Der Konzern - Stefan Franke - E-Book

Der Konzern E-Book

Stefan Franke

0,0

Beschreibung

Florian Köhler wird von einem Konzern als Unternehmensberater engagiert. Sagt er. Doch niemand in diesem Konzern weiß über seine Einstellung Bescheid. Es stellt sich heraus, dass die Bestellung eines Evaluierers zwar diskutiert worden war, ungeklärt aber bleibt, ob die Berufung Köhlers tatsächlich erfolgte. So darf er zwar bleiben, aber seine eigentliche Tätigkeit nicht aufnehmen. Der Konzern scheint durch einen gewaltigen, undurchschaubaren bürokratischen Apparat alle zu kontrollieren und dabei unnahbar und unerreichbar zu bleiben. Die Angestellten fühlen sich einer nicht direkt greifbaren, seltsam bedrohlichen Hierarchie ausgesetzt. Bei Überschreitung der Vorschriften – so wird gemutmaßt – droht Schlimmes. Tatsächlich werden von der Konzernleitung aber nie erkennbare Sanktionen gesetzt. Anfangs voll Ehrgeiz und Zuversicht, fühlt sich Köhler zunehmend ohnmächtig angesichts der Diffusität und Undurchschaubarkeit des Systems, in das er sich verstrickt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 183

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DER KONZERN

STEFAN FRANKE

DER KONZERN

Roman

Mit freundlicher Unterstützung der MA 7 – Kulturabteilung der Stadt Wien

Stefan Franke: Der Konzern

Roman

Hollitzer Verlag 2021

Umschlaggestaltung und Satz: Daniela Seiler

Hergestellt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

© HOLLITZER Verlag, Wien 2021

www.hollitzer.at

ISBN 978-3-99012-890-9

Mein Dank gilt F. K.

Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg;

was wir Weg nennen, ist Zögern.

1

Es war spät, als Florian Köhler ankam. Der Flughafen lag in tiefem Schnee. Es war die letzte Maschine, die in dieser Nacht landete. Von der nahen Stadt war nichts zu sehen. Nebel und Dunkelheit umgaben alles.

Wenige Menschen standen herum.

Er war müde und hatte Kopfschmerzen. Im Hotel wartete man bereits auf ihn. Seine Suite war belegt, ein Missverständnis; ein selten vorkommender, nicht zu erklärender Systemfehler, meinte die Rezeptionistin gelangweilt. Ein Raucherzimmer war jedenfalls verfügbar, Internetanschluss und sprachgesteuerte Assistentin – kurz SAM genannt – inbegriffen. Die junge Frau lächelte geschäftsmäßig und drückte ihm einen Gutschein in die Hand. Ein kostenloser Drink in der Hotelbar, mehr hatte sie nicht zu bieten.

Er war damit einverstanden.

Dem diskret im Hintergrund wartenden Pagen händigte Köhler Mantel und Koffer aus und bedankte sich mit einem Geldschein.

Dann betrat er die Bar und setzte sich in einen der schweren Ledersessel. Er bestellte einen Whisky und ignorierte die übrigen Gäste, auch die blonde Frau, die ihn interessiert musterte.

Köhler war eine Erscheinung. Groß, schlank, muskulös. Er wusste das in Szene zu setzen und trug den taillierten Alpaka-Anzug, das Hemd ohne Krawatte und die Maßschuhe mit einer gewissen Verachtung. Sein Gesicht war makellos, sein Blick neugierig und offen, seine blauen Augen vereinnahmend. Er war fast vierzig, wirkte aber deutlich jünger. Er war ein Mann, der auf Frauen Eindruck machte. Heute aber sah man ihm den Stress und Schlafmangel an. Nachdem er seinen Drink gekippt hatte, ging er auf sein Zimmer. Er zog sich aus, nahm ein Aspirin, legte sich auf das Bett und schlief sofort ein. Kurz darauf klopfte es, erst vorsichtig, dann immer fordernder.

Köhler stand auf.

Er hasste Störungen dieser Art, öffnete die Tür nur einen Spalt weit und sah in das feiste Gesicht eines Mannes. Seine Entschuldigung dafür, Köhler aufgeweckt zu haben, war eine reine Floskel.

Der Ruhestörer stellte sich als Assistent des Vorstands vor und verkündete mit lauter Stimme: »Das Hotel ist im Besitz des Konzerns, wer hier wohnt ist gewissermaßen Teil des Konzerns und benötigt für den Verbleib im Hotel eine Erlaubnis.«

Köhler schaute ihn schlaftrunken an.

»Haben Sie eine solche Erlaubnis? Sind Sie überhaupt Gast des Konzerns? Und wer trägt die Kosten für Ihren Aufenthalt?«, fragte der Mann stakkatoartig.

Köhler war jetzt hellwach, strich sich die Haare aus dem Gesicht, blickte dem Mann scharf in die Augen und sagte: »Mein Zimmer zahle ich mir schon selbst, da machen Sie sich bitte keine Gedanken. Ich komme zurecht.«

»Sie glauben das wirklich?«, fragte der Dicke lächelnd.

»Ich verstehe nicht ganz. Sie meinen, dass mir der Konzern erst eine Erlaubnis erteilen muss, damit ich überhaupt hier logieren darf, was soll dieser Unsinn?«

»Das erkläre ich Ihnen sehr gern. Jeder, ob Mitarbeiter oder Gast, bekommt eine Kennung, die auf dem Handy gespeichert wird und jederzeit vorzuweisen ist. Außerdem hat man sich an den strikten Verhaltenskodex des Konzerns zu halten.«

»Dann werde ich mir diese Kennung besorgen, und auch der Verhaltenskodex bereitet mir keine schlaflosen Nächte«, erwiderte Köhler etwas gelangweilt und wollte die Tür schließen, aber der Dicke hatte seinen Fuß bereits auf der Schwelle.

Er lachte.

»Von wem denn? Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Sie so einfach eine Kennung bekommen? Und der Verhaltenskodex ist ein vierhundert Seiten langes Lehrbuch. Manche haben Jahre gebraucht, um auch nur ansatzweise zu verstehen, was der Konzern ihnen damit sagen will. Die Prüfung findet alle zwei Jahre statt und erst danach, vorausgesetzt, dass man bestanden hat, darf man die Kennung beantragen, aber diese Vorgehensweise ist Ihnen sicher bekannt.«

»Die Konzernleitung ist über mein Kommen informiert, es wird es ein Leichtes sein, die Erlaubnis schnell und unbürokratisch zu bekommen«, antwortete Köhler gelassen.

»Jetzt um diese Zeit? Noch dazu wird das Wetter immer schlechter, da ist niemand mehr erreichbar.«

»Also gut, ich werde mich morgen früh darum kümmern. Reicht das?«

Der Dicke bekam einen roten Kopf und brüllte, ohne auf die anderen Gäste Rücksicht zu nehmen: »Was glauben Sie eigentlich? Ich habe Sie geweckt, um Ihnen zu sagen, dass Sie das Hotel unverzüglich verlassen müssen. Hier ist kein Platz für Sie, daher fordere ich Sie auf, Ihre Sachen zu packen und sich quasi in Luft aufzulösen.«

Köhler hätte gern zurückgebrüllt, doch er war ein Mann, der seine Emotionen jederzeit im Griff hatte, also blieb er auch in dieser Situation ruhig: »Ende der Diskussion«, sagte er betont leise, »Sie gehen jetzt besser, ich werde mich morgen über Sie beschweren, davon können Sie ausgehen. Offenbar wissen Sie nicht, wen Sie vor sich haben: Mein Name ist Köhler, Doktor Florian Köhler. Zertifizierter Evaluierer der Extraklasse. Der Konzern hat mich einfliegen lassen und jede Minute, die ich hier mit Ihnen verbringe, kostet ein kleines Vermögen. Meine Assistenten erwarte ich morgen, sie werden ebenfalls hier wohnen, ob es ihnen passt oder nicht. Mein Flug hatte ein Delay, daher mein spätes Eintreffen. Dass es heute nicht mehr möglich ist, meine Ankunft der Konzernleitung zu melden, versteht sich von selbst, aber mit meinem Kommen musste jedenfalls gerechnet werden. Für heute habe ich genug und wünsche eine ›Gute Nacht‹!«

Der Dicke sagte emotionslos: »Ich werde telefonisch nachfragen, ob Ihre Angaben der Wahrheit entsprechen, dann wird sich alles aufklären.«

Er war mittlerweile ganz in das Zimmer getreten und setzte sich ungefragt auf die Couch. Köhler wunderte sich, dass er ihn nicht daran hinderte. Als ginge ihn das alles nichts mehr an, legte er sich wieder in sein Bett und sah von dort aus dem Dicken zu. Offenbar hatte dieser die falsche Nummer gewählt, aus seinem Handy war ein lauter Piep-Ton zu hören. Ungeduldig drückte er auf dem Display des Telefons herum, murmelte dabei Unverständliches und trommelte zwischendurch nervös mit der Hand auf seinen Oberschenkel. Köhler glaubte im falschen Film zu sein.

Von draußen machte sich das Wetter bemerkbar. Der Wind heulte und dicke Schneeflocken flogen gegen das Fenster.

Endlich schien jemand abgehoben zu haben. Der Dicke, der sich als Winterberg vorstellte, erzählte, was vorgefallen war. Dann schwieg er minutenlang und nickte unaufhörlich mit dem Kopf, schließlich legte er auf.

Eine Weile war es still.

Köhler blieb gelassen, schaute an die Decke, dachte nach. Winterberg schien auf einen Rückruf zu warten, eine Reaktion, irgendetwas in der Art.

Dann läutete es.

Offenbar nur eine kurze Nachricht.

»Ich habe es ja gewusst!«, brüllte er los. »Sie sind ein Lügner, ein Spion, vielleicht sogar Terrorist.«

Einen kurzen Augenblick glaubte Köhler zu träumen, das alles musste ein Produkt seiner Fantasie sein. Winterberg stand breitbeinig vor ihm. Dann läutete es wieder.

Winterberg war jetzt deutlich unterwürfiger und sagte: »Ein Missverständnis, eine Verwechslung. Was soll ich Herrn Dr.Köhler nur sagen? Ich kann doch nicht … aber wie … es ist doch nicht möglich …«

Köhler atmete innerlich auf.

Man hatte ihn anerkannt und also auch erwartet. Eine merkwürdige Vorgehensweise, aber er hatte nun endlich Ruhe und die Gewissheit, sich hier zu Recht aufzuhalten. Dem sich unterwürfig nähernden Winterberg winkte er ab, da er von solchen Menschen keine Entschuldigung anzunehmen pflegte. Freundlich, aber bestimmt, bat er Winterberg zu gehen.

Endlich war er allein.

Er ging ins Badezimmer, duschte lange und fiel todmüde ins Bett.

2

Am nächsten Morgen betrat Köhler ausgeruht und guter Dinge den Speiseraum. Das Buffet war atemberaubend und die kulinarische Vielfalt der Inbegriff eines frivol luxuriösen, endlos köstlichen Frühstücks, das dem Hungrigen einen Vorgeschmack auf das Paradies versprach. Köhler begnügte sich jedoch mit einem Oolong-Tee und zwei Eiern im Glas. Nachdem er die Zeitung gelesen hatte, wollte er sich zur Konzernzentrale fahren lassen. Doch der unsägliche Winterberg, den er im Frühstücksraum erst gar nicht wahrgenommen hatte, setzte sich unaufgefordert an seinen Tisch.

»Ich freue mich auf Ihren ersten Arbeitstag, Herr Doktor.«

»Und ich freue mich auf mein Honorar«, antwortete Köhler, »das stattlich ausfallen wird, davon ist auszugehen.«

»Über die Bezahlung kann ich Ihnen keine Auskunft geben, aber es gab in finanziellen Angelegenheiten noch nie einen Grund zur Klage.«

Winterberg saß Köhler ziemlich nahe, doch nicht so nahe, dass es ungehörig gewesen wäre.

Köhler blickte beiläufig aus dem Fenster.

Vor dem Hotel parkten einige schwarze Limousinen, die dazugehörigen Chauffeure standen tatenlos herum und rauchten.

»Was für Aufgaben haben Sie eigentlich sonst noch wahrzunehmen, abgesehen einmal von Ihrem Assistenzposten im Vorstand?«, fragte Köhler gelangweilt.

»Nun, wie soll ich es erklären, eigentlich nicht sehr viele, wenn man von einigen Telefonaten und der Teilnahme an Meetings absieht, um ehrlich zu sein, kümmere ich mich nur um das Hotel. So ist auch der Vorstand auf mich aufmerksam geworden. Fleiß ist das oberste Gebot und wird stets vom Konzern gefördert«, antwortete Winterberg verlegen.

Köhler lachte.

Die Worte Winterbergs schienen einstudiert zu sein, er war einfach eine lachhafte Figur.

»Ein Hotelier also, das ist doch ganz ausgezeichnet. Werden Sie meine neuen Mitarbeiter auch gut im Hotel unterbringen?«

Winterberg schaute verlegen zu Boden, rückte näher an Köhler heran und sagte: »Eigentlich ist das Hotel ausgebucht, aber ich werde mich sofort darum kümmern. Ganz sicher, Herr Doktor, werde ich ein paar Zimmer zur Verfügung stellen können, machen Sie sich da keine Sorgen. Aber werden Ihre Leute nicht Tag und Nacht arbeiten?«

»Das hat Sie nicht zu interessieren, aber davon einmal abgesehen haben Sie recht, es könnte sein, dass sie zeitweise auch in der Zentrale übernachten.«

Winterberg runzelte die Stirn und rückte näher.

»Sollte ich sie vorwiegend in der Zentrale benötigen, wird es auch vernünftiger sein, wenn sie gleich dort bleiben, aber ich fürchte, dass sie sich nicht wohl fühlen werden.«

»Kennen Sie den Konzern denn so gut, Herr Doktor?«, fragte Winterberg.

»Ich kenne viele Konzerne, da gleicht einer dem anderen, also kenne ich sie alle, da wird mich nichts überraschen können.«

Köhler stand auf, da ihm die Nähe Winterbergs unangenehm zu werden begann. Die Gespräche mit dem Dicken waren außerdem nicht sehr befruchtend und gingen ihm allmählich auch auf die Nerven. Winterberg erhob sich ebenfalls.

Im Weggehen fiel Köhler ein dunkles Porträt auf. Es zeigte das Bild eines etwa sechzigjährigen Mannes. Etwas Düsteres, Unangenehmes ging von dem Gemälde aus. Der Mann auf dem Bild hatte buschige, graue Augenbrauen und einen stechenden Blick, der dem Betrachter, wohin er sich auch bewegte, zu folgen schien.

»Wer ist das? Der Firmengründer?«, fragte Köhler.

Er stand jetzt unmittelbar vor dem Porträt und schaute es ganz genau an.

»Korrekt«, sagte Winterberg, »das Bild zeigt den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden.«

»Offenbar ein Patriarch.«

»Richtig. Ein beinharter Machtmensch, der über Leichen ging. Von nichts kommt eben nichts.«

»Das ist nicht zu übersehen, ein Mann von großem Einfluss. Furchteinflößend und böse.«

»Das trifft es auf den Punkt«, sagte Winterberg, der jetzt großes Unbehagen ausstrahlte.

»Haben Sie etwa auch vor dem neuen Vorstandsvorsitzenden Angst?«, fragte Köhler verwundert.

»Ich halte John A. Bannon für sehr mächtig, daher habe ich großen Respekt und, wenn man so will, vielleicht auch Angst.«

»Sie sind vielleicht ein Hasenfuß«, sagte Köhler lachend, aber Winterberg stimmte nicht ein, sondern sagte nur: »Alle Vorstandsmitglieder sind mächtig!«

»Wenn man nur laut und polternd genug auftritt, gehen Sie schon vor Angst in die Knie. Oder etwa nicht?«

Winterberg sagte nichts.

»Wahrscheinlich haben Sie auch vor mir Angst.«

Köhler schaute ihn mit abschätzigem, spöttischem Blick an. Dann winkte er ihn verschwörerisch zu sich heran und sagte nach einer kurzen Pause leise: »Puh!« Winterberg zuckte verärgert zusammen und ging ein wenig auf Distanz. Köhler schüttelte sich vor Lachen.

»Sie halte ich nicht für mächtig, infolgedessen habe ich auch keine Angst, ich finde Ihr Benehmen einfach nur arrogant und ungehobelt.«

»Dann bin ich ja einigermaßen beruhigt«, sagte Köhler und ließ Winterberg allein zurück.

In der Lobby holte er sich noch die Financial Times, hinterlegte seinen Zimmerschlüssel und trat durch eine Drehtür hinaus auf die Straße.

Die Luft war klar, die Nebel hatten sich gelichtet, alles war ganz ruhig. Nun sah er die Konzernzentrale deutlich umrissen in der Ferne, beeindruckend auch von hier. Von dieser Perspektive aus entsprach die Zentrale seinen Erwartungen. Ein gewaltiger Turm ragte in den Himmel, der alles überstrahlte. Eine glitzernde Machtdemonstration, die ihresgleichen suchte. Köhler stieg in eine der wartenden Limousinen, der Chauffeur fuhr sofort los, aber je näher sie dem Turm kamen, desto mehr enttäuschte ihn dieser Prunkbau. Es war doch nur ein Büroturm wie viele andere, sagte er sich, ausgezeichnet vielleicht dadurch, dass der Glaspalast alle anderen Gebäude – wie auch alles, was er bisher gesehen hatte – um ein Vielfaches überragte. Er dachte kurz an seinen letzten Auftrag; er war in Asien in einem ähnlichen Turm beschäftigt gewesen, nur eben in einem deutlich weniger hohen. Doch irgendetwas war – abgesehen von der Größe – an diesem Gebäude anders. So wie es sich zeigte, war es nicht nur gewaltig, sondern auch merkwürdig in der Bauweise und geheimnisvoll im Anblick, da es den Anschein erweckte, der Turm wäre ein lebendiges Wesen. Köhler spürte eine ungeheure Anziehungskraft, die von dem Bauwerk auszugehen schien. An der Außenwand des Turms waren Hunderte Aufzüge zu sehen, die mit hoher Geschwindigkeit auf und ab rasten. Bis zur Turmspitze sah man nicht, sie war von einer dichten Wolkendecke umgeben. Es mussten Tausende Menschen sein, die in das Gebäude strömten, wohlgeordnet, ohne jede Hektik, scheinbar voller Zuversicht und in fast militärischem Gleichschritt. Merkwürdig war, wie gleichmäßig und ruhig alles ablief – abgesehen von den Uniformierten natürlich, die nervös und wild gestikulierend herumliefen und die Menschen regelrecht in das Gebäude hineintrieben.

Irgendwie hatte er das dumpfe Gefühl, dass sie sich mit dem Auto im Kreis bewegten. Es ging nicht wirklich vorwärts. Aber es war auch ein langer, komplizierter Weg, auf einer schier unendlich scheinenden achtspurigen Autobahn. Ein Dickicht an Hinweistafeln, bedruckt mit mikroskopisch kleiner Schrift, erstreckte sich vor ihnen. Der Chauffeur fuhr die schwere Limousine zügig und konzentriert, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt kamen sie nicht näher an die Zentrale heran. Die Autobahn führte nicht direkt zum erhofften Ziel, sie brachte sie nur in die Nähe, gerade so nahe, dass Köhler meinte, die Ankunft stehe knapp bevor, aber völlig überraschend bog sie dann wieder ab. Und wenn sie sich auch von der Zentrale nicht wirklich entfernten, so fanden sie doch nicht die ersehnte Abzweigung. Ungeduldig wartete Köhler ab. Er fühlte sich jetzt doch nicht ganz auf der Höhe, spürte eine leichte Müdigkeit in sich aufsteigen, die eine geistige Trägheit nach sich zog, was ihn nicht weiter störte, obwohl es dafür eigentlich noch viel zu früh am Morgen war. Auch wunderte ihn die Dauer der Fahrt nicht, er nahm alles mehr oder weniger gedankenverloren zur Kenntnis.

Die schwarze Limousine fuhr mit gleichbleibender Geschwindigkeit durch den Morgen, etwas zu schnell, wie ihm schien, aber doch so, dass man die vorüberziehende Landschaft gut betrachten konnte. Die Augen auf die Konzernzentrale gerichtet, spürte Köhler, wie sich der Wagen wieder langsam von ihr entfernte; doch es kümmerte ihn nicht, da ihn die Müdigkeit jetzt vollständig erfasst hatte und er dankbar für eine kurze Ruhepause war. Er blickte noch einmal Richtung Turm, der jetzt im vollen Licht erstrahlte und von Schwärmen dunkler Vögel umkreist wurde. Seine Augenlider wurden immer schwerer, schließlich nickte er ein.

Als er seine Augen wieder öffnete, hielt der Wagen vor einer Raststätte. Der Chauffeur bemerkte sofort, dass Köhler aus dem Dämmerschlaf erwacht war und öffnete zuvorkommend die Tür. Köhler stieg aus und stand mit seinen feinen Maßschuhen in tiefem Schnee. Er blickte kurz auf seine goldene Omega, ein Statussymbol, das er sich geleistet hatte, damit er jeden Tag an seine Erfolge erinnert wurde, sozusagen Motivation und Genugtuung zugleich. Die Luft war kalt und er hatte schon wieder Kopfschmerzen. Mit staksigen Schritten ging er auf den Eingang zu. Ohne zu zögern öffnete er die Tür und stand in einem großen Raum, der hell erleuchtet war. Das Lokal war gut besucht. Einige Gäste saßen an der Theke und tranken Kaffee, andere waren rund um die Tische in Gespräche vertieft. Niemand kümmerte sich um den neuen Gast. Mehrere Bildschirme hingen an den Wänden, die Highlights eines Wrestling-Kampfes zeigten. Aus einer Ecke war lautes Lachen zu hören. Aus einem anderen Eck stieg Rauch auf, obwohl es sich um ein Nichtraucherlokal handelte. Köhler musste husten.

»Wer sind Sie? Und was wollen Sie hier?«, rief eine krächzende Stimme. Und, wohl dem Kellner zugewandt: »Darf hier alles herein, was auf den Straßen herumläuft?«

»Ich bin Evaluierer und arbeite für den Konzern«, antwortete Köhler bereitwillig der für ihn unsichtbaren Person.

»Ach, es ist Dr.Köhler«, sagte eine Frauenstimme.

»Woher kennen Sie meinen Namen?«, fragte Köhler ins Nichts.

»Alle kennen Sie hier«, sagte die Stimme.

Dass man ihn hier kannte, schien keineswegs eine Empfehlung zu sein. Langsam verflüchtigte sich der Rauch, und er steuerte auf einen Tisch zu, um sich zu setzen. Fast alle um ihn herum starrten auf ihre Handys, als erwarteten sie jeden Moment einen Anruf. Überaus seltsam waren auch die Anwesenden selbst, wobei Köhler nicht festmachen konnte, was genau an ihnen so speziell war. Irgendetwas irritierte ihn. Waren es die verschlagen wirkenden Gesichter, die ihn misstrauisch beäugten? Vielleicht lag es aber auch am hellen Licht, das ihn so blendete, dass er seine Augen kaum öffnen konnte. Oder war es dem Umstand geschuldet, dass alle Männer prächtige, dichte Bärte hatten?

»Ein Evaluierer also«, sagte ein rotbärtiger Riese, der sich an seinen Tisch gesetzt hatte.

Ein anderer, nicht viel kleiner als der Rotbärtige, der sich die Haare zu einem Dutt gebunden hatte, setzte sich ebenfalls an Köhlers Tisch.

»Sie wundern sich wohl über unsere Unfreundlichkeit«, sagte der Mann mit dem Dutt, »aber wir sind nicht die Gastfreundlichsten, müssen Sie wissen, wir brauchen keine Fremden.«

»Und Evaluierer schon gar nicht«, brummte der Rotbärtige.

»Ich verstehe«, sagte Köhler, »wozu braucht man schon Fremde.«

Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Aber manchmal braucht man den Evaluierer eben doch.«

Triumphierend sah er in die Runde derer, die – neugierig geworden – näher gekommen waren und den Tisch sozusagen umstellt hatten.

»Das glaube ich nicht«, sagte der Bärtige bestimmt und rückte an Köhler heran.

»Wozu braucht man schon Fremde«, wiederholte Köhler mehr zu sich, als zu den anderen.

»Wir wollen mit Fremden nichts zu tun haben«, sagte der Mann bestimmt.

»Wir lehnen alle ab, gleichgültig, ob jemand vom Konzern oder von außerhalb ist. Verstehst du?«

Die Aggressivität in der Stimme des Rotbärtigen war nicht zu überhören. Dass er umstandslos geduzt wurde, irritierte Köhler.

»Aber ja«, sagte er, »natürlich verstehe ich.«

Und unerwartet für alle sprang er auf und verharrte für einige Sekunden, so, als wolle er in diesem völlig ungeeigneten Moment eine Rede halten. Unsicher blickte er in die Runde, nahm das vor ihm stehende Glas Wasser in die Hand und trank es in einem Zug aus. Alle schauten ihn an. Dann wurde er von kräftigen Händen gepackt und bis vor die Tür geschleift. Er stolperte und fiel kopfüber in den Schnee. Hinter sich hörte er Gelächter und Klatschen. Köhler stand langsam auf, klopfte den Schnee von seinen Kleidern und schaute sich um. Von seinem Chauffeur und der schwarzen Limousine war weit und breit nichts zu sehen.

»Nichts für ungut«, schrie ihm der Bärtige noch zu und schloss mit einem kräftigen Ruck die Tür.

Es war noch kälter geworden; der Himmel war klar und die Sonne leuchtete etwas heller.

»Soll ich Sie ein Stück mitnehmen«, fragte ein Taxifahrer gelangweilt, der ausgestiegen und auf Köhler zugegangen war.

»Wohin wollen Sie mich mitnehmen?«

»Wohin auch immer Sie wollen.«

»Gut«, sagte Köhler, »fahren Sie mich bitte schleunigst in die Konzernzentrale.«

»Es tut mir außerordentlich leid«, sagte der Taxifahrer, »aber ich glaube nicht, dass ich Sie zur Zentrale bringen kann.«

»Aber Sie sagten doch gerade, wohin ich …«

»Ja, sicher«, unterbrach er Köhler, »aber zur Zentrale kann ich Sie nicht fahren, dazu bin ich nicht befugt.«

Köhler stand noch immer im Schnee, hatte wenig Lust, die Füße zu heben und begann langsam zu frieren.

Der Taxifahrer zündete sich eine Zigarette an.

Ein Pessimist würde langsam wohl verzweifeln, dachte Köhler. Da bemerkte er, wie sich im Dach der Raststätte ein kleines Fenster öffnete. Ein kleiner Kopf zeichnete sich darin ab, mehr war nicht zu erkennen.

»Er steht noch immer im Schnee und wartet«, hörte Köhler eine zarte Stimme sagen.

»So ein Idiot, es ist doch nicht zu fassen. Worauf wartet er?«, fragte eine tiefe Männerstimme aus dem Off.

»Auf meinen Chauffeur«, brüllte Köhler zornig.

»Der kommt nicht«, sagte der Taxifahrer, »heute jedenfalls nicht mehr.«

»Aber er wird doch dafür bezahlt!«

»Ja, ja«, sagte der Mann seelenruhig, »aber er wird vom Konzern bezahlt. So wie wir alle!«

Köhler schaute ihn fragend an und wollte noch etwas sagen, aber der Taxifahrer winkte ab.

Dann schwiegen beide.

»Ich will mal nicht so sein. Wenn Sie wollen, fahre ich Sie zum Hotel, obwohl ich das eigentlich nicht dürfte, aber man wird mir schon nicht kündigen.«

»Ich habe aber nur große Scheine dabei und meine Kreditkarte liegt im Hotel.«

»Keine Sorge«, sagte der Mann, »Sie sind doch Dr.Köhler, daher kostet es nichts.«

»Nichts«, fragte Köhler erstaunt, »die Fahrt kostet wirklich nichts?«

»Ja, die Fahrt ist frei, da Sie ein Teil des Konzerns sind, und ich für den Konzern tätig bin, ist wohl jede weitere Erklärung überflüssig.«

Das Ganze machte nicht den Eindruck besonderer Höflichkeit, sondern eher den einer merkwürdigen, unberechtigten Angst, Köhler könnte doch mehr Einfluss haben, als dem Taxifahrer lieb war. Der Mann öffnete Köhler die Wagentür. Köhler sagte nichts mehr, setzte sich auf die hintere Sitzbank, die Kopfschmerzen ließen langsam nach und sie fuhren los. Die Konzernzentrale schien jetzt weit, seltsam dunkel schon. Köhler entfernte sich wieder von seinem neuen Arbeitsplatz und ärgerte sich ein wenig darüber, dass er seine eigentliche Tätigkeit heute nicht hatte aufnehmen können.

Morgen ist auch noch ein Tag, dachte er sich. Und wie zum Abschied erklang ein Sirenenton vom Konzern her, unerträglich laut, als drohe ihm – ein hohes Summen klang schmerzhaft in seinen Ohren nach – der gewaltige Turm sogar von weiter Ferne.