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Juan Gómez-Jurado

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Beschreibung

Trauer im Vatikan Drei Leichen in Purpur. Ein Mörder geht um im Herzen der Kirche. Der Papst ist gestorben, und in Rom treffen Kardinäle aus aller Welt zur Wahl des Nachfolgers ein. Doch dann werden nacheinander drei Kirchenfürsten auf unmenschliche Weise abgeschlachtet. Die Tat eines Geisteskranken? Oder will jemand das Konklave beeinflussen? Aber wer? Italiens Top-Profilerin Paola Dicanti wird eingeschaltet. Und auch ein Priester mit CIA-Vergangenheit macht sich auf die Jagd nach dem Mörder.

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Juan Gómez-Jurado

Der Gottesspion

Thriller

Aus dem Spanischen von Luis Ruby

Informationen zum Buch

Trauer im Vatikan

Drei Leichen in Purpur.

Ein Mörder geht um im Herzen der Kirche.

Der Papst ist gestorben, und in Rom treffen Kardinäle aus aller Welt zur Wahl des Nachfolgers ein. Doch dann werden nacheinander drei Kirchenfürsten auf unmenschliche Weise abgeschlachtet. Die Tat eines Geisteskranken? Oder will jemand das Konklave beeinflussen? Aber wer? Italiens Top-Profilerin Paola Dicanti wird eingeschaltet. Und auch ein Priester mit CIA-Vergangenheit macht sich auf die Jagd nach dem Mörder.

Informationen zum Autor

Juan Gómez-Jurado, geboren 1977 in Madrid, hat als Journalist für Radio und Fernsehen sowie als Marketingdirektor gearbeitet. Für seine journalistischen Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet. In seiner Heimat Spanien gilt der Autor seit dem Bestseller-Erfolg «Der Gottesspion» als «der neue Papst des Verschwörungsromans». (Qué Leer).

Weitere Veröffentlichungen:

Der Gottes-Pakt

Das Zeichen des Verräters

Für Katu, das Licht meines Lebens

Und ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben.Matthäus 16,19

Dramatis Personae

Geistliche

ANTHONY FOWLER, Ex-Offizier des Geheimdienstes der US-Air-Force. US-Amerikaner.

VIKTOR KAROSKI, Serienmörder. US-Amerikaner.

CANICE CONROY, ehemaliger Direktor des Saint-MatthewInstituts. US-Amerikaner.

Hohe Zivilbeamte des Vatikans

JOAQUÍN BALCELLS, Sprecher des Vatikans. Spanier.

GIANLUIGI VARONE, einziger Richter des Vatikanstaats. Italiener.

Kardinäle

EDUARDO GONZÁLEZ SAMALO, Kardinal-Kämmerer. Spanier.

FRANCIS SHAW, US-Amerikaner.

EMILIO ROBAYRA, Argentinier.

ENRICO PORTINI, Italiener.

GERALDO CARDOSO, Brasilianer.

Weitere einhundertzehn Kardinäle.

Ordensleute

Pater FRANCESCO TOMA, Karmelit. Pfarrer der Kirche Santa Maria in Traspontina.

Schwester HELENA TOBINA, Leiterin des Domus Sanctae Marthae. Polin.

Vatikanpolizei (Corpo di Vigilanza dello Stato Vaticano)

CAMILO CIRIN, Generalinspektor.

FABIO DANTE, Superintendent.

Italienische Polizei – Mordkommission (Unità per l’Analisi di Crimini Violenti – UACV)

PAOLA DICANTI, Inspektorin und promovierte Psychiaterin. Leiterin des Labors für Verhaltensforschung (LAC).

CARLO BOI, Generaldirektor des LAC und Paolas Chef.

MAURIZIO PONTIERO, stellvertretender Inspektor.

ANGELO BIFFI, Polizeizeichner und Experte für Bildbearbeitung.

Zivilisten

ANDREA OTERO, Sonderberichterstatterin der Tageszeitung El Globo. Spanierin.

GIUSEPPE BASTINA, Bote vom Kurierdienst Tevere Express. Italiener.

Prolog

Saint-Matthew-Institut

(Rehabilitationszentrum für katholische Priester, die des sexuellen Missbrauchs überführt wurden)

Silver Spring, Maryland

JULI 1999

Pater Selznick erwachte mitten in der Nacht mit einem Fischmesser an der Kehle. Ein Rätsel, wie Karoski überhaupt an das Messer gelangen konnte. In endlosen Nächten hatte er jedenfalls die Klinge an der Kante einer losen Bodenfliese seiner Isolationszelle geschliffen.

Es war das vorletzte Mal, dass es ihm gelang, diesen engen, drei mal zwei Meter großen Raum zu verlassen. Mit Hilfe einer Kugelschreibermine hatte er sich der Kette entledigt, die ihn an die Wand fesselte.

Selznick hatte ihn beleidigt. Das würde er büßen müssen.

«Versuch gar nicht erst zu schreien, Peter.»

Karoskis weiche Hand lag fest auf Selznicks Mund, während er mit dem Messer sanft über die Bartstoppeln des Priesters strich. Auf und ab, die makabre Parodie eines Barbiers. Selznick blickte mit weit aufgerissenen Augen zu ihm auf, starr vor Schreck, seine Finger krallten sich ins Bettlaken. Er spürte das schwere Gewicht dessen, der auf ihm kniete.

«Du weißt, warum ich hier bin, nicht wahr, Peter? Du kannst blinzeln. Einmal für ja und zweimal für nein.»

Selznick reagierte nicht, bis er merkte, dass die Klinge ihren Tanz auf seinem Gesicht unterbrochen hatte. Er blinzelte zweimal.

«Deine Ignoranz ist das Einzige, was mich noch wütender macht als dein Mangel an Respekt, Peter. Ich bin hier, um dir die Beichte abzunehmen.»

In Selznicks Augen schien Erleichterung aufzublitzen.

«Bereust du, unschuldige Kinder missbraucht zu haben?»

Ein Blinzeln.

«Bereust du, deine Priesterwürde besudelt zu haben?»

Ein Blinzeln.

«Bereust du, so viele Seelen in Aufruhr versetzt und damit unsere Mutter Kirche verraten zu haben?»

Noch ein Blinzeln.

«Bereust du schließlich, mich vor drei Wochen in der Gruppentherapie unterbrochen und damit meine Wiedereingliederung in die Gesellschaft und meine Rückkehr in den Dienst Gottes beträchtlich erschwert zu haben?»

Ein deutliches, nachdrückliches Blinzeln.

«Es freut mich, deine Reue zu sehen. Für die ersten drei Sünden erlege ich dir als Buße sechs Vaterunser und sechs Avemarias auf. Für die letzte …»

Der Ausdruck in Karoskis kalten grauen Augen blieb unverändert, doch er hob das Messer, schob es zwischen Selznicks Lippen und ließ es immer tiefer in den Rachen seines völlig verängstigten Opfers gleiten.

«Ach, Peter, du weißt gar nicht, wie ich das genießen werde …»

In erzwungener Stille kämpfte Pater Selznick beinahe fünfundvierzig Minuten mit dem Tod. Die Wärter, die dreißig Meter entfernt die Gänge bewachten, bemerkten nichts.

Karoski kehrte in seine Zelle zurück und schloss leise die Tür hinter sich. Am nächsten Morgen fand ihn dort der Leiter des Instituts. Er saß auf seiner Pritsche, über und über mit geronnenem Blut bedeckt. Doch es war nicht dieses Bild, das den alten Priester am meisten schockierte.

Was ihm durch Mark und Bein ging, das war die kalte, unmenschliche Logik, mit der Karoski ihn ungerührt um ein Handtuch und eine Schüssel Wasser bat: Er habe sich «schmutzig gemacht».

Apostolischer Palast

SAMSTAG, 2. APRIL 2005. 21:37 UHR

Der Mann im Bett hörte auf zu atmen. Sein Privatsekretär, Monsignore Stanislao Dwisicz, der seit sechsunddreißig Stunden die rechte Hand des Sterbenden gehalten hatte, brach in Tränen aus. Die Hausärzte mussten ihn mit Gewalt vom Bett wegzerren. Sie versuchten schon über eine Stunde lang, den alten Mann wiederzubeleben. Damit taten sie weit mehr, als es ihre ärztliche Vernunft geboten hätte. Wieder und wieder begannen sie mit der Reanimation. Sie wussten, dass sie alles tun mussten, was in ihrer Macht stand – sogar noch mehr, wenn sie ihr eigenes Gewissen entlasten wollten.

Die Privatgemächer des Papstes hätten so manchen schlecht informierten Beobachter überrascht. Der Kirchenfürst, vor dem sich Staatsoberhäupter aus aller Welt in Ehrfurcht verneigten, lebte in einem spartanisch eingerichteten Raum. Sein Zimmer war nur spärlich ausgestattet – die kahlen Wände zierte lediglich ein Kruzifix, die Möbel waren aus einfachem, lackiertem Holz: ein Tisch, ein Stuhl und eine bescheidene Bettstatt. Diese hatte man in den letzten Monaten durch ein Krankenhausbett ersetzt. Darum hatten sich nun Ärzte und Krankenpfleger versammelt, die mit aller Macht versuchten, den Papst wiederzubeleben; dabei fielen dicke Schweißtropfen auf die makellos weißen Laken. Vier polnische Nonnen hatten dreimal täglich die Bettwäsche gewechselt.

Schließlich gebot der Leibarzt des Papstes den nutzlosen Bemühungen Einhalt. Mit einer Handbewegung wies Dr.Silvio Renato die Krankenpfleger an, das alte Gesicht mit einem weißen Tuch zu bedecken, und bat dann alle Anwesenden, den Raum zu verlassen. Er blieb allein mit Dwisicz zurück. Dann stellte Renato an Ort und Stelle die Sterbeurkunde aus. Die Todesursache war offensichtlich: ein Kreislaufkollaps, verursacht durch eine Kehlkopfentzündung. Er zögerte kurz, ehe er den Namen des Verstorbenen eintrug, entschied sich aber schließlich für dessen Geburtsnamen, um Missverständnissen vorzubeugen.

Nachdem der Arzt das Formular ausgefüllt und unterzeichnet hatte, reichte er es Kardinal Samalo, der soeben eingetreten war. Dem Kardinal oblag die traurige Aufgabe, den Tod offiziell zu bestätigen.

«Danke, Doktor. Sie gestatten, dass ich fortfahre.»

«Er gehört ganz Ihnen, Eminenz.»

«Nein, Doktor. Jetzt gehört er nur noch Gott.»

Samalo näherte sich langsam dem Totenbett. Mit seinen achtundsiebzig Jahren hatte er Gott oft angefleht, diesen Augenblick nicht mehr erleben zu müssen. Er war ein ruhiger, gelassener Mann und wusste um die schwere Bürde und die unzähligen Aufgaben, die nun auf seinen Schultern lasteten.

Er blickte auf den Toten hinab. Dieser Mann war vierundachtzig Jahre alt geworden und hatte dabei eine schwierige Blinddarmentzündung, einen Darmtumor und einen Schuss in die Brust überstanden. Doch die Parkinson-Erkrankung hatte ihn Tag für Tag mehr geschwächt, und schließlich hatte sein Herz ihm den Dienst versagt.

Aus dem Fenster im dritten Stock des Palasts konnte der Kardinal sehen, wie sich fast zweihunderttausend Menschen auf dem Petersplatz drängten. Auf den Flachdächern der umliegenden Gebäude standen dicht an dicht Antennen und Fernsehkameras. «Bald werden es noch mehr sein», dachte Samalo. «Wir haben eine schwere Zeit vor uns. Die Menschen haben ihn geliebt, sie bewunderten seine Opferbereitschaft und seinen eisernen Willen. Es wird ein harter Schlag für sie sein, obwohl man doch seit Januar damit gerechnet hatte … freilich, nicht wenige haben seinen Tod auch herbeigesehnt. Und dann ist da noch das andere …»

Schritte näherten sich der Tür. Camilo Cirin, Sicherheitschef des Vatikans, trat ein. Ihm folgten drei Kardinäle, die den Tod des Papstes bestätigen mussten. Sorge und Erschöpfung standen ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Prälaten traten an das Bett. Keiner wandte den Blick ab.

«Fangen wir an», sagte Samalo schließlich.

Dwisicz reichte ihm ein offenes Köfferchen. Der Kardinal-Kämmerer hob das weiße Tuch an, welches das Gesicht des Verstorbenen bedeckte, und öffnete ein kleines Gefäß mit Chrisamöl. Die anderen Kardinäle traten näher ans Bett heran. Nun begann der Kardinal-Kämmerer mit dem jahrtausendealten Ritual:

«Si vives ego te absolvo a peccatis tuis, in nomine Patris, et Filii, et Spiritus Sancti, amen.»

Samalo zeichnete dem Verstorbenen mit dem Finger das Kreuzzeichen auf die Stirn und fügte hinzu:

«Per istam sanctam Unctionem, indulgeat tibi Dominus a quidquid … Amen.»

Mit feierlicher Geste sprach er den apostolischen Segen:

«Kraft meines Amtes, das mir der Heilige Stuhl übertragen hat, gewähre ich dir vollständigen Ablass und spreche dich frei von all deinen Sünden und segne dich. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes … Amen.»

Aus dem Köfferchen, das ihm Dwisicz übergeben hatte, nahm er einen silbernen Hammer. Damit klopfte er dreimal sanft auf die Stirn des Toten, und bei jedem Schlag fragte er:

«Karol Wojtyła, bist du tot?»

Keine Antwort. Der Kämmerer sah die drei Kardinäle an, die mit ihm am Bett standen. Sie nickten.

«Wahrlich, der Papst ist tot.»

Mit der rechten Hand nahm Samalo dem Verstorbenen den Ring des Fischers ab, Zeichen seiner irdischen Macht. Ebenfalls mit der Rechten nahm er das Tuch und bedeckte das Antlitz Johannes PaulsII. Er atmete tief durch und sah seine drei Amtskollegen an.

«Es liegt viel Arbeit vor uns.»

Santa Maria in Traspontina

Via della Conciliazione 14

DIENSTAG, 5. APRIL 2005. 10:41 UHR

Als Inspektorin Paola Dicanti die Kirche betrat, kniff sie die Augen zusammen, um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Sie hatte fast eine halbe Stunde gebraucht, um an den Tatort zu gelangen. In Rom herrschen schon unter gewöhnlichen Umständen chaotische Verkehrsverhältnisse, aber nach dem Tod des Heiligen Vaters hatte sich die Stadt in ein Tollhaus verwandelt. Täglich strömten Tausende von Menschen in die Hauptstadt der katholischen Christenheit, um sich von dem Leichnam zu verabschieden, der im Petersdom aufgebahrt lag. Der Verstorbene galt schon jetzt als Heiliger, und in den Straßen sammelten einige Gläubige bereits Unterschriften, um seine Seligsprechung einzufordern. Stunde um Stunde nahmen 18000 Menschen den Leichnam in Augenschein. Was für ein gigantischer Erfolg für die Gerichtsmedizin, dachte Paola sarkastisch.

Ihre Mutter hatte sie gewarnt, als sie die gemeinsame Wohnung in der Via della Croce verließ.

«Fahr nicht über die Via Cavour, da brauchst du ewig. Fahr lieber die Regina Margherita hoch und dann über die Via Rienzo», sagte sie, während sie in dem Haferbrei rührte, den sie seit dreiunddreißig Jahren jeden Morgen für ihre Tochter zubereitete.

Natürlich war Paola doch über die Via Cavour gefahren, und es hatte ewig gedauert.

Sie schmeckte noch den Haferbrei, diesen typischen Morgengeschmack. Während ihres Jahres an der FBI-Akademie in Amerika, wo sie zur Profilerin ausgebildet worden war, hatte sie dieses Aroma auf beinahe krankhafte Weise vermisst. Schließlich hatte sie ihre Mutter sogar gebeten, einen Topf voll zu schicken, und sich den Brei fortan in der Mikrowelle aufgewärmt. Es schmeckte nicht wie zu Hause, half ihr aber dieses harte und lehrreiche Jahr über ihr Heimweh hinweg.

Paola war einen Steinwurf von der Via Condotti entfernt aufgewachsen, eine der exklusivsten Adressen der Welt. Dennoch war ihre Familie arm gewesen. Was dieses Wort wirklich bedeutete, erfuhr sie allerdings erst während ihres Aufenthalts in den USA, einem Land, das für alles eigene Maßstäbe setzt. Am Ende des Jahres war sie heilfroh, in die Stadt zurückzukehren, die sie in ihrer Jugend so verabscheut hatte.

In Italien war erst im Jahr 1995 eine polizeiliche Einheit für die Analyse von Gewaltverbrechen und Serienmorden gegründet worden – die Unità per l’Analisi di Crimini Violenti (UACV). Kaum zu glauben, dass das Land, das in den Statistiken für Psychopathen weltweit an fünfter Stelle steht, so lange keine Einheit zu deren Bekämpfung hatte. Ein Teil der UACV war das Labor für Verhaltensforschung, kurz LAC, eine Sonderabteilung, die von Giovanni Balta aufgebaut worden war, Paola Dicantis Lehrer und Mentor. Leider kam Balta 2004 bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben, und so wurde aus der Dottoressa Dicanti die Inspektorin Dicanti, die das LAC in Rom leitete. Seit dem Tod ihres Chefs war das LAC ziemlich übersichtlich: Paola war die einzige Mitarbeiterin. Aber als Unterabteilung der UACV konnte das Labor auf die technische Unterstützung durch eine der fortschrittlichsten Forensikabteilungen Europas zählen.

Und doch gab es bisher kaum Erfolge zu verzeichnen. In Italien befanden sich dreißig nicht identifizierte Serienmörder auf freiem Fuß. Neun davon wurden so genannten heißen Fällen, also Morden aus jüngster Vergangenheit, zugeordnet. Seit Paola das LAC leitete, waren jedoch keine weiteren Leichen aufgetaucht, und das Fehlen von Spurenmaterial bedeutete für sie zusätzlichen Druck, da Täterprofile häufig das einzige Mittel waren, einem Verdächtigen auf die Spur zu kommen. «Luftschlösser» nannte das Dr.Boi, ein Physiker, der mehr Zeit am Telefon als im Labor verbrachte. Bedauerlicherweise war Boi Generaldirektor der UACV und damit Paolas direkter Vorgesetzter, und jedes Mal, wenn er ihr im Gang begegnete, warf er ihr einen spöttischen Blick zu. «Meine hübsche Geschichtenerzählerin» nannte er sie, wenn sie in seinem Büro alleine waren – eine sarkastische Anspielung auf das erstaunliche Maß an Vorstellungskraft, das Paola in ihren Täterprofilen an den Tag legte. Paola wünschte sich sehnlichst, dass ihre Arbeit endlich handfeste Ergebnisse brachte, die sie diesem Mistkerl dann unter die Nase würde reiben können.

In einer schwachen Stunde hatte sie den Fehler begangen, mit ihm ins Bett zu gehen. Zu viele Überstunden, da wurde man unvorsichtig, dazu eine unbestimmte Leere im Herzen … Der Umstand, dass Boi verheiratet war und fast doppelt so alt wie sie, machte den Katzenjammer am Morgen danach auch nicht erträglicher. Zwar hatte er sich wie ein Gentleman verhalten und sie nicht weiter bedrängt (tatsächlich war er gleich wieder auf Distanz gegangen), doch gestattete er Paola auch nicht, die Angelegenheit zu vergessen. Immer wieder streute er die eine oder andere halb chauvinistische, halb charmante Bemerkung ein. Dio, wie sie das hasste.

Nun aber hatte sie endlich, zum ersten Mal seit ihrer Beförderung, einen richtigen Fall. Von Anfang an konnte sie die Arbeit selbst in die Hand nehmen, ohne auf das verpfuschte Beweismaterial angewiesen zu sein, das diese Tölpel von Polizisten irgendwann gesammelt hatten. Der Anruf hatte sie erreicht, als sie gerade beim Frühstück saß. Sofort ging sie zurück in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Ihr langes schwarzes Haar steckte sie zu einem straffen Dutt hoch und entschied sich gegen Hosenrock und Pullover, die sie im Büro hatte tragen wollen. Stattdessen wählte sie ein elegantes, schwarzes Kostüm. Sie war sehr gespannt: Der Anrufer hatte ihr keinerlei Einzelheiten genannt, nur, dass ein Mord begangen worden sei, der in ihre Zuständigkeit falle; sie solle «umgehend» zur Kirche Santa Maria in Traspontina kommen.

Und da stand Paola nun, am Portal der Kirche. Hinter ihr zog sich eine fast fünf Kilometer lange Menschenschlange hin, die bis zur Vittorio-Emanuele-II-Brücke reichte. Sie warf einen besorgten Blick auf die Szenerie. Die Menge hatte schon die ganze Nacht dort ausgeharrt, aber selbst diejenigen, die etwas hätten sehen können, standen immer noch zu weit vom Tor der Kirche entfernt. Einige Pilger musterten im Vorübergehen die beiden Carabinieri, die unauffällig am Eingang des Gotteshauses postiert waren, um Spontanbesuchern den Einlass zu verwehren. Bei Nachfragen erklärten sie in freundlichem, aber überaus bestimmtem Ton, das Gebäude sei aufgrund von Renovierungsarbeiten geschlossen.

Paola atmete tief durch und betrat die Kirche. Sie war einschiffig und hatte auf beiden Seiten je fünf Kapellen. Der Geruch von abgestandenem Weihrauch hing in der Luft. Es brannte kein Licht. Vermutlich, weil das auch so war, als die Leiche gefunden wurde. Eine von Bois Maximen lautete: «Sehen wir, was der Täter gesehen hat.»

Sie kniff die Augen zusammen und blickte sich um. Zwei Personen, die mit dem Rücken zu ihr im hinteren Teil der Kirche standen, unterhielten sich leise. Ein nervöser Mönch des Karmeliterordens, der am Weihwasserbecken stand und den Rosenkranz betete, bemerkte, wie aufmerksam Paola sich im Raum umsah.

«Sie ist wunderschön, nicht wahr, Signorina? Die Kirche stammt aus dem Jahr 1566. Sie wurde von Peruzzi erbaut, und die Kapellen …»

Paola unterbrach ihn lächelnd, aber bestimmt.

«Leider, Pater, interessiere ich mich im Augenblick überhaupt nicht für Kunst. Ich bin Inspektorin Paola Dicanti. Sind Sie der Pfarrer?»

«In der Tat, Inspektorin. Und außerdem habe ich die Leiche gefunden. Bestimmt interessiert Sie das mehr. Gütiger Himmel, das sind vielleicht Zeiten … Kaum ist ein Heiliger von uns gegangen, bleiben nur noch Teufel!»

Er war ein Mann von ältlichem Aussehen, trug eine Brille mit dicken Gläsern und die braune Kutte des Karmeliterordens. Darüber hatte er ein langes Skapulier an, das um seine Hüften herum verschnürt war. Ein grau melierter, dichter Bart bedeckte sein Gesicht. Etwas vornübergebeugt und mit einem leichten Hinken lief er um das Weihwasserbecken herum.

«Beruhigen Sie sich, Pater. Wie ist Ihr Name?»

«Francesco Toma, Inspektorin.»

«Bitte, Pater, erzählen Sie mir ganz genau, wie alles abgelaufen ist. Ich weiß, Sie haben es bestimmt schon sechs- oder siebenmal erzählt, aber glauben Sie mir, das ist wichtig.»

Der Pater seufzte.

«Es gibt nicht viel zu erzählen. Ich bin hier nicht nur der Pfarrer, sondern auch der Küster und für die Instandhaltung der Kirche zuständig. Ich wohne in einer kleinen Zelle hinter der Sakristei. Wie jeden Morgen bin ich um sechs Uhr früh aufgestanden, habe mir das Gesicht gewaschen und meine Kutte angelegt. Dann bin ich durch die Sakristei gegangen. Es gibt da eine Tür, die hinter dem Hochaltar versteckt ist und in die Kirche führt. Das ist mein Weg in die Kapelle der Heiligen Maria vom Berge Karmel, wo ich jeden Tag meine Gebete spreche. Dort fiel mir auf, dass vor der Thomaskapelle Kerzen brannten. Als ich am Abend zu Bett gegangen war, brannten sie noch nicht, also bin ich hingegangen – und da habe ich ihn gesehen. Den Verstorbenen, meine ich. Zu Tode erschrocken, bin ich gleich in die Sakristei gelaufen, der Mörder hätte ja noch in der Kirche sein können. Und dann habe ich die Polizei angerufen.»

«Sie haben am Tatort nichts berührt?»

«Nein, Inspektorin. Gar nichts. Ich war völlig starr vor Schock, Gott sei mir gnädig.»

«Und Sie haben auch nicht versucht, dem Opfer zu Hilfe zu kommen?»

«Inspektorin … es war offensichtlich, dass für ihn jede menschliche Hilfe zu spät kam.»

Eine Gestalt kam durch den Mittelgang auf sie zu. Es war Vizeinspektor Maurizio Pontiero von der UACV.

«Paola, beeil dich, die schalten gleich die Lichter an.»

«Einen Moment noch, Pater. Hier haben Sie meine Karte. Meine Handynummer steht da unten. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an, egal zu welcher Tageszeit.»

«In Ordnung, Inspektorin. Hier, das ist für Sie.»

Der Karmelit reichte ihr ein buntes Heiligenbildchen.

«Die Heilige Maria vom Berge Karmel. Tragen Sie sie immer bei sich. Sie wird Ihnen in diesen düsteren Zeiten den Weg weisen.»

«Danke, Pater», sagte Paola mit einem zerstreuten Blick auf das Bild.

Die Inspektorin folgte Pontiero durch die Kirche bis zur dritten Kapelle auf der linken Seite, die mit dem roten Absperrband der UACV abgeriegelt war.

«Du hast dich verspätet», tadelte sie der Vizeinspektor.

«Der Verkehr war mörderisch. Da draußen ist ganz schön was los.»

«Du hättest über die Via Rienzo fahren sollen.»

Paola Dicanti stand zwar in der Rangordnung der italienischen Polizei höher als Pontiero, aber als Leiter des Außenermittlungsteams der UACV war er jedem Laborbeamten übergeordnet, selbst Paola als Laborleiterin. Pontiero war einundfünfzig, spindeldürr und immer schlecht gelaunt. Auf seinem Gesicht, das einer verschrumpelten Rosine glich, lag ein permanentes Stirnrunzeln. Paola wusste, dass der Vizeinspektor sie anbetete, ließ sich aber natürlich nichts anmerken.

Sie wollte schon die Absperrung überqueren, wurde jedoch von Pontiero zurückgehalten.

«Warte einen Moment, Paola. Der Anblick ist schlimmer als alles, was ich bisher gesehen habe. Das kann nur die Tat eines Irren gewesen sein, glaub mir.» Seine Stimme zitterte.

«Ich komme schon klar, Pontiero. Aber danke.»

Sie betrat die Kapelle. Drinnen schoss ein Techniker von der UACV Fotos vom Tatort. Im hinteren Teil der Kapelle stand direkt an der Wand ein kleiner Altar, und darüber hing ein Porträt des heiligen Thomas, wie er gerade die Finger in die Wunden Jesu legte.

Darunter lag die Leiche.

«Heilige Madonna.»

«Ich hab’s dir ja gesagt, Dicanti.»

Es war eine Szene wie aus Dantes Inferno. Der Tote lehnte am Altar. Man hatte ihm die Augen herausgerissen; an ihrer Stelle waren nur noch zwei furchtbare, schwärzlich klaffende Wunden zu sehen. Aus dem Mund, der zu einer schrecklichen, grotesken Grimasse verzogen war, hing etwas Bräunliches. Die Hände waren abgetrennt worden und lagen neben der Leiche, frei von Blut, auf einem weißen Tuch. An einem der Finger steckte noch ein dicker Ring.

Der Tote trug eine schwarze Soutane mit roter Paspelierung, die Kleidung eines Kardinals.

Paola riss die Augen auf.

«Pontiero, sag mir, dass das kein Kardinal ist.»

«Das wissen wir noch nicht, Paola. Wir gehen der Frage nach. Von seinem Gesicht ist nicht viel übrig. Wir haben auf dich gewartet, damit du den Tatort so sehen kannst, wie ihn der Mörder gesehen hat.»

«Wo ist der Rest des Ermittlungsteams?»

Das Ermittlungsteam war der Kern der UACV. Es handelte sich ausnahmslos um Experten, Forensiker, Spezialisten für Spurensicherung aller Art, von Fußspuren bis zu Haaren, was immer die Täter auch hinterlassen haben mochten. Sie gingen von der Annahme aus, dass bei einem Verbrechen immer ein Tausch stattfindet: Der Mörder nimmt etwas und gibt dafür etwas anderes.

«Sie sind unterwegs. Der Streifenwagen steht auf der Via Cavour im Stau.»

«Sie hätten über die Via Rienzo fahren sollen», warf der Techniker ein.

«Hat Sie jemand um Ihre Meinung gebeten?», fuhr ihn Paola an.

Der Techniker murmelte ein paar Verwünschungen und entfernte sich langsam von der Gruppe der Ermittler.

«Du solltest langsam mal lernen, dich besser zu beherrschen, Paola.»

«Meine Güte, Pontiero, warum hast du mich nicht früher angerufen?», fragte Dicanti, ohne auf den Rat des Vizeinspektors einzugehen. «Das ist ein ziemlich schwerwiegender Fall. Wer das hier angerichtet hat, muss völlig wahnsinnig sein.»

«Ist das schon Ihr Täterprofil, Dottoressa?»

Carlo Boi betrat die Kapelle und schenkte Paola einen seiner spöttischen Blicke. Er liebte solche überraschenden Auftritte. Offenbar war er einer der beiden Männer gewesen, die bei ihrem Eintreten in die Kirche mit dem Rücken zu ihr am Weihwasserbecken gestanden und sich unterhalten hatten. Sein Gesprächspartner stand gleich hinter Boi, sagte jedoch kein Wort und kam auch nicht in die Kapelle. Im Stillen ärgerte sich Paola, dass Boi ihre Unbeherrschtheit mitbekommen hatte.

«Nein, Direktor Boi. Mein Täterprofil bekommen Sie auf Ihren Schreibtisch, sobald ich damit fertig bin. Aber ich kann jetzt schon sagen, dass, wer auch immer dieses Verbrechen begangen hat, sehr, sehr krank sein muss.»

Boi wollte etwas erwidern, doch in diesem Augenblick gingen die Lichter in der Kirche an. Und plötzlich sahen alle etwas, das ihnen zuvor entgangen war. Auf dem Boden neben dem Toten stand in nicht sehr großen Buchstaben geschrieben:

«Das sieht nach Blut aus.» Pontiero sprach damit aus, was jeder der Anwesenden dachte.

Ein Handy klingelte mit den Akkorden von Händels Messias. Die drei sahen Bois Begleiter an, der mit ernster Miene sein Telefon aus der Tasche zog und antwortete. Er sagte fast nichts, kaum mehr als ein Dutzend «Ahas» und «Hmhms».

Als er das Gespräch beendet hatte, sah er zu Boi hinüber und nickte.

«Dann ist es also, wie wir befürchtet haben», sagte der Direktor der UACV. «Inspektorin Dicanti, Vizeinspektor Pontiero, ich brauche wohl nicht zu betonen, dass es sich hierbei um eine überaus heikle Angelegenheit handelt. Was Sie hier vor sich sehen, ist die Leiche des argentinischen Kardinals Emilio Robayra. Die Ermordung eines Kardinals in Rom stellt an sich schon eine unfassbare Tragödie dar. Umso mehr jedoch in der gegenwärtigen Lage. Das Opfer war einer der einhundertfünfzehn Würdenträger, die in wenigen Tagen am Konklave teilnehmen werden, um den neuen Papst zu wählen. Das macht die Situation, wie gesagt, äußerst delikat. Unter gar keinen Umständen darf die Presse von diesem Verbrechen Wind bekommen. Stellen Sie sich nur die Schlagzeilen vor: ‹Serienmörder verbreitet vor der Papstwahl Angst und Schrecken.› Ich möchte gar nicht daran denken …»

«Einen Moment mal, Direktor. Sagten Sie Serienmörder? Gibt es da etwas, das wir noch nicht wissen?»

Boi räusperte sich und warf seinem Begleiter einen kurzen Blick zu.

«Paola Dicanti, Maurizio Pontiero, ich darf Ihnen Camilo Cirin vorstellen, den Generalinspektor der Vatikanpolizei.»

Cirin nickte und trat einen Schritt vor. Es schien ihn Überwindung zu kosten zu sprechen. Anscheinend widerstrebte es ihm, auch nur ein einziges Wort zu sagen.

«Wir haben Grund zu der Annahme, dass dies hier bereits das zweite Opfer ist.»

Saint-Matthew-Institut

Silver Spring, Maryland

AUGUST 1994

«Treten Sie ein, Pater Karoski, treten Sie ein. Bitte seien Sie so gut und entkleiden Sie sich hinter diesem Wandschirm.»

Der Priester begann, sein Gewand abzulegen. Von der anderen Seite des Paravents drang die Stimme des Labormitarbeiters an sein Ohr.

«Sie brauchen sich wegen des Tests keine Sorgen zu machen, Pater. Ist doch das Normalste von der Welt, stimmt’s? Ja, das Normalste von der Welt, hehehe. Vielleicht haben Sie ja schon andere Patienten davon reden hören, aber wie meine Großmutter immer sagte: Das wird nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Wie lang sind Sie denn schon bei uns?»

«Seit zwei Wochen.»

«Ja, da wird’s Zeit, dass Sie das hier kennen lernen … Und, haben Sie schon Tennis gespielt?»

«Ich interessiere mich nicht für Tennis. Kann ich schon rauskommen?»

«Nein, Pater, ziehen Sie sich erst das grüne Hemd an, nicht dass Ihnen kalt wird, hehehe.»

Karoski trat hinter dem Wandschirm hervor.

«Nehmen Sie bitte auf der Liege Platz. So ist es gut. Warten Sie, ich stelle Ihnen die Rückenlehne ein. Sie müssen den Fernseher gut sehen können. Geht es so?»

«Ausgezeichnet.»

«Schön. Momentchen, ich muss erst noch ein paar Einstellungen an den Messinstrumenten vornehmen, und dann fangen wir gleich an. Das ist schon ein super Fernseher, stimmt’s? Der hat einen 32-Zoll-Bildschirm. Wenn ich so einen daheim hätte, würde meine Alte besser auf mich hören, was meinen Sie? Hehehehe.»

«Da bin ich mir nicht sicher.»

«Ha, natürlich nicht, Pater, natürlich nicht. Dieser Hausdrache würde nicht einmal auf Jesus Christus hören, und wenn er aus einer Schachtel Golden Grahams steigen und ihr in den Hintern treten würde, hehehe.»

«Du solltest den Namen des Herrn nicht leichtfertig in den Mund nehmen, mein Sohn.»

«Da haben Sie Recht, Pater. So, das hätten wir. Man hat Sie noch nie einer Penis-Plethysmographie unterzogen, stimmt’s?»

«Nein.»

«Aber natürlich nicht, wie denn auch, hehehehe. Haben Sie erklärt bekommen, wie der Test funktioniert?»

«In groben Zügen.»

«Also, ich greife jetzt unter Ihr Hemd und bringe diese beiden Elektroden an Ihrem Penis an, ja? So können wir Ihre sexuelle Reaktion auf bestimmte Stimuli messen. Gut, gleich haben wir’s. Fertig.»

«Ihre Hände sind kalt.»

«Ja, es ist frisch hier, hehehehe. So weit alles in Ordnung?»

«Mir geht es gut.»

«Dann fangen wir an.»

Auf dem Bildschirm begann eine Reihe von Bildern abzulaufen. Der Eiffelturm. Ein Sonnenaufgang. Nebel in den Bergen. Ein Schokoladeneis. Ein heterosexueller Geschlechtsakt. Ein Wald. Bäume. Eine heterosexuelle Fellatio. Holländische Tulpen. Ein homosexueller Geschlechtsakt. DieMeninasvon Velázquez. Sonnenuntergang auf dem Kilimandscharo. Eine homosexuelle Fellatio. Schnee auf den Dächern eines Schweizer Dorfes. Eine pädophile Fellatio. Das Kind blickt direkt in die Kamera, während es das Glied des Erwachsenen in den Mund nimmt. Sein Blick ist traurig.

Karoski springt auf. Seine Augen lodern vor Wut.

«Pater, Sie dürfen nicht aufstehen, wir sind noch nicht fertig!»

Der Priester packt ihn am Hals, schlägt ein ums andere Mal den Kopf des Technikers gegen die Armaturen, während das Blut auf die Instrumente spritzt, auf den weißen Kittel des Labormitarbeiters, auf Karoskis grünes Hemd, überallhin.

«Du wirst nie wieder unreine Handlungen begehen, stimmt’s? Stimmt’s, du verdammter Dreckskerl, stimmt’s?»

Santa Maria in Traspontina

Via della Conciliazione 14

DIENSTAG, 5. APRIL 2005. 11:59 UHR

Das Schweigen, das auf Cirins Worte folgte, wurde in seiner Wirkung noch verstärkt, als am nahen Petersplatz die Glocken zum Angelus läuteten.

«Das zweite Opfer? Es ist schon ein anderer Kardinal massakriert worden, und wir erfahren davon erst jetzt?» Pontieros Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, was er von dieser Sache hielt.

Cirin musterte die beiden Polizisten ungerührt. Der Generalinspektor war definitiv eine außergewöhnliche Erscheinung. Er war mittelgroß, von unbestimmbarem Alter, hatte braune Haare, trug einen unauffälligen Anzug und darüber einen grauen Mantel. Nichts an ihm stach in irgendeiner Weise hervor, und ebendarin lag das Außergewöhnliche: Er war so unauffällig, wie man es nur sein konnte. Cirin sprach kaum: Auch in dieser Hinsicht suchte er offenbar im Hintergrund zu bleiben. Doch dadurch ließ sich keiner der Anwesenden täuschen. Sie hatten alle schon von Camilo Cirin gehört, einem der einflussreichsten Männer im Vatikan. Er leitete das kleinste Polizeicorps der Welt: die Vigilanza Vaticana. Das Corps bestand (offiziell) aus achtundvierzig Beamten, zählte also weniger als die Hälfte der Mitglieder der Schweizergarde, war dafür jedoch um einiges effektiver. Nichts rührte sich in Cirins kleinem Staat, ohne dass er davon erfuhr. 1997 hatte einer versucht, ihn in den Hintergrund zu drängen: Alois Siltermann, der frisch gekürte Kommandant der Schweizergarde. Zwei Tage nach seiner Ernennung wurden Siltermann, seine Frau und ein Gefreiter von untadeligem Ruf tot aufgefunden. Sie waren erschossen worden. Es wurde gemunkelt, dass interne Machtkämpfe zwischen Freimaurern und Vertretern des Opus Dei im Vatikan hinter der Sache steckten. Die Schuld wurde dem Gefreiten in die Schuhe geschoben. Angeblich hatte er den Verstand verloren, das Ehepaar ermordet und sich anschließend seine «Dienstwaffe» in den Mund gesteckt und abgedrückt. Eigentlich eine plausible Erklärung, wären da nicht zwei Kleinigkeiten gewesen: Erstens tragen die Gefreiten der Schweizergarde gar keine Schusswaffen, und zweitens waren dem betreffenden Gardisten die Schneidezähne eingeschlagen worden. Der Schluss lag nahe, dass man ihm die Waffe brutal in den Mund gestoßen hatte.

Paola hatte die Geschichte von einem Kollegen aus dem Ispettorato gehört, der nur drei Mann starken Vertretung der italienischen Polizei im Vatikan. Als dieser Kollege und dessen Mitarbeiter von dem Vorfall gehört hatten, waren sie losgeeilt, um der Vatikanpolizei ihre Hilfe anzubieten. Doch kaum gelangten sie an den Tatort, wurden sie auch schon höflich gebeten, ins Ispettorato zurückzukehren und die Tür hinter sich zuzumachen. Cirins Schwarze Legende kursierte in sämtlichen Polizeirevieren von Rom, und die UACV bildete da keine Ausnahme.

Nun standen sie zu dritt vor der Kapelle und waren von Cirins Worten völlig verblüfft. Schließlich sagte Paola:

«Mit dem gebührenden Respekt, Herr Generalinspektor: Wenn der Vatikanpolizei bekannt war, dass ein Täter Rom unsicher macht, der eines solchen Verbrechens fähig ist, dann wäre es Ihre Pflicht gewesen, das der UACV mitzuteilen.»

«So ist es, und ebendas hat mein geschätzter Kollege auch getan», erwiderte Boi. «Er hat es mir persönlich mitgeteilt. Aber wir waren beide der Auffassung, dass ein derartiger Fall zum Wohle aller der strengsten Geheimhaltung zu unterliegen hat. Und auch in einem weiteren Punkt sind wir einer Meinung. Der Vatikan verfügt über keinen Experten, der in der Lage wäre, einen Verbrecher mit so … charakteristischen Zügen ausfindig zu machen.»

Bemerkenswerterweise ergriff Cirin wieder das Wort.

«Ich sage es Ihnen ganz offen, Signorina. Wir übernehmen Verbrechensbekämpfung, Schutzaufgaben und Spionageabwehr. Auf diesen Gebieten, das kann ich Ihnen versichern, leisten wir hervorragende Arbeit. Aber ein Täter, der, wie sagten Sie noch gleich, völlig wahnsinnig ist, so etwas fällt nicht in unsere Zuständigkeit. Wir hatten ohnehin vor, Sie um Hilfe zu ersuchen. Da erreichte uns schon die Nachricht von diesem zweiten Verbrechen.»

«Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass dieser Fall eine ungewöhnlich kreative Herangehensweise erfordert, Inspektorin Dicanti», schaltete sich Direktor Boi wieder ein. «Deshalb wollen wir nicht, dass Sie sich wie bisher darauf beschränken, ein Täterprofil zu erstellen. Wir wollen, dass Sie die Ermittlungen leiten.»

Paola erstarrte. Das war eine Aufgabe für einen Ermittler, nicht für eine Kriminalpsychologin. Natürlich konnte sie das ebenso gut übernehmen, schließlich war sie in Quantico entsprechend ausgebildet worden. Doch Bois Bitte überraschte sie sehr, zumal in der gegebenen Situation.

Cirin drehte sich zu einem Mann in einer Lederjacke um, der gerade auf sie zukam.

«Ah, da ist er ja. Ich darf Ihnen Superintendent Dante von der Vatikanpolizei vorstellen. Er wird Ihr Verbindungsmann zum Vatikan sein, Inspektorin Dicanti. Sie bekommen von ihm Informationen über das vorige Verbrechen, und an diesem hier werden Sie gemeinsam arbeiten. Schließlich handelt es sich um einen einzigen Fall. Jeder Wunsch, den Sie an ihn richten, ist gleichsam an mich gerichtet. Und wenn er Ihnen etwas abschlägt, so wird auch das in meinem Namen geschehen. Im Vatikan haben wir unsere eigenen Regeln. Ich hoffe, Sie verstehen das. Des Weiteren hoffe ich, dass Sie dieses Monster fassen. Der Mord an zwei Prälaten unserer Heiligen Mutter Kirche darf nicht ungesühnt bleiben.»

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging.

Boi trat ganz nahe an Paola heran, so nahe, dass es ihr unangenehm wurde. Die kurze Affäre mit ihm war in ihrer Erinnerung noch zu frisch.

«Sie haben es gehört, Dicanti. Sie haben soeben einen der mächtigsten Männer des Vatikans kennen gelernt, und er hat ein sehr konkretes Anliegen geäußert. Ich weiß nicht, warum er ausgerechnet auf Sie gekommen ist, aber er hat ausdrücklich nach Ihnen verlangt. Besorgen Sie sich, was Sie benötigen. Erstatten Sie mir täglich Bericht. Und vor allem: Sammeln Sie Indizien. Ich hoffe, dass Ihre ‹Luftschlösser› diesmal zu etwas gut sind. Liefern Sie mir Ergebnisse, und zwar rasch.»

Damit drehte auch er sich um und ging Cirin hinterher Richtung Ausgang.

«Diese Dreckskerle», platzte Paola heraus, als sie sicher war, dass die beiden außer Hörweite waren.

«Ach, Sie bekommen ja doch den Mund auf», lachte der soeben hinzugekommene Dante.

Paola errötete und streckte ihm die Hand hin.

«Paola Dicanti.»

«Fabio Dante.»

«Maurizio Pontiero.»

Als Pontiero und Dante einander die Hand schüttelten, nützte Paola die Gelegenheit und musterte Dante ausgiebig. Er sah aus wie Anfang vierzig. Er war klein, dunkel und kräftig gebaut, und sein Kopf saß auf einem kaum fünf Zentimeter langen Stiernacken. Obwohl er keine 1,70 Meter groß war und seine Gesichtszüge nicht viel Angenehmes hatten, war der Superintendent ein attraktiver Mann. Er hatte olivgrüne Augen, wie man sie häufig in Süditalien findet.

«Muss ich davon ausgehen, dass mit ‹diese Dreckskerle› auch mein Vorgesetzter gemeint war, Inspektorin?»

«Offen gestanden, ja. Man hat mich da mit einer Aufgabe betraut, die ich nur als unverdiente Ehre ansehen kann.»

«Wir wissen beide, dass es sich dabei nicht um eine Ehre handelt, sondern um einen Riesenmist, Dicanti. Und unverdient trifft es auch nicht. Aus Ihrer Personalakte geht hervor, dass Sie unglaublich gut qualifiziert sind. Schade, dass Sie das noch nicht durch Ermittlungserfolge bestätigen konnten. Aber das wird sich ja sicher bald ändern, nicht wahr?»

«Sie kennen meine Personalakte? Gütiger Himmel, ist denn hier überhaupt nichts mehr vertraulich?»

«Nicht für ihn.»

«Also hören Sie mal, Sie arroganter …», fuhr Pontiero auf.

«Das reicht, Maurizio. Lassen wir das. Wir befinden uns hier an einem Tatort, und ich leite die Ermittlungen. Machen wir uns an die Arbeit, reden können wir später. Jetzt sind die Kollegen an der Reihe.»

«Also gut, Paola, du hast jetzt das Sagen. Das hat der Chef ja klargestellt.»

In respektvoller Distanz zum roten Absperrband standen zwei Männer und eine Frau in dunkelblauen Overalls. Es waren die Spezialisten von der Spurensicherung. Die Inspektorin und ihre beiden Begleiter verließen die Kapelle und gingen in den Mittelgang.

«So, Dante, dann lassen Sie mal hören», forderte Paola ihn auf.

«Also … Das erste Opfer war der italienische Kardinal Enrico Portini.»

«Nein!», riefen Dicanti und Pontiero erstaunt aus.

«Doch, liebe Leute, ich habe es mit eigenen Augen gesehen.»

«Der große Hoffnungsträger des reformistisch-liberalen Flügels der Kirche. Es wäre furchtbar, wenn diese Nachricht in die Medien geriete.»

«Nein, Pontiero, es wäre eine Katastrophe. Gestern Morgen ist George W. Bush mit seiner gesamten Familie in Rom angekommen. Weitere zweihundert Regierungschefs und Staatsoberhäupter aus aller Welt halten sich in Ihrem Land auf. Und am Freitag zum Begräbnis kommen sie zu uns rüber. Wir haben höchste Alarmstufe, aber Sie kennen diese Stadt ja. Es ist eine sehr komplexe Situation, und wir müssen um jeden Preis vermeiden, dass Panik entsteht. Könnten wir kurz rausgehen? Ich brauche eine Zigarette.»

Dante ging ihnen voraus und hinaus auf die Straße, wo sich immer mehr Menschen versammelten und das Gedränge von Minute zu Minute stärker wurde. Die Menschenmenge zog sich über die gesamte Via della Conciliazione. Man sah französische Flaggen, spanische, polnische, italienische. Jugendliche mit Gitarren, Nonnen mit brennenden Kerzen, sogar ein alter Mann mit Blindenhund kam vorbei. Zwei Millionen Menschen würden an der Beisetzung des Papstes teilnehmen, der Europas Landkarte verändert hatte. Das ist die denkbar ungünstigste Ausgangslage, schoss Paola durch den Kopf. In diesem Strom von Pilgern würde jegliche Spur schnell untergehen.

«Portini war in der Residenza Madri Pie in der Via de Gasperi untergebracht», erklärte Dante. «Er war am Donnerstagmorgen angereist, nachdem er von dem Besorgnis erregenden Gesundheitszustand des Papstes erfahren hatte. Die Nonnen haben ausgesagt, er habe am Freitag zu Abend gegessen. Ihnen ist dabei nichts Besonderes aufgefallen. Dann soll er eine Zeit lang in der Kapelle gewesen sein und für den Heiligen Vater gebetet haben. Sie haben ihn nicht auf sein Zimmer gehen sehen. Im Zimmer gab es auch keinerlei Spuren eines Kampfes. Sein Bett war unbenutzt oder, wer auch immer ihn entführte, hat es wieder tadellos bezogen. Am Samstag kam der Kardinal nicht zum Frühstück, man vermutete, er sei zum Gebet im Vatikan geblieben. Uns ist nicht bekannt, dass er am Samstag den Boden des Vatikanstaats betreten hätte, aber in der Stadt ging es drunter und drüber. Ist Ihnen klar, was das heißt? Er ist einen Häuserblock vom Vatikan entfernt einfach verschwunden.»

Dante hielt inne, zündete sich eine Zigarette an und bot auch Pontiero eine an, doch der winkte angewidert ab und nahm sich von seinen eigenen. Dante fuhr fort:

«Gestern früh wurde Portinis Leiche in der Kapelle des Gästehauses aufgefunden. Allerdings wies das Fehlen von Blutspuren ebenso wie hier darauf hin, dass der Täter den Fundort manipuliert hatte. Zum Glück hat ein ehrbarer Priester die Leiche entdeckt und uns als Erste verständigt. Wir haben den Tatort fotografisch dokumentiert. Aber als ich vorschlug, Sie zu benachrichtigen, sagte mir Cirin, er würde sich selbst darum kümmern. Und dann wies er uns an, sämtliche Spuren zu beseitigen. Die Leiche von Kardinal Portini wurde an einen bestimmten Ort im Vatikan transportiert und dort eingeäschert.»

«Was?! Sie haben die Spuren eines schweren Verbrechens beseitigt, das auf italienischem Boden verübt wurde? Ich fasse es einfach nicht!»

Dante musterte sie mit einem herausfordernden Blick.

«Mein Vorgesetzter hat diese Entscheidung getroffen. Mag sein, dass sie etwas unglücklich ausfiel. Aber er hat anschließend mit Ihrem Vorgesetzten geredet und ihm die Lage erläutert. Und der hat Sie beide dann hergeschickt. Ist Ihnen überhaupt klar, womit wir es hier zu tun haben? Wir sind nicht darauf vorbereitet, mit einer derartigen Situation umzugehen.»

«Genau deshalb hätten Sie das den Profis überlassen sollen», warf Pontiero mit steinerner Miene ein.

«Sie wollen es immer noch nicht kapieren. Wir können niemandem vertrauen. Deshalb hat Cirin so gehandelt, wie er gehandelt hat, als treuer Soldat unserer Mutter Kirche. Schauen Sie mich nicht so an, Dicanti. Denken Sie an seine Beweggründe. Wenn es bei dem Mord an Portini geblieben wäre, hätten wir uns irgendeine Erklärung ausdenken und das Ganze unter den Teppich kehren können. Aber so ist es nicht gekommen. Es ist nichts Persönliches, verstehen Sie das doch.»

«Ich verstehe nur, dass wir hier die Ausputzer spielen sollen. Und zwar mit der Hälfte an Indizien. Super. Gibt es da sonst noch was, das wir erfahren sollten?» Paola war stinksauer.

«Momentan nicht», erwiderte Dante, der sich schon wieder hinter seinem sarkastischen Lächeln versteckte.

«Scheiße. So eine Scheiße! Wir stehen hier vor einem Riesenproblem, Dante. Ich will, dass Sie von jetzt an mit absolut offenen Karten spielen. Und dass noch etwas klar ist: Ich habe hier das Sagen. Sie haben Weisung, mich in allem zu unterstützen. Außerdem will ich, dass Sie eines begreifen. Die beiden Opfer mögen Kardinäle gewesen sein, aber die Verbrechen fallen beide in meine Zuständigkeit. Ist das klar?»

«Sonnenklar.»

«Umso besser. War das Vorgehen dasselbe?»

«Soweit ich das beurteilen kann, ja. Die Leiche lag am Fuß des Altars. Es fehlten die Augen. Die Hände waren, genau wie hier, vom Körper abgetrennt und auf ein Tuch neben die Leiche gelegt worden. Es war ein widerlicher Anblick. Ich habe die Leiche persönlich in einen Sack gesteckt und ins Krematorium gebracht. Und dann, glauben Sie mir, habe ich die halbe Nacht unter der Dusche gestanden.»

«Da hätten Sie ruhig noch eine Weile länger bleiben können», murmelte Pontiero.

Vier lange Stunden später wurde die Untersuchung der Leiche von Robayra am Tatort für beendet erklärt, und der Tote konnte abtransportiert werden. Auf ausdrücklichen Wunsch von Direktor Boi wickelten die Leute von der Spurensicherung die Leiche eigenhändig in einen Plastiksack und fuhren sie in die Gerichtsmedizin: Das ärztliche Personal sollte auf keinen Fall die Kardinalskleidung zu Gesicht bekommen. Es handelte sich schließlich um einen außergewöhnlichen Fall, und die Identität des Toten musste weiter geheim gehalten werden.

Zum Wohle aller.

Saint-Matthew-Institut

Silver Spring, Maryland

SEPTEMBER 1994

Transkription der Therapiesitzung Nr.5 des Patienten Nr.3643 bei Dr.Canice Conroy

DR. CONROY: Guten Tag, Viktor. Willkommen in meinem Büro. Geht es Ihnen besser?

NR. 3643: Ja, Herr Doktor, danke der Nachfrage.

DR. CONROY: Möchten Sie etwas trinken?

NR. 3643: Nein, danke.

DR. CONROY: Na so was, ein Priester, der nichts trinkt … eine wahre Seltenheit. Wenn es Ihnen nichts ausmacht …

NR. 3643: Nein, nur zu, Herr Doktor.

DR. CONROY: Soweit ich weiß, waren Sie eine Zeit lang auf der Krankenstation.

NR. 3643: Ich habe mir vergangene Woche ein paar Prellungen zugezogen.

DR. CONROY: Können Sie sich erinnern, wie es zu diesen Prellungen kam?

NR. 3643: Gewiss, Herr Doktor. Das ist bei der Auseinandersetzung im Vorführraum passiert.

DR. CONROY: Erzählen Sie mir mehr davon, Viktor.

NR. 3643: Ich war dort, um mich einer Plethysmographie zu unterziehen, wie Sie es mir empfohlen hatten.

DR. CONROY: Wissen Sie noch, worin der Sinn dieses Tests bestand, Viktor?

NR. 3643: Den Grund für mein Problem zu bestimmen.

DR. CONROY: So ist es, Viktor. Sie erkennen an, dass Sie ein Problem haben, das ist zweifellos als Fortschritt zu bezeichnen.

NR. 3643: Herr Doktor, ich wusste seit jeher, dass ich ein Problem habe. Ich darf Sie daran erinnern, dass ich aus freien Stücken in diese Anstalt gekommen bin.

DR. CONROY: Über dieses Thema möchte ich mich gerne bei unserer nächsten Sitzung mit Ihnen unterhalten. Dazu kommen wir schon noch. Aber jetzt erzählen Sie weiter, was neulich passiert ist.

NR. 3643: Ich bin reingekommen und habe mich ausgezogen.

DR. CONROY: War Ihnen das unangenehm?

NR. 3643: Ja.

DR. CONROY: Es handelt sich um einen medizinischen Test. Er erfordert, dass man sich dazu entkleidet.

NR. 3643: Ich kann die Notwendigkeit nicht erkennen.

DR. CONROY: Der Psychologe musste die Messinstrumente an einem Ort des Körpers anbringen, der normalerweise schwer zugänglich ist. Daher war es erforderlich, dass Sie sich ausziehen, Viktor.

NR. 3643: Ich kann die Notwendigkeit nicht erkennen.

DR. CONROY: Nun gut. Einigen wir uns doch einfach mal auf die Annahme, dass es notwendig war.

NR. 3643: Wenn Sie das sagen, Herr Doktor.

DR. CONROY: Was ist als Nächstes passiert?

NR. 3643: Er hat ein paar Kabel da angebracht.

DR. CONROY: Wo, Viktor?

NR. 3643: Sie wissen schon.

DR. CONROY: Nein, Viktor, ich weiß es nicht und ich möchte, dass Sie es mir sagen.

NR. 3643: An meinem Ding.

DR. CONROY: Könnten Sie sich klarer ausdrücken, Viktor?

NR. 3643: An meinem … Penis.

DR. CONROY: Sehr gut, Viktor, das ist richtig. So nennen wir das männliche Glied, das Organ des Mannes, das zum Vollzug des Geschlechtsakts und zum Urinieren dient.

NR. 3643: In meinem Fall nur zu Letzterem, Herr Doktor.

DR. CONROY: Sind Sie da sicher, Viktor?

NR. 3643: Ja.

DR. CONROY: Das ist in der Vergangenheit nicht immer der Fall gewesen, Viktor.

NR. 3643: Die Vergangenheit ist vorbei. Ich will, dass das anders wird.

DR. CONROY: Warum?

NR. 3643: Weil es Gottes Wille ist.

DR. CONROY: Glauben Sie wirklich, dass Gottes Wille etwas damit zu tun hat, Viktor? Mit Ihrem Problem?

NR. 3643: Gottes Wille hat mit allem zu tun.

DR. CONROY: Ich bin auch Priester, Viktor, aber ich glaube, dass Gott zuweilen der Natur ihren Lauf lässt.

NR. 3643: Die Natur ist eine Erfindung der Aufklärung, die in unserer Religion keinen Platz hat, Herr Doktor.

DR. CONROY: Kehren wir zu der Situation im Vorführraum zurück, Viktor. Erzählen Sie mir, was Sie empfunden haben, als man das Kabel an Ihrem Penis befestigte.

NR. 3643: Der Psychologe hatte kalte Hände.

DR. CONROY: Und das war alles?

NR. 3643: Ja.

DR. CONROY: Und als die Bilder auf dem Bildschirm auftauchten?

NR. 3643: Da habe ich auch nichts gespürt.

DR. CONROY: Wissen Sie, Viktor, mir liegen hier die Ergebnisse der Plethysmographie vor, und sie weisen bestimmte Reaktionen auf, hier und auch hier. Sehen Sie die Ausschläge?

NR. 3643: Ich fand bestimmte Bilder Ekel erregend.

DR. CONROY: Ekel, Viktor?

(Hier entsteht eine Pause, die über eine Minute dauert.)

DR. CONROY: Lassen Sie sich ruhig Zeit mit Ihrer Antwort, Viktor.

NR. 3643: Ich fand die sexuellen Bilder Ekel erregend.

DR. CONROY: Ein bestimmtes davon, Viktor?

NR. 3643: Nein, alle.

DR. CONROY: Können Sie sagen, was Sie daran gestört hat?

NR. 3643: Sie stellen eine Gotteslästerung dar.

DR. CONROY: Und doch hat das Messgerät bei bestimmten Bildern das Anschwellen Ihres Geschlechtsorgans registriert.

NR. 3643: Das kann nicht sein.

DR. CONROY: Vulgär ausgedrückt, hat Sie der Anblick der Bilder geil gemacht.

NR. 3643: Diese Ausdrucksweise beleidigt Gott und Ihre Priesterwürde, Herr Doktor. Sie sollten …

DR. CONROY: Ich sollte was, Viktor?

NR. 3643: Nichts.

DR. CONROY: Standen Sie gerade kurz vor einem Wutanfall, Viktor?

NR. 3643: Nein, Herr Doktor.

DR. CONROY: Hatten Sie neulich einen Wutanfall, Viktor?

NR. 3643: Wann neulich?

DR. CONROY: Tut mir Leid, wenn ich mich unklar ausgedrückt habe. Würden Sie sagen, dass Sie neulich, als Sie den Kopf meines Psychologen gegen die Messarmaturen schlugen, einen Wutanfall hatten?

NR. 3643: Dieser Mann wollte mich in Versuchung führen. «Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf’s von dir.» So spricht der Herr.

DR. CONROY: Matthäus, Kapitel 5, Vers 19.

NR. 3643: In der Tat.

DR. CONROY: Und was ist mit dem Auge? Mit dem Leid, das das Auge erdulden muss?

NR. 3643: Ich verstehe nicht, was Sie meinen.

DR. CONROY: Dieser Mann heißt Robert. Er hat eine Frau und eine Tochter. Sie haben ihn krankenhausreif geschlagen. Sie haben ihm die Nase gebrochen, ihm sieben Zähne ausgeschlagen und eine schwere Gehirnerschütterung zugefügt. Gott sei Dank konnten die Wächter Sie rechtzeitig überwältigen.

NR. 3643: Ja, ich habe wohl ein wenig die Kontrolle verloren.

DR. CONROY: Glauben Sie, Sie würden jetzt ebenfalls ein wenig die Kontrolle verlieren, wenn Ihre Hände nicht an den Stuhl gefesselt wären?

NR. 3643: Wenn Sie möchten, können wir das herausfinden, Herr Doktor.

DR. CONROY: Es wird das Beste sein, Viktor, wenn wir unsere Sitzung für heute beenden.

Städtisches Leichenschauhaus

DIENSTAG, 5. APRIL 2005. 20:32 UHR

Der Autopsiesaal war ein kalter Ort. Die Wände waren in einem malvenfarbenen Ton gestrichen, der einen seltsamen Stich ins Graue hatte, was den Raum keinen Deut fröhlicher machte. Über dem Autopsietisch bescherte eine Lampe mit sechs Glühbirnen der Leiche ihre letzten Minuten des Ruhms. Davor standen die vier Betrachter, denen es oblag herauszufinden, wer den Toten von der Bühne geholt hatte.

Pontiero verzog angeekelt das Gesicht, während der Leichenbeschauer den Magen des Kardinals Robayra auf ein Tablett legte. Ein fauliger Geruch breitete sich im Autopsiesaal aus, als der Gerichtsmediziner sich daranmachte, den Magen mit einem Skalpell aufzuschneiden. Der Gestank war so intensiv, dass er sogar den Geruch von Formaldehyd und diversen anderen Chemikalien überdeckte, die zur Desinfizierung der Utensilien dienten. Paola schoss die sinnlose Frage durch den Kopf, wozu man nur solchen Wert auf Reinlichkeit legte, bevor man eine Leiche aufschnitt. Tote holten sich ja eher selten einen bakteriellen Infekt.

«Sag mal, Pontiero, was ist blau und orange und liegt auf dem Boden eines Pools?»

«Jaja, Dottore, ein Baby mit geplatzten Schwimmflügeln. Den haben Sie mir schon sechs-, nein, jetzt sind es siebenmal, erzählt. Kennen Sie wirklich keine anderen Witze?»

Der Gerichtsmediziner sang leise vor sich hin, während er die Schnitte vornahm. Er konnte ausgezeichnet singen, mit seiner rauen, wohlklingenden Stimme, die Paola an Louis Armstrong erinnerte. Vor allem, weil es das Lied «What a Wonderful World» war. Er unterbrach sein Singen nur, um Pontiero zu piesacken.

«Der eigentliche Witz ist, wie du zu kämpfen hast, um nicht kotzen zu müssen, Vizeinspektor. Hahaha. Ich persönlich finde das Ganze ja recht amüsant. Dem haben sie’s ordentlich besorgt …»

Paola und Dante wechselten einen Blick über die Leiche des Kardinals hinweg. Der Gerichtsmediziner, ein sturer alter Kommunist, war auf seinem Gebiet ein hervorragender Experte, doch manchmal nahm er es mit der Pietät nicht allzu genau. Offenbar fand er Robayras Tod furchtbar komisch, was Paola wiederum gar nicht witzig fand.

«Dottore, ich muss Sie bitten, sich auf die Untersuchung der Leiche zu beschränken und alle weiteren Kommentare zu unterlassen. Sowohl unser Gast, Superintendent Dante, als auch ich selbst finden Ihre vermeintlich spaßigen Kommentare anstößig und völlig fehl am Platz.»

Der Gerichtsmediziner warf Paola einen kurzen Blick zu und fuhr dann fort, Robayras Mageninhalt zu untersuchen. Aber er enthielt sich weiterer spöttischer Bemerkungen, obwohl er während der Arbeit leise vor sich hin fluchte. Paola schenkte dem keine Beachtung, denn sie machte sich Sorgen um Pontiero. Dessen Gesichtsfarbe changierte zwischen blass und grünlich.

«Maurizio, du musst dich nicht so quälen. Ich weiß doch, du kannst kein Blut sehen.»

«Ach was, wenn dieser Betbruder das aushält, dann kann ich das auch.»

«Sie wären überrascht zu erfahren, wie viele Autopsien ich schon miterlebt habe, mein empfindlicher Herr Kollege.»

«Ach ja? Dann denken Sie daran, dass Ihnen noch mindestens eine weitere bevorsteht. Die werde ich allerdings mehr genießen als Sie …»

Meine Güte, jetzt fangen die schon wieder an, dachte Paola, während sie die Situation zu schlichten versuchte. Das ging schon den ganzen Tag so. Dante und Pontiero hatten einander vom ersten Augenblick an nicht riechen können. Man musste allerdings ehrlicherweise sagen, dass dem Vizeinspektor jeder Mann unsympathisch war, der näher als drei Meter an Paola herankam. Sie wusste, dass sie für ihn wie eine Tochter war, aber manchmal übertrieb er es. Dante provozierte gerne, und seine Scherze waren sicher nicht die originellsten. Das rechtfertigte aber nicht die Feindseligkeit, mit der ihm Paolas Kollege begegnete. Was sie nicht verstand, war, wie ein Mann wie Superintendent Dante bei der Vatikanpolizei eine solche Karriere hatte machen können. Sein ständiges Witzeln und seine Bissigkeit kontrastierten eigentlich zu sehr mit der farblosen und verschwiegenen Art des Generalinspektors Cirin.

Die Reibeisenstimme des Leichenbeschauers brachte Paola in die Realität zurück.

«Meine hochverehrten Besucher, vielleicht hätten Sie die Güte, Ihre Aufmerksamkeit der Autopsie zuzuwenden, der beizuwohnen Sie gekommen sind.»

«Bitte fahren Sie fort.» Paola warf den beiden Polizisten einen eisigen Blick zu, um sie zur Ordnung zu rufen.

«Also, das Opfer hatte seit dem Frühstück nichts gegessen. Alles deutet darauf hin, dass diese letzte Mahlzeit sehr früh eingenommen wurde, denn ich habe nur noch wenige Reste davon finden können.»

«Das heißt, er hat aufs Mittagessen verzichtet, oder er ist dem Mörder schon vorher in die Hände gefallen.»

«Ich bezweifle, dass er auf das Mittagessen verzichtet hat … Er war offensichtlich an ordentliche Mahlzeiten gewöhnt. Lebend dürfte er etwa zweiundneunzig Kilogramm gewogen haben, bei einer Körpergröße von 1,83 Metern.»

«Was uns zeigt, dass der Mörder ein kräftiger Mann sein muss. Robayra war kein Leichtgewicht», schaltete sich Dante ein.

«Und es sind vierzig Meter vom Eingang der Kirche bis zur Kapelle», sagte Paola. «Jemand hat sehen müssen, wie der Mörder die Leiche in die Kirche brachte. Pontiero, tu mir einen Gefallen. Schick vier gute Männer in die Gegend. Sie sollen in Zivil gehen, aber ihre Dienstmarken mitnehmen. Sag ihnen nicht, was passiert ist. Sag ihnen, aus der Kirche sei etwas gestohlen worden, und sie sollen in Erfahrung bringen, ob jemand letzte Nacht etwas gesehen hat.»

«Unter den Pilgern nachzuforschen wäre reine Zeitverschwendung.»

«Dann lass es bleiben. Sollen sie halt die Nachbarn vernehmen, vor allem die älteren Leute. Die haben oft einen leichten Schlaf.»

Pontiero nickte und verließ den Autopsiesaal, sichtlich erleichtert, seinen Aufenthalt dort beenden zu können. Paola blickte ihm nach. Als die Türen hinter ihm zufielen, wandte sie sich an Dante.

«Was ist eigentlich los mit Ihnen, Herr Vatikanpolizist? Pontiero ist ein tatkräftiger Beamter, der nun einmal kein Blut sehen kann, das ist alles. Ich bitte Sie, künftig von diesen sinnlosen Sticheleien abzusehen.»

«Soso, da haben wir also mehr als ein Großmaul im Leichenschauhaus», lachte der Gerichtsmediziner.

«Kümmern Sie sich um Ihre Arbeit, Dottore, wir sind gleich wieder bei Ihnen. Habe ich mich klar ausgedrückt, Dante?»

«Beruhigen Sie sich, Inspektorin.» Der Superintendent hob abwehrend die Hände. «Ich glaube, Sie verstehen nicht, was hier passiert ist. Wenn ich morgen Schulter an Schulter mit Pontiero ein Zimmer stürmen müsste, das in Flammen steht, dann würde ich das garantiert tun.»

«Und warum sticheln Sie dann die ganze Zeit gegen ihn?», fragte Paola verständnislos.

«Weil es Spaß macht. Ich bin sicher, ihm macht es genauso Spaß, sich über mich aufzuregen. Fragen Sie ihn doch.»

Paola schüttelte den Kopf und murmelte ein paar wenig schmeichelhafte Worte über Männer in sich hinein.

«Nun gut, machen wir weiter. Dottore, können Sie uns schon den Zeitpunkt und die Todesursache nennen?»

Der Gerichtsmediziner warf einen Blick in seine Aufzeichnungen.

«Ich möchte vorausschicken, dass es sich hier um einen vorläufigen Befund handelt, aber ich bin mir relativ sicher. Der Kardinal ist am gestrigen Montag gegen neun Uhr abends gestorben. Eine Stunde hin oder her. Er starb, weil ihm die Kehle durchgeschnitten wurde. Der Schnitt wurde von hinten durchgeführt. Ich nehme an, dass der Täter etwa die gleiche Körpergröße hat wie sein Opfer. Über die Tatwaffe kann ich nur sagen, dass die Klinge weniger als fünfzehn Zentimeter lang, glatt und sehr scharf ist. Es könnte sich um ein Rasiermesser handeln, ich bin aber nicht sicher.»

«Wie sieht es mit den Wunden aus?», wollte Dante wissen.

«Die Exenteration der Augäpfel geschah vor Eintritt des Todes, ebenso wie das Abtrennen der Zunge.»

«Er hat ihm die Zunge abgeschnitten? Gütiger Himmel», rief Dante angewidert.

«Ich glaube, er hat dazu eine Zange verwendet. Als er damit fertig war, hat er Toilettenpapier in die Mundhöhle gestopft, um die Blutung aufzufangen. Das hat er zwar später entfernt, aber es sind Zellulosefetzen zurückgeblieben. Ich muss sagen, Inspektorin Dicanti, Sie überraschen mich. Es scheint nicht, als würde Sie das besonders mitnehmen.»

«Na ja, ich habe Schlimmeres gesehen.»

«Dann lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen, das Sie bestimmt noch nie gesehen haben. Ich selbst habe noch nie einen derartigen Fall erlebt, und ich bin schon viele Jahre im Geschäft. Der Täter hat dem Opfer mit bemerkenswertem Geschick die Zunge ins Rektum eingeführt. Anschließend hat er die Blutspuren beseitigt. Hätte ich nicht eigens nachgesehen, ich hätte sie nicht gefunden.»