Der Freibrief - Stefan Franke - E-Book

Der Freibrief E-Book

Stefan Franke

0,0

Beschreibung

Karl-Heinz Berger hat einen Menschen erschlagen – und ist sich keiner Schuld bewusst. Seine Verhaftung ist unausweichlich, bleibt aber aus. Der Parteivorsitzende Karl-Heinz Berger tötet Ewald Friedländer. Ein schneller Aufräumtrupp steht ihm unverhofft zur Seite, um in seiner Villa die Spuren des Verbrechens, für das er sich nicht schuldig fühlt, zu beseitigen. Wer die dunklen Gestalten sind, die alles wieder in den ursprünglichen Zustand bringen, erfährt er nicht. Auch über die angekündigten und immer wieder aufgeschobenen Untersuchungen klärt man ihn nicht auf. Monatelang verbringt er damit, auf diese zu warten und zwielichtige Berater und Anwälte aufzusuchen. Der Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns – auch in der Vergangenheit – wird immer größer. Das Konstrukt, das seine privaten und berufliche Existenz war, löst sich in Luft auf, er rutscht immer weiter in ein surreal-alptraumhaftes Labyrinth und fügt sich einer nicht greifbaren, mysteriösen Macht. – Eine Macht, die ihn letztlich rettet und von jeder Schuld freispricht. Doch wird er sich tatsächlich nicht für den Mord verantworten müssen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 180

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DER FREIBRIEF

STEFAN FRANKE

DER FREIBRIEF

Roman

Mit freundlicher Unterstützung von

Stefan Franke: Der Freibrief

Roman

Wien, Hollitzer Verlag, 2023

Umschlaggestaltung und Satz: Daniela Seiler

Hergestellt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

© HOLLITZER Verlag, 2023

www.hollitzer.at

ISBN Druckausgabe: 978-3-99094-078-5

ISBN ePub: 978-3-99094-079-2

Mein Dank gilt weiterhin F. K.

Es gibt nur etwas, das schlimmer ist als Ungerechtigkeit, und das ist Gerechtigkeit ohne Schwert in der Hand.

Wenn Recht nicht Macht ist, ist es Übel.

Oscar Wilde

Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein.

Wir sind hier doch alle Menschen, einer wie der andere.

Franz Kafka

1

Ewald Friedländer war tot – so viel stand fest. Es war so sicher wie das Amen im Gebet. Darüber konnte man nicht streiten.

Karl-Heinz Berger hatte ihn mit einem Hammer erschlagen, vorsätzlich und heimtückisch. Zuvor hatte KHB ihm noch eine Tasse Tee angeboten, um ihn dann brutal von hinten zu erschlagen. Er hatte zwei, drei, vier Mal zugeschlagen, seine Hände zitterten dabei nicht einmal. Jetzt lag der Mann tot und blutüberströmt in seinem Wohnzimmer. KHB stand reglos da, blickte auf die immer größer werdende Blutlache und den vor ihm liegenden Körper und dachte über seine Situation nach. Es war Mord, zweifellos, vorsätzlicher Mord. Aus der Ferne war Sirenengeheul zu hören, auf- und abschwellend, stetig immer lauter werdend.

Plötzlich läutete es.

KHB ging langsam Richtung Entree, die Tür war offen und ein Mann, den er nicht kannte, stand breitbeinig vor ihm und erwartete ihn bereits. Der Typ war groß und ziemlich muskulös, er trug einen schlecht sitzenden schwarzen Anzug, der von der Stange zu kommen schien. Jetzt baute sich dieser Muskelprotz mitten in der Eingangshalle auf, blickte ihn argwöhnisch an und wusste vermutlich nicht, dass er mit seinen billigen Schuhen auf feinstem Carrara-Marmor stand. KHB hatte seinen Chauffeur erwartet, der ihn, wie jeden Tag, pünktlich um neun Uhr abholen sollte. An diesem verhängnisvollen Morgen jedoch nicht. Das war noch nie vorgekommen.

››Wer sind Sie?‹‹, fragte KHB forsch.

Der Mann antwortete nicht, als wäre mit seiner Erscheinung zu rechnen gewesen, und sagte nur: ››Ich werde mich um einige Angelegenheiten kümmern müssen.‹‹

››Das kann ich mir nicht vorstellen‹‹, meinte KHB und versuchte in Gedanken festzustellen, wer dieser Mann eigentlich war, aber er hatte nicht die leiseste Ahnung.

Der Mann sah ihn feindselig an, drehte seinen Kopf Richtung Eingangstür und rief: ››Er kann es sich nicht vorstellen.‹‹

Gelächter war alles, was darauf zu hören war. Unmöglich zu sagen, ob da draußen nur eine Person stand oder ob es mehrere waren.

››So geht das nicht. Jetzt schaue ich mir einmal an, wer da vor der Tür steht. Mein Chauffeur wird einiges zu erklären haben‹‹, sagte KHB wild entschlossen und wollte schon an dem Mann vorbei.

Gleich fiel ihm auf, dass er das nicht hätte laut sagen müssen und dass er dadurch dem Mann eine gewisse Berechtigung einräumte und seine Anwesenheit somit akzeptiert hatte. Der Fremde fasste es jedenfalls so auf und sagte: ››Bleiben Sie lieber im Haus.‹‹

››Ich will weder im Haus bleiben noch möchte ich von Ihnen angesprochen werden. Ist das klar?‹‹

››Es war nur ein gut gemeinter Ratschlag‹‹, sagte der Fremde und trat einen Schritt beiseite.

Vor dem Haus standen schwarze Limousinen mit Blaulicht und verdunkelten Scheiben. Ein dicker Mann, der eifrig in sein iPhone tippte, hob langsam seinen Blick und sagte: ››Sie sollen doch im Haus bleiben. Hat man Ihnen das nicht gesagt?‹‹

Irgendwie musste KHB diese Menschen loswerden, er hatte einen Mord begangen, nicht auszudenken, was passieren würde, wenn diese Leute die Leiche entdecken würden. Er wäre verloren, dachte er, und würde für viele Jahre ins Gefängnis wandern. Erst jetzt entdeckte er, dass sein Hemd voll Blutspritzer war. Er musste es loswerden, seine Spuren verwischen. Also ging er wieder ins Haus zurück. Der iPhone-Mann folgte ihm.

››Was wollen Sie hier eigentlich?‹‹, fragte KHB und sah, dass der zweite Mann es sich bereits im Wohnzimmer gemütlich gemacht hatte.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Bluttat entdeckt werden würde.

››Das kann ich Ihnen gerne sagen‹‹, antwortete der Mann, ››wir werden die Schweinerei, die Sie verursacht haben, wieder in Ordnung und alles in den ursprünglichen Zustand bringen.‹‹

››Wie darf ich das verstehen? Es ist doch zweifellos ein …‹‹

››Darüber möchte ich nicht urteilen‹‹, fiel ihm der Mann ins Wort, ››ich bin nur beauftragt, Ihnen in dieser Angelegenheit zur Seite zu stehen. Und ich bin nicht dazu befugt, Ihnen weitere Auskünfte zu geben. Gehen Sie bitte in Ihr Arbeitszimmer und warten Sie. Zu einem späteren Zeitpunkt werden Sie mehr erfahren, aber jetzt lassen Sie uns bitte arbeiten.‹‹

KHB war mit der Situation überfordert, glaubte, im falschen Film zu sein. Er hatte Kopfschmerzen und ihm war übel.

››Und noch etwas: Wechseln Sie bitte Ihr Hemd, stecken Sie das alte in einen Plastiksack und händigen Sie uns diesen aus.‹‹

Im Arbeitszimmer, in das KHB besonders langsam eintrat, als fürchtete er, dass es zu weiteren unliebsamen Störungen kommen könnte und als würde sein langsames Eintreten eine solche Störung verhindern, hoffte er, in Ruhe gelassen zu werden. Auf den ersten Blick schien alles in Ordnung und unverändert zu sein, doch bei genauerem Hinsehen bemerkte er, dass gewisse Gegenstände nicht mehr an ihrem gewohnten Platz lagen. Irgendjemand hatte sein Arbeitszimmer durchsucht, nicht grob und unmotiviert, sondern mit Bedacht, man erkannte die Veränderung nicht gleich, umso weniger, als die größte Veränderung in der Anwesenheit eines weiteren Mannes bestand, der an KHBs Schreibtisch saß und in den Laptop starrte.

››Herrgott! Können Sie uns bitte einfach nur arbeiten lassen. Wie kann man nur so renitent sein‹‹, sagte der Mann gereizt, ohne von dem Laptop aufzublicken.

››Was machen Sie bitte in meinem Arbeitszimmer?‹‹, fragte KHB.

››Ich kläre Ihre Angelegenheiten, aber das sollte wohl ohnehin klar sein. Also halten Sie sich bitte an unsere Anweisungen und zu unserer ständigen Verfügung.‹‹

››Ich bin also verhaftet?‹‹, fragte KHB fast erleichtert.

››Nein‹‹, sagte der Mann gelangweilt, klappte den Laptop zu und stand auf, ››Sie dürfen nur nicht weggehen. Verstehen Sie?‹‹

››Nicht weggehen? Sollte ich vielleicht doch meinen Anwalt zu Rate ziehen?‹‹

››Ich bin nicht dazu da, Ihnen diese Auskünfte zu geben. Und jetzt gehen Sie bitte in Ihr Wohnzimmer oder wohin auch immer, aber bleiben Sie im Haus und zu unserer Verfügung.‹‹

››Das ist doch eine Unverfrorenheit!‹‹

››Zeigen Sie sich einfach nur kooperativ. Sie werden alles zur rechten Zeit erfahren. Genügt das nicht? Seien Sie doch froh, dass sich alles in Wohlgefallen auflösen wird.‹‹

››In Wohlgefallen? Was soll das bedeuten?‹‹

››Sie werden noch feststellen, wie sehr wir Ihnen behilflich sind. Ein Normalsterblicher würde aus so einer misslichen Situation nicht schadlos hervorgehen.‹‹

Der Mann trat jetzt dicht an KHB heran und deutete auf das blutbefleckte Hemd.

››Wechseln Sie jetzt bitte das Hemd. Und händigen Sie mir dieses aus, damit ich es für Sie entsorgen kann.‹‹

››Ist das wirklich nötig?‹‹

››Wir müssen alle Corpora Delicti verschwinden lassen. Verstehen Sie? Den Hammer hat mein Kollege bereits sichergestellt.‹‹

KHB hörte nicht wirklich zu, viel wichtiger war ihm, Aufklärung über seine Lage zu bekommen, die Anwesenheit dieser Menschen machte ihm aber ein konzentriertes Nachdenken unmöglich. Wer waren diese Leute? Wollten sie ihm tatsächlich helfen? Und lebte er nicht in einem Rechtsstaat, in dem er sich für seine Tat verantworten musste?

››Wer kann schon sagen, ob Sie weiterhin so viel Glück haben werden. Momentan dürfte alles in Ihre Richtung laufen‹‹, sagte der Mann mit dem knochigen Gesicht.

KHB schien das nicht zu beruhigen, er suchte den Blick des hageren Mannes und erschauderte. Er war ein positiver Mensch, neigte dazu, immer an das Gute zu glauben, Schlechtes erst bei dessen Eintritt als gegeben anzunehmen. Hier schien ihm das aber nicht angemessen zu sein, irgendwie kam es ihm vor, als würde er traumwandlerisch durch diese merkwürdigen Szenen ziehen, man konnte alles als Unfug, als einen völlig misslungenen Unfug abtun, den ihm aus unbekannten Gründen, vielleicht weil heute der 1.April war, sein Chauffeur gespielt hatte, es wäre eine Möglichkeit, vielleicht brauchte er nur laut aufzulachen und schon würde er aus diesem Albtraum erwachen und der Spuk hätte ein Ende. Vielleicht würde man später sagen, dass er keinen Spaß verstanden habe, darin sah KHB aber keine allzu große Gefahr, vielmehr fiel ihm wieder ein, dass er einen Mord begangen hatte und eine Leiche in seinem Wohnzimmer lag. War dem so, würde er sich stellen und mit den Konsequenzen leben müssen, alles andere würde keinen Sinn machen; war alles Theater, so wollte er mitspielen. Es lag also in seiner Hand, dachte KHB, noch konnte er die Dramaturgie seines Lebens selbst bestimmen.

››Bitte lassen Sie mich für einen Moment allein‹‹, sagte er und setzte sich an seinen Schreibtisch.

››Jetzt scheint er es begriffen zu haben‹‹, hörte er den anderen im Weggehen sagen.

Wie von Sinnen durchwühlte er seine Papiere, alles war akkurat geordnet und abgelegt, aber seinen Ausweis fand er nicht. Er fand nur alte Meldezettel, abgelaufene Reisepässe und eine Kopie seines Führerscheins. Als er wieder aus seinem Zimmer kam, sah er gerade noch, wie seine Haushälterin, Frau Svoboda, von zwei Männern in einen anderen Raum gedrängt wurde.

››Guten Morgen!‹‹, hatte er ihr noch zugerufen und dabei etwas unbeholfen die Hand gehoben, aber sein Gruß blieb ungehört. Nun stand KHB mit abgelaufenen Reisepässen in der Hand im Flur und sah zu, wie Männer in dunklen Anzügen nervös durch sein Haus liefen.

››Bin ich jetzt verhaftet oder nicht?‹‹, brüllte KHB, ohne einen wirklichen Ansprechpartner gefunden zu haben, mehr ins Nichts.

››Jetzt fangen Sie schon wieder damit an‹‹, sagte einer der Männer, ››wir antworten auf solche Fragen nicht, aber das haben wir Ihnen doch schon gesagt.‹‹

››Das werden wir noch sehen‹‹, sagte KHB entschlossen, ››hier sind meine Papiere, zeigen Sie mir jetzt bitte die Ihrigen und nennen Sie mir endlich den Grund Ihres Hierseins.‹‹

››Grundgütiger!‹‹, sagte der Mann, ››wir sind wohl die einzigen Menschen, die Ihnen in dieser fast aussichtslosen Situation zur Seite stehen. Aber offenbar wollen Sie das aus irgendeinem Grund nicht erkennen und uns auch noch verärgern.‹‹

Kopfschüttelnd wandte sich der Mann von KHB ab.

››Aber Sie sollten zumindest einen Blick darauf werfen‹‹, meinte KHB.

››Ihre Papiere sind doch völlig bedeutungslos und noch dazu bereits abgelaufen‹‹, sagte der Mann verächtlich, ››eine Kontrolle kann somit ausbleiben.‹‹

Was war das jetzt? Woher konnte der Typ das überhaupt wissen, wo er die Papiere doch nur oberflächlich, mehr aus den Augenwinkeln, als gewissenhaft geprüft hatte.

››So nehmen Sie sie schon‹‹, insistierte KHB und fuchtelte dabei wild mit seinen Ausweisen vor dem Gesicht seines Gegenübers herum.

Der Mann wich einen Schritt zurück.

››Sie sind schlimmer als ein kleines Kind, wissen Sie das? Ein Nein akzeptieren Sie wohl nicht? Es ist mir völlig schleierhaft, was Sie sich davon versprechen. Sie müssen doch davon ausgehen, dass wir über Ihre Person Bescheid wissen, sogar ein Affe würde verstehen, dass wir nichts anderes tun, als Ihnen dabei zu helfen, aus Ihrer misslichen Lage zu kommen und die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, dafür werden wir auch bezahlt. Das ist eigentlich alles, was wir machen, daher sollten Sie uns wohlwollend und nicht ablehnend und frech gegenübertreten. So steht es außerdem schwarz auf weiß im Vertrag.‹‹

››Diesen Vertrag kenne ich nicht‹‹, sagte KHB.

››Umso schlimmer für Sie‹‹, meinte der Mann gelangweilt.

››Sie fantasieren da irgendetwas vor sich hin‹‹, lachte KHB gekünstelt, ››als hätte ich es nötig, einen Vertrag mit Ihresgleichen abzuschließen. Ich kann mir schon selbst helfen und bin in meinem bisherigen Leben damit auch sehr gut gefahren.‹‹

››So einen Schwachsinn habe ich schon lange nicht mehr gehört. Sie reden von Dingen, die Sie nicht einmal ansatzweise verstehen‹‹, musste KHB sich jetzt sagen lassen.

Er tat so, als würde er nicht zuhören und blickte gelangweilt in eine andere Richtung. Sollte er sich das tatsächlich gefallen lassen? Man wollte ihn sicher nur verwirren, damit er nicht insistierte. Jedenfalls hatte er keine Lust mehr, sich mit diesen Männern weiter auseinanderzusetzen, er musste schleunigst selbst eine Lösung finden.

››Sie überschätzen sich maßlos‹‹, setzte der Mann fort, ››Ihre bisherige Sicherheit ist nur durch Ihre fast schon unerträgliche Dummheit überhaupt möglich, wenn Sie verstehen, was ich Ihnen damit sagen möchte.‹‹

Das war wirklich nicht zu glauben. Was bildete sich dieser Kerl ein, welche Frechheiten musste er sich noch gefallen lassen, dachte KHB. Ein kurzes Telefonat mit seinem Freund, der glücklicherweise der beste Anwalt des Landes war, würde vermutlich alles wieder ins Lot bringen, aber diese unsäglichen Diskussionen mit Menschen, die im Grunde gar nichts verstehen, wollte er sich in Zukunft sparen. KHB ging einige Male im Gang nervös auf und ab.

Dann sagte er, die Tonlage seiner Stimme hatte sich um eine Nuance geändert und war um eine Spur schärfer geworden, die Forderung schien aus dem Nichts zu kommen: ››Bringen Sie mich jetzt zu Ihrem Vorgesetzten!‹‹

››Wenn er es verlangt, gerne, aber keine Sekunde früher‹‹, sagte der Mann, der von einem anderen – fast liebevoll – Fredi genannt worden war, völlig emotionslos.

››Ich fordere Sie unmissverständlich auf …‹‹, brüllte KHB.

››Ich rate Ihnen noch einmal‹‹, fiel ihm Fredi ins Wort, ››gehen Sie in Ihr Zimmer, verhalten Sie sich ruhig und warten Sie auf unsere Anweisungen. Zu gegebener Zeit werden wir Ihnen mitteilen, was wir vorhaben beziehungsweise welche Maßnahmen von uns gesetzt werden. Also sammeln Sie sich jetzt, entwerfen Sie einen Plan, wie Sie uns helfen und zuarbeiten können, anstatt nutzlos herumzustehen und uns mit Ihren Fragen zu nerven. Es werden bald große Anforderungen an Sie gestellt. Das ist gewiss, also bündeln Sie Ihre Kräfte. Sie behandeln uns wie Untermenschen, sozusagen von oben herab, aber das stört uns nicht weiter. Sie haben nicht erkannt, dass wir doch alle Trümpfe in Händen halten. Das sollte Sie doch überzeugen. Für Sie sind wir Abschaum, menschlicher Müll, einfach nur Ballast. Dennoch sind wir bereit, falls Sie uns helfen und wirklich alle Informationen geben, die wir wissen sollten, Ihnen gewisse Gefälligkeiten zu erweisen, wenn Sie verstehen, was ich meine.‹‹

Ohne auf dieses Angebot zu antworten, stand KHB eine Weile still da, als würde er darüber nachdenken. Tatsächlich überlegte er, wie er flüchten könnte. Vielleicht würde sich ihm niemand in den Weg stellen, wenn er einfach nur die Eingangstür öffnete und als freier Mann auf die Straße trat und sich aus dem Staub machte, vielleicht wäre es die einfachste Lösung und keiner würde ihn daran hindern. Aber vielleicht würden ihn schon beim Versuch, die Tür nur einen Spalt weit zu öffnen, bereits unzählige Hände packen, zu Boden drücken und zurück in sein Zimmer bringen, dann hätte er eine Chance verspielt. Und diese Männer waren in der Tat kräftige Burschen, die sich auf keine Spielchen einließen und vermutlich humorlos auf solche Aktionen reagierten, daher zog KHB die sichere Variante vor und ging ohne ein weiteres Wort in sein Zimmer. Aber was sollte die Aufforderung ››Gehen Sie in Ihr Zimmer‹‹ eigentlich heißen? Dieser Imperativ war ein Witz. Das war ihm zuletzt vor über dreißig Jahren im Internat passiert. Er war achtundvierzig Jahre alt, Vorsitzender der stärksten Partei des Landes, Großgrundbesitzer und Inhaber mehrerer Firmen, die von einem Strohmann verwaltet wurden, man konnte sagen, dass er es im Leben zu etwas gebracht hatte. KHB residierte in einer 300Quadratmeter großen Designer-Villa und musste auf sein Zimmer gehen. Er kochte innerlich vor Wut, folgte aber ohne Widerspruch. Im Zimmer angekommen, öffnete er eine Flasche Vodka und trank einen kräftigen Schluck. Das war also heute sein Frühstück, besser als nichts, dachte er und schenkte sich auch noch ein Glas ein. Hatte er heute eigentlich irgendwelche Termine? Was für eine Frage, er hatte täglich bis zu sechs Meetings, alle dicht gedrängt, er würde sie wohl verschieben müssen. KHB war einigermaßen erstaunt darüber, dass sie ihn allein in seinem Zimmer und somit unbeaufsichtigt gelassen hatten, wo sie sich doch seiner überhaupt nicht sicher sein konnten und die letzten Stunden so um Kontrolle und Aufsicht bemüht gewesen waren. Er könnte eine Flucht in Erwägung ziehen und zum Beispiel über den Balkon in den Garten klettern – für einen sportlichen Kerl war diese Hürde ganz leicht zu überwinden – und im Gewühl des morgendlichen Verkehrs einfach verschwinden. Allerdings fragte er sich, was er davon hätte, wenn er die Flucht ergriff. Wahrscheinlich war es der geistigen Beschränktheit der Männer geschuldet, dass sie ihn auf sein Zimmer geschickt und keine Gefahr darin gesehen hatten, ihn allein und unbeaufsichtigt zu lassen. Als er schon die Balkontür öffnen wollte, riss ihn ein lauter Schrei aus einem anderen Zimmer aus seinen Gedanken.

››Sie können jetzt zu meinem Vorgesetzten‹‹, hieß es.

Es war tatsächlich sehr laut geschrien, es erinnerte mehr an einen militärischen Befehlston, aber das störte KHB nicht weiter, vielmehr kam es ihm gelegen.

››Bravo‹‹, rief er zurück und wollte schon aus dem Zimmer eilen.

Doch vor seiner Tür standen zwei Anzugträger, die ihm den Weg versperrten und mit einem dreckigen Grinsen signalisierten, dass ein Vorbeikommen im Bereich des Unmöglichen lag, zumindest für KHB.

››Ziehen Sie sich bitte etwas Ordentliches an, so können wir Sie nicht vorlassen‹‹, meinten die Kerle nüchtern.

››Das ist doch lächerlich, in meinem Haus werde ich doch wohl selbst bestimmen, was ich wann anziehe oder nicht!‹‹ Trotzdem nahm er sich ein dunkles Hemd aus dem Kasten und hielt es kurz hoch, als unterbreite er es dem Urteil der Männer.

Sie schüttelten aber nur die Köpfe und waren jetzt ganz in das Zimmer getreten.

››Es muss ein weißes Hemd sein‹‹, sagten sie.

Daraufhin meinte KHB, er wusste selbst nicht genau, wie er es meinte: ››Das wird doch nicht wirklich etwas ändern.‹‹

Die Männer zeigten keine Regung, blieben aber bei ihrem: ››Es muss ein weißes Hemd sein.‹‹

››Also gut, in Gottes Namen, wenn ich dadurch schneller vorgelassen werde, soll es mir recht sein‹‹, sagte KHB, griff wieder in seinen Schrank, suchte eine ganze Weile, wählte dann sein schönstes Hemd aus und zog es an. Gemeinsam traten sie auf den Gang.

Kurz überlegte er, was eigentlich aus seiner Haushälterin geworden war, dann brachten ihn die Männer auch schon zu ihrem Vorgesetzten, der in einem roten Ohrensessel saß, die Beine übereinandergeschlagen und beide Arme hinter dem Kopf verschränkt hatte. Der Mann hatte ein jugendliches und nahezu faltenfreies Gesicht. Hinter ihm standen drei Männer, die KHB noch nicht im Haus gesehen hatte. Merkwürdigerweise trugen alle – auch der Mann im roten Ohrensessel – Sonnenbrillen, obwohl es in diesem Raum seltsam dunkel war.

››Karl-Heinz Berger?‹‹, fragte der Mann im Ohrensessel, vielleicht, um KHB aus seinen Gedanken zu reißen und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

KHB nickte.

››Das ist für Sie, wie soll ich mich ausdrücken, wohl alles sehr überraschend. Oder?‹‹, fragte der Mann, der der Einfachheit halber von den anderen Männern kurz Chef genannt wurde, und verschob mit wenigen Handgriffen die vor ihm liegenden Aktenordner, als wären diese bereits für das mit KHB zu führende Gespräch nötig und würden über dessen Person Auskunft geben.

››Wenn Sie so wollen. Ja!‹‹, sagte KHB und irgendwie hatte er das angenehme Gefühl, endlich einen vernünftigen Menschen zu treffen, der ihm Auskunft geben konnte und alle Zusammenhänge verstand.

››Ich bin aber keineswegs sehr überrascht‹‹, fügte KHB hinzu.

››Also keineswegs sehr überrascht?‹‹, fragte der Chef und legte die vor ihm auf einem kleinen Tisch liegenden Aktenordner auf den Boden, um Platz für sein iPhone und seine Sonnenbrille zu schaffen, die er jetzt abgelegt hatte.

››Sie verstehen nicht ganz‹‹, beeilte sich KHB anzumerken. ››Ich meine‹‹, hier unterbrach sich KHB selbst und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um. ››Ich darf mich doch setzen?‹‹, fragte er zögerlich.

››Eigentlich nicht‹‹, antwortete der Chef.

››Ich meine‹‹, sagte KHB nun ohne weitere Pause, ››ich bin durchaus überrascht, aber ich habe in meinem Leben schon so viel erlebt, dass ich gegen jede Form von Überraschungen gefeit bin. Verstehen Sie? Besonders die heutige Überraschung trifft mich nicht schwer.‹‹

››Warum besonders die heutige nicht?‹‹

››Ich möchte nicht sagen, dass mir das alles wie ein Scherz vorkommt, dafür scheinen mir die Umstände zu komplex zu sein.‹‹

››Vollkommen korrekt‹‹, sagte der Chef.

››Andererseits‹‹, fuhr KHB fort und wandte sich dabei an alle im Raum anwesenden Herren, ››kann es sich um keine allzu große Angelegenheit handeln. Ich schließe es daraus, dass ich weder angeklagt noch festgenommen wurde. Die entscheidende Frage ist vielmehr, wer Sie sind und was Sie mit der Angelegenheit zu schaffen haben. Was geht Sie das alles eigentlich an? Und sind Sie überhaupt befugt, auch nur eine Frage zu stellen respektive das Wort an mich zu richten? Auf diese Fragen möchte ich plausible Antworten hören, und ich bin davon überzeugt, dass wir nach der Klärung aller Fragen beruhigt auseinandergehen können.‹‹

Jetzt platzte dem Chef der Kragen, er ballte die Faust und schrie: ››Das ist ein gewaltiger Irrtum. Wir sind voll und ganz für Ihre Angelegenheiten zuständig, wir wissen über alles Bescheid. Es gibt keine Geheimnisse. Sie sind, wie sagt man so schön, ein offenes Buch für uns. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob Sie angeklagt oder festgenommen werden, aber wir sind hier, damit so etwas eben nicht geschieht. Daher rate ich Ihnen: Denken Sie weniger an uns und mehr an sich. Und ersparen Sie uns bitte Ihre theatralischen Auftritte. Sie machen ohnehin schon einen schlechten Eindruck. Und alles, was Sie bisher gesagt haben, kann gegen Sie verwendet werden. Denken Sie bitte auch daran.‹‹

KHB blickte den Chef ungläubig an.

Wurde er jetzt für seine Offenheit bestraft? Eine Belehrung von einem deutlich jüngeren Menschen zu bekommen, war für KHB ein Affront. Er vertrat den Standpunkt, dass man sich ab einem gewissen Alter – dieses Alter hatte er seit vielen Jahren bereits erreicht, wie er fand – überhaupt nichts mehr erklären lassen musste.

KHB ging mittlerweile aufgeregt auf und ab, das Gespräch hatte ihn irgendwie in Rage gebracht.

››Das bringt doch alles nichts‹‹, murmelte KHB.

››Darf ich mit meinem Anwalt telefonieren?‹‹, fragte er dann mehr in den Raum hinein als an eine bestimmte Person gerichtet.