Die schwarze Wölfin - Juan Gómez-Jurado - E-Book
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Die schwarze Wölfin E-Book

Juan Gómez-Jurado

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Beschreibung

Der neue Nr.-1-Bestseller von Spaniens erfolgreichstem Thrillerautor

Ein russischer Oligarch wird in seiner Villa in Marbella erschossen, seine hochschwangere Frau verschwindet spurlos. Kurz darauf taucht im Hafen von Málaga ein Schiffscontainer aus St. Petersburg auf, in dem neun Frauen qualvoll erstickt sind. Wie hängen die Vorfälle zusammen? Und wer steckt dahinter? Die Polizei ist vollkommen überfordert – bis Antonia Scott und Jon Gutiérrez eingeschaltet werden. Sie stoßen schon bald auf eine heiße Spur, die in ein kleines Dorf unweit von Madrid führt – und zu einer gefürchteten russischen Auftragsmörderin, der schwarzen Wölfin ...

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Seitenzahl: 520

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Buch

Mitten in der Nacht werden Antonia Scott und Inspector Jon Gutiérrez nach Marbella geschickt, wo der russische Oligarch Juri Woronin erschossen in seiner Villa aufgefunden wurde. Von seiner hochschwangeren Frau Lola Moreno fehlt jede Spur. Die Russenmafia ist ihr ebenso auf den Fersen wie die Polizei, aber alle tappen im Dunkeln. Statt der verschwundenen Lola finden Jon und Antonia kurz darauf neun Frauen, die qualvoll in einem Schiffscontainer erstickt sind. Wer steckt dahinter? Und was hat die sogenannte schwarze Wölfin, eine gefürchtete russische Auftragskillerin, damit zu tun? Die Spur führt in ein tief verschneites Dorf unweit von Madrid, wo Antonia und Jon nicht nur der schwarzen Wölfin begegnen …

Weitere Informationen zu Juan Gómez-Jurado sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

JUAN GÓMEZ-JURADO

Die schwarze Wölfin

Thriller

Aus dem Spanischen von Sybille Martin

Die spanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Loba Negra« bei Ediciones B, Penguin Random House Grupo Editorial, Barcelona.Die Übersetzung dieses Werkes wurde gefördert durch Acción Cultural Española, AC/E.Das Zitat stammt aus: George R. R. Martin, »Das Lied von Eis und Feuer. Der Sohn des Greifen«, aus dem Amerikanischen von Andreas Helweg. Mit freundlicher Genehmigung von Penhaligon, Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2022

Copyright © der Originalausgabe 2019 by Juan Gómez-Jurado

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH

Umschlagfoto: © Silas Manhood / Trevillion Images

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

LS · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-28856-3V002www.goldmann-verlag.de

Für Babs, weil ich sie liebeFür Arturo, Javi und Rodrigo, wofür auch immer

Ein Abgrund

Noch nie stand Antonia Scott vor einer derart schweren Entscheidung.

Für andere Menschen wäre das Dilemma, in dem sie sich befindet, möglicherweise belanglos.

Nicht für Antonia. Man könnte sagen, ihr Verstand ist fähig, auf unterschiedlichen Zeitebenen der Zukunft zu arbeiten, aber ihr Kopf ist auch keine Kristallkugel. Man könnte sagen, Antonia ist imstande, Dutzende Informationseinheiten zeitgleich zu visualisieren, aber ihr Verstand arbeitet auch nicht wie im Film, wenn vor dem Gesicht des Protagonisten eine Reihe Buchstaben eingeblendet werden, um seine Gedanken zu visualisieren.

Antonias Verstand ist eher ein Dschungel, ein Dschungel voller Affen, die sich rasend schnell von Liane zu Liane schwingen und dabei allerlei mitreißen. Ihr Kopf ist voller Dinge, die in der Luft aufeinandertreffen, und Affen, die sich gegenseitig die Zähne zeigen.

Heute haben die Affen schreckliche Dinge dabei, und Antonia hat Angst.

Ein Gefühl von Angst kommt bei Antonia nur selten auf. Schließlich hat sie schon Folgendes gemeistert:

Eine nächtliche Verfolgungsjagd mit Motorbooten bei Höchstgeschwindigkeit durch die Meerenge von Gibraltar.Einen Tunnel gespickt mit Sprengstoff, in dem eine Entführerin einem ihr besonders wichtigen Menschen die Waffe an den Kopf hielt.Das in Valencia.

Ihre Cleverness rettete sie am Tag der Motorboote (sie ließ die vor ihr fahrenden zusammenstoßen) und im Tunnel ihre Kenntnisse (Ente auf Englisch). Was die Sache in Valencia anbelangt, ist unbekannt, wie sie (als Einzige) das Gemetzel überlebte. Sie hat sich immer geweigert, darüber zu sprechen. Aber sie hat überlebt. Und sie hatte keine Angst.

Nein, Antonia hat eigentlich vor nichts Angst, außer vor sich selbst. Vor dem Leben vielleicht. Schließlich besteht ihr Zeitvertreib darin, sich drei Minuten am Tag vorzustellen, wie sie Suizid begehen könnte.

Es sind ihre drei Minuten.

Sie sind ihr heilig.

Sie helfen ihr, nicht den Verstand zu verlieren.

Jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt dafür. Aber anstatt in ihrem Ritual Frieden zu finden, sitzt Antonia vor einem Schachbrett. Weiße und rote Figuren wie im antiken englischen Spiel. Antonias Läufer steht kurz vor Schachmatt.

Die Roten spielen und gewinnen.

Eine einfache Entscheidung.

Nicht für Antonia.

Denn ihr gegenüber sitzt Jorge und starrt sie an. Seine grünen Augen versprühen all die Provokation und Gemeinheit, die in einem Meter zehn stecken können.

»Mach endlich deinen Zug, Mama«, sagt Jorge und stampft unter dem Marmortisch mit dem Fuß auf. »Mir ist langweilig.«

Er lügt. Möglich, dass Antonia nicht weiß, was sie tun soll. Aber eine Lüge erkennt sie.

Jorge wartet ungeduldig darauf, dass sie den Läufer bewegt und ihn besiegt, damit er ausflippen kann, weil er verloren hat. Oder dass Antonia stattdessen eine andere Figur bewegt und damit ebenfalls einen Wutanfall provoziert, weil sie ihn hat gewinnen lassen.

Das Aufleuchten ihres Handy-Displays holt sie aus ihrer Erstarrung. Ein rundes Gesicht. Sehr rothaarig und sehr baskisch. Die Vibration lässt die Figuren wild über das Schachbrett tanzen.

Jon weiß, dass sie bei Jorge ist. Ihr dritter Besuch, seit der Richter angeordnet hat, dass man ihr – entgegen der Meinung des Großvaters – eine zweite Chance geben sollte. Sie ist in der Probezeit. Jon würde nicht anrufen, wenn es nicht wichtig wäre.

Antonia entschuldigt sich mit einem angedeuteten Schulterzucken und steht auf, um den Anruf entgegenzunehmen. Sie dreht ihrem frustrierten Sohn und der Sozialarbeiterin, die mit ausdruckslosem Gesicht in einer Zimmerecke sitzt und sich Notizen macht, den Rücken zu.

Auch wenn Antonia sich nur ungern unter einem Vorwand davonstiehlt, ist sie davon überzeugt, dass sie dieses Spiel nicht gewinnen kann.

Und das gefällt ihr noch weniger.

Erster Teil Antonia

Mit einem Wolf konnte ein Mensch sich anfreunden, ja er konnte sogar den Willen eines Wolfes brechen, aber niemand konnte einen Wolf wirklich zähmen.

George R. R. Martin

1 Eine Leiche

Jon mag keine Leichen, die im Manzanares treiben.

Es ist keine Frage der Ästhetik. Diese Leiche ist sehr unappetitlich (sie scheint schon eine ganze Weile im Wasser zu liegen), die blaugraue Haut voller violetter Flecken, die Hände fast abgetrennt von den Gelenken. Aber Empfindlichkeit ist hier fehl am Platze.

Die Nacht ist besonders dunkel, und die Laternen, die in sechs Meter Höhe die Welt der Lebenden beleuchten, lassen die Schatten nur noch dichter wirken. Der Wind entlockt dem Schilfrohr ein seltsames Murmeln, und das achtzig Zentimeter hohe Wasser ist ziemlich kalt. Schließlich befinden wir uns am Ufer des Manzanares in Madrid, es ist elf Uhr nachts, und der Februar fährt seine gräuliche Pfote aus.

Nichts von alledem stört Jon an Leichen im Manzanares, denn er ist an eiskaltes Wasser (er stammt aus Bilbao), an Gemurmel in der Dunkelheit (er ist schwul) und an leblose Körper (er ist bei der Polizei) gewöhnt.

Jon Gutiérrez widert es an, Wasserleichen selbst rausholen zu müssen.

Was bin ich doch für ein Idiot, denkt Jon. Das ist was für Anfänger. Aber natürlich schaffen das diese drei Kümmerlinge aus Madrid einfach nicht.

Nicht dass Jon dick wäre. Aber wenn du ein halbes Leben lang immer der Größte warst, entwickelst du Angewohnheiten, ob du es willst oder nicht. Die Schwäche, immer helfen zu wollen. Was besonders dringlich wird, wenn du siehst, wie drei Grünschnäbel, frisch von der Akademie, wie Enten im Schilf herumpaddeln beim Versuch, eine Leiche zu bergen. Und stattdessen fast selbst ertrinken.

Also schlüpft Jon in den weißen Plastikanzug, zieht die Gummistiefel an und stürzt sich mit einem WasfüreineScheißeaberauch ins Wasser, worauf die Frischlinge puterrot anlaufen.

Mit großen Schritten watet Inspector Gutiérrez durch den Fluss, wobei er sowohl Wasser als auch die jungen Polizisten verdrängt, zu der Insel aus Pflanzengestrüpp, in dem die Leiche hängen geblieben ist. Der Körper hat sich in ein paar Ästen verfangen und schaukelt leicht in der Strömung. Nur ein Teil des aufgequollenen Gesichts und ein Arm sind zu erkennen, weshalb es wirkt, als versuche das Opfer zu schwimmen, um seinem unvermeidlichen Schicksal zu entgehen.

Jon bekreuzigt sich in Gedanken und steckt beide Arme unter die Leiche. Die Berührung ist weich, und das Körperfett wabert unter der Haut wie ein Luftballon voller Wackelpudding. Der Inspector zieht. Mit all seiner Kraft eines harrijasotzaile, eines baskischen Steinehebers. An einem guten Tag schafft er dreihundert Kilo. Er sichert die Beine.

Diesen Frischlingen werde ich es zeigen.

Als er seine riesigen Arme anspannt, geschieht zweierlei.

Zweitens, die Leiche rührt sich keinen Zentimeter vom Fleck.

Erstens, der rechte Fuß des Inspectors versinkt im sandigen Untergrund, und er fällt rückwärts ins Wasser.

Jon ist kein wehleidiger Kerl, keiner von denen, die sich über alles beklagen. Aber das Gelächter der Frischlinge wird weder vom Rauschen der Strömung noch vom Murmeln des Schilfs oder seinem eigenen Fluchen übertönt. Also erlaubt sich Jon, mit verletztem Stolz und bis zu den Schultern unter Wasser, für einen Moment etwas ganz Menschliches: Er bedauert sich selbst und gibt anderen die Schuld.

Wo bist du, Antonia, verdammt noch mal?

2 Ein Draht

»So kommen Sie da nicht raus, Inspector«, sagt eine Frauenstimme an seinem Ohr.

Jon klammert sich an den Arm von Doktor Aguado, die ihm hilft, sich wieder aufzurichten. Ihn graust vor den Händen der Pathologin, aber wenn du mit dem Hintern im sandigen Flussbett steckst, klammerst du dich an alles, was dir zur Verfügung steht.

»Ich dachte immer, Leichen treiben an der Oberfläche. Aber diese scheint unbedingt untergehen zu wollen.«

Aguado lächelt. Sie ist um die vierzig, hat lange Wimpern, dezentes Make-up, Nasenpiercing und einen schelmischen Langmut im Blick. Jetzt einen Anflug von Fröhlichkeit. Böse Zungen behaupten, sie hätte eine Freundin.

»Der menschliche Körper besteht zu gut siebzig Prozent aus Wasser. Da Wasser nicht treibt, geht er erst mal unter. Bei bestimmten Wassertemperaturen lassen Bakterien den Körper in wenigen Stunden verwesen. Wir haben vier Grad und das Wasser ungefähr sechs, also … eher in Tagen. Magen und Eingeweide füllen sich mit Gasen und plopp, schwappt er wieder an die Oberfläche.«

Aguado kniet sich nieder, ergreift mit einer Hand die Leiche und tastet mit der anderen die Unterseite ab.

»Soll ich Ihnen helfen, Frau Doktor?«

»Nicht nötig. Ich will nur herausfinden, woran sie festhängt.«

Jon wirft einen Blick auf die aufgeschwemmte, formlose Masse. Sie treibt nackt mit dem Kopf nach unten im Wasser. Das Haar ist sehr kurz und von einer undefinierbaren Farbe. Jon fragt sich, woher zum Teufel sie weiß, dass es sich um eine Frau handelt.

»Woher zum Teufel wissen Sie, dass es eine Frau ist?«

»Aus mehreren Gründen, Inspector«, erwidert Aguado. »Wegen des Schlüsselbeinwinkels, wegen der fehlenden Ausbuchtung des Hinterkopfs und weil ich gerade, auch wenn Sie das nicht sehen können, mit ziemlicher Sicherheit die linke Brust des Opfers in der Hand habe.«

Die Pathologin richtet sich auf und reicht ihm die Taschenlampe. Eine kleine, aber starke. Jon leuchtet ihr, während Aguado eine Schere aus ihrer wasserdichten Tasche holt, die sie um den Hals hängen hat. Sie beugt sich vor und hantiert unter der Leiche. Die löst sich endlich und steigt an die Oberfläche.

»Der Mörder hat ihr einen Draht um den Oberschenkel gebunden«, sagt Aguado und zeigt dabei auf eine schmale Druckstelle am Bein. »Bestimmt mit einem Gewicht daran. Helfen Sie mir, sie umzudrehen.«

Im Wasser hat der Körper kein Gewicht. Ihn umzudrehen ist, als würde man eine Seite umschlagen, die letzte Seite. Augen gibt es keine mehr, die wurden von den Fischen gefressen. Das Gesicht wirkt wie eine Maske, doch anstelle des Karnevals erwartete diese Frau ein fatales Schicksal.

Bevor er nach Madrid kam – als er noch durch Bilbaos üble Straßen streifte –, glaubte Jon, hart im Nehmen zu sein. Im Stadtteil Otxarkoaga war alles Splittern von Glas, Nester voller fauliger Äpfel. Wenn er dort einen Toten sah, erfasste Jon keinerlei Mutlosigkeit, er musste auch nicht die Zähne zusammenbeißen oder gar denken: Was ist mit dir passiert, oder wer hat dir das angetan.

Dort war er Beamter.

Hier fühlt er sich verantwortlich.

Verfluchte Antonia.

Die Leiche im Schlepptau, bahnt sich Jon einen Weg durch das Schilfrohr und zerrt sie auf eine trockene Stelle der kleinen Insel.

»Noch keine Todesursache«, sagt Aguado wie zu sich selbst. Sie verstummt, sie scheint etwas zu hören. »Ziemlich hoher Grad an Adipocire. Mindestens eine Woche im Wasser, vielleicht länger.«

»Auf Deutsch, Frau Doktor.«

Die Pathologin zeigt auf die Knoten und Wülste unter der bläulichen Haut der Leiche. Der formlose und aufgequollene Magen hängt weit über das Schambein und verdeckt die Schambehaarung.

»Adipocire entsteht, wenn eine Leiche im Wasser liegt. Zum besseren Verständnis: Mikroorganismen verwandeln das Fett unter der Haut in Seife. Morgen kann ich Ihnen mehr sagen, Inspector. Jetzt muss ich mich an die Arbeit machen, bevor die Luft die Beweise zerstört«, sagt Aguado und zeigt zum Ufer.

Jon weiß, wann er zu gehen hat. Er winkt, und die Frischlinge waten mit einer Bahre und großen Plastiksäcken auf die kleine Insel zu. Für einen gewöhnlichen Leichensack ist der Körper zu stark verwest. Der Inspector überlässt ihnen die Schmutzarbeit – jetzt sind sie dran, das schaffen sie schon allein – und watet mit großen Schritten zurück zu der flachen Mauer, die den Fluss kanalisiert. Es gibt weder Stufen noch eine andere Ausstiegsmöglichkeit, aber die Kollegen haben eine Strickleiter angebracht, über die Jon seine hundertzehn Kilo ans Ufer hieven kann.

Auf der verwaisten Straße lehnt ein Mann an einem Streifenwagen. Dunkles Haar mit großen Geheimratsecken, dünner gestutzter Schnurrbart und Knopfaugen, die eher wie gemalt als echt wirken. Camelfarbener kurzer Mantel. Teuer.

»Es scheint kälter zu werden«, sagt Mentor und bläst Rauch aus.

Jons verletzter Stolz ist sogleich ein wenig besänftigt. Nichts lindert die eigene Schmach besser, als zu sehen, dass ein anderer noch größere erleidet. Mentor dampft jetzt.

»Was ist denn das?«, fragt Jon und zeigt auf die E-Zigarette.

Mentor steckt sie sich zwischen die nahezu unsichtbaren Strichlippen, zieht daran und bläst wieder aus. Der Wind weht Jon eine Wolke Mandarinenduft ins Gesicht.

»Zum Schluss war ich bei drei Schachteln täglich. Letzte Woche habe ich mir sogar unter der Dusche eine angezündet. Also dachte ich, warum es nicht mal ausprobieren.«

»Und, funktioniert es?«

»Was soll ich sagen. Ich nehme jetzt das Doppelte an Nikotin zu mir und habe dreimal so viel Verlangen zu rauchen. Konnte Aguado schon was sagen?«

»Dass das Opfer eine Frau ist. Ermordet. Eine Woche im Wasser oder länger. Und dass ich sie in Ruhe lassen soll.«

»Das ist für ihre Verhältnisse ja ziemlich redselig. Finden Sie sie in letzter Zeit nicht auch fröhlicher?«

»Ich glaube, sie hat eine Freundin«, sagt Jon (er ist die bösen Zungen).

Der Inspector schält sich aus dem Plastikanzug, verzichtet aber auf die Decke, die Mentor ihm hinhält.

»Ich hoffe, Sie sind nicht nass geworden, Inspector. Dieser Teil des Flusses ist der Gesundheit nicht sehr zuträglich.«

»Wieso?«

Mentor wartet, bis der Inspector seinen Mantel und seine Schuhe angezogen hat, und führt ihn zum Ufer.

»1970 ist in einem nahegelegenen geheimen Versuchszentrum ein Rohr gebrochen. Der Caudillo war besessen davon, eine Atombombe zu haben, und ließ mehrere Wissenschaftler Versuche mit Plutonium machen. Es kam erst 1994 heraus, aber seinerzeit liefen aus diesem Abfluss dort drüben über hundert Liter radioaktives Material in den Manzanares.« Mentor zeigt auf einen Punkt in der Dunkelheit. »Hier und da ein paar Hundert Krebskranke, nichts Ernstes. Aber ich würde an so einem Ort nicht baden gehen.«

Jon sagt nichts. Natürlich spürt er sogleich, dass es ihn am ganzen Körper juckt und das rote Barthaar auszufallen beginnt. Aber er denkt gar nicht daran, den Mund aufzumachen. Nicht dass ihm dann auch noch die Zähne ausfallen.

Bierernst schaut Mentor auf die Uhr.

»Wo ist Scott?«

»Ich habe sie vor über drei Stunden angerufen«, antwortet Jon.

»Nicht dass ihre Anwesenheit unentbehrlich wäre. Wegen ihr haben wir lediglich die zuständigen Kollegen abgezogen und mitten in der Nacht das Projekt Rote Königin aktiviert.«

»Das ist ungerecht«, protestiert Jon. »Das könnte …«

Seine heftige Reaktion ist jedoch nur vorgetäuscht. Im Innern keimen Zweifel in ihm auf.

Sieben Monate sind vergangen, seit Antonia und Jon Carla Ortiz gerettet haben. Der Fall ist um die Welt gegangen, ebenso wegen des mysteriösen Verschwindens der Erbin als auch wegen dem, was hinterher zwischen ihr und ihrem Vater geschah. Von Antonia Scott und dem Projekt Rote Königin fand sich kein Wort in den Medien. Von Jon nur wenig. Als er zusammen mit Carla aus der Kanalisation stieg, hat er sein Gesicht vor dem Blitzlichtgewitter der Fotografen geschützt. Ein verschwommenes Foto, eine geruchlose Blume.

Im Projekt Rote Königin gibt es keine Prämien, nur Anonymität. Ein Leben ohne Namen, jede Menge Blendwerk. Das war genug Prämie.

In den morgendlichen Klatschrunden wurde der Fall Ortiz ein paar Tage ordentlich ausgeschlachtet. Die Leiche eines Entführers war aufgetaucht, doch die andere lag angeblich noch unter den Trümmern des Goya-Bis-Tunnels. Man fragte sich, wer es wohl gewesen war. Dies und anderes. Und so weiter. Schlaumeier und Zwitscherlinge palaverten, ohne etwas vom Thema zu verstehen, bevor sie zu anderen Themen übergingen, von denen sie auch nichts verstanden. Das Leben ging weiter, wie viele sinnlose Dinge auch.

Die Welt schlug ein neues Kapitel auf.

Antonia nicht.

Antonia Scott schlägt nie ein neues Kapitel auf.

»Das könnte sie sein«, beendet Jon den Satz und zeigt auf die Leiche, die auf der kleinen Insel gerade auf Plastikfolie gelegt wird. Die Frischlinge haben die orangefarbenen Beine von sechs kräftigen Halogenstrahlern ins Gestrüpp gerammt. Die dunkle Privatsphäre des Todes ist der hässlichen Atmosphäre einer Anatomievorlesung gewichen.

Mentor schüttelt missmutig den Kopf.

»Das ist nur eine weitere, noch nicht identifizierte weibliche Leiche. Die sechste, wenn ich mich nicht verzählt habe. Wieder eine, die einem schlechten Trip oder einem Vergewaltiger zum Opfer gefallen ist. Das geht uns nichts an. Wir verschwenden nur unsere Zeit.«

Antonia hat nicht aufgehört, nach ihr zu suchen. Sie klammerte sich an jeden Strohhalm. Sie analysierte jeden Schnipsel an Information. Sie bestand darauf, dass jede nicht identifizierte Leiche, die in Madrid und Umgebung auftauchte, untersucht wurde. Aber soviel Zeit und Mittel sie auch einsetzte: Die Frau, bekannt unter dem Namen Sandra Fajardo, blieb spurlos verschwunden.

Und solange sie nicht aufgetaucht ist, weigert sich Antonia, andere Fälle zu übernehmen. Doch soviel Spielraum und inoffizielle Deckung ihnen im Fall Ortiz auch gewährt wurden – inzwischen sind sieben Monate vergangen.

Das Problem mit der inoffiziellen Deckung: Sie ist so flüchtig wie das Gedächtnis von Politikern. Und an deren Tropf hängt Mentor.

»Es hat ja auch keine anderen Fälle gegeben«, beharrt Jon stur.

»Was wissen Sie denn schon?«, blafft Mentor. Der mangels Tropfs, wegen der Kälte und seinen Entzugserscheinungen eine Scheißlaune hat. Nicht mal das für ihn typische, mühelose und hohle Lächeln will ihm gelingen. »Was wissen Sie schon von den Anweisungen von oben, die ich ablehnen musste. Oder den obskuren Bedrohungen, bei denen sie hätte helfen können.«

Jon kratzt sich am Kopf – dem lockigen, roten Haar – und atmet tief ein. Diesen breiten Torso zu füllen bedarf es ein paar Sekunden und viele Liter Sauerstoff. Die braucht er, um sich zu beruhigen und seinem Chef nicht eine reinzuhauen, was ihn auf den Grund des Flusses befördern könnte.

»Ich rede mit ihr, aber …«

Jon hält mitten im Satz inne. Befremdet dreht sich Mentor um und folgt seinem Blick über den Manzanares. Ein Licht treibt in der Strömung. Gespenstisch, als würden Gespenster orangefarben funkeln. Hinter der kleinen Insel, nahe der Böschung des gegenüberliegenden Ufers. Ein weiteres folgt und treibt in die Flussmitte. Am oberen Flussufer ist verschwommen noch ein drittes zu erkennen.

Fünfzig Meter von ihnen entfernt hüpft ein viertes Licht von der Mauer in den Fluss und landet mit einem leisen Platschen auf der Wasseroberfläche.

»Scott«, murmelt Mentor. Ärgerlicher denn je. Er wendet sich an Jon, und sein Blick besagt: Holen Sie sie her und bringen Sie sie zur Vernunft.

Jons geballte Faust erwidert: Ich hätte große Lust, dir eine reinzuhauen. Aber da sie in der Manteltasche steckt, kann sie die Botschaft nicht übermitteln. Und Inspector Gutiérrez bleibt nichts anderes übrig, als zu gehorchen und sich auf den Weg zu Antonia Scott zu machen.

3 Eine Brücke

Also geht Jon Gutiérrez ziemlich angesäuert über die Puente de Arganzuela im Madrider Bezirk Carabanchel. Wegen des schmachvollen Sturzes, wegen der Uhrzeit, wegen seines Hungers und weil Antonia einfach nicht zu verstehen ist, verdammt noch mal.

Er hat sie von Weitem im Blick behalten und ist ihr flussaufwärts gefolgt. Eine kleine Gestalt, die alle paar Meter kurz stehen bleibt, eines dieser Lichter ins Wasser wirft und dann weitergeht.

Jon hat den Abstand nur langsam verkürzt, weil ihm immer noch nicht klar ist, wie er sich ihr gegenüber verhalten soll.

Antonia Scott ist nicht gerade eine vernünftige Person. Argumente perlen an ihr ab wie Wasser am Entengefieder. Vor allem, wenn es um den Mann geht, der ihren Mann ins Koma befördert hat. Ein Mann, der, wie Antonia vermutet, hinter Sandra Fajardo die Strippen zieht. Um es mal so auszudrücken.

Der geheimnisvolle, ungreifbare, legendäre Mister White.

Mentor wollte nichts von Antonias Ermittlungen bezüglich White hören. Jon dachte erst, Mentor würde nicht an seine Existenz glauben, dass dieser Mister White seiner Meinung nach nur eine Legende sei. Oder schlimmer noch, eine von Antonias Obsessionen, der sie einen Namen gegeben hat. Aber die Zeitspanne von sieben Monaten, die Mentor ihr gewährt hat, besagen eher das Gegenteil.

Und dann sind da noch diese Gerüchte. Die verängstigten Blicke. Und eine rätselhafte Bemerkung, die Aguado vor ein paar Tagen fallen ließ. Leise und hektisch, mitten auf dem Flur.

»Es wird besser sein, es laufen zu lassen.«

Bevor Jon nachfragen konnte, war Aguado schon verschwunden und hatte ihn stinksauer zurückgelassen. Und keiner seiner späteren Versuche, ihr mehr zu entlocken, hatte Erfolg gezeigt.

Trotz allem hat sich Jon zurückgehalten und Antonia gewähren lassen.

Damit ist es jetzt vorbei.

Jon geht über die Puente de Arganzuela, auf der es nie Nacht wird. Die gigantische Struktur, ultrametallisch, ultramodern und ultrateuer, hat die Form einer Metallspirale. Sie ist ausgestattet mit kräftigen Laternen, die das Innere funkeln lassen und damit eine fast perfekte Spiegelung der Wasseroberfläche erzeugen. Jon hat zeitgenössische Architektur noch nie gemocht. Ihm reicht es, wenn Brücken ihn tragen – nicht dass er dick wäre. Aber jetzt weiß er das kräftige Licht, geeignet für eine Operation am offenen Herzen, durchaus zu schätzen. Zusammen mit dem Geräusch, das seine Schritte auf den Holzbohlen verursachen, kündet es von seinem Näherkommen.

Diesmal entwischst du mir nicht, Mädchen.

Antonia Scott sitzt mitten auf der Brücke in der Hocke. Anfang dreißig. Mit einem Mantel und einer schwarzen Hose. Weiße Sportschuhe. Neben ihr auf dem Boden eine grüne Plastiktüte, eine von denen, die man im Gemüseladen bekommt, ohne die obligatorischen fünf Cent zu bezahlen.

Beim Näherkommen lässt Jon seine Schritte auf dem Holz noch etwas grimmiger klingen.

Antonia hebt einen Finger, was besagt: Stör mich nicht, das ist unhöflich, worauf ihr Kollege wenige Meter entfernt abrupt stehen bleibt.

»Du hättest mir auch sagen können, dass du schon hier bist«, sagt Jon. »Oder zumindest eine Nachricht schicken …«

In dem Moment vibriert es in seiner Hosentasche. Es ist eine WhatsApp-Nachricht von Antonia. Seit sie die Sticker entdeckt hat, bestehen ihre Nachrichten gut zur Hälfte aus diesen kleinen Bildern. Die Hälfte davon Hundewelpen mit witzigem Gesichtsausdruck. Jon fragt sich, was ein Mops mit Hut bedeuten soll.

»Soll das heißen, dass du schon da bist?«

»Verstehe«, sagt Antonia.

»Was ein Glück aber auch. Denn ich verstehe rein gar nichts.«

Ohne etwas zu erwidern, wühlt Antonia in ihrer Umhängetasche und holt schließlich ein Päckchen transparente Leuchtstäbchen und eine kleine Wasserflasche heraus. Die Hälfte des Wassers schüttet sie auf die Holzlamellen, es rinnt durch die Spalten ins Flusswasser. Dann nimmt sie einen der transparenten Zylinder und drückt mit zwei Fingern zu. Als im Inneren die Glaskapsel platzt und das Wasserstoffperoxid freisetzt, ist ein leises Knacken zu hören. Als es sich mit dem Oxalsäurediphenylester vermischt, beginnt das Stäbchen kräftig orangefarben zu leuchten.

Will diese Frau in einem Mordfall ermitteln oder an einem Rave teilnehmen?

»Ungefähres Alter des Opfers?«

»Hat Aguado nicht gesagt. Sie hat gerade angefangen zu …«

Antonia hebt wieder den Finger. Er ist irritiert.

Jon gehört zu denjenigen, die zum Gegenangriff übergehen, wenn sie irritiert sind. Vorsorglich. Zum Spaß. Um den Macker zu spielen. Aber heute Nacht verhält sich Antonia seltsam. Und der Maßstab der Verblüffung – seine Messlatte, wie Jon es nennt – liegt bei Antonia sehr hoch.

Antonia steckt das Leuchtstäbchen in die halbvolle Flasche, dreht den Deckel zu und richtet sich auf. Sie zögert einen Moment und reckt die Nase in den Wind. Als der kurz aussetzt, wirft Antonia die Flasche ins Wasser und folgt dem orangefarbenen Leuchten flussabwärts mit dem Blick. Ihr Wimpernschlag wirkt wie die Blende eines Fotoapparats.

Das hat Jon schon öfter gesehen. Er weiß, dass Antonia im Geiste eine Zeichnung anfertigt. Und jetzt versteht er auch, warum sie von verschiedenen Punkten aus diese Flaschen ins Wasser wirft.

»Gibt es keine umweltfreundlichere Methode?«

Antonia starrt weiterhin flussabwärts und ignoriert seinen Kommentar.

Die Strömung scheint sich auf halbem Weg zu der kleinen Insel zu ändern, als wolle sie die Wasserflasche ans Nordufer spülen. Doch das winzige Plastikfläschchen bleibt im Schilf hängen.

»Bestätigt, Frau Doktor. Sie wurde von der Brücke geworfen. Die Strömung ändert sich auf halbem Weg. Das Gewicht, das man ihr ans Bein gebunden hat, reichte nicht, um sie unter Wasser zu halten. Als die Gase sie aufblähten und sie zu schwimmen begann, zerrte das Gewicht sie durch das Flussbett, bis sie im Schilf hängen blieb.«

Sie verstummt einen Augenblick. Und fügt hinzu: »Ich schlage vor, Sie kommen her und machen einen Luminol-Test. Und sagen Sie Mentor, er soll das Licht auf der Brücke ausschalten lassen, wenn er so freundlich wäre.«

Antonia streicht sich das Haar – halblang, schwarz und glatt – hinters Ohr, in dem ein AirPod steckt. Sie klopft kurz darauf, um das Gespräch zu beenden, und wendet sich dann an Jon.

»Deshalb hat also keine von euch beiden mit mir gesprochen«, protestiert der Inspector beleidigt. »Du hättest mir wenigstens sagen können, dass ihr miteinander telefoniert. Ich habe mir fast die Eier frittiert, als ich versucht habe, deine Leiche aus dem Wasser zu fischen.«

Antonia zieht überrascht eine Augenbraue hoch.

»Mentor hat mir erzählt, dass in diesen Abfluss radioaktive Flüssigkeiten verklappt wurden«, fügt Jon hinzu und zeigt auf eine Stelle im Wasser.

»Das stimmt nicht«, erwidert Antonia.

»Was ein Glück«, sagt Jon und seufzt.

»Der Abfluss mit der radioaktiven Verklappung ist der dort«, fügt Antonia hinzu und zeigt auf eine andere Stelle, noch näher an dem Areal, wo Jon ins Wasser fiel.

Jon seufzt ein weiteres Mal. Aber diesmal anders.

»Das war’s dann mit meiner Fruchtbarkeit.«

»Übertreib mal nicht. Die Menge, die du absorbiert haben könntest, entspricht ungefähr sieben oder acht Röntgenaufnahmen. Dein Sperma ist in Ordnung. Außerdem dachte ich, du willst keine Kinder.«

»Ich lasse mir gern alle Optionen offen.«

»Kinder bringen nur Unglück.«

In dem Moment geht das Licht auf der Brücke aus, und beide sind nur noch Schatten in der Dunkelheit. Der riesige bewegt sich unruhig hin und her. Der winzige zieht das Handy aus der Manteltasche und schaltet die Taschenlampe ein.

»Ich sehe schon, der Besuch bei deinem Sohn war richtig gut«, sagt Jon und holt seinerseits eine Taschenlampe aus der Manteltasche. Eine richtige. »Was suchen wir?«

»Blutflecken. Besonders an den Metallkanten.«

Paradoxerweise erkennt man Blutflecken manchmal leichter in der Dunkelheit. Dabei hilft Luminol, ein Wundermittel, das unter bläulichem Licht Blut und anderes organisches Material an einem Tatort sichtbar macht. Wenn das Blut schon älter ist, bekommt es die unterschiedlichsten Tönungen von Braun bis Schwarz, je nach Oberfläche, auf der es gelandet ist, der Zeit, die vergangen ist, und der jeweiligen Oxidationsstufe. In solchen Fällen arbeiten Antonia und Jon lieber im Dunkeln, konzentrieren sich auf einen kleinen Lichtpunkt und suchen von dort aus die Umgebung ab.

Weniger sehen, um mehr zu erkennen.

»Warum bist du nicht runtergekommen? Wir haben auf dich gewartet«, sagt Jon vorwurfsvoll, ohne seine Suche mit der Taschenlampe zu unterbrechen. Er versucht Antonias Verhalten zu verstehen. Was nie einfach ist.

»Ich kann nicht schwimmen.«

»Das Wasser ist achtzig Zentimeter tief. Da drin kannst selbst du stehen.«

»Genug, um zu ertrinken. Du bist doch auch gestürzt.«

Jon presst die Lippen zusammen. Er wünschte, die Rote Königin hätte ihren Knappen nicht auf den Hintern fallen sehen, ausgerechnet ihn, der sie doch beschützen soll. Er wünschte auch, zu Hause vor einem Teller Kutteln nach baskischer Art zu sitzen. Und dass der junge Mann, mit dem er auf Grindr geflirtet hat, endlich bereit wäre, sich mit ihm zu treffen. Den Weltfrieden wünscht er sich auch.

Wie sagt amatxo immer: Du beißt die Zähne zusammen und tanzt.

Das muss er mit Antonia machen. Mit ihr tanzen. Wenn auch nach ihrer Pfeife.

»Ist gar nicht typisch für dich, dem Tatort fern zu bleiben.«

»Manchmal sehe ich aus der Distanz besser«, erwidert Antonia.

Aus dem Augenwinkel erkennt Inspector Gutiérrez die ersten Symptome dafür, dass ihr außergewöhnlicher Verstand schneller arbeitet, als gut für ihn ist. Er hat inzwischen gelernt, ihre Körpersprache zu interpretieren. Die eigenwillige Starre von Schultern und Hals. Die abgehackte Atmung. Die eine Oktave tiefere Stimme. Die Finger, die sich öffnen und schließen, ohne dass sie es merkt.

Jon greift in seine Jackentasche und tastet nach der vertrauten Pillendose. Aber er holt sie nicht heraus. Stattdessen geht er in die Hocke und untersucht weiter das Brückengeländer. Zentimeter für Zentimeter.

Nein.

Erst, wenn sie darum bittet.

Es bleibt ihm keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn er hat etwas entdeckt. Einen braunen, getrockneten Fleck.

»Schau mal hier.«

Antonia kommt näher. Jetzt hocken beide unter dem Brückengeländer und schauen nach oben.

»Ist es das, was du suchst?«, fragt Jon.

Antonia blinzelt zweimal. Auch so ein Zeichen, das Jon zu lesen gelernt hat. Es ist, als würdest du die Festplatte eines Laptops summen hören, wenn eine Information gesucht wird.

»Gut möglich. Der Fleck könnte darauf hinweisen, dass der Mörder das Opfer hier runtergeworfen hat.«

Vom anderen Brückenende kommt Aguado mit dem nötigen Werkzeug angelaufen, um die Arbeit fortzusetzen. Beide richten sich auf, um ihr Platz zu machen, und schalten die Taschenlampen aus.

»Du willst dich nicht verpflichtet fühlen, stimmt’s? Das ist es.«

Antonia nickt in die Dunkelheit.

»Ich will sie nicht sehen. Nicht, wenn sie es nicht ist.«

Jon weiß aus eigener Erfahrung, dass der anklagende Blick eines Toten dir manchmal Versprechungen entlockt, die du nicht einhalten kannst. Das ist Antonia vor sieben Monaten mit einem verbluteten Jugendlichen in einer einsamen Villa passiert. Sie hat ihm etwas versprochen, das dem Versprechen zuwiderlief, das sie ihrem Mann Marcos gegeben hatte: dass sie nie wieder etwas täte, was sie beide in Gefahr brächte. Beide Versprechen hat sie gebrochen.

»Ich weiß auch, wie es ist, ihnen in die Augen zu schauen, Mädchen. Aber in diesem Fall brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Die Augen haben die Fische gefressen.«

»Ich sehe nicht, warum ich mir deshalb weniger Sorgen machen sollte«, sagt Antonia, die auf Sarkasmus reagiert wie Superman auf Kugeln. »Das verringert nur die Möglichkeit einer Identifizierung.«

Jons Antwort lässt auf sich warten. Denn gleich muss er Antonia sagen, was Mentor ihm aufgetragen hat, und das wird ihr überhaupt nicht gefallen.

Lola

Einkaufszentrum Paraíso, Marbella

Lola Moreno überlebt aufgrund einer Ansammlung von Zufällen. Der erste: Der Kinderwagen, den sie sich im Schaufenster von Prenatal anschaut, ist dunkelblau. Wäre er heller gewesen, hätte sich in der Scheibe nicht die Pistole gespiegelt, die der Mann hinter ihr auf sie gerichtet hat. Wäre sie nicht die Frau eines gewissen Mannes – und hätte sie nicht gewusst, dass in ihrem Leben ein Mord durchaus möglich ist –, hätte sie wahrscheinlich nicht so schnell reagiert.

Statt wie angewurzelt stehen zu bleiben, sich umzudrehen und den Angreifer zu stellen, wirft sich Lola gerade noch rechtzeitig zu Boden, bevor die drei Makarow-Kugeln das Schaufenster durchschlagen und das Verdeck des Kinderwagens zerfetzen.

Sie überlebt … fürs Erste. Kurz währt die Freude im Haus des Armen, sagt ihre Mutter immer. Lola Moreno, die eine Jeans von Balmain, einen weichen Kaschmirpullover und eine Tasche von Prada trägt, ist nicht wirklich arm.

Nicht arm an Geld.

Arm an Zeit, aber das ist ein anderes Thema.

Dreißig Kilo Glassplitter gehen über Lola nieder, die sich mit beiden Händen den Nacken schützt und hofft, dass sich Tole um die Sache kümmert. Dafür wird er schließlich bezahlt, und zwar sehr gut.

(Lola schreit diesbezüglich etwas, aber das ist nicht zu hören.)

Anatoly Oleg Pastuschenko verdient gut. So gut, dass er es sich erlauben kann, ein Starbucks-Junkie zu sein. Um wach zu bleiben. Das Problem ist, dass die achtzehn Löffel Zucker eines jeden Frappuccino Venti ihn träge und sorglos werden lassen. Dick an Reflexen, sagt Yuri, der manchmal höchst passend zu den falschen Ausdrücken greift.

Ein Riesenbecher in der Hand, mit der er die Pistole ziehen soll, ist ein Hindernis für einen Bodyguard, vor allem, wenn er mit der anderen Hand gerade auf seinem Smartphone nachschaut, wie am Abend Spartak gespielt hat. So schnell du beides auch fallen lässt, der bewaffnete Mörder hat sich schneller zu dir umgedreht, als du die Pistole ziehen kannst.

Und vier der fünf Kugeln kriegt Tole ab.

Eine ins Bein, als der Mörder das erste Mal, fast ohne zu zielen, abdrückt. Die schmerzt am meisten.

Die zweite und dritte reißen zwei Löcher in die schwarze Jacke und landen im linken Lungenflügel und im Arm, den es zerfetzt. In den sechs Sekunden, die er noch lebt, wird es Tole sehr schwerfallen, zu atmen und gegen die Verletzungen anzukämpfen. Diese beiden Kugeln spürt er jedoch nicht. Das Adrenalin und der Schmerz des ersten Einschusses lassen es nicht zu.

Zwischen der dritten und vierten Kugel gelingt es Tole, die Waffe zu ziehen. Er schießt einmal, die Kugel streift den Arm des Mörders zwar nur, bewirkt aber, dass er nicht mehr richtig zielen kann. Die vierte Kugel durchschlägt ein Plakat an der Wand und rollt harmlos unter dem Glasgeländer hindurch eine Etage tiefer. Aus der dringen Schreie und Schritte von Menschen herauf, die die Schüsse gehört haben. Am nächsten Morgen wird ein gelangweilter Putztrupp die Kugel unbemerkt mit den Scherben wegfegen.

Die fünfte Kugel – die ihn tötet – reißt ein kreisrundes Loch in Toles linke Augenbraue, gräbt eine Furche in sein Gehirn, verliert an Wucht, weil die Hirnmasse sie ausbremst, und bleibt stecken, bevor sie den Schädelknochen erreicht.

Er bricht zusammen.

Lola hört auf zu schreien, als sie sieht, wie Tole nur wenige Zentimeter entfernt mit dem Gesicht auf dem Boden aufschlägt, in einer Pfütze aus Frappuccino. Eine scharlachrote Blase bildet sich unter seinen blutigen Lippen. Der freundliche und loyale Blick des Chauffeurs und Bodyguards, den sie seit sechs Jahren jeden Morgen im Rückspiegel gesehen hat, drückt jetzt Verblüffung und Verständnislosigkeit aus. Tole stirbt mit siebenundvierzig Jahren, ohne etwas Besonderes in seinem Leben geleistet oder sich einen seiner Träume erfüllt zu haben.

Dieser Gedanke geht Lola jetzt natürlich nicht durch den Kopf. Auch später nicht, als sie mit bloßen, blutenden Füßen den Parkplatz des Einkaufszentrums überquert, um zu überleben. Das wird er erst am Abend, während sie sich in einer Toilette zusammenkauert und – zugedeckt mit einer gestohlenen Jacke und zitternd vor Angst – weinen möchte, was ihr aber nicht gelingen will. Die Blase auf Toles Lippen platzt und sprüht feine Blut- und Speicheltropfen in Lolas Gesicht. Und das löst immensen Stress bei ihr aus – mehr als die Schüsse, mehr als das dringende Bedürfnis, ihr ungeborenes Kind zu schützen. Diese Blase, die bei Toles letztem Atemzug geplatzt ist.

Wenn neidische Menschen Lola aus einem Restaurant oder einem Modegeschäft kommen sehen, stoßen sie sich für gewöhnlich gegenseitig an. Wenn die Ellenbogenstöße von spanischen Frauen stammen, heißt das: Glamourgirl. Wenn sie von Engländerinnen oder Russinnen stammen: Trophäe.

Es stimmt, Lola hat mehr Zeit als andere Frauen Anfang dreißig (Lola zufolge ist sie in ihren späten Zwanzigern), um ins Fitnessstudio zu gehen. Und das hilft ihr zu überleben, weil:

sie einen burpee macht, wobei sie die Hände auf dem Boden abstützt, die Glassplitter abschüttelt und mit gerecktem Po und gestreckten Beinen nach oben schießt (Zumba, mittwochs von 11 Uhr bis 11:45 Uhr).es ihr gelingt, mit einem Hechtsprung über Toles Körper zu setzen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren (Body Balance, dienstags von 12:15 Uhr bis 13 Uhr).sie dem Mörder einen doppelten Ellenbogenhaken auf den Wangenknochen verpasst (Cardio-Boxen, montags und freitags um 10 Uhr, ihr Lieblingskurs).

Der doppelte Ellenbogenhaken trifft – weil Lola ein wenig strauchelt – rein zufällig zweimal, aber nicht sehr kräftig. Lola ist groß. Ein Meter fünfundsiebzig. Aber sie hat in ihrem Leben noch keinen richtigen Schlag ausgeteilt, und das mit dem Cardio-Boxen dient lediglich dazu, die Pomuskeln einer Hausfrau zu stärken, nicht, um Wangenknochen zu brechen. Obwohl der Mörder irritiert zurückweicht.

Kurz verrutscht auch das Tuch, das er vor dem Mund trägt.

Lola erkennt ihn in Sekundenschnelle.

Eine ewige Sekunde, in der ihr klar wird, dass sie in der Scheiße steckt.

Was für ein Schlamassel, denkt sie.

Wenn sich unser Gehirn einer Bedrohung ausgesetzt sieht, sondert das Nebennierenmark eine Ladung Katecholamine in den Blutkreislauf ab, was uns augenblicklich die nötige Energie zum Kämpfen oder Fliehen verleiht. Gekämpft hat Lola schon – die beiden schwachen Ellenbogenhaken waren das armselige Ergebnis. Jetzt verlangt die Angst von ihr zu fliehen.

Beim Aufrichten verliert sie eine Miu-Miu-Sandale. Als sie sich entsetzt umdreht, rutscht sie auf den Glasscherben aus und stürzt längelang zu Boden. Auf die Schnauze fliegen, sagt man in Marbella. Beim Versuch aufzustehen verliert sie die zweite Sandale, Glassplitter bohren sich in ihre Fußsohlen. Sie ignoriert den Schmerz, weil sie viel zu große Angst hat, rappelt sich auf und rennt zum Notausgang, wobei sie für den Mörder eine perfekte Zielscheibe abgibt.

Der Mörder hat sich von den Schlägen ins Gesicht erholt, zielt und drückt ab. Der rosafarbene Pullover ist auf kurze Distanz ein leichtes Ziel, aber um mit einer Pistole schießen zu können, sollten auch Kugeln im Lager stecken. In das einer Makarow passen nur acht. Drei auf die Scheibe, vier in Toles Körper, eine ins Untergeschoss. Weshalb statt des erwarteten peng, peng, peng nur ein harmloses klick, klick, klick zu hören ist. Der Mörder flucht – er ist an Waffen mit mehr Munition gewöhnt – und holt ein neues Magazin aus der Jackentasche, das er nicht zu benötigen glaubte. Er kämpft mit dem Pistolenschlitten und kann das Magazin schließlich einlegen, aber es bleibt ihm keine Zeit mehr, auf den rosa Pullover in der Ferne zu schießen, weil es hinter ihm dröhnt:

»Hände hoch!«

Mit hochgezogenen Augenbrauen – er denkt jetzt bestimmt: Echt? Hände hoch? Echt? – dreht der Mörder sich um. Der Wachmann vom Juweliergeschäft Chocrón – Revolver in der Hand, Schnurrbart, Bierbauch – ist aus dem Laden gekommen und zielt mit seiner Waffe auf ihn.

Der Mörder gibt ihm keine Chance. Zwei Schüsse in die Brust, einen in den Kopf. Es bleiben ihm noch fünf Kugeln. Noch bevor die Knie des Wachmannes den Boden berühren, wirbelt der Mörder herum und drückt ab, doch die vierte Kugel landet im Türrahmen des Notausgangs, dessen Tür bereits hinter Lola zugefallen ist. Weshalb sie seinen frustrierten Aufschrei nicht mehr hört.

Aber Lola ist noch nicht in Sicherheit, noch nicht.

Nicht annähernd.

4 Ein Videotelefonat

Antonia ist schlecht gelaunt, was Großmutter Scott nicht entgeht.

»Du hast ausgesprochen schlechte Laune, Mädchen. Ich merke das sofort«, sagt sie.

Sie sitzt in der Küche vor ihrem iPad und streicht sich Butter und Marmelade auf ein Toastbrot. Die Marmelade aus roten Früchten, selbst gemacht mit viel Gelierzucker, scheint über den Monitor zu laufen. Antonia verzichtet darauf, sie daran zu erinnern, dass sie keinen Zucker essen darf, auch kein Fett. Großmutter Scott würde sowieso nur auf ihr Alter verweisen. Nächsten Monat wird sie vierundneunzig. Frisch wie eine Rose.

Nein, Antonia sagt nichts zu dem Toastbrot. Sie hat längst aufgehört, Zuckerhaushalt und Cholesterinwerte ihrer Großmutter zu kontrollieren. Denn in Wirklichkeit stört sie nur, dass die alte Frau sich vollstopfen kann, während sie jede Kalorie berechnen muss. Obwohl nur sehr Süßes die Mauer der Anosmie durchdringen kann, haben sich Süßspeisen für sie erledigt.

Kummerspeck.

Ein deutsches Wort, das besagt: Wenn du unglücklich bist, suchst du Trost im Essen.

Seit sie nach sieben Monaten Auszeit wieder zu arbeiten begonnen hat, ist sie bemüht, sich nicht gehen zu lassen. Das exzessive Fastfood-Essen der letzten dreieinhalb Jahre zu kompensieren. Ein Toastbrot wie dieses würde sich direkt auf ihrem Po ablagern, sogar in Scheibenform.

Deshalb sitzt sie in ihrer Mansardenwohnung in Lavapiés und trinkt eine Tasse Nespresso. Voller Neid.

»War keine gute Nacht«, lautet ihre knappe Antwort.

Die Großmutter kneift die Augen zusammen und nähert ihr Gesicht dem Monitor. Ihr ist gerade etwas aufgefallen.

»Rufst du von zu Hause an?«

Antonia legt das iPad auf den Tisch und schlägt die Hände vors Gesicht.

»Ich bin zum Schlafen hergekommen. Es war sinnlos, so spät noch ins Krankenhaus zu fahren.«

Sie sagt ihr nicht, dass es schon die vierte Nacht ist, die sie zu Hause geschlafen hat. Dass sie immer weniger Zeit bei Marcos verbringt.

Sie sagt ihr nicht, dass sie eine Luftmatratze gekauft hat, die sie jeden Abend aufpumpt und aus der sie jeden Morgen die Luft rauslässt. Um sie dann in den Schrank zu stopfen, damit das Tageslicht nicht Zeuge ihrer Schande wird.

Sie sagt ihr nicht, dass es ihr immer schwerer fällt, ihren Mann zu sehen und seine Hand zu ergreifen, um neben ihm einzuschlafen. Dass seine gefühllose und eingefallene Gestalt, seine immer rauer und kälter werdende Haut eine unerträgliche Anklage sind. Dass ihr Mitgefühl für Marcos, ihre Schuld und ihr Kummer sich in Aversion verwandelt haben.

Das Mitgefühl für das Unglück anderer hat Grenzen. Wenn diese Grenze überschritten ist, beginnst du das Unglück anderer als eine Art Böswilligkeit zu empfinden, deren Opfer du wirst.

Auch das spricht sie nicht aus. Möglich, dass Antonia Scott das intelligenteste Wesen auf Erden ist. Aber das gibt ihr weder das Wissen, was sie tun soll, noch die Kraft, das auszuhalten.

Antonia spricht es nicht aus, aber ihre Großmutter muss es auch gar nicht hören.

Sie weiß es.

»Gestern war der Gasinstallateur zur jährlichen Wartung da. Ein stattlicher Bursche.«

Nur Großmutter Scott ist imstande, dem englischen Begriff nice ol’chap eine wollüstige Note zu geben, selbst mit Gebiss.

»Mein Gott, Großmutter, du bist vierzig Jahre älter als er.«

»Achtunddreißig, Schätzchen. Wenn du ihn nur sehen könntest, was für ein Prachtbursche«, sagt sie und beißt in ihren Toast. »Und Witwer, der Arme. Vielleicht lade ich ihn mal zum Essen ein, zu Lamm mit Minze.«

Großmutter Scott glaubt, ihr Lamm mit Minze habe unwiderstehliche aphrodisierende Wirkung. Antonia regt sich nicht mehr auf, sie weiß, dass sie selbst noch mit dem Bestatter flirten wird, wenn er sie in den Sarg legt.

»Worauf ich eigentlich hinauswollte …«, fährt sie fort.

»Ich weiß genau, worauf du eigentlich hinauswolltest«, fällt ihr Antonia ins Wort. »Ich brauche keinen Mann in meinem Leben.«

»Blödsinn. Schau mal, was ich gerade lese. Es gibt da einen hochinteressanten Test.«

Die Großmutter hält eine Zeitschrift in die Kamera. Antonia kann neun der zwölf Buchstaben der Kopfzeile lesen. In Franklin-Gothic-Schrift und zartem Rosa. Die restlichen Buchstaben werden von einer blonden Frau verdeckt. Antonia versteht nicht, wie sie noch lächeln kann, wenn sie zugleich an ihrem Daumen lutscht.

»Ist es an der Zeit, eine Stütze zu finden? Finde es anhand von fünfzig Fragen heraus.«

»Hast du vor, mich mit diesem albernen Trick zu quälen?«

»Plustere dich nicht so auf, Mädchen. Schau mal, die Frage drei …«

Antonia lässt die Großmutter reden, bis der auffällt, dass sie ihr gar nicht mehr zuhört.

»Also gut, was ist eigentlich los mit dir?«

Ihre Enkelin fängt an zu reden.

Sie erzählt von ihren Kommunikationsproblemen mit Jorge. Wie unerträglich es für sie ist, wie ihr Sohn sie anschaut, leicht misstrauisch, als ob er etwas erwarten würde, das Antonia nicht versteht, etwas, an das beide nicht gewöhnt sind.

Die Großmutter nickt, sagt aber nichts.

Antonia erzählt, wie sie sich bei ihrem komatösen Mann fühlt. Hierbei benutzt sie viele Ausflüchte. Im Sich-selbst-Belügen hat sie den schwarzen Gürtel, und wenn es darum geht, ihre Situation zu erklären, den weiß-gelben.

Die Großmutter nickt, sagt aber nichts.

Antonia reagiert verstimmt.

»Ich führe seit zehn Minuten Selbstgespräche.«

»Du bedauerst dich seit zehn Minuten selbst. Ich habe dich nicht zu einem weinerlichen Dummkopf erzogen. Wenn du weinen willst, dann tu es an Jons Schulter. Er wird dafür bezahlt, dich in seine muskulösen Arme zu schließen.«

»Ja«, murmelt Antonia, als sie sich von der giftigen Attacke der Großmutter erholt hat, die ihre gewohnte Offenheit diesmal mit dem Hammer auf sie niedergehen lässt. »Mit Jon läuft es nicht so gut. Er hilft mir auch mit Mentor nicht. Heute Nacht …«

»Oh, was bist du nur für ein Dickschädel«, poltert die Großmutter los. »Hör mir gut zu, Antonia Scott. Es gibt nur eine Lösung für deine Probleme, für alle. Lass es sein.«

Antonia blinzelt überrascht. Die alte Frau fährt fort.

»Du hast vor vielen Jahren einen Fehler gemacht. Es ist deine Schuld, dass Marcos gestorben ist.«

»Er ist nicht tot, Großmutter.«

»Wir beide wissen, was die Ärzte sagen. Wir beide wissen, dass du dich nur weiter an ihn klammerst, weil du dir deinen Fehler nicht eingestehen kannst. Aber dein Mann ist nicht mehr da. Darüber bist du krank geworden. Du leidest an Hochmut, das hat dich Jorge gekostet und deinen Vater genötigt, ihn dir wegzunehmen.«

Die Großmutter macht eine Pause und nimmt einen Schluck aus dem Glas auf dem Tisch. Es könnte Johannisbeersaft sein, aber wie Antonia sie kennt, ist es bestimmt eine andere Art Saft. Einer von denen, die im Eichenfass reifen.

»Da du nicht seit seiner Geburt mit ihm zusammen warst, hast du nie gelernt, eine Mutter zu sein. Vor allem die wichtigste Lektion. Wir Mütter machen es nie richtig, Mädchen. Was auch immer du tust, du machst es falsch. Und wenn er größer wird, gibt er dir die Schuld an allen seinen Problemen und Fehlern. So ist das. So sind wir.«

Antonia versteht den letzten Teil ganz genau. Schließlich gibt sie ihrem Vater auch an vielem die Schuld.

»So brutal, was?«

»Solange du dir nicht erlaubst, dich zu irren, wirst du weiter glauben, eine schlechte Mutter zu sein. Und deinen Mann im Stich gelassen zu haben. Dass du eine schlechte Ermittlerin bist, weil du einen Menschen nicht findest, den noch keiner gefunden hat. Du wirst dich festfahren und voller Angst sein. Dein Reich wird aus Isolation und Einsamkeit bestehen. Lass jetzt los.«

Antonia braucht ein paar Sekunden, bis ihr einfällt, wo sie diese Worte schon einmal gehört hat. Sie stammen aus einem Film, den Jorge sehen wollte, als das Jugendamt sie wieder zu ihm ließ. Ein ihr unverständlicher Film mit einem sprechenden Schneemann und einer Prinzessin, die es nicht schafft, sich zu befreien. Zwei Stunden ihres Lebens, für immer verloren.

»Hast du gerade Elsa zitiert, Großmutter?«

»Voller Stolz«, sagt die Großmutter und hebt ihr Glas, in dem eindeutig kein Johannisbeersaft ist.

Antonia schnaubt ungehalten, was ihren Pony hochflattern lässt. Ihr üblicherweise halblanges Haar reicht jetzt über die Schultern und benötigt dringend einen Schnitt. Nicht einmal dafür hatte sie Zeit.

»Ich glaube nicht, dass du dir wegen meiner Besessenheit Sorgen machen musst. Ich habe nur ein paar Stunden, bis Aguado den offiziellen Bericht schickt und Mentor bestätigt, was wir alle bereits wissen. Dass die Leiche aus dem Manzanares nicht Sandra Fajardo ist.«

»Ihr kennt noch nicht mal ihren richtigen Namen, stimmt’s?«

Antonia kann immer noch hören, was Sandra in dem finsteren Tunnel zu ihr gesagt hat. Diesen Satz hat sie noch nicht entschlüsselt.

Du, die sich an alles erinnert, erinnerst dich nicht daran, wem du wehgetan hast? Welche Narben dein Kampf gegen das Böse hinterlassen hat?

»Ich habe nichts, Großmutter. Alles im Fall Ezequiel war falsch. Das religiöse Drum und Dran, der raffinierte Modus Operandi … alles Lügen und Nebelkerzen. Und ich verstehe immer noch nicht, warum. Ich weiß nur, dass es mit White zu tun hat.«

Die Großmutter trinkt einen weiteren Schluck und schenkt ihr dann ein frommes Lächeln wie aus einer Bonbonwerbung. Sie bedauert kein bisschen, dass Antonia ihr Ziel aufgeben muss.

»Dieser Mann ist ein Irrer, Antonia.«

Nein, Großmutter, das ist er nicht. Er ist viel mehr. Warum hat ihn noch nie jemand zu Gesicht bekommen?, denkt Antonia.

Aber sie sagt nichts.

Sie möchte auflegen.

Sie möchte sich wieder drei Minuten lang im Schneidersitz auf den Wohnzimmerboden setzen. Noch nie hat sie das so dringend gebraucht.

»Weißt du schon, welchen Auftrag Mentor jetzt für dich hat?«

»Nein, weiß ich nicht«, sagt Antonia und schüttelt den Kopf. »Irgendeinen Blödsinn.«

»Mach ein freundlicheres Gesicht, Mädchen. Du wirst schon sehen, am Ende wird es dir guttun.«

Lola

Lola rennt die Treppen hinunter und erinnert sich dabei an eine wichtige Information.

Es sind immer zwei, wenn sie es auf jemanden abgesehen haben, es sind immer zwei.

Ein Gesprächsfetzen, den sie zufällig im Wohnzimmer ihres Hauses aufgeschnappt hat, als sie Aal-Blinis und Kissel in Schalen servierte und mit dem Lappen über den Tisch wischte. Gespräche, die im Laufe der Nacht lauter werden, wenn die Stimmen den laufenden Fernsehsender Perwy übertönen, den sie über die Parabolantenne auf dem Hausdach empfangen. Gefährliche und großmäulige Männer, die in ihrer Gegenwart angeben, als wäre sie gar nicht da. Yuris Muschi. Die kaum Russisch versteht. Die kann ruhig mithören.

Tatsächlich spricht sie die Sprache nicht besonders gut, obwohl sie sie schon seit sechs Jahren lernt, aber sie versteht fast alles. Zumindest genug, um mitzukriegen, wie einer der Kumpels – oder Geschäftspartner, was dasselbe ist, zumindest für Yuri – detailgenau beschrieb, wie Profikiller vorgehen, auch wenn sie sich nie vorstellen konnte, selbst einmal ins Visier eines solchen zu geraten.

Draußen warten ein Motorrad und ein Wagen. Ein öffentlicher Ort, bumm, bumm. Dann rennt der Schütze zum Wagen, während der auf dem Motorrad Schmiere steht und den Ausgang freihält. Dann gibt er Gas, brumm, brumm, und do swidanja. Undank ist der Welten Lohn. Russen lieben solche Redensarten.

Lola, die das Einkaufszentrum kennt wie ihre eigene Westentasche, weiß, wie sie es angestellt hätte. Sie hätte das Auto mit laufendem Motor auf dem Parkdeck abgestellt und wäre durch den Notausgang geflohen.

Was bedeutet, dass sie in die falsche Richtung flüchtet.

Ein Geräusch zwei Etagen höher bestätigt es. Um sich zu vergewissern, beugt sich Lola übers Treppengeländer. Der Schuss verfehlt sie nur um wenige Zentimeter. Die Detonation hallt in ihren Ohren und von den Betonwänden wider.

Lola verflucht sich und rennt weiter. Es bleiben keine Stufen, keine Möglichkeiten, kein Zufluchtsort mehr. Die Treppe endet vor einem Notausgang, der zur Rückseite des Einkaufszentrums führt.

Zum Parkplatz.

Hinter sich hört sie die schnellen Schritte des Mörders. Sie hat keine Zeit zu verlieren. Lola reißt die Tür auf, und da steht es, zehn Meter vor ihr quer auf der Fahrbahn.

Ein Auto mit laufendem Motor.

Lola hält nicht inne, um zu sehen, wer hinterm Lenkrad sitzt – das weiß sie schon –, sie rennt einfach weiter und versteckt sich zwischen den geparkten Autos. So früh sind es nicht viele – voll wird es in den Mittagstunden, wenn die Touristen erst essen gehen und anschließend bei Gucci und Valentino ihre Kreditkarten zum Glühen bringen. Also muss Lola geduckt zwischen den wenigen hindurchlaufen. Und ist sich vage bewusst, dass ihre Füße Blutspuren auf dem Boden hinterlassen.

Hinter sich hört sie, wie die Tür des Notausgangs geöffnet wird. Lola duckt sich hinter einen nagelneuen Prius, es gibt keine Autos mehr, hinter denen sie sich verstecken könnte. Das nächste steht erst drei Parkplätze weiter.

Sie bricht in Tränen aus. Krokodilstränen.

Als das Rückfenster des Prius in tausend Scherben zerspringt, ist Lola wie gelähmt und zittert vor Angst, ohne zu wissen, was sie tun soll. Sie stößt einen Schrei aus und wirft sich zu Boden. Sie kann den Mörder nicht sehen, sie kann zu keinem anderen Auto laufen. Ihre einzige Möglichkeit ist, unter den Prius zu kriechen. Sie robbt auf den Armen vorwärts und spürt an Händen und Ellenbogen – durch den zweihundert Euro teuren Pulli hindurch – klebriges Motorenöl.

Der Wagen verliert.

Lola auch. Die Schnitte in den Fußsohlen haben sie viel Blut gekostet, und sie hat am Morgen nicht gefrühstückt. Sie wollte nach dem Kauf des Kinderwagens einen Kaffee trinken gehen. Es heißt, es bringe Unglück, ihn so früh zu kaufen. Lola ist erst im dritten Monat. Mit weiter Kleidung sieht man es noch gar nicht. Aber sie möchte dieses Kind so sehr. Und sie ist so ungeduldig.

Es bringt Unglück.

Lola spürt, wie ihr Kopf leicht wird und die Sicht verschwimmt. Ihre Arme werden kraftlos, der Boden zieht mit aller Kraft an ihr. Er verspricht Frieden.

Nein, verdammt, ich darf jetzt nicht ohnmächtig werden.

Im tiefsten Innern wünscht sie sich eine Ohnmacht, damit sie die Schüsse nicht mehr hören muss. Ausblenden, Schluss, aus. Ganz einfach und schmerzlos.

Nein.

Sie richtet sich ein wenig auf. Mit Regen vermischtes Öl tropft auf ihre Wange, bildet einen irisierenden klebrigen Fleck und läuft ihr in den Mund. Es schmeckt süß.

Keine gute Süße.

Sie spuckt aus.

Und muss weiter. Sie kriecht zwischen den Wagen hindurch und sucht Schutz unter dem danebenstehenden, gerade noch rechtzeitig. Vor ihr stehen zwei Stiefel. Grobe schwarze Stiefel. Auf einem sind Blutflecken.

Die Fußspitze ist weniger als eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt.

Wenn er sich ein bisschen bewegt, tritt er mich.

Wenn er sich bückt, hat er mich.

Jemand weint für Lola, traurig und verhalten. Das ist natürlich sie selbst. Sie macht keinen Mucks, sie rührt sich nicht, aber sie weint verzweifelt, weil es so ungerecht ist, auf diese Weise zu sterben, gefangen unter einem Auto, schmutzig und allein.

Da ertönt eine Sirene. Nicht in der Ferne wie im Film, sondern ganz nah und sehr laut. Bestimmt in der Seitenstraße.

Die Stiefel verschwinden.

Eine Tür wird zugeschlagen, ein Wagen fährt los und verschwindet ebenfalls.

Lola sinkt wieder zu Boden – ein kurzes Ausruhen, denn sie kann nicht liegen bleiben, die Bedrohung ist noch nicht vorbei – und weint.

Sie kann nicht aufhören zu weinen, nicht einmal, als in ihrer Hosentasche das Handy vibriert.

Sie hatte ganz vergessen, dass sie es dabeihat.

Es ist eine Nachricht von Yuri.

Sie sind hinter mir her. Du weißt, was du zu tun hast.

Idiot. Hirnverbrannter Idiot, verdammter Versager, denkt Lola. Hätte sie ihren Mann vor sich, würde sie ihm die erst kürzlich in der Türkei eingepflanzten Haare einzeln herausreißen.

Jetzt erst warnst du mich? Jetzt erst?

5 Eile

Das Gute und das Schlechte an Bilbao?

Das Schlechte an Bilbao ist, dass es keine Lokale wie das Attack gibt. Wo man ein paar Stündchen herumlungern und beim Vögeln Anspannung und Genitalschmerz abbauen kann.

Das Gute an Bilbao ist, dass es keine Lokale wie das Attack gibt, das Jon zumeist trübsinnig verlässt, weil er sich noch einsamer fühlt als vorher.

Aber erleichtert, das muss auch gesagt werden.

Er will, dass der Junge von Grindr antwortet, aber nach ein paar Chats scheint er wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Dabei wirkte er so sympathisch. Und Inspector Gutiérrez, der notorisch monogam ist, möchte nicht zweimal in der Woche in den sauren Apfel beißen und Lust zum Weinen haben, wie Joaquín Sabina sagen würde. Er will richtige Liebe, findet sie aber nicht.

Jon knöpft seine Jacke zu, das Haar ist noch tropfnass von der Sauna. Den Mantel zieht er nicht an, denn er braucht nur sechs Minuten bis nach Hause. Das Schicksal hat ihn in die Nähe der Versuchung verschlagen.

Unverwüstlicher Optimist, der er ist, schaltet Jon das Handy ein. Im Attack muss man aus bekannten Gründen die Handys zusammen mit allem anderen an der Garderobe abgeben. Vielleicht hat er Glück, und es gibt eine Nachricht von dem Burschen.

Stattdessen ploppen fünf entgangene Anrufe von Mentor auf.

Sechs, weil er es gerade wieder versucht.

»Es ist zwei Uhr nachts«, meldet sich Jon.

»Ich hoffe, Sie haben Scott vorbereitet, wie ich Sie gebeten hatte.«

Jon seufzt.

»Sie hat schon Aguados Bericht.«

»Wie zu befürchten stand, ist die Frau nicht Sandra Fajardo, weshalb ich Sie von dem Fall abziehe.«

»Und das konnte nicht bis morgen warten?«

»Nein, denn es gibt etwas Dringenderes. Sie müssen nach Marbella.«

»Na schön, gleich morgen früh …«

»Jetzt sofort, Inspector. Glauben Sie mir, es ist sehr dringend. Und eine ganz große Sache. Holen Sie Scott ab und fahren Sie los. Die Einzelheiten erkläre ich Ihnen unterwegs.«

Jon reißt den Mund auf. Oder er gähnt, das ist schwer zu sagen. Es ist die zweite Nacht, in der er nicht schlafen kann. Letzte Nacht hat er Leichen geangelt. In dieser hat er seine sexuellen Bedürfnisse befriedigt. Und er ist nicht mehr der Jüngste. Weshalb der Auftrag nur verhaltene Begeisterung bei ihm auslöst.

»Sechs Stunden Fahrt.«

»Mit diesem Auto vier, wenn Sie das Gaspedal durchtreten. Und seien Sie vorsichtig.«

»Haben Sie mich gerade im selben Atemzug gebeten, das Gaspedal durchzutreten und vorsichtig zu sein?«

»Das ist nicht unvereinbar.«

»Ich schlafe im Stehen.«

»Wenn Sie eine kleine Aufmunterung brauchen, schauen Sie ins Handschuhfach.«

Das fehlte gerade noch. Zwei Tablettensüchtige im Team, zum selben Preis.

»Hören Sie, mein Körper ist mir heilig.«

»Das kann man bei einem Cholesterinwert von 282 nicht gerade behaupten, Inspector.«

»Ich dachte, Patientenakten seien vertraulich.«

»Sie sind ziemlich vertraulich. Bauen Sie mir keinen Unfall«, befiehlt Mentor und legt auf.

So sitzt Antonia eine halbe Stunde später auf dem Beifahrersitz eines Audi A8. Schwarz metallic, getönte Scheiben, Alufelgen, etwas über hunderttausend Euro. Jon hat ihn »Königinmobil« getauft, aber diesen Spitznamen findet nur er witzig.

»Lass mich fahren, wenn du müde bist«, schlägt Antonia mit der Stimme eines Unschuldslammes vor.

Es ist der dritte Wagen, den sie von Mentor bekommen haben, nachdem Antonia den ersten bei einer Verfolgungsjagd mit über 250 km/h zu Schrott gefahren hat und Jon mit dem zweiten aus reiner Not den Rolls-Royce von Antonias Vater rammte. Aus Jons Sicht war das ebenfalls ihre Schuld.

Ein Grund, weshalb Jon beabsichtigt, Antonia bis ins zweiundzwanzigste Jahrtausend nicht mehr ans Lenkrad zu lassen.

»Ruh dich aus, Schätzchen. Ruh dich aus.«

Irritiert lehnt sich Antonia zurück. Sie schließt die Augen und gibt vor zu schlafen.

Jon schaut auf die Uhr und denkt an seine Mutter. Wie es ihr wohl geht. Sie ist schon einundsiebzig. Und der Bingo-Salon Arizona ist geschlossen. Was sie jetzt wohl zur Unterhaltung macht? Die Arme, so ganz allein.

So ganz allein, natürlich, sie wollte es ja so. Entgegen aller Prognosen wollte sie ihre Wohnung in Bilbao nicht verlassen, um zu ihrem Sohn nach Madrid zu ziehen. Warum soll sie in ihrem Alter denn noch umziehen. Geh ruhig, wenn du willst, dir ist es ja egal, wenn ich hier allein sterbe. Aber nein, Mutter, die Pflicht ruft. Aber sie kam nicht mit. Sie lässt ihn seine Hemden jetzt einfach selbst bügeln, zum ersten Mal in dreiundvierzig Jahren. Na ja, eigentlich werden sie in der Reinigung gebügelt. Klar, bei diesem Monatsgehalt, das ihm Mentor zahlt. Fast fünfstellig. Aber er vermisst sie wirklich sehr.

Ich muss sie anrufen.

Wer anruft – als sie auf der A4 in Höhe von Valdemoro sind –, ist Mentor. Auf Antonias iPad. Über FaceTime.

Sie stellt das Tablet auf das Armaturenbrett und nimmt den Anruf entgegen.

»Sie werden sich fragen, warum ich Sie mitten in der Nacht nach Marbella schicke.«

Die Webcam unterstreicht Mentors Geheimratsecken und Tränensäcke. Er wirkt, als wäre er schlagartig um zehn Jahre gealtert. Und er dampft noch immer.

»Um ehrlich zu sein, nein. Es gibt nichts Besseres, als sechshundert Kilometer zu fahren, um sich die Beine zu vertreten.«

»Immer schön auf die Fahrbahn achten, Inspector.«

»Und dampfen Sie nicht direkt in die Kamera, man sieht ja gar nichts.«

»Es gab mehrere Fälle für die Rote Königin, seit wir die Suche nach Fajardo aufgegeben haben«, fährt Mentor ungerührt fort. »Ich habe sie ablehnen oder verschieben müssen. Jetzt gibt es eine Gelegenheit, wie wir sie schon lange nicht mehr hatten.«

Mentor hält ein ausgedrucktes Foto in die Kamera. Es scheint aus einem Reisepass zu stammen. Ein junger Mann, dunkelhaarig, ungefähr fünfunddreißig Jahre alt. Breite Nase. Kurzes Haar. Volle Lippen.

Der wäre was für mich, denkt Jon.

»So ungefähr sah Yuri Woronin bis vor ein paar Tagen aus.«

Mentor hält ein weiteres Foto hoch.

»So sieht er jetzt aus.«