Der Clan der Wölfe 3: Feuerwächter - Kathryn Lasky - E-Book + Hörbuch

Der Clan der Wölfe 3: Feuerwächter Hörbuch

Kathryn Lasky

5,0

Beschreibung

Jungwolf Faolan und seine Gefährtin Edme haben es geschafft: Sie sollen in die Garde aufgenommen werden, die die Heiligen Vulkane bewacht. Doch als ein Bärenjunges entführt wird, geraten die Gardewölfe unter Verdacht. All ihre Unschuldsbeteuerungen bleiben vergebens: Grizz, der Bär aller Bären, rast vor Wut und ruft seine Anhänger zum Kampf gegen die Wölfe. Jetzt liegt es an Faolan und Edme, einen drohenden Krieg zu verhindern. Band 3 der abenteuerlichen Tierfantasy-Reihe von Bestseller-Autorin Kathryn Lasky!

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Zeit:3 Std. 49 min

Sprecher:Stefan Kaminski
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Als Ravensburger E-Book erschienen 2014Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© Ravensburger Verlag GmbHAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.Deutsche Erstausgabe © 2014 Ravensburger Verlag GmbH Copyright © 2011 by Kathryn Lasky, All rights reservedPublished by Arrangement with SCHOLASTICINC., 557 Broadway, New York, NY 10012 USADie Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Wolves of the Beyond. Watch Wolf bei Scholastic Press.Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Redaktion: Franziska Jaekel
Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie, Zürich Verwendete Fotos von Straublund/Getty Images und Bruce Lichtenberger/Photolibrary/Getty ImagesVorsatzkarte: Wahed KhakdanISBN 978-3-473-47536-0www.ravensburger.de

Zwei Wölfe standen auf einem windgepeitschten Felsen und blickten auf ein Lager hinunter, in dem noch vor wenigen Tagen ein Wettkampf stattgefunden hatte. Faolan, der größere Wolf, hatte ein silbernes Fell und eine missgebildete Pfote. Die kleinere Wölfin namens Edme war ein armseliges Geschöpf mit nur einem Auge. Trotzdem hatten beide den Wettkampf gewonnen und waren in die angesehenste Wolfsgemeinschaft der Hinterlande gewählt worden: in den Clan der Gardewölfe am Kreis der Heiligen Vulkane.

Jahrelang waren sie als Knochennager in ihren Clans verhöhnt und misshandelt worden. Nun durften sie endlich aufrecht stehen, die Ohren nach vorn legen und ihre Schwänze hoch in den Wind halten.

Doch bevor sie sich zum Kreis der Heiligen Vulkane aufmachten, um dort ein neues Leben zu beginnen, wartete noch eine letzte Aufgabe auf sie. Die Slaan Leat – die Abschiedsreise, auf der sie ihren Frieden mit sich selbst finden sollten. Es war eine Reise zur Wahrheit, zum Verstehen und zur Aussöhnung mit ihrem Schicksal, denn Faolan und Edme waren als Malcadh, als missgebildete Welpen, zur Welt gekommen.

Ein Malcadh wurde sofort nach seiner Geburt aus dem Wolfsclan ausgestoßen und in der Wildnis ausgesetzt. Dort wurde es dem Tod überlassen. Wenn es überlebte und aus eigener Kraft in den Clan zurückkehrte, wurde es als Knochennager aufgenommen. Die einzige Möglichkeit, zu Ehre und Ansehen zu gelangen, war ein Platz in der Wolfsgarde, die an den fünf Heiligen Vulkanen die sagenumwobene Glut von Hoole bewachte. Aber zuvor, so verlangte es ein uralter Brauch aus den Zeiten des Großen Eismarsches, musste der Knochennager den Ort aufsuchen, an dem er ausgesetzt worden war. Erst dann durfte er den Vulkankreis betreten. Es war wichtig, dass der neue Gardewolf die Stelle wiedersah, an der er als hilfloses Neugeborenes beinahe gestorben wäre. Dadurch sollte er begreifen, dass die Zeit der Demütigung und Misshandlung endgültig vorbei war.

Faolan und Edme hatten vom Fengo der Garde erfahren, wo ihre Tummfraws lagen. Faolan war am Ufer des großen Flusses ausgesetzt worden, der die Hinterlande in zwei Hälften teilte. Edmes Tummfraw lag auf dem nördlichsten Felsgipfel des Krummrückens.

Ein bitterkalter Wind fegte durch das Fell der beiden Wölfe. Das Wetter war ungewöhnlich kalt für einen Frühlingsmond, den Mond der abgeworfenen Geweihe. Die beiden Wölfe blickten zum Himmel auf, an dem dicke Wolken dahinjagten, als würde jeden Moment ein Schneesturm losbrechen. Aber Faolan und Edme verschwendeten kaum einen Gedanken an das Wetter. Ihr Geist war ganz von ihrer Reise erfüllt und tausend Fragen gingen ihnen durch den Kopf. Werde ich wirklich meinen Frieden finden? Kann ich das ganze Elend vergessen, das ich erlitten habe? Und werde ich endlich ein Zuhause bekommen? Werde ich endlich dazugehören?

Die Worte des Fengo hallten ihnen noch in den Ohren: Geht jetzt eures Weges, findet eure Tummfraws und erkennt, dass ihr fortan nicht mehr verflucht seid. Ihr seid keine Malcadh mehr. Ihr seid Wölfe der Vulkangarde. Verrichtet euren Dienst in Würde. Also spricht der erste Fengo, der uns vor über tausend Jahren aus dem Land der Langen Kälte in die Hinterlande geführt hat.

„Faolan, ich muss dich was fragen“, sagte Edme zögernd. „Hast du irgendwie gespürt, wo dein Tummfraw ist, bevor der Fengo es dir gesagt hat?“

„Ich wusste, dass er am Flussufer liegt. Donnerherz hat es mir gesagt, aber wo genau, das wusste ich natürlich nicht.“

„Und jetzt, wo du es weißt, Faolan, fühlt es sich da richtig an?“ Edme heftete ihr eines Auge auf ihn. Faolan und Edme waren zusammen aufgebrochen, weil sie ungefähr in dieselbe Richtung mussten. Erst wenn die Sonne am nächsten Morgen über den Horizont stieg, würden sie getrennte Wege gehen. Und wenn sie ihre Tummfraws gefunden hatten, würden sie wieder zusammenkommen und gemeinsam zum Kreis der Heiligen Vulkane wandern.

„Warum fragst du mich das, Edme? Der Fengo muss es doch wissen.“

„Ja, schon. Ich kann es dir nicht erklären. Dieser Felsgipfel auf dem Krummrücken ruft gar nichts in mir wach. Und ich habe gehört, dass jeder Knochennager ein Gespür für den Ort haben soll, an dem er ausgesetzt wurde. Ein untrügliches Gefühl.“

„Und das hast du nicht?“

„Ich bin mir nicht sicher.“ Edme hielt inne. „Aber wenn, dann nicht für den nördlichen Gipfel des Krummrückens. Dieser Ort kommt mir völlig falsch vor.“ Sie schüttelte heftig den Kopf, als wollte sie etwas loswerden, das sie zutiefst beunruhigte.

Faolan blickte seine Freundin bekümmert an. Sie waren jetzt keine verachteten Knochennager mehr. Wie konnte Edme dann so unglücklich sein?

Edme war die schmächtigste und unansehnlichste von allen Knochennagern, aber ihr Geist war stark und kühn. Faolan hatte Edme noch nie jammern gehört. Im Gegenteil, sie war immer zuversichtlich und fröhlich, obwohl sie aus dem Clan der MacHeath stammte, der für seine Grausamkeit berüchtigt war. Auch jetzt versuchte sie ihre Angst zu verbergen und nach außen hin tapfer zu erscheinen, was Faolan vor Mitgefühl die Kehle zuschnürte.

„Sieh dir die Sterne am Himmel an, Faolan. Da vorne ist der Große Wolf, der zur Höhle der Seelen weist. Wie nannte Donnerherz die Höhle der Seelen noch mal?“

Faolan lächelte. Das war typisch Edme – immer voller Neugier und Anteilnahme für andere, auch wenn sie noch so sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt war.

„Bei den Bären heißt die Höhle der Seelen Ursulana.“

„Was für ein schöner Name – Ursulana.“ Edme ließ sich Silbe für Silbe auf der Zunge zergehen.

„Manchmal denke ich, dass es in Wahrheit nur einen Himmel für alle gibt, ohne irgendwelche Grenzen.“

„Oh ja, das wäre schön!“, rief Edme und stimmte ein Lied an, das sie sich während des Heulens erst ausdachte. Lange, weithin hallende Laute erfüllten die Nacht. Im Osten gingen die Sternbilder auf und der Himmel funkelte vor Lichtern. Faolan lauschte andächtig. Er hoffte von ganzem Herzen, dass er Recht hatte, dass Edme die Wahrheit heulte und es letztendlich nur einen Himmel gab. Dann würde er eines Tages wieder mit der Grizzlybärin Donnerherz vereint sein, die ihn aufgenommen hatte, als er von seinem Wolfsclan ausgesetzt worden war. Donnerherz, die ihn geliebt und aufgezogen hatte, als sei er ihr eigenes Fleisch und Blut.

Die letzte Nacht verbrachten Faolan und Edme an einem kleinen Sumpf, der mit winzigen leuchtend gelben Magenwurzblüten übersät war. Unter einem Felsvorsprung legten sie sich schlafen. Eine Spinne hatte ihr Netz über den Felsen gewoben und die seidigen Fäden zitterten leicht im Nachtwind. Faolan war überwältigt von ihrer zarten Schönheit. „Weißt du was, Edme? Ich hab mal gehört, dass Spinnwebenseide unglaublich stark ist. Viel stärker, als man sich vorstellen kann.“

„Wirklich?“ Edmes Augen funkelten begeistert. „Wo hast du das denn aufgeschnappt, Faolan?“

„Die Sark vom Sumpfmoor hat es mir gesagt. Sie verwendet Spinnenseide, um Blutungen zu stillen und Wunden zu verbinden.“

„Du bist sehr eng befreundet mit der Sark, stimmt’s?“, fragte Edme, und ihre Stimme klang ein bisschen ängstlich. Das überraschte Faolan nicht. Fast alle Hinterlandwölfe erstarrten, sobald die Rede auf die Sark kam, denn die unheimliche alte Wölfin war überall als Hexe verschrien.

„Ja, das stimmt. Die Sark versteht mich auf eine Weise wie sonst niemand.“

„Meinst du, deine Mutter war bei ihr? Du weißt schon, nachdem …“ Edme beendete den Satz nicht, aber Faolan wusste, was sie meinte.

Viele Wolfsmütter, die ein Malcadh geboren hatten und von ihrem Clan ausgestoßen wurden, suchten Trost und Hilfe bei der Sark. Die Einsiedlerin gab ihnen starke, selbst gebraute Tränke, die „das Vergessen“ einleiteten, wie sie es nannte. Das war nötig, damit die Wölfinnen weiterleben konnten. Wie hätten sie auch sonst die Kraft aufbringen sollen, einen neuen Clan und einen neuen Gefährten zu suchen und einen neuen Wurf gesunder Welpen zur Welt zu bringen?

„Nein, wer immer meine Mutter gewesen sein mag, sie war nicht bei der Sark. Das hat mir die Sark erzählt. Und was ist mit deiner Mutter? War sie bei ihr?“

Edme zögerte mit der Antwort. „Ich weiß es nicht. Ich habe gar keine Vorstellung davon, genauso wenig wie dieser Tummfraw Erinnerungen in mir wachruft.“ Der Felsgipfel auf dem Krummrücken war ihr so fremd wie die fernsten Sterne im Universum.

Gleich nach ihrem Aufbruch hatten die beiden jungen Wölfe die Witterung von Elchen aufgenommen, die mit ihren neugeborenen Kälbern nach Norden zurückkehrten. Rentiere warfen in den Frostmonden ihr Geweih ab, Elche dagegen erst in den Frühjahrsmonden. Daher hieß diese Zeit „Monde der abgeworfenen Geweihe“ oder manchmal auch „Monde der neuen Geweihe“.

Die Mäuse machten kurzen Prozess mit den Geweihen, die überreich an Nährstoffen waren. Aber Faolan und Edme hatten trotzdem noch ein paar unversehrte gefunden und Zeichen hineingenagt, die die Geschichte ihrer Slaan Leat erzählten. Alle Gardewölfe besaßen diesen unwiderstehlichen Drang, Knochen zu benagen. Kein Gesetz verlangte von ihnen, einen Slaan-Leat-Knochen zum Kreis der Vulkane mitzubringen. Aber irgendetwas trieb sie dazu, die Erlebnisse ihrer Abschiedsreise festzuhalten. Ob die Geweihe jemals gelesen wurden, war unerheblich. Hauptsache, sie hatten diese Reise einem Knochen anvertraut – ihre Slaan Leat, die ein Meilenstein auf ihrem Weg vom Knochennager zu einem Leben im Dienst der Heiligen Vulkane war.

Also schnitzten sie eifrig die Muster der Sternbilder hinein, die über ihnen schwebten, um diesen magischen Moment wiederzugeben. Und die gelben Magenwurzblüten, die sich gespenstisch über den Sümpfen wiegten, die zitternde Schönheit der Spinnweben, die im Dunkel glitzerten, und den langsamen, leisen Gesang der Gräser, die der Wind in dieser Spätfrühlingsnacht erschauern ließ.

Als der Mond davonschlüpfte, schlummerten die Wölfe ein und schmiegten sich eng aneinander, denn die Nacht wurde spürbar kälter. Faolan träumte von dem Feuer, das in der Streunerburg des MacDuncan-Clans gebrannt hatte, als er vor den Raghnaid, den Obersten Gerichtshof der Wölfe, gezerrt wurde, weil er gegen die Jagdgesetze verstoßen hatte. Doch er träumte nicht von der Wärme dieses prasselnden Feuers, die in scharfem Kontrast zu den kalten Blicken der Ratsältesten gestanden hatte. Nein, er träumte von einer seltsamen Zeichnung, einem Wirbel aus leuchtendem Orangegelb, der sich tief im Inneren der Flammen verbarg. Dieses kreisende Muster hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Zeichnung an Faolans gespreizter Pfote. In seinem Traum wurde diese Spirale immer größer. Sie wirbelte wild herum, bis das Gebilde ihn zu verschlingen drohte und das Gesicht des verstorbenen Oberhaupts Duncan MacDuncan hinter den Flammen hervortrat.

„Er wusste es! Er wusste es!“

„Faolan! Wach auf!“

Faolan war mit einem Satz auf den Beinen und ragte jetzt über Edme auf. Edme schaute zu ihm hoch und ihr Auge schimmerte mitfühlend. „Wer hat was gewusst?“, fragte sie sanft.

„Hab ich was im Schlaf gesagt?“

„Im Traum, meinst du wohl. Es muss ein schlimmer Albtraum gewesen sein.“

„Nein, nein! Das war kein Albtraum. Jedenfalls glaube ich es nicht. Ich habe von einem Feuer geträumt, von Wärme“, sagte Faolan.

„Ich habe auch von Wärme geträumt, ein Wintertraum“, seufzte Edme.

„Schau mal!“ Faolan spähte aus ihrem Versteck.

Eine dünne Eisschicht versiegelte das flache Wasser der Sümpfe. Das Licht der Sonne, die gerade am östlichen Horizont aufstieg, zersplitterte in den scharfen Spitzen der Gräser, die starr vom Raureif waren.

„Beim Lupus, was geht hier vor?“, murmelte Edme. „Sieh nur, das Spinnennetz ist noch da, ganz vereist, aber ohne einen Riss. Dabei hat der Wind die ganze Nacht geblasen. Du hast Recht, Faolan, Spinnenseide muss wirklich sehr stark sein.“

„Ja, das Netz hält, obwohl es durch den Frost doppelt so schwer ist.“

Edmes Zähne klapperten vor Kälte und sie schmiegte sich eng an Faolan. „Es ist doch fast Sommer, bald beginnt die Zeit des Fliegenmonds. Wie kann es da nur so kalt sein? Das macht doch keinen Sinn!“

„Die Elche und Rentiere und alle anderen Wandertiere werden umdrehen und wieder nach Süden ziehen, wenn es so bleibt“, seufzte Faolan.

„Ja, und die Hungermonde werden das ganze Jahr über anhalten.“

Am Rand des Sumpfs trennten sich die beiden Wölfe. Jeder trug sein geschnitztes Geweihstück unter dem Kinn. Faolan wandte sich nach Süden zum Fluss, Edme nach Norden zum Krummrücken. Zu Beginn des Fliegenmonds, dem ersten richtigen Sommermond, wollten sie hier wieder zusammentreffen.

„Hoffentlich werden aus den Fliegen keine Schneeflocken“, scherzte Edme, und es klang fast so fröhlich wie früher. Faolan atmete einen Augenblick auf. Vielleicht war seine Freundin doch nicht so verzweifelt wegen dieser Tummfraw-Geschichte, wie er gedacht hatte. Und wenn sie erst auf dem Gipfel angekommen war, würde sie bestimmt etwas spüren.

Der unerwartete Nachtfrost war inzwischen verflogen und die Sonne stand hell an der leuchtenden Himmelskuppel. Edme hatte damit gerechnet, dass die Gipfel des Krummrückens verschneit sein würden. Trotzdem erschrak sie, als sie sah, wie tief die Schneegrenze gesunken war. Aber die Felshänge waren dennoch mit Blüten übersät, den „Hinterlandblumen“, die berühmt für ihre Widerstandskraft waren. Sie wuchsen selbst im kargsten Felsland, wo es mehr Steine als Erde gab und die eisigen Winde alles wegfegten, was sich nicht mit aller Kraft festklammerte. Ihre Blütezeit war kurz, aber die Frostnacht hatte sie nicht abgeschreckt. Edme hielt an und setzte ihr Geweihstück ab, um das zarte Antlitz eines Eisveilchens zu betrachten. Eisveilchen gehörten zu den allerersten Hinterlandblumen, die schon am Ende der Eisbruchmonde aus der Erde sprossen. Staunend spähte Edme in den violetten Blütenkelch mit den winzigen strahlenförmig angeordneten Staubgefäßen in der Mitte und wunderte sich, wie dieses zerbrechliche Gebilde überlebt hatte. Die Blume reichte nur bis zur Hälfte einer ihrer Krallen und schien direkt aus dem Fels zu wachsen. Sie ist so zart und doch so stark – wie das Spinnennetz nach dem Frost. Ich muss auch stark sein, dachte Edme, während sie weiter zum Kamm des Krummrückens hinaufwanderte. Aber mit jedem Schritt wuchs ihr Unbehagen. Ihr Herz klopfte schwer. In ihren Augen war das keine Reise zur Wahrheit, sondern ein Irrweg.

Als sie endlich den Kamm erklommen hatte und nach Norden zu dem Felsgipfel wanderte, war es fast Mittag. Du musst es hinter dich bringen, ermahnte sie sich. So schnell wie möglich. Der Gipfel konnte keine steile Felszacke sein, das wusste sie. Wie denn auch? Aus der Ferne zeichneten sich alle Gipfel klar und himmelhoch ab, als wollten sie nach den Sternen greifen. Je größer die Entfernung, desto schärfer trat der Gipfel hervor, doch beim Näherkommen flachte das Land ab. Vor ihr ragte jetzt der Tummfraw auf, ein breiter Tafelfelsen. Edme blieb stehen und wartete. Aber sie spürte nichts. Ich war nie hier – nie im Leben. Das ist nicht der Ort, an dem ich ausgesetzt wurde!

Der Geruch des Flusses veränderte sich kaum, egal in welcher Jahreszeit. Selbst im Winter, wenn er mit einer dicken Eisschicht bedeckt war, drang der Flussgeruch durch. Nach dem Eisbruchmond im Frühjahr erwachte der Fluss aus seiner Winterstarre. Der Moderhauch des Grundschlamms vermischte sich mit dem Holzgeruch der Baumwurzeln, die an den Ufern wuchsen und von dem strömenden Wasser blank gescheuert wurden. Faolan ging das Herz auf, als er an dem Frühlings- und Sommerbau vorbeikam, in dem er seine frühe Kindheit verbracht hatte. Dort hatte er in den Armen seiner zweiten Milchmutter gelegen – der großen, warmherzigen Grizzlybärin Donnerherz.

Er erkannte den Bau sofort wieder. Er lag an einem Steilufer, direkt über einer großen Höhle, vor der Donnerherz’ letztes Junges von zwei Pumas getötet worden war. Faolan blieb stehen. Nach all dieser Zeit waren noch Reste einer Schlitterspur zu sehen, die vom höher gelegenen Gelände der Höhle ins Wasser hinabführte. Abgebrochene Baumstümpfe zeugten noch von der Wut der Grizzlybärin, die sich halb wahnsinnig vor Schmerz in den Fluss gestürzt hatte. Das Wasser war aber an dieser Stelle zu flach, sodass sie nicht darin ertrinken konnte. Stundenlang hatte Donnerherz dort in den Wind geheult und den Großen Ursus angefleht, ihr Leben zu nehmen, bis sich plötzlich etwas an ihrem Bein verfangen hatte. Zuerst hielt sie es für einen Erdklumpen, der sich in dem tosenden Schmelzwasser vom Ufer losgerissen hatte. Aber es war kein Erdklumpen und auch kein Treibgut, sondern ein winziges Wolfsjunges.

Wie oft hatte Donnerherz ihm diese Geschichte erzählt. Ihre Worte hallten in seinem Kopf wider und er starrte auf die Stelle, an der Donnerherz ihn gefunden hatte. Der Tummfraw, auf dem ihn die Obea ausgesetzt hatte, war nur eine halbe Meile davon entfernt. Aber das hatte noch Zeit. Faolan musste erst nachdenken. Ich habe den Tod gesucht, hatte Donnerherz zu ihm gesagt, und du das Leben. Du warst ein Geschenk des Flusses. Die Geschichten waren versiegt, seit Donnerherz gestorben war. Faolan waren nur ihre Knochen geblieben, in die er seine Erinnerungen einritzen konnte.

Endlich brach er zu seinem Tummfraw auf. Die Stelle war viel leichter zu finden, als er gedacht hatte. Er spähte zu dem Ufer hinunter, das von den Schmelzwassern der letzten drei eisreichen Winter unterhöhlt war. Auf einmal nahm er ein Pulsieren tief in seinem Inneren wahr und sein Nackenfell sträubte sich. Ja, das hier war der Ort, kein Zweifel. Eine verwitterte Furche, die vielleicht entstanden war, als der Eissockel, auf dem die Obea ihn ausgesetzt hatte, vom Ufer weggerissen wurde. Das also war sein Tummfraw, dieser winzige Uferfleck, an dem er als winselndes Neugeborenes zum Sterben zurückgelassen worden war.

Er umkreiste die Stelle dreimal. Der Ort hatte etwas Vertrautes an sich, das die Duftdrüsen zwischen seinen Zehen anregte. Und ehe er wusste, wie ihm geschah, markierte Faolan den Boden um die Stelle herum. Dann ließ er sich auf den Hinterläufen nieder und blickte auf den Fluss hinaus, der sanft an ihm vorüberströmte. Nebel stieg aus dem Wasser auf, das noch kalt vom Winter war und sich mit der wärmeren Luft vermischte. Der Nebel wurde dicker, zog sich zusammen und löste sich in wellenförmige Muster auf, die etwas nahezu Hypnotisches hatten. Das Donnern der reißenden Sturzbäche in jener Nacht, in der er ausgesetzt worden war, drängte sich in sein Gedächtnis zurück und rauschte in seinen Ohren. Verzweifelt klammerte er sich am Ufer fest, so wie er sich damals als winziger Welpe an sein Eisfloß geklammert hatte. Und mit einem Schlag waren alle Empfindungen, die ihn in diesem Moment überwältigt hatten, wieder da – der Schwindel und die Übelkeit, wenn die Eisscholle im Fluss herumgewirbelt wurde, die entsetzliche Kälte, wenn das Eiswasser über ihn hinwegschwappte, und das Brüllen, das immer lauter wurde. Faolan klammerte sich noch fester an die Uferböschung und schaute tief in den Nebel hinein, bis er ein vertrautes Muster erkannte. Dieselbe Zeichnung, die er letzte Nacht im Feuer gesehen hatte, kreiste jetzt in diesem Nebel vor ihm.

Mit einem Mal wusste Faolan, was er tun musste. Er würde einen Teil von Donnerherz’ Knochen in die Höhle am Steilufer bringen. Dann würde er einen Drumlyn errichten – einen kleinen Knochenhügel zu Ehren seiner zweiten Milchmutter. Ihn quälte schon lange der Gedanke, dass er nie gesehen hatte, wie Donnerherz’ Seele, ihre Lochin, die Sternenleiter zum Bärenhimmel hinaufgeklettert war. Der Drumlyn half ihr vielleicht, den Himmel zu erreichen. Damit würde seine Slaan Leat sich für ihn erfüllen.

Der Nebel hatte sich inzwischen gelichtet und der Fluss strömte glatt und dunkel dahin wie ein bernsteinfarbenes Band. In zügigem Tempo lief Faolan weiter, und wie aus dem Nichts schossen plötzlich Fragen durch seinen Kopf: Meine erste Milchmutter! Wo ist sie? Was hat sie gedacht, als sie meine Pfote sah? Fühlte sie sich verflucht, weil sie ein Malcadh geboren hatte? Und wo ist der Rest meiner Familie? Leben meine Geschwister vielleicht noch in dem Clan, in dem ich geboren wurde?

Als Edme vom nördlichen Gipfel des Krummrückens herunterschlitterte, fragte sie sich, was Faolan beim Anblick seines Tummfraw empfunden hatte. Ganz sicher nicht die Leere, die sie in sich gespürt hatte, als sie auf den Tafelfelsen getreten war. Wenn sie an diesen Moment dachte, war ihr erster Impuls, die Schuld bei sich selbst zu suchen. Aber das ergab keinen Sinn. Es lag nicht an ihr. Der Tummfraw war falsch oder der Fengo hatte einen Fehler gemacht. Einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, zur Obea des MacHeath-Clans zu gehen und sie ohne Umschweife zu fragen, ob der Fels auf dem Krummrücken der richtige Ort war. Aber sie brachte es nicht übers Herz. Der ganze Clan war ihr so sehr verhasst, dass sie keine Lust hatte, noch einmal in das Gebiet der MacHeath zurückzukehren.

Die Obea des Clans war eine weiße Wölfin namens Airmid, ein grausamer Name, der in der alten Wolfssprache „unfruchtbar“ bedeutete. Alle Obeas waren unfruchtbar, aber nur die MacHeath-Wölfe waren herzlos genug, der Obea ihren wahren Namen wegzunehmen und sie nach ihrem traurigen Schicksal zu benennen. Diese Niedertracht lag den MacHeath im Blut. Wölfe, die sich nicht mit ihren grausamen Sitten abfinden konnten, wurden krank und starben oder verließen den Clan. Die einen machten sich in die Frostlande auf und lebten dort mit den Clanlosen in der Wildnis, die anderen zogen weit nach Nordosten zum Clan der MacNamara. Edme schauderte. Mit den MacHeath wollte sie nichts mehr zu tun haben. Sie war sowieso schon viel zu nah an ihren Grenzgebieten.

Vorsichtig kletterte sie die steilen Hänge des Krummrückens hinunter. Dabei fiel ihr etwas ein: Wie hätte ein winziger einäugiger Welpe aus eigener Kraft diesen gefährlichen Abstieg schaffen und zum Clan zurückfinden sollen? Es hieß, dass alle Malcadh, die ihre Aussetzung überlebten, von einem untrüglichen Instinkt in das Gebiet ihres Clans zurückgeführt wurden. Aber Edme konnte das nicht glauben. Sie hatte immer nur den Drang verspürt, so weit wie möglich von ihrem Clan wegzukommen.

Am Fuß des Bergrückens wurde sie unsanft aus ihren Gedanken gerissen. Wie aus dem Nichts tauchten Ingliss und Kyrana vor ihr auf, zwei Jährlingswölfinnen aus dem Häuptlingsrudel der MacHeath. Der Schreck fuhr Edme durch Mark und Bein. Die beiden Jungwölfinnen hatten sie besonders oft gequält und verhöhnt, als sie noch eine Knochennagerin gewesen war. Sie wussten genau, wie sie Edme einschüchtern und verletzen konnten. Immer wieder hatten sie ihr nah an ihrem Auge ins Gesicht gebissen.

Instinktiv senkte Edme den Schwanz und duckte sich in die erste Unterwerfungshaltung. Doch dann erinnerte sie sich, dass sie das gar nicht mehr tun musste. Ich bin keine Knochennagerin mehr. Ich bin Mitglied der Vulkangarde. Von Rechts wegen müssen die beiden vor mir in die Knie gehen, nicht ich vor ihnen. Edmes Nackenfell sträubte sich. Sie legte die Ohren nach vorn und ihr eines grünes Auge funkelte drohend.

„Du hast schnell dazugelernt, was?“, höhnte Ingliss, die größere der beiden Wölfinnen.

„Ja, aber ein einäugiger Wolf sieht irgendwie komisch aus, wenn er sich so aufplustert“, sagte Kyrana, die der getreue Schatten von Ingliss war und immer auf ihr Stichwort wartete. Zusammen waren die beiden eine wahre Pest.

„Du denkst doch nicht, dass du zu Recht in die Vulkangarde gewählt wurdest, oder?“, stichelte Ingliss.

Edme wandte sich ab und ging ohne ein Wort einfach weiter. Aber Ingliss und Kyrana folgten ihr und rückten ihr immer dichter auf den Pelz.

„Jetzt geht endlich weg!“, japste Edme. „Ihr könnt nicht mehr mit mir machen, was ihr wollt. Ihr dürft mich weder mit Worten noch mit Bissen misshandeln.“

„Oh ja, das stimmt“, säuselte Ingliss. „Eigentlich hätten wir dir nie etwas tun dürfen. Ich meine, wenn man bedenkt, dass du gar keine echte Knochennagerin warst.“

Edme erstarrte. „Bist du cag mag, oder was? Wovon redest du da?“

„Das möchtest du wohl gern wissen, was?“ Zu Kyrana gewandt, fügte Ingliss hinzu: „Sollen wir es ihr sagen?“

„Ja, warum nicht?“, erwiderte Kyrana zerstreut, als wäre sie mit ihren Gedanken ganz woanders.

„Liebe Edme, wir müssen uns in aller Form für unser früheres Benehmen bei dir entschuldigen“, sagte Ingliss.

Edmes Kopf schnellte hektisch zwischen den beiden Wölfinnen hin und her. Sie durfte auf keinen Fall die Fassung verlieren. „Eine Entschuldigung ist nicht nötig, wirklich“, sagte sie. „Und jetzt geht eures Weges. Ich muss zum Kreis der Heiligen Vulkane.“

„An deiner Stelle hätte ich es nicht so eilig“, stichelte Kyrana.

„Nein, bestimmt nicht“, fügte Ingliss hinzu. „Denn wie werden sie dich dort empfangen, wenn sie herausfinden, dass du nicht als Malcadh geboren bist, sondern erst dazu gemacht wurdest?“

Edme stockte der Atem. „Was wollt ihr damit sagen?“, stieß sie hervor und fletschte drohend die Zähne. Jedes einzelne Härchen in ihrem Nackenfell stellte sich auf, sodass sie doppelt so groß wirkte wie sonst.

Ingliss und Kyrana duckten sich erschrocken. „Er hat dir das angetan … unser Oberhaupt … Dunbar MacHeath“, stotterte Kyrana.

„Was angetan?“

„Dir ein Auge ausgerissen!“, murmelte Ingliss kleinlaut.

„Du meinst …“ Edme fiel der Kiefer herunter und sie brachte vor Bestürzung eine Weile kein Wort heraus. „Du meinst, ich bin nicht so zur Welt gekommen?“, sagte sie endlich mit bebender Stimme.

„Nein, überhaupt nicht“, versicherten die beiden Wölfinnen gleichzeitig. Ihr Selbstbewusstsein kehrte langsam zurück und auf Ingliss’ Gesicht breitete sich ein tückisches Grinsen aus. „Wir haben gehört, wie in der Streunerburg darüber getuschelt wurde. Du warst also gar keine echte Knochennagerin“, trumpfte sie auf.

„Du bist eine Hochstaplerin“, rief Kyrana. „Sie werden dich fortjagen, wenn sie das herauskriegen.“

„Und wenn ich es ihnen sage? Was dann?“, gab Edme zurück und trottete zielstrebig über die Grenze in das Land der MacHeath hinein.

„Wenn du es ihnen sagst? Wenn du was sagst? He, Edme, wo willst du denn hin?“

„Zu eurem Oberhaupt!“

„Was?“, kreischten Ingliss und Kyrana.

„Bitte, Edme, du darfst ihm nicht erzählen, dass wir es dir verraten haben. Sonst sind wir verloren“, flehte Ingliss, die jetzt verzweifelt neben Edme herlief.

„Daran hättet ihr vorher denken sollen.“