Der Friede im Osten - Erik Neutsch - E-Book

Der Friede im Osten E-Book

Erik Neutsch

4,8

Beschreibung

Erik Neutsch hat Band 5 seines großen Romanwerks bis auf wenige Seiten beendet. Der Leser begegnet bekannten Figuren und Schicksalen, die unmittelbar an Band 4 anschließen. Achim Steinhauer muss in seiner mikrobiologischen Forschung eine Niederlage hinnehmen. Gleichzeitig erfährt er als Schriftsteller Anerkennung, eine seiner Erzählungen wird verfilmt; beteiligt am Drehbuch, gerät er in die Sphäre der Kulturpolitik. Er nimmt als Beobachter am VIII. Parteitag teil und erlebt Ulbrichts Absetzung. Als er sich bei den Dreharbeiten in die junge Schauspielerin Barbara Witte verliebt, gerät seine Ehe mit Ulrike in die Krise ...

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Zeuch in die Mitternacht, in das entlegne Land,

das mancher tadelt mehr, als daß ihm ist bekannt!

Tu, was dir noch vergünnt der Frühling deiner Jahre!

Laß sagen, was man will! Erfahre du das Wahre!

Paul Fleming

(1634 in einem Gedicht auf Nowgorod)

Erik Neutsch

Der

Friede

im

Osten

Das Neue Berlin

Ich glaube nun einmal an die Wichtigkeit der Revolution im Kreise menschlicher Schicksale, glaube, daß sie nicht nur sich ereignen mußte, sondern auch den Köpfen, den Fähigkeiten eine andere Entwickelung, dem Ideengang eine neue Richtung geben wird.

Georg Forster

(1793 in einem Brief an seine Frau Therese)

Fünftes

und letztes

Buch

Plebejers Unzeit

oder

Spiel zu dritt

Vorwort an meine Leser

Tu, was du mußt. Diese Forderung, die Romain Rolland in einer Nachbetrachtung zu seinem »Johann Christof« für sich in Anspruch nahm, erhob ich über die Jahre ebenfalls zum Imperativ meines Schreibens. Und wie sich Rolland, zugleich im Namen seines Haupthelden, einige Male zwischen den Büchern seines Romans an die Leser wendet, scheint auch mir diese Methode geeignet, um mich ihrer anzunehmen und auf zwei weitere Worte von ihm zu berufen: »Jeder unserer Gedanken bedeutet nur einen Augenblick in unserem Leben. Wozu diente unser Leben, wenn nicht dazu, unsere Irrtümer einzusehen, unsere Vorurteile zu überwinden, unser Denken und unser Herz zu weiten? Geduld! Schenkt uns Vertrauen, wenn wir fehlgehen. Wir wissen, daß wir fehlgehen. In dem Augenblick, da wir unsere Irrtümer einsehen, werden wir diese härter als ihr verurteilen. Wir geben uns Mühe, jeden Tag ein wenig mehr Wahrheit zu erobern. Am Ende unseres Weges werdet ihr beurteilen können, ob unser Versuch etwas taugte.« Das andere Wort: »Nun, da der Fluß sich lange gestaut hat, da er die Gedanken des einen und des anderen Ufers in sich aufgenommen hat, wird er seinen Lauf fortsetzen, dem Meere zu – in das wir alle münden.«

Den Roman »Der Friede im Osten« hatte ich bereits als Student angedacht, nachdem mir klar geworden, was mit mir während der Zeit des Nachkriegs geschehen war: ein Aufbruch im Denken, die Suche nach einem reinen Gewissen, der Drang zu einem radikalen Anderssein als der Mythos, den die Nazi-Ideologie dem tumben Jungen einst hatte einimpfen wollen. Ich begriff, daß mir dergleichen nur würde gelingen können unter den neuen, den antifaschistischen Verhältnissen, deren oberstes Gesetz es war, mit den Trümmern der niedergebrannten, verfeuerten Städte zugleich den Schutt in den Köpfen wegzuräumen. Auch ich wurde davon erfaßt, und so formte sich in mir ein erster literarischer Versuch: die Geschichte von Achim und Ulrike. Das infernalische Bild, in dem ein deutsches Flugzeug, abgeschossen von deutschen Geschützen, auf deutschem Boden mit seiner todbringenden Fracht die Schauplätze »zusammenbombt«, womit die Handlung beginnt, hatte damals mein Manuskript eröffnet und ist so stehengeblieben.

Doch noch während ich andere Schicksale für erzählenswert fand, vergingen an die zwei Jahrzehnte, ehe ich mich reif genug fühlte, der Fülle des Erfahrenen, das sich zunehmend in meinen Gedanken ausweitete, Grenzen zu setzen und dem Stoff das ihm gemäße Gewand anzulegen. Sechs Bücher sollten es werden und, da die Phantasie der gestrengen, disziplinierten Arbeit stets vorauseilt, sollte ein jedes sich vom anderen sowohl in der Struktur der Texte unterscheiden als auch an seinem Äußeren erkennbar sein, ein jeder Einband eine andere Farbe tragen, die des Regenbogens von Orange bis Rot. Was editorisch daraus entstand, läßt sich an den bisher erschienenen vier Büchern überprüfen. Das letzte wurde 1987 gedruckt unter dem Titel »Nahe der Grenze«. Seitdem zogen wiederum Jahrzehnte ins Land, und zwar in ein Land, das nunmehr der Vergangenheit angehört, geschmäht, beraubt, dämonisiert – verbannt in die »Mitternacht«.

Was also taugt da beim Gegenwärtigen noch eine Geschichte wie die von Achim und Ulrike?

Aber sie leben ja noch! In ihrem Schöpfer ebenso wie im Gedächtnis ihrer Freunde – der Leser. Von ihnen hörte ich, der Vierzeiler Paul Flemings, der dem Zyklus vorangestellt ist, mache sie aus heutiger Sicht bitter und, was sie mit mir gemeinsam hätten, betroffen. Denn als meine Wahl auf ihn fiel, konnte ich nicht davon ausgehen, daß er einmal wie eine Prophetie klingen würde.

Die Welt hat sich seither, so jedenfalls will es scheinen, auf unfaßbare Weise verändert! Nicht jene der Sterne und der Himmelsträume. Aber die hier auf Erden, mit ihren Kriegen und Abstürzen bis in die Niederungen der Menschenverachtung. Deutschland blieb davon nicht ausgeschlossen. Als dann in seinem Osten die neuen – und sollte man nicht besser sagen: die alten? – Mächte wieder ihr Regime übernahmen, jagten sie, was bis heute andauert, sofort den Geist, der es gewagt hatte, sich wider sie zu erheben.

In der Literatur säuberten sie Lager und Regale von der Konterbande, wie Heinrich Heine es nannte, und entsorgten die in diesem Sinne nur irgendwie verdächtigen Romane, Erzählungen, Dramen und Gedichte. Wie anderem von mir, ausgenommen »Spur der Steine«, geschah gleiches mit dem »Frieden im Osten«. Doch nicht genug damit, die Hatz erreichte auch seinen Verfasser, indem ihm unterstellt wurde, er trage sich nach seiner Ankündigung, das vierte Buch des Zyklus überarbeiten zu wollen, mit der Absicht, sich von seinen Werken insgesamt zu trennen. Nicht einen einzigen Gedanken habe ich jemals daran verschwendet. Denn meine Bücher, sollten sie auch vor Irrtümern nicht gefeit sein, betrachte ich als meine, wenngleich zu unterschiedlichen, demzufolge auch an intellektuellen Prägungen ärmeren oder reicheren Lebzeiten allein von mir erzeugte Nachkommenschaft. Ich bin kein Kronos, der das einmal Erschaffene bereut und, in der Furcht vor ihm, die eigenen Kinder verschlingt.

Meine Leser bitte ich, mir nachzusehen, daß ich mich als Autor vor dem jeweils beschriebenen politischen Hintergrund nur selten – weil ich mich nicht klüger dünkte – auf eine höhere Warte als meine Romanhelden begab, besonders was Achim Steinhauer angeht, dessen Weg ich fortan bis ins Jahr 1990 begleiten will. Das übrigens ist die wirklich entscheidende Korrektur, die ich dem »Frieden im Osten« angedeihen lasse. Am Anfang, als ich noch nicht ahnen konnte, was mit der DDR geschieht, sollte die Handlung 1985 enden. Was mich zu dieser Überlegung zwang, möchte ich, da vom späteren Verlauf der Geschichte außer Kraft gesetzt, nicht näher erläutern. Jetzt aber halte ich es für die logischste aller Konsequenzen, wenn der Erzählschluß mit dem Scheitern des gesellschaftlichen Aufbruchs im Osten Deutschlands zusammenfällt. Das weitere Geschehen um Ulrike und Achim wird man dann aus dem sechsten Buch, »Jahre der ruhigen Sonne« (siehe Anhang), erfahren. Auch dieser und der hier vorliegende Titel »Plebejers Unzeit« standen bereits von Beginn an meiner Phantasie vor Augen, und ich sehe keinen Grund, sie zurückzunehmen.

Doch genug der Vorrede. Denn »nun, da der Fluß sich lange gestaut hat, soll er seinen Lauf fortsetzen, dem Meere zu – in das wir alle münden…«

E. N.

2004/2013

Teil I

Der Traum

Erstes Kapitel

Den 11. April fuhr Achim Steinhauer über die Autobahn. Doch als er sich, mitten im Vorbeifliegen der Landschaft, dieses Satzes bewußt wurde, dachte er unwillkürlich an den Anfang von Büchners Erzählung: Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg … Was für ein Unterschied! Würde man jemals noch, im Zeitalter der Technik, eine solche Prosa, wie sie dort aufklingt, schreiben können?: Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen … Allerdings, die dichte Folge des Wortes Flächen hätte Achim wohl vermieden. Aber er sah es seinem Dichter nach und fuhr in seiner Bewunderung für ihn fort: Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts …

Achim kam von Babelsberg und wollte nach Graubrücken. Rund 150 Kilometer hatte er auf der Karte ausgemacht, und da der Wartburg erst eingefahren werden mußte, die Anzeige noch nicht die gebotene Zweitausendgrenze erreicht hatte, würde er für die Strecke, die Geschwindigkeitsbeschränkungen innerhalb der Ortschaften einbezogen und sofern nichts Unvorhergesehenes geschähe, knappe drei Stunden brauchen. Gegen Mittag, schätzte er, bei seiner Mutter zu sein.

In dieser Woche waren wiederum mehrere Szenen zum Film aufgenommen worden, und sowohl Gerald Schauter, der Regisseur, als auch Klaus Bärdorf, der Drehbuchautor, hatten um seine Anwesenheit gebeten, nachdem es zuvor bereits einiges Gerangel um die Interpretation seiner Erzählung gegeben hatte. Seither wünschten sie seine Beratung, um, wie auch die Dramaturgen sich äußerten, in der Auslegung der Fabel sicherzugehen. Sonst könne es durchaus möglich sein, wie in den letzten Jahren mehrmals erfahren, daß die Herren vom Kulturministerium oder vom ZK ihnen einen Strich durch die Rechnung machten, was bedeuten würde, seinen ohnehin kritischen Text, für sie außerordentlich wohltuend, denn anders hätten sie nicht zu diesem Stoff gegriffen, statt im Kino vorzuführen in die Versenkung verschwinden zu lassen. Allein schon der Titel »Der Grimm«, obgleich in seiner Erzählung – und es ließe sich darüber streiten, ob es nicht doch ein Roman sei – die Hauptgestalt die Grimm heiße, Gabi Grimm, könne für die Argusaugen der Oberwächter einer Provokation gleichkommen.

Aber, hatte Achim von den ersten Gesprächen an zu bedenken gegeben, seine Geschichte habe einen hohen Literaturpreis erhalten. Die Filmleute jedoch, Schauter, Bärdorf, auch Kurfalz, einer der Hauptdarsteller, staunten über seine Naivität und lächelten milde. Das hätte doch nicht das geringste zu sagen. Die Kunstpolitik in diesem Lande ändere sich aller paar Jahre, schlage einmal nach links aus, ein andermal nach rechts, wie ein Perpendikel. Heute: Laßt alle Blumen blühen, aber morgen: Alles Unkraut muß gejätet werden. Schon da war Achim sich vorgekommen wie bei seinem Eintritt als Sechzehnjähriger ins Gymnasium. Ergreifen Sie, Steinhauer, einen soliden Beruf. Die Worte Pfälzers, des Direktors. Handwerk hat goldenen Boden. Paßte er denn hier hinein? Er war anderer Ansicht. Ihm war, als fühlte er sich in dieser Gesellschaft des Kunstbetriebs als Außenseiter. Er hatte geschrieben, was ihm am Herzen lag. Aufrichtig, wahr, realistisch. Es war die Wahrheit der einfachen Leute. Und diese Wahrheit ist immer konkret und niemals halb, und Kompromisse sind Lügen, tödlich für den Realismus. Alles andere wäre, als verstümmelte er sich selbst. Es wäre die UNZEIT. Kam er zu spät oder kam er zu früh?

Mit solch trüben Gedanken fuhr er zunächst über die Autobahn, Magdeburg entgegen. Aber es war ein anderer Tag als jener, an dem Lenz durchs Gebirge gestiegen. Die Sonne überflutete mit ihrem Licht die weithin einsehbare Ebene, und fern über den sanft auf und ab schwingenden, weißen Betonbändern zwischen den Luchwiesen waberte die erwärmte Luft. Auch seine Stimmung hellte sich auf und wurde zunehmend heiterer. Bald hätte er nicht, wie bei Büchner, auf dem Kopf gehen, sondern Kobolz schießen und auf dem Kopf tanzen wollen. Er dachte an Yves Montand in dem Film »Lohn der Angst«, wie er von den brennenden Petroleumfeldern zurück nach Las Piedras fährt, heilfroh, von seiner Fracht, dem Nitroglyzerin, nicht in Stücke gerissen worden zu sein, und zweitausend Dollar in Aussicht, wie er hinter dem Steuer mit seinem Truck tanzt, auf der Straße tanzt, von links nach rechts, und schlingert, von rechts nach links – und in den Abgrund stürzt.

Hüte dich, Junge, bleib auf dem Gaspedal schön ruhig, auch wenn es dich juckt, sobald einer nach dem andern an dir vorbeirauscht und dich angrinst, wie gerade jetzt auf der Überholspur der feiste, schwarze Amerikaner bei heruntergekurbelter Scheibe in einem Cadillac, in mindestens doppelt so hohem Tempo wie er bei achtzig.

In gewisser Hinsicht war auch sein Auto ein Lohn, zwar nicht für die Angst, keinesfalls, sondern für das Gegenteil, die Freude darüber, daß die DEFA die Filmrechte an seiner Erzählung erworben und dafür ein stattliches Honorar gezahlt hatte, zwanzigtausend Mark. Da vor Jahren bereits Ulrike mit dem staatlichen Vertrieb eine schriftliche Vereinbarung zum Kauf eines Wartburgs getroffen hatte, war ihr vor kurzem mitgeteilt worden, sie sei, nunmehr vornan auf der Warteliste, an der Reihe. Um etliche Monate früher indes als im Liefervertrag vorgemerkt, stand das Prachtstück, mit blitzender Karosserie in Perlweiß, wie die Farbe im Fahrzeugbrief angegeben, und blauer Velourpolsterung, abholbereit auf dem Hof des Handelskontors, was gewiß auf seinen Antrag hin erfolgt war, mit der Begründung, er sei, da er fortan des öfteren zu den Studios nach Babelsberg reisen müsse, auf ein Auto angewiesen. Als Literaturpreisträger genoß er wohl ohnehin einen Vorzug.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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