue Holzböden in deinem Haus verlegst –«

»Nein, weiß ich nicht.«

»Also, wenn du das mal machst, musst du das Holz vorher zehn Tage vor Ort ruhen lassen, damit es sich akklimatisiert. Dann verlegst du es.«

»Dann bin ich also in dieser Analogie das Holz?«

»Du bist das Holz.«

»Und dann werde ich verlegt.«

»Ja, dann verlegen wir dich. Wir hämmern dich mit Zehntausenden winzigen Nägeln fest. Du wirst begeistert sein.«

Sie besuchten die Hundetagesstätte, eine Erfindung von Annie, deren Hund, Dr. Kinsmann, vor Kurzem gestorben war, aber ein paar sehr glückliche Jahre hier verlebt hatte, nie weit weg von seinem Frauchen. Wieso sollten Tausende Beschäftigte ihre Hunde zu Hause lassen, wenn sie sie doch an einen Ort bringen konnten, an dem die Vierbeiner mit Menschen und anderen Hunden zusammen waren, wo sie versorgt wurden und nicht allein waren? Das war Annies Logik gewesen, die rasch aufgegriffen worden war und jetzt als visionär galt. Und sie sahen sich den Nachtklub an – der häufig tagsüber für etwas genutzt wurde, das ekstatischer Tanz genannt wurde, eine tolle Fitnessübung, sagte Annie – und sie sahen sich das große Open-Air-Amphitheater und das kleine Indoortheater an – »wir haben hier an die zehn Gruppen von Improvisationskomikern« –, und nachdem sie sich das alles angesehen hatten, ging es zum Lunch in die größere Cafeteria im Erdgeschoss, wo auf einer kleinen Bühne in der Ecke ein Mann Gitarre spielte, der aussah wie ein gealterter Singer-Songwriter, den Maes Eltern gern hörten.

»Ist das …?«

»Ja«, sagte Annie beiläufig. »Hier tritt jeden Tag irgendwer auf. Musiker, Komiker, Schriftsteller. Das ist Baileys Lieblingsprojekt, die Künstler herzuholen, um ihnen etwas Publicity zu verschaffen, vor allem wo sie es da draußen so schwer haben.«

»Ich wusste, dass hier manchmal Leute auftreten, aber jeden Tag?«

»Wir buchen die Künstler ein Jahr im Voraus. Die meisten müssen wir abwimmeln.«

Der Singer-Songwriter sang jetzt inbrünstig, den Kopf geneigt, Haarsträhnen vor den Augen, während er fieberhaft in die Saiten schlug, doch die überwiegende Mehrheit der Leute in der Cafeteria schenkte ihm wenig bis gar keine Beachtung.

»Das muss ein Wahnsinnsbudget verschlingen«, sagte Mae.

»Meine Güte, nein, wir bezahlen sie nicht. Oh, Moment, den Typen musst du kennenlernen.«

Annie hielt einen Mann namens Vipul an, der, wie Annie sagte, das gesamte Fernsehen bald neu erfinden würde, ein Medium, das mehr als jedes andere im 20. Jahrhundert feststeckte.

»Sagen wir lieber im 19.«, sagte er mit einem leichten indischen Akzent, in einer präzisen und geschliffenen Sprache. »Es ist die letzte Instanz, wo Kunden niemals das bekommen, was sie möchten. Das letzte Rudiment feudaler Arrangements zwischen Macher und Zuschauer. Aber wir sind keine Vasallen mehr!«, sagte er und entschuldigte sich gleich darauf.

»Der Typ ist ziemlich abgedreht«, sagte Annie, während sie durch die Cafeteria gingen. Sie blieben an fünf oder sechs Tischen stehen und sprachen kurz mit faszinierenden Menschen, von denen jeder an irgendetwas arbeitete, das Annie als weltbewegend oder lebensverändernd oder der Zeit fünfzig Jahre voraus bezeichnete. Das Spektrum an Projekten war erstaunlich. Sie sprachen mit zwei Frauen, die an einem Unterwasser-Forschungsfahrzeug arbeiteten, das die letzten Rätsel des Marianengrabens erforschen würde. »Sie werden ihn kartografieren wie Manhattan«, sagte Annie, und die beiden Frauen erhoben keine Einwände gegen die Übertreibung. Sie blieben an einem Tisch stehen, wo ein Trio junger Frauen auf einen in den Tisch eingelassenen Bildschirm blickte und sich 3-D-Zeichnungen von einer neuen Art sozialer Wohnungsbau ansah, die die Baubranche revolutionieren könnte.

Annie nahm Maes Hand und zog sie zum Ausgang. »Jetzt sehen wir uns Baileys Bibliothek an, die gleichzeitig auch sein Büro ist. Schon davon gehört?«

Mae hatte nichts davon gehört, wollte es aber nicht zugeben.

Annie warf ihr einen verschwörerischen Blick zu. »Eigentlich dürftest du gar nicht da rein, aber wir machen es trotzdem.«

Sie stiegen in einen Aufzug aus Plexiglas und Neon, und während sie durch das Atrium fünf Stockwerke hochschwebten, konnten sie in jede Etage und jedes Büro sehen. »Ich begreife nicht, wie sich so was am Ende auszahlt«, sagte Mae.

»Mein Gott, ich weiß es auch nicht. Aber hier geht’s nicht nur um Geld, wie du wahrscheinlich weißt. Der Umsatz reicht jedenfalls aus, um die Leidenschaften der Circler zu unterstützen. Die Typen, die am nachhaltigen Wohnungsbau arbeiten, die waren Programmierer, aber ein paar von ihnen hatten Architektur studiert. Sie schreiben also ein Proposal, und die Drei Weisen flippen aus vor Begeisterung. Vor allem Bailey. Der findet es toll, die Neugier von großartigen jungen Köpfen zu unterstützen. Und seine Bibliothek ist der Wahnsinn. Wir sind da.«

Sie traten aus dem Aufzug und in einen langen Gang, der in dunklem Kirsch- und Walnussholz gehalten war und von einer Reihe massiger Kronleuchter in ruhiges bernsteinfarbenes Licht getaucht wurde.

»Alte Schule«, bemerkte Mae.

»Du weißt über Bailey Bescheid, oder? Er liebt diesen alten Mist. Mahagoni, Messing, Buntglas. Das ist seine Ästhetik. Bei den anderen Gebäuden wird er überstimmt, aber hier kann er sich austoben. Sieh dir das an.«

Annie blieb vor einem großen Gemälde stehen, einem Porträt von den Drei Weisen. »Abscheulich, was?«, sagte sie.

Das Gemälde war plump, wie ein Bild, das ein Highschoolschüler im Kunstunterricht produzieren könnte. Die drei Männer, die Gründer des Unternehmens, waren pyramidenförmig angeordnet. Jeder von ihnen trug die Kleidung, für die er bekannt war, und die Gesichter zeigten den Ausdruck, der ihre jeweilige Persönlichkeit karikierte. Ty Gospodinov, der visionäre Wunderknabe des Circle, trug eine unscheinbare Brille und ein sehr weites Kapuzenshirt. Er blickte nach links und lächelte. Er schien einen Moment zu genießen, allein, auf irgendeine ferne Frequenz eingestellt. Es hieß, er habe eine leichte Form des Asperger-Syndroms, und das Bild wollte diesen Aspekt anscheinend gezielt unterstreichen. Mit seinem dunklen zerzausten Haar und seinem faltenfreien Gesicht wirkte er nicht älter als fünfundzwanzig.

»Ty sieht irgendwie weggetreten aus, oder?«, sagte Annie. »Kann er aber nicht sein. Wir wären alle nicht hier, wenn er nicht auch so ein scheißbrillanter Managementmeister wäre. Ich erklär dir mal die Dynamik. Du wirst rasch aufsteigen, also weih ich dich ein.«

Ty, geboren als Tyler Alexander Gospodinov, war der Erste der Drei Weisen, erklärte Annie, und alle nannten ihn einfach Ty.

»Das weiß ich schon«, sagte Mae.

»Unterbrich mich jetzt nicht. Ich halte dir dieselbe Predigt, die ich Staatsoberhäuptern halten muss.«

»Okay.«

Annie fuhr fort.

Ty merkte, dass er bestenfalls sozial unbeholfen und schlimmstenfalls eine absolute zwischenmenschliche Katastrophe war. Deshalb traf er nur sechs Monate vor dem Börsengang des Unternehmens eine sehr kluge und profitable Entscheidung: Er stellte die anderen zwei Weisen ein, Eamon Bailey und Tom Stenton. Der Schachzug beschwichtigte die Ängste aller Investoren und verdreifachte letztlich den Wert des Unternehmens. Der Börsengang brachte drei Milliarden Dollar ein, beispiellos, aber nicht überraschend, und sobald er alle finanziellen Sorgen hinter sich und Stenton und Bailey mit an Bord hatte, konnte Ty sich treiben lassen, sich verstecken, verschwinden. Von Monat zu Monat war von ihm immer weniger auf dem Campus und in den Medien zu sehen. Er zog sich zunehmend zurück, und die Aura, die ihn umgab, wuchs, ob mit Absicht oder nicht. Beobachter des Circle fragten sich, Wo ist Ty und was plant er? Diese Pläne blieben geheim, bis sie enthüllt wurden, und mit jeder weiteren Innovation, die der Circle hervorbrachte, wurde unklarer, welche von Ty selbst stammte und welche das Produkt der immer größer werdenden Gruppe von Erfindern war, den besten der Welt, die sich nun im Schoß des Unternehmens sammelten.

Die meisten Beobachter gingen davon aus, dass er noch dabei war, und manche behaupteten unbeirrt, sein Fingerabdruck, sein Talent für globale und elegante und grenzenlos skalierbare Lösungen, befände sich auf jeder wichtigen Circle-Innovation. Er hatte das Unternehmen gegründet, als er gerade erst ein Jahr auf dem College war, und das ohne besonderen Geschäftssinn oder erkennbare Ziele. »Wir nannten ihn Niagara«, erzählte sein Zimmergenosse im Studentenwohnheim in einem der ersten Artikel über ihn. »Die Ideen kamen einfach so, sprudelten millionenfach aus seinem Kopf, jede Sekunde an jedem Tag, endlos und überwältigend.«

Ty hatte das anfängliche System entwickelt, das Unified Operating System, das alles online kombinierte, das bis dahin getrennt und schlampig gewesen war – die Profile von Usern in Social Media, ihre Zahlungssysteme, ihre diversen Passwörter, ihre E-Mail-Konten, Benutzernamen, Vorlieben, jedes Tool und jeden Ausdruck ihrer Interessen. Die alte Methode – eine neue Transaktion, ein neues System für jede Website, für jeden Kauf –, das war so, als würde man für jede Art von Besorgung ein anderes Auto benutzen. »Man sollte nicht siebenundachtzig verschiedene Autos haben müssen«, hatte er später gesagt, nachdem sein System das Web und die Welt erobert hatte.

Stattdessen steckte er alles, sämtliche Bedürfnisse und Tools jedes Users, in einen Topf und erfand TruYou – ein Konto, eine Identität, ein Passwort, ein Zahlungssystem pro Person. Schluss mit mehrfachen Passwörtern, Schluss mit mehrfachen Identitäten. Deine Geräte wussten, wer du warst, und deine einzige Identität – das TruYou, nicht verbiegbar und nicht maskierbar – war die Person, die bezahlte, sich registrierte, reagierte, viewte und reviewte, sah und gesehen wurde. Du musstest deinen richtigen Namen verwenden, und der war verbunden mit deinen Kreditkarten, deiner Bank, und dadurch war Bezahlen einfach. Ein einziger Button für den Rest deines Onlinelebens.

Wenn du Circle-Tools benutzen wolltest, und es waren die besten Tools, die dominantesten und omnipräsent und gratis, musstest du das als du selbst tun, als dein wahres Selbst, als dein TruYou. Die Ära der falschen Identitäten, des Identitätsdiebstahls, der mehrfachen Benutzernamen, komplizierten Passwörter und Zahlungssysteme war vorüber. Jedes Mal, wenn du irgendwas sehen, irgendwas benutzen, irgendwas kommentieren oder irgendwas kaufen wolltest, genügte ein Button, ein Konto, alles war miteinander verknüpft und rückverfolgbar und simpel, und alles funktionierte per Handy oder Laptop, Tablet oder Netzhaut. Sobald du ein einziges Konto hattest, trug es dich in jeden Winkel des Internets, zu jedem Portal, jeder Paysite, zu allem, was du machen wolltest.

Innerhalb eines Jahres veränderte TruYou das Internet im Ganzen. Obwohl einige Websites sich zunächst widersetzten und manche Verfechter der Freiheit im Internet lautstark das Recht forderten, online anonym zu bleiben, war TruYou eine Flutwelle, die jede nennenswerte Opposition davonspülte. Es begann mit den E-Commerce-Websites. Wieso sollte irgendeine nicht pornografische Website anonyme User wollen, wenn sie doch genau wissen könnte, wer zur Tür hereingekommen war? Über Nacht wurden sämtliche Kommentarboards höflich, jeder Poster wurde in die Verantwortung genommen. Die Trolle, die das Internet mehr oder weniger erobert hatten, wurden zurück in die Dunkelheit getrieben.

Und diejenigen, die die Aktivitäten von Konsumenten verfolgen wollten oder mussten, hatten ihr Walhalla gefunden: Die realen Kaufgewohnheiten von Menschen waren jetzt wunderbar nachzuverfolgen und zu messen, und das Marketing für diese realen Menschen konnte mit chirurgischer Präzision erfolgen. Die meisten TruYou-User, die meisten Internetuser, die schlicht und ergreifend Einfachheit, Effizienz, ein sauberes und optimiertes Erlebnis wollten, waren von den Ergebnissen begeistert. Sie mussten sich nicht länger zwölf Identitäten und Passwörter merken; sie mussten nicht länger den Wahnsinn und die Wut anonymer Horden erdulden; sie mussten sich nicht länger mit wahlloser Werbung abfinden, die ihre Interessen meist meilenweit verfehlte. Jetzt waren die Nachrichten, die sie erhielten, fokussiert und präzise und überwiegend sogar willkommen.

Und auf all das war Ty mehr oder weniger zufällig gekommen. Er war es leid gewesen, sich Identitäten einprägen zu müssen, Passwörter und Kreditkarteninformationen einzugeben, deshalb schrieb er einen Code, um das alles zu vereinfachen. Benutzte er absichtlich die Buchstaben seines Vornamens in TruYou? Er sagte, der Zusammenhang sei ihm erst im Nachhinein aufgefallen. Hatte er irgendeine Vorstellung von den kommerziellen Auswirkungen von TruYou? Er behauptete, nein, und die meisten Leute vermuteten, dass das stimmte, dass die Monetarisierung von Tys Innovationen den anderen zwei Weisen zuzuschreiben war, deren Erfahrung und Geschäftstüchtigkeit das alles erst möglich machten. Sie waren es, die TruYou profitabel machten, die Wege fanden, aus Tys Innovationen Kapital zu schlagen, und sie waren es, die das Unternehmen zu der Macht ausbauten, die Facebook, Twitter, Google und schließlich Alacrity, Zoopa, Jefe und Quan überlagerte.

»Tom sieht da nicht sehr gut aus«, bemerkte Annie. »Er ist nicht ganz so haifischmäßig. Aber er findet das Bild angeblich super.«

Unten links von Ty war Tom Stenton, der weltgewandte Boss und selbst ernannte Capitalist Prime – er liebte die Transformers-Figuren. Er trug einen italienischen Anzug und grinste wie der Wolf, der Rotkäppchens Großmutter gefressen hat. Sein Haar war dunkel, an den Schläfen grau meliert, die Augen waren ausdruckslos, unergründlich. Er wirkte eher wie ein Wall-Street-Händler der Achtzigerjahre, der keinen Hehl daraus machte, dass er reich, Single, aggressiv und womöglich gefährlich war. Er war ein globaler Titan von Anfang fünfzig, der anscheinend jedes Jahr stärker wurde, der furchtlos mit seinem Geld um sich warf und seinen Einfluss spielen ließ. Er hatte keine Angst vor Präsidenten. Er ließ sich nicht einschüchtern von Klagen der Europäischen Union oder von Drohungen staatlich finanzierter chinesischer Hacker. Nichts war besorgniserregend, nichts war unerschwinglich, nichts lag außerhalb seiner Gehaltsklasse. Er besaß ein NASCAR-Team, eine oder zwei Rennjachten, steuerte sein eigenes Flugzeug. Er war der Anachronismus im Circle, der protzige Boss, und er löste bei vielen der idealistischen jungen Circler widersprüchliche Gefühle aus.

Seine Art des demonstrativen Konsums war den anderen beiden Weisen gänzlich fremd. Ty hatte eine Dreizimmerwohnung in einem baufälligen Haus ein paar Meilen entfernt gemietet, aber andererseits hatte niemand ihn je zur Arbeit kommen oder nach Hause gehen sehen; alle nahmen an, dass er auf dem Campus wohnte. Und jeder wusste, wo Eamon Bailey wohnte – in einem exponierten, ungemein bescheidenen Vierzimmerhaus auf einer für jeden zugänglichen Straße, zehn Minuten vom Campus entfernt. Stenton dagegen besaß überall Häuser – New York, Dubai, Jackson Hole. Eine Etage ganz oben im Millennium Tower in San Francisco. Eine Insel vor Martinique.

Eamon Bailey, der in dem Gemälde neben ihm stand, wirkte in Gegenwart dieser Männer, die beide zumindest vordergründig Werte vertraten, die den seinen diametral entgegengesetzt waren, völlig mit sich im Reinen, sogar gut gelaunt. Sein Porträt, unten rechts von Tys, zeigte ihn so, wie er war – grauhaarig, rotgesichtig, mit blitzenden Augen, fröhlich und ernst. Er war das öffentliche Gesicht des Unternehmens, die Persönlichkeit, die jeder mit dem Circle verband. Wenn er lächelte, was er beinahe ständig tat, dann nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Augen, ja sogar seine Schultern schienen zu lächeln. Er war ironisch. Er war witzig. Seine Art zu reden war lyrisch und geerdet zugleich, und er überraschte seine Zuhörer immer wieder sowohl mit wunderbaren Formulierungen als auch mit seinem unverblümten gesunden Menschenverstand. Er stammte aus Omaha, aus einer überaus normalen sechsköpfigen Familie, und hatte eine mehr oder weniger unspektakuläre Vergangenheit. Er hatte an der Uni von Notre Dame studiert und seine Freundin geheiratet, die das Saint Mary’s College in derselben Stadt besucht hatte, und jetzt hatten sie vier Kinder, drei Mädchen und schließlich einen Jungen, der leider mit zerebraler Kinderlähmung zur Welt gekommen war. »Er ist berührt worden«, so Baileys Formulierung, als er die Geburt seines Sohnes dem Unternehmen und der Welt bekannt gab. »Deshalb lieben wir ihn umso mehr.«

Von den Drei Weisen ließ sich Bailey noch am ehesten auf dem Campus blicken, zum Beispiel um bei der Talentshow des Unternehmens Dixieland-Posaune zu spielen, um in Talkrunden den Circle zu repräsentieren, wobei er schon mal auflachte oder auch nur mit den Schultern zuckte, wenn er auf die eine oder andere Ermittlung der Kommunikationsaufsichtsbehörde FCC angesprochen wurde oder eine hilfreiche neue Funktion oder bahnbrechende Technologie vorstellte. Er ließ sich gern Onkel Eamon nennen, und wenn er über den Campus ging, dann so, wie es ein geliebter Onkel tun würde, eine Art Teddy Roosevelt in seiner ersten Amtszeit, zugänglich und echt und laut. »Wie Bill Murray über den Golfplatz Pebble Beach marschiert«, beschrieb Stenton ihn einmal. »Von allen geliebt, und ich glaube, er liebt sie auch.« Im Leben wie auch auf diesem Porträt stellten die drei ein seltsames Bukett aus nicht zusammenpassenden Blumen dar, aber es funktionierte zweifelsohne. Alle wussten, dass dieses dreiköpfige Managementmodell funktionierte, und mittlerweile versuchten andere Unternehmen der Fortune Global 500, diese Dynamik nachzuahmen, mit gemischtem Erfolg.

»Aber wieso«, fragte Mae, »konnten sie sich dann nicht ein richtiges Porträt leisten, von jemandem, der sein Handwerk versteht?«

Je länger sie das Bild betrachtete, desto seltsamer wurde es. Der Künstler hatte die Drei Weisen so posieren lassen, dass jeder von ihnen eine Hand auf die Schulter eines anderen gelegt hatte. Es ergab irgendwie keinen Sinn, und die Art, wie die Arme gebeugt oder gestreckt waren, wirkte völlig anormal.

»Bailey findet es saukomisch«, sagte Annie. »Er hätte es gern in der Haupthalle aufgehängt, aber da hat Stenton sein Veto eingelegt. Du weißt doch, dass Bailey ein Sammler ist? Er hat einen unglaublichen Geschmack. Ich meine, er wirkt immer so jovial und gut gelaunt, wie der Durchschnittsbürger aus Omaha, aber er ist auch ein Kenner, und er ist richtig besessen davon, die Vergangenheit zu bewahren – sogar die schlechte Kunst der Vergangenheit. Wart’s ab, bis du seine Bibliothek siehst.«

Sie kamen zu einer gewaltigen Tür, die aussah wie aus dem Mittelalter und es wahrscheinlich auch war, etwas, das Barbaren in Schach gehalten hatte. Ein Paar riesige Türklopfer in Form von Hundefratzen standen in Brusthöhe vor, und Mae ließ einen lahmen Witz vom Stapel.

»Hübsche Möpse.«

Annie schnaubte, strich mit der Hand über ein Pad an der Wand, und die Tür ging auf.

Annie blickte sie an. »Heilige Scheiße, was?«

Die Mischung aus Bibliothek und Büro hatte drei Stockwerke, drei Ebenen, die rings um ein offenes Atrium herumgebaut waren, alles aus Holz und Kupfer und Silber, eine Symphonie aus gedeckten Farben. Es waren gut und gern zehntausend Bücher, die meisten mit Ledereinband, säuberlich auf lackglänzenden Regalen aufgereiht. Zwischen den Büchern standen gestrenge Büsten von bedeutenden Figuren der Geschichte, Griechen und Römer, Jefferson und Jeanne d’Arc und Martin Luther King. Von der Decke hing ein Modell der Spruce Goose – oder war es die Enola Gay? Ein gutes Dutzend von innen beleuchteter Globen erwärmten mit ihrem butterigen, sanften Licht verschiedene verlorene Nationen.

»Eine ganze Menge von dem Zeug hier hat er gekauft, kurz bevor es versteigert oder weggeworfen werden sollte. Das ist seine Mission, weißt du. Er geht zu den Eigentümern, die in finanziellen Nöten stecken, zu Leuten, die ihre Kostbarkeiten mit riesigen Einbußen verkaufen müssen, und er zahlt für alles marktübliche Preise und gibt den ursprünglichen Besitzern unbegrenzten Zugang zu dem Zeug, das er gekauft hat. Solche Typen sind oft hier, Grauhaarige, die herkommen, um zu lesen oder um ihre Sachen zu berühren. Oh, komm, das musst du sehen. Das wird dich umhauen.«

Annie führte Mae die drei Treppen hinauf, die alle mit kunstvollen Mosaiken gefliest waren – Reproduktionen von irgendwas aus byzantinischer Zeit, vermutete Mae. Sie hielt sich auf dem Weg nach oben an dem Messinggeländer fest und bemerkte nicht einen Fingerabdruck, nicht den kleinsten Schmutzfleck. Sie sah grüne Leselampen, mit glänzendem Kupfer und Gold überzogene Teleskope, die auf die vielen Fenster mit Facettenglas zeigten – »Oh, schau mal hoch«, sagte Annie. Mae tat es und sah, dass die Decke aus Buntglas war, eine hitzige Darstellung von zahllosen kreisförmig angeordneten Engeln. »Das stammt aus irgendeiner Kirche in Rom.«

Sie erreichten das oberste Stockwerk der Bibliothek, und Annie führte Mae durch schmale Korridore aus Büchern mit gerundetem Rücken, von denen manche so groß waren wie Mae – Bibeln und Atlanten, illustrierte Geschichtsbände über Kriege und Aufstände, längst untergegangene Nationen und Völker.

»So. Jetzt pass auf«, sagte Annie. »Moment. Bevor ich es dir zeige, musst du mir eine mündliche Verschwiegenheitserklärung geben, okay?«

»Klar.«

»Ernsthaft.«

»Das ist mein Ernst. Ich nehme das hier ernst.«

»Gut. Also, wenn ich dieses Buch nehme …«, sagte Annie und zog einen großen Band mit dem Titel The Best Years of Our Lives heraus. »Sieh mal«, sagte sie und trat zurück. Langsam schwang die Regalwand mit ihren hundert Büchern nach innen und offenbarte eine Geheimkammer. »Total abgefahren, oder?«, sagte Annie, und sie gingen hinein. Die runden Wände des Raumes waren von Büchern gesäumt, doch die Hauptattraktion war ein Loch in der Mitte des Fußbodens, umringt von einem Kupfergeländer. Eine Stange ragte durch den Boden und verschwand nach unten in unbekannte Regionen.

»Ist er bei der Feuerwehr?«, fragte Mae.

»Keinen Schimmer«, sagte Annie.

»Wo führt die hin?«

»Soweit ich weiß zu Baileys Parkplatz.«

Mae fielen keine passenden Adjektive ein. »Bist du mal da runtergerutscht?«

»Nee, dass er mir das überhaupt gezeigt hat, war schon riskant. Hätte er eigentlich nicht machen sollen. Das hat er mir gesagt. Und jetzt zeige ich es dir, was total blöd ist. Aber da siehst du mal, wie der Typ drauf ist. Er kann alles haben, was er will, und was er will, ist eine Feuerwehrstange, die sieben Stockwerke runter in die Tiefgarage führt.«

Ein Tropfgeräusch kam aus Annies Ohrhörer, und sie sagte »Okay« zu wem auch immer am anderen Ende. Es war Zeit zu gehen.

 

»Okay«, sagte Annie im Aufzug – sie fuhren wieder hinunter zu den Hauptbüroetagen –, »ich muss los und was arbeiten. Plankton unter die Lupe nehmen.«

»Was?«, fragte Mae.

»Ich meine kleine Start-ups, die hoffen, der große Wal – das sind wir – findet sie lecker genug, um sie zu fressen. Einmal die Woche haben wir eine Reihe von Meetings mit diesen Typen, diesen Möchtegern-Tys, und sie versuchen, uns davon zu überzeugen, dass wir sie unbedingt aufkaufen müssen. Das Ganze ist ein bisschen traurig, weil sie nicht mal mehr so tun, als hätten sie irgendwelchen Umsatz oder auch nur Potenzial dazu. Jedenfalls, ich übergebe dich jetzt an zwei Firmenbotschafter. Die nehmen ihren Job sehr ernst. Nur damit du gewarnt bist: Die gehen wirklich sehr in ihrem Job auf. Die werden dir den Rest vom Campus zeigen, und ich hol dich dann anschließend für die Sonnenwendparty ab, okay? Fängt um sieben an.«

Die Türen öffneten sich auf der zweiten Etage, nahe dem Glas-Imbiss, und Annie stellte sie Denise und Josiah vor, beide Mitte/Ende zwanzig, beide mit dem gleichen festen, aufrichtigen Blick, beide mit schlichten Button-down-Hemden in geschmackvollen Farben bekleidet. Sie schüttelten Mae nacheinander mit beiden Händen die Hand und schienen sich fast zu verbeugen.

»Seht zu, dass sie heute nicht arbeitet«, waren Annies letzte Worte, ehe sie wieder in den Aufzug verschwand.

Josiah, ein dünner Mann mit vielen Sommersprossen, richtete seine blauen starren Augen auf Mae. »Wir freuen uns total, dich kennenzulernen.«

Denise, groß gewachsen, schlank, asiatisch aussehend, lächelte Mae an und schloss die Augen, als würde sie den Augenblick auskosten. »Annie hat uns alles über euch beide erzählt, wie lange ihr euch schon kennt. Annie ist das Herz und die Seele von diesem Laden, deshalb sind wir froh, dass du jetzt bei uns bist.«

»Alle lieben Annie«, füge Josiah hinzu.

Ihre Unterwürfigkeit war Mae unangenehm. Sie waren eindeutig älter als sie, behandelten sie aber, als wäre sie eine prominente Besucherin.

»Also, ich weiß, einiges von dem, was wir dir zeigen wollen, ist vielleicht überflüssig«, sagte Josiah, »aber wenn du nichts dagegen hast, würden wir mit dir gern die komplette Besichtigungstour für Einsteiger machen. Wärst du einverstanden? Wir versprechen, wir lassen keine Langeweile aufkommen.«

Mae lachte, sagte, sie sollten loslegen, und folgte.

Der Rest des Tages war eine verschwommene Aneinanderreihung von Glasräumen und kurzen, unglaublich herzlichen Begrüßungen. Alle, die sie kennenlernte, waren schwer beschäftigt, nahezu überarbeitet, aber dennoch begeistert, sie kennenzulernen, überglücklich, dass sie da war, noch dazu eine Freundin von Annie … Sie besichtigte das Gesundheitszentrum und wurde dem Dreadlocks tragenden Leiter, Dr. Hampton, vorgestellt. Sie besichtigte die Notfallklinik und wurde der schottischen Krankenschwester in der Aufnahme vorgestellt. Sie besichtigte die Biogärten, hundert Meter im Quadrat, wo zwei Vollzeitgärtner einer großen Gruppe Circler einen Vortrag hielten, während sie die jüngste Ernte Karotten und Tomaten und Grünkohl kosteten. Sie besichtigte den Minigolfplatz, das Kino, die Bowlingbahnen, den Supermarkt. Schließlich, an der äußeren Ecke des Campus, wie Mae vermutete – sie konnte die Umzäunung sehen, die Dächer des San-Vincenzo-Hotels, wo Circle-Besucher abstiegen –, besichtigte sie die Wohnheime des Unternehmens. Mae hatte schon von ihnen gehört, da Annie erwähnt hatte, dass sie manchmal auf dem Campus übernachtete und diese Zimmer inzwischen ihrem eigenen Zuhause vorzog. Als sie durch die Flure ging und die ordentlichen Zimmer sah, die jeweils mit einer glänzenden Kochnische, einem Schreibtisch, einer bequemen Couch und einem Bett ausgestattet waren, musste Mae zugeben, dass sie eine unerklärliche Anziehungskraft hatten.

»Derzeit sind es hundertachtzig Zimmer, aber wir wachsen schnell«, sagte Josiah. »Bei rund zehntausend Leuten auf dem Campus macht immer ein gewisser Prozentsatz Überstunden oder braucht nur mal tagsüber ein Nickerchen. Die Zimmer sind immer kostenlos, immer sauber – du musst bloß online checken, welche gerade frei sind. Zurzeit sind sie schnell ausgebucht, aber in den nächsten paar Jahren sollen es ein paar Tausend Zimmer werden.«

»Und nach einer Party wie der heute Abend sind immer alle belegt«, sagte Denise mit einem Zwinkern, das verschwörerisch wirken sollte.

Die Besichtigungstour dauerte den ganzen Nachmittag, mit einem Zwischenstopp, um das Essen im Kochkurs zu kosten, den an dem Tag eine berühmte junge Köchin gab, die dafür bekannt war, dass sie alles von einem Tier verwendete. Sie servierte Mae ein Gericht, das geröstetes Schweinegesicht hieß und, wie Mae feststellte, nach ziemlich fettigem Schinkenspeck schmeckte. Sie fand es sehr lecker. Sie kamen während des Rundgangs an anderen Besuchern vorbei, Gruppen von Studenten und Scharen von Lieferanten und, wie es aussah, einem Senator samt Gefolge. Sie kamen an einer Spielhalle vorbei, die mit altmodischen Flipperautomaten und einem Badmintonfeld ausgestattet war, wo, wie Annie erzählt hatte, ein ehemaliger Weltmeister auf Abruf bereitstand. Als Josiah und Denise mit ihr wieder im Zentrum des Campus ankamen, dunkelte es, und Mitarbeiter waren dabei, Tiki-Fackeln auf dem Gras aufzustellen und anzuzünden. Ein paar Tausend Circler versammelten sich in der Dämmerung, und als sie da so zwischen ihnen stand, wusste Mae, dass sie niemals wieder woanders arbeiten, woanders sein wollte. Ihre Heimatstadt und der Rest von Kalifornien, der Rest von Amerika kamen ihr vor wie das heillose Chaos in einem Entwicklungsland. Außerhalb der Circle-Mauern gab es bloß Lärm und Kampf, Versagen und Dreck. Hier dagegen war alles vollkommen. Die besten Leute hatten die besten Systeme gemacht, und die besten Systeme hatten Geldmittel eingebracht, unbegrenzte Geldmittel, die das hier möglich machten: den allerbesten Arbeitsplatz. Und es war ganz logisch, dass dem so war, dachte Mae. Wer könnte Utopia bauen, wenn nicht Utopisten?

 

»Diese Party? Die ist nichts Besonderes«, versicherte Annie Mae, während sie sich langsam an dem Zwölf-Meter-Büfett entlangbewegten. Es war inzwischen dunkel, die Abendluft frisch, aber der Campus war unerklärlicherweise warm und wurde von Hunderten Fackeln erhellt, die bernsteinfarbenes Licht verströmten. »Diese ist Baileys Idee. Er macht keinen auf Erdmutter oder so, aber er hat ein Faible für Sterne, die Jahreszeiten, deshalb steht er auf diesen Sonnenwende-Kram. Irgendwann wird er auftauchen und alle willkommen heißen – das macht er meistens. Letztes Jahr hatte er so eine Art Muskelshirt an. Er ist sehr stolz auf seine Arme.«

Mae und Annie waren auf dem üppigen Rasen, luden sich ihre Teller voll und fanden dann Plätze in dem steinernen Amphitheater, das in eine hohe Grasböschung hineingebaut worden war. Annie füllte Maes Glas mit einem Riesling auf, der, wie sie sagte, auf dem Campus hergestellt wurde, eine neue Sorte, die weniger Kalorien und mehr Alkohol hatte. Mae blickte über den Rasen, über die zischenden Fackelreihen, von denen jede den Feiernden den Weg zu einer anderen Aktivität wies – Limbo, Kickball, Line Dance –, die absolut nichts mit der Sonnenwende zu tun hatten. Die offenbare Beliebigkeit, das Fehlen irgendeines erzwungenen Ablaufs sorgten dafür, dass die Erwartungen der Gäste niedrig waren und dann bei Weitem übertroffen wurden. Alle waren rasch betrunken, und Mae hatte Annie bald aus den Augen verloren, dann verlor sie vollends die Orientierung, landete schließlich bei den Bocciaplätzen, wo eine kleine Gruppe älterer Circler, alle mindestens dreißig, mit Cantaloupe-Melonen Bowling-Pins umkegelten. Sie fand zurück zum Rasen, wo sie bei einem Spiel mitmachte, das die Circler »Ha« nannten und bei dem sich alle bloß auf den Boden legen mussten, sodass sich die Arme oder die Beine oder beides überlappten. Wenn die Person neben dir »Ha« sagte, musstest du es auch sagen. Es war ein saublödes Spiel, aber einstweilen genau das, was Mae brauchte, weil ihr schwindelig war und sie sich in der Horizontalen besser fühlte.

»Da schau her. Sie sieht ganz friedlich aus.« Die Stimme war ganz nah. Mae merkte, dass die Männerstimme sie meinte, und öffnete die Augen. Sie sah niemanden über sich. Nur Himmel, der größtenteils klar war, mit dünnen grauen Wolkenfetzen, die rasch über den Campus und hinaus aufs Meer trieben. Maes Augen fühlten sich schwer an, und sie wusste, dass es nicht spät war, jedenfalls noch keine zehn durch, und sie wollte nicht wie so oft nach zwei oder drei Gläsern einschlafen, deshalb stand sie auf und machte sich auf die Suche nach Annie oder mehr Riesling oder beidem. Sie kam zum Büfett und fand ein Schlachtfeld vor, ein Festmahl, das von Tieren oder Wikingern geplündert worden war, also steuerte sie die nächstbeste Bar an, die aber keinen Riesling mehr hatte und jetzt nur noch irgendeinen Wodka-Energydrink-Mix anbot. Sie ging weiter, fragte wahllos irgendwelche Leute nach Riesling, bis sie einen Schatten spürte, der an ihr vorbeiging.

»Da drüben gibt’s noch welchen«, sagte der Schatten.

Mae drehte sich um und sah eine blau spiegelnde Brille oben an dem undeutlichen Schatten eines Mannes. Er wandte sich ab.

»Lauf ich dir nach?«, fragte Mae.

»Noch nicht. Du stehst still. Du solltest aber mitkommen, wenn du noch was von dem Wein willst.«

Mae folgte dem Schatten über den Rasen und unter einen Baldachin aus hohen Bäumen, durch die das Mondlicht geschossen kam, hundert silberne Speere. Jetzt konnte Mae den Schatten besser sehen – er trug ein sandfarbenes T-Shirt und darüber eine Art Weste, Leder oder Wildleder, eine Kombination, die Mae schon lange nicht mehr gesehen hatte. Dann blieb er stehen und ging unten vor einem Wasserfall in die Hocke, einem künstlichen Wasserfall, der seitlich an der Industriellen Revolution herunterkam.

»Ich hab hier ein paar Flaschen versteckt«, sagte er, die Hände tief in dem Teich, der das Wasser auffing. Als er nichts fand, kniete er sich hin, die Arme bis zu den Schultern eingetaucht, bis er zwei schlanke grüne Flaschen herauszog, aufstand und sich zu Mae umdrehte. Jetzt endlich konnte sie ihn sich genauer ansehen. Sein Gesicht war ein sanftes Dreieck und endete in einem Kinn, das ein so zartes Grübchen hatte, dass es ihr erst jetzt auffiel. Er hatte die Haut eines Kindes, die Augen eines deutlich älteren Mannes und eine markante Nase, schief und krumm, aber irgendwie verlieh sie dem Rest des Gesichts Stabilität, wie der Kiel einer Jacht. Seine Augenbrauen waren dicke Striche und sausten Richtung Ohren, die gerundet, groß, prinzessinnenrosa waren. »Möchtest du zurück zu dem Spiel oder …?« Er schien anzudeuten, dass das »oder« wesentlich besser sein könnte.

»Nicht unbedingt«, sagte sie, obwohl ihr bewusst war, dass sie den Mann nicht kannte, nichts über ihn wusste. Aber weil er die Flaschen hatte und weil sie Annie verloren hatte und weil sie jedem beim Circle vertraute – sie empfand in diesem Moment so viel Liebe für alle innerhalb dieser Mauern, wo alles neu und alles erlaubt war –, folgte sie ihm zurück zu der Party, jedenfalls bis an deren Rand, wo sie sich auf einen hohen Ring aus Stufen mit Blick über den Rasen setzten und zuschauten, wie die Silhouetten umherrannten und kreischten und hinfielen.

Er öffnete beide Flaschen, reichte eine Mae, trank einen Schluck aus seiner und sagte, sein Name sei Francis.

»Nicht Frank?«, fragte sie. Sie hob die Flasche und füllte ihren Mund mit zuckersüßem Wein.

»Manche wollen mich so nennen, und ich … ich bitte sie, es nicht zu tun.«

Sie lachte, und er lachte.

Er war Entwickler, sagte er, und er war seit fast zwei Jahren beim Unternehmen. Davor war er eine Art Anarchist gewesen, ein Provokateur. Er hatte den Job hier bekommen, nachdem er sich schneller ins Circle-System eingehackt hatte als irgendjemand sonst. Jetzt war er im Securityteam.

»Ich hab heute meinen ersten Tag«, sagte Mae.

»Niemals.«