Der gehäutete Hund - Christo Saprjanov - E-Book

Der gehäutete Hund E-Book

Christo Saprjanov

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Beschreibung

»Taiga, Sümpfe und Nacht.« Mit diesen vier Worten lässt der bulgarische Schriftsteller Christo Saprjanov seinen Roman beginnen. Ein Zug transportiert Arbeiter in eine gottverlassene Gegend der russischen Steppe. Unter ihnen befindet sich auch ein junger bulgarischer Lehrer, den es hierher verschlagen hat, weil er viel Geld für die Augenoperation seines Sohnes braucht. Die Zivilisation in die Wildnis zu tragen, heißt die Männer zu Wilden werden lassen. Auf engem Raum zusammenlebend, bestimmen Kälte, Hunger und Einsamkeit den nackten Alltag. Der Roman spielt am Vorabend zweier Feiertage - eine Ausnahmesituation für die Barackenbewohner. Sex, Alkohol und Kartenspiel bilden im Verlauf des Abends eine explosive Mischung, die sich schließlich in einem Mord entlädt. Minutiöse, naturalistische Schilderungen wechseln ab mit imaginierten Bildern, in denen das unglaubliche Geschehen sich für den Protagonisten verrätselt. Saprjanov zeigt Menschen in ihrem tragischen bis komischen Bemühen, als Individuen zu bestehen.

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Christo Saprjanov

Der gehäutete Hund

Roman

 

 

Aus dem Bulgarischen

von Barbara Müller

 

 

Verlag Neue Kritik

 

 

Die bulgarische Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel »Odranoto kue« im Verlag Lettera, Plovdiv. Gefördert vom Literarischen Colloquium Berlin mit Mitteln des Auswärtigen Amts und der Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten – II C – Berlin.

 

 

 

 

© 1992 by Lettera Publishers

© für die deutschsprachige Ausgabe Verlag Neue Kritik Frankfurt am Main 1994

Die E-Book-Ausgabe folgt der Printausgabe von 1994Zitatnachweis: Sophokles, König Ödipus (deutsch von Friedrich Hölderlin) / Botew (deutsch von Franz Fühmann)

Umschlag Helmut Schade Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8015-0573-8 (epub)ISBN: 978-3-8015-0574-5 (mobipocket)

ISBN: 978-3-8015-0575-2 (pdf)

www.neuekritik.de

Inhalt

Text

Klappentext

Ihr Geschlechter der Sterblichen!Wie zähl ich gleich und wie nichtsEuch Lebende.Denn welcher, welcher MannTrägt mehr von Glück,Als so weit, denn ihm scheint,Und der im Schein lebt, abfällt.Da ich dein Beispiel hab,Und deinen Dämon, o Armer!Preis ich der Sterblichen keinen glücklich.

 

Sophokles, »König Ödipus«

 

 

So denkt der Dummkopf, und sein einziges Strebenist dies: Ein sattes Leben führen, und niefragt er, als was er eigentlich sein Lebenzubringt: als Mensch oder als ein Stück Vieh!

 

Christo Botew

 

 

Für Guillermo Mejia

 

Die ASSR der Komi. Taiga, Sümpfe und Nacht. Weiße Nächte. Ein Zug fuhr vorbei. Er kroch wie eine Schlange auf ihrer eigenen Spur. Es war ein alter Zug, und er kannte den Weg. Er transportierte Menschen. Arbeiter. Sie kamen von fern. Vorwiegend Männer. Bulgaren. Vom Schicksal getrieben, blieben sie, um hier, auf diesem herben Flecken Erde, Geld zu verdienen. Er war einer von ihnen. Niemand stand auf dem Bahnsteig. Sie wurden nur von Mückenschwärmen überfallen. Ein Bus wartete auf sie. Sie stiegen ein, und er fuhr los. Zu beiden Seiten blickte die Taiga auf sie. Sie folgten einem Lastwagen, der mit Baumstämmen beladen war. Ihre gezackten Spitzen ragten über die Ladefläche hinaus und wippten leicht als Antwort auf den holprigen Weg. Die Straße machte eine leichte Biegung. Der Lastwagen kam von der Fahrbahn ab und prallte auf die gegenüberliegenden Bäume. Der Autobus versuchte auszuweichen, aber es gelang ihm nicht. Er wurde von dem Bündel gestutzter Baumstämme durchbohrt.

Jetzt, da er so dahockte, die Vergangenheit im Rücken, die Hände über den Knien gekreuzt, das Kinn auf sie gestützt, und ins Feuer starrte, dachte er, er damals Glück gehabt hatte. Er hätte einer von ihnen sein können. Von den Toten. Von denen, die von den riesigen Spießen durchbohrt in der Luft hingen. Stöhnend und blutend. Doch er war es nicht. Der Tod war an ihm vorübergegangen und hatte in seinem Mund nur einen salzigen Blutgeschmack hinterlassen. Ein Schauder des Grauens, des Ekels und der Wonne durchfuhr ihn. Der Wonne, dass es ihn nicht getroffen hatte, dass er lebte, bespritzt mit fremdem Blut. Seitdem waren Monate vergangen, doch er spürte diesen Schauder in seinem Rückgrat noch immer. Er überkam ihn stets, wenn er sich daran erinnerte, aber gewöhnlich dachte er an anderes. An sie, an das Kind. Und je mehr Zeit verstrich, umso mehr vermisste er sie. Dieses Gefühl verstärkte sich durch die Bedingungen, unter denen er sein Dasein fristen musste. Er hatte den starken Wunsch, sie zu sehen, aber sie waren viel zu weit weg, Tausende Meilen von hier, und sicher dachten sie ab und zu an ihn. Er hoffte, dass es so war und dass sie auf ihn warteten. Ja, natürlich, und wenn es dann soweit wäre, würde alles wieder wie früher sein.

Er hatte ihnen nicht von dem Unglücksfall geschrieben. Er hatte es zwar gewollt, es dann aber nicht getan. Es war besser, wenn sie es nicht erfuhren. Sie hätten sich nur Sorgen gemacht, schließlich war er davongekommen, also hatte es keinen Sinn. Wichtig war, dass es ihm wieder gut ging und die Dinge eines nach dem anderen ins Lot kamen. Er hatte gewusst, dass es ihm nicht leichtfallen würde, aber trotzdem war vieles anders, als er es sich vorgestellt hatte. Seine schwerste Arbeit als Lehrer war es bisher gewesen, mit einem Stück Kreide etwas an die Tafel zu schreiben. Hier musste er einen Spaten in der Hand halten und damit den Beton glattstreichen. Das war eine ungewohnte Anstrengung für seinen Körper, zu Anfang wurde er ganz steif, dann gewöhnte er sich allmählich an den Rhythmus und meisterte seine Sache zunehmend besser. Er blieb in der Brigade, in der er angefangen hatte, und schon im zweiten Monat verdiente er gutes Geld. Die anderen Neuankömmlinge wechselten von Brigade zu Brigade, dort mussten sie bis zur Erschöpfung schuften, dann schmiss man sie raus, dabei hätten sie mindestens einen Monat lang in einer Gruppe arbeiten müssen, um das gleiche zu bekommen wie die anderen.

Mit den Arbeitern verstand er sich gut. Anfangs kamen sie ihm primitiv vor und wenig umgänglich, aber mit der Zeit gewöhnte er sich an sie und begriff, dass sie alle verschlossene, aber gute Männer waren: rauh und durch die Arbeit gestählt. Sie arbeiteten viel, alle zusammen, manchmal zwölf bis vierzehn Stunden am Tag, besonders im Sommer, wenn der Tag kein Ende nahm.

Sie bauten eine Straße durch die Taiga. Sie gossen sie aus Beton, damit sie von der Winterkälte keine Risse bekam. Die Straße wurde immer länger, doch auch der Winter rückte immer näher. Der Boden war bereits vom Frost hart geworden, geschneit hatte es aber noch nicht. Jeden Augenblick konnte der erste Schnee fallen, dann würde die Arbeit schwer werden. Deshalb hatten es die Vorgesetzten eilig, der Plan musste erfüllt werden. Der technische Leiter trieb sie an. Er drohte, sie würden keine Prämien bekommen, wenn sie so weitermachten. Mager, ausgezehrt, in Lederstiefeln und schwarzem Parka stand er auf der Baustelle, die Hände in den Taschen vergraben, er rauchte und verfolgte ihre Arbeit aus seinen Knopfäuglein. Manchmal trat er dicht hinter sie, schnaufte laut, dann spuckte er auf den nassen, noch ungeglätteten Beton in der Verschalung, blickte sie mürrisch an und stieg in den Jeep, ohne ein Wort zu sagen. Sie mochten ihn nicht, und auch er mochte sie nicht. Er drohte ihnen ständig, er würde sie feuern und sie in den »fröhlichen« Zug setzen. So nannten sie den Zug, der jene wegbrachte, die gegen die Spielregeln hier verstießen, und vor allem die fristlos Entlassenen. Sie wurden nach Bulgarien zurückgeschickt. Die Kriminellen kamen vors Gericht, die anderen mussten eine Vertragsstrafe zahlen. Das war eine Menge Geld. Deshalb verhielten sie sich still und bemühten sich, nicht allzu oft mit ihm zu streiten, denn er war ein Mann des Direktors, und der große Chef würde jeden Kündigungsbrief unterschreiben, ohne mit der Wimper zu zucken.

Bis Ende des Jahres sollten sie den Fluss erreichen, aber er war ein ganz schönes Stück entfernt durch die Taiga. Der Beton wurde auch nicht immer rechtzeitig geliefert. Das verzögerte die Arbeit. Dann mussten sie herumsitzen und auf die Kipper warten. Im Sommer konnte man sich an einen Balken lehnen und ein Nickerchen machen, aber jetzt standen sie nur herum und froren. Manchmal machten sie ein Feuer, spielten Karten, erzählten sich irgendwelche Geschichten und rösteten Pilze am Spieß. Das Nichtstun ermüdete sie nicht weniger als die Arbeit, obwohl sie zuweilen eine Verschnaufpause brauchten. Wenn die Kipper mit dem Beton zurückkamen, war auch der Technische zur Stelle. Nervös und hastig ging er auf sie zu und rief: »Los, macht euch an die Arbeit, ihr seid ja schlaff wie geschmorter Porree.« Er heizte ihnen ein, weil sie es waren, die eigentlich das Geld machten. Die anderen stahlen es. Von ihnen. Überstunden wurden nie bezahlt, wenn es nötig war, mussten sie manchmal sogar sonntags schuften, so wie heute.

Es standen Feiertage bevor, und für sie wurde an den freien Tagen vorgearbeitet. Zuweilen mussten sie zwei, drei Wochen durcharbeiten, aber der Lohn war immer der gleiche. Die Männer wollten ausspannen, sie brauchten Alkohol und Freizeit, sie hatten keine Lust zu schuften. Was interessierte sie der Plan, es war ihnen gleich, ob sie den Fluss erreichen oder ins Jenseits kommen würden. Das war ihnen völlig Wurst. Heute hatten sie eigentlich nicht zur Arbeit gehen wollen, schließlich hatten sie es fluchend doch getan. Überflüssige Konflikte hatten keinen Sinn, man hatte sie ohnehin schon aufs Korn genommen. Wenn sie heute nicht zur Arbeit erschienen, würde sich ihre Lage nur noch verschlimmern, ändern würde sich nichts. Man würde ihnen den Mittelfinger zeigen und ihnen dann die Prämien streichen. Es war viel besser, sich damit abzufinden und nur so zu tun, als ob sie arbeiteten, deshalb waren sie an diesem Sonntag auf der Baustelle erschienen, damit niemand etwas sagen konnte.

Nur er war in der Baracke geblieben. Dem Technischen würden sie sagen, er habe einen Herzanfall bekommen. In letzter Zeit hatte er tatsächlich Schmerzen, Stiche bekam er seit eh und je, aber er hatte sie nie ernst genommen. Von Zeit zu Zeit bekam er einen Krampf, aber das ging dann wieder vorbei. Eine Bagatelle. Es war erträglich. In solchen Fällen brauchte er nur einen Augenblick Ruhe, er holte tief Luft, und schon verging der Schmerz. Einmal war ihm das auch während der Arbeit passiert, aber er hatte sich schnell wieder erholt. Gerade deshalb hatten sie ihn in der Baracke zurückgelassen. Er sollte Holz für die Feiertage hacken, damit sie genug fürs Feuer hätten.

Sobald sie fort waren, machte er sich an seine Aufgabe. Er zerschnitt ein paar Baumstämme mit der Motorsäge zu kleineren Kloben, nicht zu lang, aber auch nicht zu kurz, sondern so, dass sie der Wucht entsprachen, mit der er mit der Axt auf sie einhieb. Nachdem er jeden Kloben zuerst in zwei, dann in vier Stücke gespalten hatte, reihte er sie an der Hinterwand der Baracke auf. Diese Arbeit war zeitaufwendig, aber ihm gefiel sie. Er liebte es zu sehen, wie die Klinge der Axt, von seiner eigenen Kraft getrieben, im Holz versank und es zerteilte, nach jedem Schlag spürte er seine körperliche Kraft und Geschicklichkeit.

Einen Teil der Holzscheite trug er in die Baracke und legte sie im Kamin zurecht, den sie aus Beton gegossen hatten, damit die hölzernen Wände kein Feuer fingen. Er wärmte gut, nicht schlechter als die Öfen, die man ihnen gab. Sie waren aus Blech und wurden schnell wieder kalt, während der Beton die Wärme bis zum Morgen speicherte.

Er ordnete die Scheite in der Mitte der Feuerstelle, ganz unten schob er ein paar Holzspäne dazwischen und zündete sie mit einem Streichholz an. Die Baracke war klein und wurde schnell warm. In ihr wohnten nur er und Jaska. Sie verstanden sich, obwohl er ein ziemlicher Sonderling war. Er trank viel, aber das tat jeder. Gewöhnlich schwieg er, manchmal machte er einen Scherz oder er lächelte nur. Das, was er über ihn wusste, hatte er von den anderen erfahren. Dass er zweimal verheiratet gewesen war, doch das erstemal ohne Glück, denn seine Frau verließ ihn, obwohl sie zwei Kinder hatten. Dann hatte er es noch einmal versucht, er hatte wieder geheiratet, eine andere, doch das Geld, das er verdiente, hatte nur für die Alimente für die beiden Kinder gereicht. Deshalb war er auch hergekommen, damit er genügend Geld für die neue Frau hatte und auch für die Kinder etwas übrigblieb. Als er hier anfing, hatte er kurze Zeit später auch seine Frau hergeholt, schließlich soll man ein junges Weib nicht allzu lange allein lassen. Sie war gekommen, eine Weile hiergeblieben und eines Tages dann wieder abgereist. Ob Jaska sie nach Hause geschickt hatte oder sie aus eigenen Stücken gefahren war, hatte er nicht mitbekommen. Im Lager kursierten verschiedene Gerüchte über sie, man erzählte sich mehrere schlimme Geschichten, aber so richtig klar war ihm die ganze Sache nicht geworden.

Eines jedoch stand außer Zweifel, Frauen hatten hier nichts zu suchen. Besonders verheiratete. Obgleich es auch solche gab, einige von ihnen »verdienten« sogar bedeutend besser als ihre Männer, aber das kam selten vor. In der Mehrzahl waren sie hier Männer. Alleinstehende Frauen wurden erst gar nicht genommen. Dafür gab es Russinnen. Ganze Eisenbahnzüge voller Nutten aus allen Enden dieses riesigen Landes. Sie kamen gewöhnlich am Monatsende, wenn man den Arbeitern ihren Lohn auszahlte. Sie schwärmten in die Siedlungen aus, klopften an Fenster und Türen und entblößten dabei ihre Brüste und Schenkel, auf denen die Preise tätowiert waren, für die sie ihre Dienste anboten. Nach jedem Koitus drückten sie einen in Essig getauchten Schwamm zwischen ihren Beinen aus und gingen zum nächsten. Er mied sie, obwohl einige von ihnen ziemlich aggressiv und aufdringlich waren. Er hatte keine Lust auf solche Dinge, er fand sie widerlich, deshalb verließ er die Baracke, ging quer durch das Lager und verzog sich in den Wald.

Neben ihrer Baracke standen nur noch einige wenige. Die meisten Männer wohnten in alten, seit langem ausgemusterten Lokomotiven und Eisenbahnwaggons, die man auf einem toten Gleis dicht aneinandergereiht hatte. Vom Lauf der Zeit über Bord gespült, standen die Maschinen hier, an diesem gottverlassenen Ort, zusammengepfercht und in Gedanken an ihre Jugend versunken, als sie mit Volldampf an den historischen Prozessen teilnahmen, indem sie die Menschheit in die Zukunft beförderten. An ihrem Ziel angekommen, hatten die Menschen nichts Eiligeres zu tun, als die plumpen, doch treuen Dampfloks loszuwerden, indem sie sie hier verschanzten, als fürchteten sie, jemand könnte sie finden und erneut auf ihnen durch die historischen Prozesse rasen. Doch man hatte sie entdeckt, und obwohl ihre neuen Bewohner keine Ahnung davon hatten, wohin sie mit ihnen hätten fahren können, sorgten sie für sie und fühlten sich in ihnen in gewissem Sinne geborgen. Diese historischen Monumente waren nichts weiter als ein Haufen alten Eisens, der als Unterkunft diente, deshalb nannten sie ihre Siedlung die Eiserne Stadt. In den Waggons zu wohnen galt nicht gerade als Privileg, deshalb konnte er von Glück reden, als man ihm eine der wenigen Baracken in der Nähe der Waggons zuwies. Vor seiner Ankunft hatte Jaska mit seiner Frau hier gewohnt, aber als sie abreiste, war ihr Bett frei geworden, und nun schlief er an ihrer Stelle darin. Manchmal kamen verschiedene kleine Dinge zum Vorschein, Klemmen, Schnallen, Haare, die davon zeugten, dass sie bis vor kurzem noch hier gelebt hatte. Auf Jaska machte das allem Anschein nach keinen Eindruck. Er sah kaum hin, ließ sich mit Wodka vollaufen und schlief ein. In der Baracke hatten sie es tatsächlich etwas besser, denn sie stand etwas abseits von dem Zug, der als Behausung diente, aber gerade deshalb saßen sie stets hier mit den anderen zusammen.

Gewöhnlich tranken sie und spielten Karten. Er selbst tat weder das eine noch das andere. Es machte ihn nervös, außerdem bekam er nicht genügend Schlaf. Mit der Zeit gewöhnte er sich daran, und er lernte es, trotz des Lärms zu schlafen, aber wenn niemand da war, war es still und angenehm, man hörte nur das Stimmengewirr in den Waggons und konnte sich wirklich ausruhen.

Im Raum standen nur wenige Möbelstücke, nur das Notwendigste: ein Tisch, ein Schrank und zwei Betten. An der Wand zwischen ihnen hing eine Flinte. Normalerweise wurde sie nicht benutzt, und sie hing nur an ihrem Nagel – für alle Fälle. In dieser Ödnis wusste man nicht, was man eines Tages brauchen würde. Jaska hatte sie seinerzeit auf dem Schwarzmarkt gekauft. In der Taiga trafen sie manchmal auf Bären oder Elche. Sie erlegten sie und teilten sich das Fleisch. In diesem Jahr hatten sie auch eine Bärin mit drei Jungen geschossen. Irgend etwas musste sie aufgescheucht haben, denn sie erschien gerade in dem Moment in der Eisernen Stadt, als die Männer zur Arbeit aufbrachen. Alle holten ihre Gewehre und begannen zu schießen. Von den Schrotkörnern zerfetzt, sank das schwere Tier auf die Erde, die kleinen Bären, die noch von ihrer Mutter gesäugt wurden, brummten und rieben die Nasen am Kadaver ihrer Mutter. Die Männer trennten die Jungen von ihrer Mutter und teilten die Bärin dann in Stücke, die sie noch in der gleichen Nacht brieten, die Kleinen wurden gemästet und, als sie etwas größer geworden waren, geschlachtet.

Er hatte seine Aufgabe erfüllt, deshalb setzte er sich kurz ans Feuer, um sich zu wärmen, bis die anderen zurück waren. Er erwartete sie jeden Augenblick, aber er wünschte sich, dass sie sich etwas verspäten würden, er hatte keine Lust, seinen Platz zu verlassen, und auch die Einsamkeit sagte ihm zu. Das Feuer streckte ihm sengende Zungen heraus. Er nahm einen Scheit und warf ihn hinein. Er sah, wie das frische Holz Feuer fing, es zischte, als sein Saft auslief, und erfüllte die Luft mit seinem Geruch. Dieser Geruch drang in die Nase, füllte seine Lunge und weckte in ihm die Erinnerung an jenen Ausflug.

Sie waren zu dritt. Sie, er und der Kleine. Die Dämmerung war angebrochen. Die Sonne hatte sich gerade hinter den Zacken des Gebirges versteckt. Sie sammelten Reisig, schichteten es aufeinander und zündeten ein Feuer an. Die Luft erfüllte sich mit dem gleichen Geruch nach verbranntem Kiefernharz. Sie lagen im Gras, ihr Blick schweifte über die treibenden roten Wolken. Er umarmte seine Frau und küsste sie. »Ich werde noch etwas Holz sammeln«, beschloss das Kind. Sie hörten, wie es gegen etwas prallte und hinfiel. Es hatte sich am Stamm einer der Kiefern gestoßen, die sie umgaben. Von klein auf stolperte es häufig. Sie glaubten, dass sich das mit den Jahren geben würde, doch es kam ganz anders. Das Kind verlor allmählich sein Augenlicht. Seitdem lief nichts mehr normal. Anfangs wollte er sich nicht damit abfinden. Es schien ihm, als sei das Ganze ein Irrtum, doch nach und nach begriff er, dass es die reine Wahrheit war, und ihm blieb nur eines, das einzusehen. Als er den ersten Stress überwunden hatte, machte er sich daran, in Erfahrung zu bringen, ob man nicht irgend etwas dagegen tun konnte. Die Ärzte, mit denen er sprach, bemühten sich recht und schlecht, ihm Mut zu machen, es war aber offensichtlich, dass sie ihn so schnell wie möglich wieder loswerden wollten. Er wollte einen Professor konsultieren, den man ihm als Besten auf diesem Gebiet empfohlen hatte, doch der war so gut wie unerreichbar. Schließlich fand sich ein Bekannter, der ein Wort für ihn einlegte. Er führte ihm das Kind vor. Während der Untersuchung sagte der Professor kein einziges Wort. Als er fertig war, setzte er sich in seinen Sessel und versank in Gedanken, von seinem Gesicht konnte man nichts oder fast nichts ablesen, was auf das Ergebnis der Untersuchung hätte schließen lassen. Eine Weile saß er so, dann sagte er: »Er muss operiert werden, aber ich wüsste nicht von wem.« Damals verstand er nicht, was der Professor damit meinte, doch nur kurze Zeit später war ihm bereits klar, wie sehr der Mann recht gehabt hatte. Keiner der wenigen Fachärzte war bereit, das Kind zu operieren. Man versprach ihm, es in die Augenklinik nach Odessa zu schicken, doch man gab ihm gleichzeitig taktvoll zu verstehen, dass das keine leichte Sache sein würde und er sich auf eine lange Wartezeit gefasst machen müsse. Andererseits sprachen die Untersuchungen dafür, dass sich der Zustand des Kindes verschlechterte und die Operation nicht mehr aufgeschoben werden durfte.

Sie beschlossen, dass er auf eigene Faust hinfuhr. Er und das Kind. Als das Schiff ablegte, sah er, dass seine Frau am Kai weinte. Seitdem dies alles geschehen war, weinte sie oft, sie vermied es, dem Kind ihre Tränen zu zeigen, aber ansonsten weinte sie viel, vor allem nachts. Sie war nervös geworden, sprach nicht und wurde leicht hysterisch. Er versuchte, sie zu beruhigen, aber sie drehte ihm den Rücken zu und zog sich in irgendeinen Winkel zurück. Er fühlte sich abgewiesen, ungerecht behandelt, aber zugleich war er bemüht, sie zu verstehen, und deshalb verzieh er ihr. Er hoffte, alles würde sich von selbst einrenken, sobald Mario wieder gesund war. Mario war klein und begriff kaum, was um ihn herum vorging, aber irgendwie spürte er es. Er riss seine Augen weit auf, und im Gegensatz zu anderen Malen fragte er nichts und nickte nur brav, wenn man ihm auftrug, sich während der Untersuchungen beim Onkel Doktor gut zu benehmen. Auf die gleiche Weise schwieg er auch auf dem Schiff, aber als sie auf dem Deck saßen und aufs Meer blickten, fragte er ihn: »Papa, was ist unter dem Wasser?«