Der Himmel über Sylt: Lara - Lina Hansson - E-Book

Der Himmel über Sylt: Lara E-Book

Lina Hansson

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Beschreibung

Seit einem Jahr dreht sich Laras Leben um die siebenjährige Emily. Auf Sylt hat sich die Lage nur scheinbar entspannt, nach Max' überraschendem Geständnis ist alles noch komplizierter als zuvor. Daher plant Lara die Rückkehr nach Hamburg, doch Emily träumt davon, für immer auf Sylt zu bleiben. Lara sieht sie sich nicht in der Lage, diesen Wunsch zu erfüllen. Das reale Leben ist nun mal nicht immer mit den Träumen eines Kindes zu vereinbaren. Außerdem ist völlig offen, wie sich die Beziehung zu Max weiterentwickeln soll. Vor lauter Bemühen, die richtigen Entscheidungen zu treffen, vergisst Lara ganz darauf, auf ihre Gefühle zu achten.

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Der Himmel über Sylt

BAND 2

LINA HANSSON

Copyright © 2022 Lina Hansson

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Bereitstellung.

© Covergestaltung: Laura Newman – design.lauranewman.de unter Verwendung von Motiven: travnikovstudio / 123RF.com

Korrektorat: Sandra Linke (wortnoergler.de)

Selbstverlag: Pia Prenner BA, Am Bahndamm 9, 7000 Eisenstadt

Inhalt

1. Kapitel 1

2. Kapitel 2

3. Kapitel 3

4. Kapitel 4

5. Kapitel 5

6. Kapitel 6

7. Kapitel 7

8. Kapitel 8

9. Kapitel 9

10. Kapitel 10

11. Kapitel 11

12. Kapitel 12

13. Kapitel 13

14. Kapitel 14

15. Kapitel 15

16. Kapitel 16

17. Kapitel 17

18. Kapitel 18

19. Kapitel 19

20. Kapitel 20

21. Kapitel 21

Epilog

Linas Liebesbriefe

Über die Autorin

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Kapitel 1

Max:

Ich rufe dich gleich an. Bitte leg nicht auf, wenn du meine Stimme hörst! Es ist wichtig! 12:52

Lara las die Nachricht von Max und hatte sofort ein ungutes Gefühl. Wenn ihr Smartphone in den letzten Tagen sein Foto angezeigt hatte, war jedes Mal Emily dran gewesen. So hatten sie es vereinbart. Max akzeptierte, dass Lara Abstand brauchte, aber ihre gemeinsame siebenjährige Halbschwester sollte nicht darunter leiden.

Was veranlasste ihn dazu, ihren Deal zu brechen? Wollte er sie bitten, Emily abzuholen, weil er nicht allein mit ihr zurechtkam?

Lara presste verbissen die Lippen zusammen. Was sollte sie ihm darauf antworten? Dass ihre Suche nach einem Job und einer Wohnung unverändert erfolglos verlief und sie noch immer nicht wusste, wie es mit ihr und Emily weitergehen sollte? Sie war nicht mehr so verzweifelt wie an dem Tag, als sie zu ihm gefahren war und ihn um Hilfe gebeten hatte, doch unterm Strich war ihre Situation dieselbe wie vor dreieinhalb Wochen. Mit dem Unterschied, dass die Sommerferien mittlerweile zur Hälfte verstrichen waren, was den Druck zunehmend erhöhte. Es blieb nicht mehr viel Zeit, bis auch Emily nach Hamburg – in ihr altes Leben – zurückkehren musste. Möglicherweise in ein Leben ohne Max.

Bei dem Gedanken horchte Lara in sich hinein und versuchte, ihre Emotionen zu erkunden. Aber obwohl sie sich diese Auszeit von der Verantwortung für Emily genommen hatte, um herauszufinden, was all die Dinge, die Max ihr gestanden hatte, für sie bedeuteten, konnte sie ihr Inneres nach wie vor nicht beschreiben, geschweige denn erklären. Sie war völlig überfordert.

Max hatte aber auch den denkbar schlechtesten Zeitpunkt gewählt, um ihr zu verraten, warum er sie vor zehn Jahren einfach zurückgelassen hatte. Am ersten Jahrestag des Unfalls, bei dem sein Vater und ihre Mutter ums Leben gekommen waren, hatte Lara mit ihrer Trauer schon genug zu tun gehabt. Dass ihr Stiefbruder damals als Teenager in sie verliebt gewesen war – und möglicherweise immer noch so empfand –, war mehr, als sie in dieser Situation verkraften konnte. Deshalb hatte sie mitten in der Nacht ihre Sachen gepackt, Sylt verlassen und war in Hamburg bei ihrem Papa untergekrochen.

Emily in Max’ Obhut zu lassen, war ihr in dem Moment nur fair erschienen, denn immerhin hatte er sie ein Jahr lang völlig im Stich gelassen. Hätte er Lara wenigstens einen Teil der Last abgenommen – es wäre ihr bestimmt gelungen, die Kontrolle über ihr Leben zu behalten, ihren Job nicht zu verlieren und für Emily den sicheren Hafen zu schaffen, den sie ihr bieten wollte.

Lara kämpfte gegen den Ärger an, der in ihr aufstieg. Sie wusste doch inzwischen, dass Max sie nicht aus Bosheit allein gelassen hatte. Fast ein Jahr lang hatte sie gedacht, er wäre zu sehr mit seinem Restaurant und seiner Fernsehshow beschäftigt, um sich um die Menschen zu kümmern, die noch von seiner Familie übrig waren. Die Wahrheit war jedoch, dass er von ihnen dreien das größte Wrack war. Diese Auszeit auf Sylt hatte er sich nicht spaßeshalber genommen, sondern weil sein Arzt ihn dazu verdonnert hatte.

Verwundert betrachtete Lara das Display ihres Smartphones, das auch Minuten nach dem Eintreffen der SMS keinen Laut von sich gab. Erst da fiel ihr auf, dass sie den Text nur im Sperrbildschirm gelesen hatte. Möglicherweise wartete Max darauf, dass sich die Häkchen blau färbten, bevor er es wagte, ihre Nummer zu wählen.

Zögernd rief sie die Kurznachricht noch einmal auf, und Sekunden später fing das Gerät an zu vibrieren.

»Hallo?«, meldete sie sich vorsichtig.

»Hallo Lara.« Seine Stimme klang angespannt und verursachte ein Herzklopfen, von dem sie nicht wusste, ob es von der Furcht vor schlechten Nachrichten kam oder von der Nervosität, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie nach seinem Geständnis mit ihm umgehen sollte.

»Sitzt du?«, erkundigte er sich.

Laras Herzschlag beschleunigte sich, doch nun war sie sich sicher, dass er von blanker Angst angetrieben wurde.

»Was ist passiert?«

Eine Sekunde verging, eine zweite, eine dritte.

Nein, nein, nein, es durfte einfach nicht sein, dass Max sich gerade in derselben schrecklichen Lage befand wie Lara vor einem Jahr, als sie ihm von dem tragischen Unfall berichten musste. Sie durchlebte all die Emotionen noch einmal, ehe Max endlich sagte: »Emily ist verschwunden.«

Verschwunden. Nicht tot. Sie durfte nicht tot sein.

»Seit wann?«

»Seit dem Vormittag. Vier Stunden ungefähr.« Während er weitersprach, sprang Lara auf und fing an, durch die kleine Wohnung ihres Vaters zu laufen und hektisch ihre Sachen einzusammeln. Sie musste nach Sylt. Sofort.

»Genau weiß ich es nicht. Als ich es bemerkt habe, kann sie zehn Minuten oder eine Stunde fort gewesen sein. Ich dachte, sie wäre mit dem Tablet in ihrem Zimmer und würde sich eine Serie anschauen. Ich war im Wohnzimmer, in einer Videokonferenz mit meinem Team. Sie muss sich aus dem Haus geschlichen haben.«

»Warst du bei den Andersens?«, fragte Lara, obwohl die Familie von Emilys Freundin Mia bestimmt seine erste Anlaufstelle gewesen war.

»Wir haben ihren gesamten Hof abgesucht«, fuhr Max unbeirrt fort. »Als ich Joachim angerufen habe, waren Mia und Teresa gar nicht zuhause. Deshalb glaubten wir zuerst, Em würde sich vielleicht bei den Weiden herumtreiben, während sie darauf wartet, dass sie heimkommen. Aber sie ist nicht aufgetaucht. Mia weiß auch nicht, wo sie ist.«

»Und jetzt?« Lara hielt den Atem an, weil sie die vage Ahnung hatte, dass die richtig schlechte Nachricht erst kommen würde.

»Jetzt ist Joachim dabei, eine Suchaktion zu organisieren. Er mobilisiert das ganze Dorf. Wir werden beide Strände ablaufen. Normalerweise würde ich sagen, sie ist auf unserer Seite, aber so weit ist es bis zum anderen Ufer nicht, dass sie das nicht allein schaffen würde.«

Die Panik lähmte Lara völlig, und sie presste nur mit Mühe die Frage hervor: »Wie ist der Wasserstand?«

Seine Antwort bestätigte ihre schlimmste Befürchtung: »Ansteigend.«

»Du glaubst doch nicht, dass …« Lara brachte den Satz nicht zu Ende. War Emily so unvorsichtig, sich ohne Begleitung eines Erwachsenen ins Watt zu wagen? Bisher war sie nur einmal hinausgewandert – zusammen mit Lara und Max. Was, wenn sie diesmal auf eigene Faust losgestapft war?

»Wir tun unser Bestes, sie so schnell wie möglich zu finden«, versicherte Max.

»Ich komme sofort. Ich nehme die Bahn nach Westerland.« Zum Glück wohnte Laras Vater nur einen Katzensprung vom Bahnhof Altona entfernt, von wo aus sie direkt mit dem Zug nach Sylt fahren konnte.

»Okay.«

»Bitte halt mich auf dem Laufenden!«

»Werde ich.« Er hörte sich an, als hätte ihn dieses Telefonat seine ganze Kraft gekostet. Sie dagegen spürte das Adrenalin in jeder Faser ihres Körpers und wollte nur eines: sich so schnell wie möglich auf den Weg machen.

»Ich muss packen. Bis später!«

Ohne auf eine Verabschiedung von ihm zu warten, legte Lara auf und steckte das Smartphone in ihre Hosentasche. Sie brauchte beide Hände, um ihre Habseligkeiten in den Rucksack zu stopfen, mit dem sie aus dem Haus auf Sylt geschlichen war, das Max für seine Auszeit gemietet hatte.

Hatte sie Emily dadurch auf die Idee gebracht, sich heimlich davonzumachen? Lara machte Max keinen Vorwurf, dass er eine Stunde lang nicht nach Emily gesehen hatte, während er mit beruflichen Angelegenheiten beschäftigt gewesen war. Er hatte seinem besten Freund und Arzt versprochen, für eine Weile kürzerzutreten, aber er besaß immer noch ein Restaurant, das er leiten musste, auch wenn er schon seit Wochen nicht mehr in der Küche stand. Sie hätte an seiner Stelle genauso gehandelt und Emily erlaubt, am Tablet zu spielen oder Serien zu streamen.

Bei sich selbst suchte Lara dagegen sehr wohl die Schuld. Hätte Emily so etwas getan, wenn sie auf Sylt geblieben wäre? Bestimmt nicht. Mehr noch, falls sie das Haus nur aus Langeweile verlassen hatte, wäre es dazu gar nicht erst gekommen, weil Max und Lara sich die Kinderbetreuung untereinander aufgeteilt hätten. Einer beschäftigte sich mit der kleinen Schwester, der andere hatte frei – so hatten sie es die meiste Zeit gehalten. Außer wenn Emily bei Mia war. Die beiden Mädchen hatten sich erst zu Ferienbeginn kennengelernt und waren trotzdem schon unzertrennlich.

Normalerweise wäre Lara absolut überzeugt davon, dass Mia wissen müsste, wo Emily sich aufhalten könnte. Sie kannte doch alle Verstecke. Aber sie glaubte auch nicht, dass eine Siebenjährige ihre Eltern in so einer Situation anlügen konnte. Oder doch?

Lara:

Habt ihr Mia gefragt, ob sie irgendein Geheimversteck haben? 13:07

Max:

Alles gecheckt, dort war sie nicht. 13:09

Mist.

Lara fühlte sich hilflos, weil sie nur aus dem Off Dinge zurufen konnte, an die die Erwachsenen vor Ort vermutlich ohnehin längst gedacht hatten. In unter vier Stunden würde sie es nicht nach Archsum schaffen. Bis dahin blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre innere Unruhe irgendwie in Schach zu halten.

Dass sie rennen musste, um den nächsten Zug zu erwischen, machte die Situation für kurze Zeit erträglicher. Doch als sich die Türen des Regionalzugs hinter ihr schlossen, war sie gefangen in ihrer eigenen Angst. Drei Stunden und elf Minuten banges Warten auf Neuigkeiten, auf die erlösende Nachricht, dass Emily heil und unversehrt aufgetaucht war.

Erst nach zwei Stationen fiel Lara ein, dass sie ihrem Papa den überstürzten Aufbruch erklären musste, und sie tippte mit zitternden Fingern eine SMS an ihn. Das heutige Geschehen zu verschriftlichen kostete sie beinahe so viel Kraft, wie damals in Worte zu fassen, was mit Gregor und ihrer Mutter passiert war.

»Noch besteht Hoffnung«, sagte sie sich leise vor. »Diesmal besteht noch Hoffnung, dass alles gut ausgeht.«

Die Fahrt zog sich endlos hin. Lara blickte starr aus dem Fenster, kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen und überschüttete sich innerlich mit Vorwürfen. Wann immer ihr Smartphone durch ein Ping eine neue Nachricht angekündigte, zuckte sie zusammen, hoffte und wurde jedes Mal wieder enttäuscht.

Max:

Wir haben Teams eingeteilt und starten jetzt die Suche am Strand. Alle wurden angewiesen, auch nach Fußspuren ins Watt Ausschau zu halten. 13:43

Richtung Morsum und Keitum hat bisher niemand ein Mädchen gesehen, das allein unterwegs war. 14:36

Am anderen Ufer auch nicht. 14:49

Noch immer nichts. 15:21

Wann kommst du an? 15:38

Lara:

Zehn vor fünf. 15:39

Max:

Ich hole dich ab. 15:40

Die letzte Nachricht trieb Laras Puls wieder in die Höhe. Wäre noch Platz dafür gewesen, hätte sie die Angst vor dem Wiedersehen mit Max völlig ausgefüllt. Nur saß da schon überall die Panik, dass ihrer heißgeliebten kleinen Schwester etwas zugestoßen sein könnte, und machte alles andere nebensächlich.

Max wartete am Bahnsteig. Nächtelang hatte Lara sich den Kopf darüber zerbrochen, wie sie in Zukunft mit ihm umgehen und ob sie sich vor allem körperlich von ihm fernhalten sollte, doch nun zögerte sie nicht einen Moment. Sie lief auf ihn zu und war heilfroh, dass er sie sofort in seine Arme schloss.

»Bitte sag, dass du gute Nachrichten hast!«

»Habe ich nicht. Aber auch keine schlechten. Außer, dass wir inzwischen bei Archsum Hochwasser haben.«

Lara gab es auf, ihre Tränen zurückzuhalten. Wenn Emily sich wirklich allein ins Watt gewagt hatte …

»Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sie am Strand war«, versicherte Max. »Wir haben alle befragt. Niemand hat sie gesehen.«

Sie versuchte, das positiv zu betrachten, aber ihre Selbstvorwürfe überrollten sie wie eine Lawine.

»Das ist alles meine Schuld«, schluchzte sie in seinen Pullover.

Max fasste sie an den Schultern, schob sie ein Stück von sich weg und sah sie ernst an. »Deine Schuld? Sie hat sich rausgeschlichen, während ich für sie verantwortlich war.«

»Aber aus welchem Grund?«

Er presste die Lippen fest zusammen und in seinen blauen Augen standen Angst und Verunsicherung. Seit Lara ihn mit ihrer Ankunft auf Sylt überrumpelt hatte, hatte sie ihn nicht mehr so blass und erledigt gesehen. In Emilys Gegenwart hatte sich sein Gesamtzustand deutlich verbessert. Doch die heutigen Ereignisse hatten ihn sichtlich zurückgeworfen.

»Hattet ihr Streit?«, fragte sie.

Max schüttelte den Kopf und seine Hände glitten an ihren Schultern hinunter. »Nein, eigentlich nicht. Heute Morgen war alles in Ordnung. Sie hat sich sogar darüber gefreut, dass ich sie darum gebeten habe, sich eine Stunde mit dem Tablet zu beschäftigen. Aber wir haben etwas länger gebraucht.«

Er wies Lara den Weg zu seinem Auto.

»Das ist aber kein Grund, sich davonzuschleichen«, meinte sie. »Vielmehr ist es einer, sich still zu verhalten und nicht von der Stelle zu bewegen, um das Tablet möglichst lang behalten zu können.«

»Als ich nach ihr gerufen habe, war ich zuerst der Ansicht, dass sie genau das macht und sich taub stellt, damit sie nicht aufhören muss. Ich dachte mir, ich lasse ihr das noch ein paar Minuten durchgehen, dann gehe ich rauf. Wenn ich schon früher …« Er brach ab.

Lara sah ihn von der Seite an und legte kurz die Hand auf seinen Oberarm.

»Ich bin sicher, das hätte keinen Unterschied gemacht. Sie hat bestimmt nicht bis zum Ende deiner Videokonferenz gewartet, bevor sie sich davongemacht hat.«

Sie erreichten den Wagen und stiegen ein. Max ließ seine Stirn auf das Lenkrad sinken.

»Aber warum tut sie so etwas?«, fragte er aufgebracht. »Wenn wir sie nicht bald finden … Selbst wenn sie nicht zum Meer …«

Er sprach die Sätze nicht zu Ende, sondern drehte den Kopf in Laras Richtung, und sie sah auch in seinen Augen Tränen schimmern.

»Das verzeihe ich mir nie«, flüsterte er.

»Noch besteht Hoffnung«, wiederholte Lara ihr Mantra von der Zugfahrt diesmal laut. »Wir dürfen nicht aufgeben.«

Max rang um seine Fassung. »Ich bin froh, dass du da bist. Ehrlich gesagt bist du meine letzte Hoffnung.«

»Dann lass uns fahren«, erwiderte sie sanft und streichelte über seinen Oberarm.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass er nicht mehr vor ihren Berührungen zurückwich, wie er es noch vor einer Woche getan hatte. Er brachte sogar ein schwaches Lächeln zustande und legte seine Hand kurz auf ihre, ehe er endlich den Motor startete.

Bei dem liebevoll renovierten, reetgedeckten Haus in Archsum angekommen, stürmte Lara sofort ins obere Stockwerk, um in Emilys Zimmer nach Hinweisen auf ihren Verbleib zu suchen. Nur am Rande nahm sie das Hüpfen ihres Herzens wahr, das sich freute, wieder hier zu sein. Bis zu Max’ Geständnis hatte sie das Inselleben genossen. Der Aufenthalt war nicht nur für ihn eine Auszeit gewesen.

Auch Emily hatte sich von Anfang an wohlgefühlt. Max hatte sich zwar in ihren ersten sieben Lebensjahren kaum um seine Halbschwester gekümmert, aber hier auf Sylt hatten die beiden schnell ihre Zuneigung zueinander entdeckt. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie seine harte Schale geknackt, und damit nicht nur sich selbst, sondern vor allem ihm etwas Gutes getan. Emily hatte keinen Grund, vor Max wegzulaufen, dessen war sich Lara sicher.

Mitten im Kinderzimmer drehte sie sich um die eigene Achse, um alles zu erfassen, was sich seit ihrer Abreise verändert hatte. Die Haken neben der Tür waren leer. Eine Ahnung stieg in Lara auf und sie öffnete den Schrank, um Emilys Kleidung durchzusehen.

»Hast du Wäsche gewaschen?«, erkundigte sie sich bei Max.

Er grinste schief. »Also, ehrlich gesagt, war das Teresa, ich war mit den Kleidern ein wenig überfordert. Aber ja, wir haben Wäsche gewaschen.«

»Wann?«

»Zuletzt vorgestern.«

»Hast du schon wieder alles eingeräumt?«

»Ja«, sagte er gedehnt. »Worauf willst du hinaus?«

Lara warf noch einen Blick in Emilys Bett, bevor sie ihre Vermutung äußerte. »Sie hat ihren Rucksack mitgenommen und höchstwahrscheinlich einen der Schlafanzüge. Außerdem ihr Kuscheleinhorn. Und Rapunzel sehe ich nirgends.«

»Was heißt das?«

»So packt sie normalerweise für eine Übernachtung bei meinem Papa.«

»Du glaubst doch nicht, dass sie sich allein in den Zug nach Hamburg gesetzt hat?«, fragte Max entsetzt.

Lara schüttelte bestimmt den Kopf. »Das wäre schon jemandem aufgefallen. Ich habe in den Rucksack meine Telefonnummer hineingeschrieben. Wenn die Polizei sie aufgegriffen hätte, hätte die mich kontaktiert.«

»Aber sonst … Hier kennt sie nur Mia und ihre Familie.«

Da stimmte Lara ihm zu. »Habt ihr den Hof der Andersens mehrmals abgesucht oder nur ganz zu Beginn?«

»Joachim und ich zu Beginn. Aber danach ist Teresa mit Mia dageblieben, während alle anderen die Strände abliefen. Glaubst du, sie war zuerst woanders und hat sich dann erst ins Haus geschlichen?«

»Ich vermute jedenfalls, dass sie sich irgendwo versteckt, wo es nicht allzu ungemütlich ist.«

Max schnappte nach Luft. »Du meinst, sie hat uns den ganzen Tag an der Nase herumgeführt und liegt auf dem Dachboden oder so?« Er sah zur Decke, als wundere er sich, wo eigentlich der Zugang dorthin war.

»Eher auf dem Dachboden der Andersens. Nach einem ihrer ersten Besuche bei ihnen hat sie mir erzählt, wie lustig es ist, dort zwischen dem Gerümpel zu spielen.«

»Ich rufe Joachim an«, entschied Max, doch ehe er dazu kam, läutete sein Smartphone. Verwundert nahm er den Anruf an, tippte auf das Lautsprecher-Symbol und fragte direkt: »Ist sie bei euch aufgetaucht?«

»Noch nicht, aber wir sind uns ziemlich sicher, dass sie sich hier versteckt«, erwiderte Joachim. »Teresa hat mitbekommen, dass Mia mit jemandem über ihr Walkie-Talkie spricht. Am besten kommst du sofort her!«

»Wir sind in fünf Minuten da!«

Lara und Max tauschten einen kurzen Blick, dann rannten beide los. Obwohl es zum Hof der Andersens nicht weit war, nahmen sie das Auto. Nach nur zwei Minuten Fahrt parkte Max den Wagen vor dem Haus, und Lara stürzte zur Eingangstür. Gleich dahinter fing Joachim sie ab und bedeutete ihr, still zu sein und ihm zu folgen. Sie warteten noch kurz auf Max, dann schlichen sie zum Kinderzimmer, aus dem gerade Teresa kam und die Tür nur anlehnte.

»Oh, gut, ich habe keine Fake-News verbreitet, als ich behauptet habe, du wärst schon hier«, sagte sie lächelnd, als sie Lara erblickte. »Ich habe den Verdacht, Emily hat das ausgeheckt, um dich zurückzuholen. Mia wusste wahrscheinlich zuerst wirklich nichts. Aber seit kurzem verhält sie sich seltsam. Sie hat beteuert, sie hätte Bauchschmerzen und müsse sich hinlegen, doch dann wollte sie etwas zu essen ins Zimmer mitnehmen. Vorhin hörte ich sie mit jemandem über das Walkie-Talkie reden, aber sie hat gesagt, sie spielt nur. Jetzt bin ich gespannt, ob sie Emily anfunkt und ihr erzählt, dass du da bist.«

Alle vier verhielten sich still. Aus dem Kinderzimmer drangen Geräusche, die jedoch nicht wie das Rauschen eines Funkgeräts klangen, sondern nach dem Rücken von Möbeln.

Dann hörten sie Mias Stimme: »Du kannst heim. Sie ist zurückgekommen.«

Kapitel 2

»Em, versprich mir, dass du so etwas nie, nie, nie, nie, nie wieder machst!«, verlangte Lara eindringlich. Die Schwestern kuschelten im Bett im Kinderzimmer, Max saß am Fußende.

»Ich wollte doch nur, dass du zurückkommst«, verteidigte Emily sich zum wiederholten Male mit Tränen in den Augen. »Ich wollte nur, dass du mich suchen kommst.«

»Das gesamte Dorf hat dich gesucht«, sagte Max ernst, streichelte dabei aber ihre Füße. »Wir dachten, dir wäre etwas zugestoßen.«

»Das wollte ich nicht.« Sie senkte ihren Kopf und obwohl sie ehrlich betroffen aussah, betonte Lara noch einmal: »Ich hatte solche Angst um dich. Wir alle hatten Angst.«

Gleichzeitig zog sie das Mädchen fest in ihre Arme, um ihm zu zeigen, dass sie nicht böse war. Emily hatte die Folgen ihrer Handlungen nicht abschätzen können. Für sie war das Ganze nur ein Versteckspiel gewesen.

Sie hatte Joachim und Max an der Nase herumgeführt, als die Männer den Hof nach ihr abgesucht hatten, und sich diebisch gefreut, dass die beiden sie nicht entdeckt hatten. Später hatte sie sich in Mias Zimmer geschlichen und dort versteckt, bis ihre Freundin allein im Raum gewesen war. Dann hatte sie ihr von dem Plan berichtet und war durch Mias verräterisches Verhalten schnell aufgeflogen.

»All die Menschen, die Joachim mobilisiert hat, um dich zu suchen«, begann Lara und rückte ein Stück weg, um Emily in die Augen sehen zu können.

---ENDE DER LESEPROBE---