Der Hund als Spiegel des Menschen - Maike Maja Nowak - E-Book

Der Hund als Spiegel des Menschen E-Book

Maike Maja Nowak

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  • Herausgeber: Mosaik
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Das neue Buch von Maike Maja Nowak

»Für mich sind Hunde deshalb so wunderbare Lehrer, weil sie sich bei einem traumatisierten Artgenossen auf die Ressourcen beziehen, die evolutionär angelegt sind, um ein Trauma zu verarbeiten. Viele Menschen wissen nicht, dass sie diese unversehrte Kraft in ihrem Wesenskern ebenfalls in sich tragen. Sie damit wieder in Berührung und Verbindung zu bringen, ist mein Weg zur Heilung.«
Maike Maja Nowak

Bestseller-Autorin Maike Maja Nowak eröffnet uns in diesem Buch auf eine vollkommen neue Weise die Innenwelt von Menschen und Hunden. Mitreißend und fesselnd beschreibt sie ihren persönlichen Weg zur Traumaheilung, der vor dreißig Jahren begann und in dem auch ihre tiefe Verbindung zu Hunden begründet ist.

Aus zwanzig Jahren Seminararbeit erzählt sie uns von Carla, die bisher jede Therapie abbrach, von Carmen, die in einer spirituellen Blase gefangen schien, von Helen, bei der jede Emotion sofort überschwappte und vielen anderen Menschen, die nach Unterstützung suchten, um zu heilen. Sie erklärt die Innenwelt des Menschen in einer so einfachen Weise, das spürbar ist, wie tief sie diese durchdrungen hat.

Ein besonderer Schatz sind die vielen Heil- und Erkundungswerkzeuge – die Maja Nowak zur Selbstbegleitung wie auch für therapeutisch tätige Menschen zur Verfügung stellt.

Der Trailer zum Begleitkurs ist auf Maja Nowaks YouTube-Kanal hier zu finden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 507

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Buch

Bestsellerautorin Maike Maja Nowak eröffnet uns in diesem Buch auf eine vollkommen neue Weise die Innenwelt von Menschen und Hunden. Mitreißend und fesselnd beschreibt sie ihren persönlichen Weg zur Traumaheilung, der vor dreißig Jahren begann und in dem auch ihre tiefe Verbindung zu Hunden begründet ist.

Aus zwanzig Jahren Seminararbeit erzählt sie uns von Carla, die bisher jede Therapie abbrach, von Carmen, die in einer spirituellen Blase gefangen schien, von Helen, bei der jede Emotion sofort überschwappte und vielen anderen Menschen, die nach Unterstützung suchten, um zu heilen. Sie erklärt die Innenwelt des Menschen in einer so einfachen Weise, dass spürbar ist, wie tief sie diese durchdrungen hat.

Autorin

Maike Maja Nowak, geboren 1961 in Leipzig, ist mehrfache Spiegel-Bestseller Autorin zur Mensch-Hund-Kommunikation sowie zahlreicher Fachartikel. Sie arbeitet als staatlich zugelassene Heilpraktikerin für Psychotherapie, zertifizierte Tiertherapeutin und ist Trauma-Expertin. Sie ist einem breiten Publikum durch die ZDF-Serie »Die Hundeflüsterin« bekannt. Maike Maja Nowak lebt in der Prignitz und in Schweden.

Außerdem von Maike Maja Nowak im Programm:

Die mit dem Hund tanztWanja und die wilden HundeWie viel Mensch braucht ein HundAbenteuer Vertrauen

auch als E-Book erhältlich

Maike Maja Nowak

Der Hund als Spiegel des Menschen

Behutsame Wege zur Traumaheilung

Mit Illustrationen von Kathrin Grünzig nach Vorlagen von Maike Maja Nowak

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

Originalausgabe September 2023

Copyright © 2023: Mosaik Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Illustrationen: Kathrin Grünzig nach Vorlagen von Maike Maja Nowak

Umschlag: Sabine Kwauka

Umschlagmotiv: © Micha Bojanowski

Redaktion: Carla Felgentreff

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

JE ∙ AnG

ISBN 978-3-641- 30211-5V001

www.mosaik-verlag.de

Prozesskompass von Maike Maja Nowak

Inhalt

Einstimmung: Schritte

Teil 1 – Beginn

Das Gewitter in mir

Entwurzelt

Verwurzelt

Heilung

Carlas Schatz

Die neue Perle

Sich befreien

Heilwerkzeug: »Einladung an deine Seele«

Seelenkompass Hund

Der Hund als Brücke

Heilwerkzeug: »Einladung an den Schmerz«

Teil 2 – Entfaltung

Der Hund als Spiegel – Live-Impulse

Nachgeholte Flucht

Das verdorrte Bäumchen lebt

Heilwerkzeug: »Du kannst zaubern«

Nachgeholte Umarmung

Wenn alles überschwappt

Heilwerkzeug: »Der stille Raum«

Ich stehe für uns beide ein

Die verschobene Angst

Drei Fragen kommen zu mir

Erkundungswerkzeug: »Drei Fragen«

Die Kraft der Spiegel durch Bewusstheit

Teil 3 – Ernte

Hunde als evolutionäre Therapeuten

Die heilsame Welt der Hunde

Die hündischen Prinzipien in der Menschentherapie

Greta, mein erster Fall nach den hündischen Prinzipien

Erkundungswerkzeug: »Kern-Ressourcen«

Die Heilreise unserer Psyche

Das Trauma-Haus

Erkundungswerkzeug: »Die Superkraft«

Sich gewahr werden Janis Teil 1

Erkundungswerkzeug: »Nachschau«

Rückkehr ins Leben Janis Teil 2

Teil 4 – Verinnerlichen

Warum es nicht schnell oder einfach geht

Sich kennenlernen

Wenn langsam Ruhe einkehrt

Erkundungswerkzeug: »Tagesablauf neu erzählt«

Übergänge

Das geborgte Selbst

Selbstbegegnung

Begegnung mit dem weißen Pferd

Der Seele Raum schaffen

Traumaheilung in ihrer Essenz

Heilwerkzeug: »JETZT«

Freiheit für Pauline

Anhang

Dank

Nachbegleitung und Unterstützung

Weitere Impulse für dich

Alle Heil- und Erkundungswerkzeuge zusammengefasst

Einstimmung: Schritte

Mit einundzwanzig Jahren las ich das Buch Der glückliche Tod von Albert Camus.1 Frei erinnert beschreibt er darin einen Mann, der in die Abgeschiedenheit der Natur auswandert. Am Anfang bejubelt er deren Schönheit: Oh, was für ein schöner Baum, was für ein seltsamer Pilz, was für ein großes Tier usw. Wenn er durch den Wald läuft, hat er das Gefühl, ER laufe durch den Wald. Er nimmt die eigenen Schritte noch als ein Geräusch wahr, das er verursacht. Doch je länger er in der Natur ist, umso tiefer verbindet er sich mit ihr. Am Ende empfindet er den Ton seiner Schritte nur noch wie das Rascheln irgendeines Vogels im Laub. Die Grenzen zwischen seinem Ich-Gefühl und dem, was ihn umgibt, sind zerflossen. Er nimmt sich nicht mehr getrennt von den Bäumen, Pilzen und Tieren wahr. Sie sind keine Ereignisse mehr, die es zu bejubeln gilt. Eine tiefe Freude ist in ihn eingezogen, und der Teil von ihm, der getrennt war, darf nun eingehen in dieses Reich der Verbindung. Das Buch hatte eine tiefe Wirkung auf mich. Ich erkannte darin eine Wahrheit wieder, die ich zwar nicht denken, aber fühlen konnte. Mein ganzer Körper sagte dazu JA.

Lief ich damals durch den Wald, sah ich alles wie auf einem Plakat. Ich betrachtete ihn wie eine Sehenswürdigkeit, wie eine Touristin – und die stille Freude, die ich als Kind empfunden hatte, das Gefühl von Trost und Geborgenheit stellten sich nicht mehr ein. Was war geschehen? Warum hatte sich alles so verändert? Und womit konnte ich diese große Sehnsucht in mir stillen?

Gehe ich heute, vierzig Jahre später, in die Natur, ist mir bewusst, was jeder meiner vier Hunde im nächsten Moment tun wird. Nicht weil ich sie mit den Augen oder Ohren verfolge. Wir spüren uns gegenseitig wie die Gliedmaßen eines Leibes. Wenn ein »Fuß« sich bewegt, reagieren auch die anderen Körperteile. Zwischen uns ist ein Selbstverständnis eingezogen. Die Kämpfe sind ausgekämpft, seitdem ich verstanden habe, dass ich durch sie immer etwas von mir verloren habe, auch wenn ich äußerlich gewann.

Es war ein Weg in vielen kleinen Schritten bis zu diesem Erleben. Ich möchte ihn noch einmal mit dir gemeinsam gehen. Vielleicht kannst du dich darauf wiederfinden oder Impulse für dich erhalten. Nimm dir Zeit mit dir. Beschleunige nichts. Ein zu großer Sprung auf deinem Weg hinterlässt eine Lücke in dir, die du mit nichts füllen kannst. Jeder kleine, wiederholte Schritt dagegen hinterlässt einen Trampelpfad. Daraus wird ein Weg, der aus dir selbst heraus entsteht, den du immer wiederfindest und erneut gehen kannst. Ein Mensch2, der sich mit irgendetwas gut auskennt, stellt dir immer seine eigenen Schritte und seine Trampelpfade und Wege vor. Sie können dich inspirieren, dich an dich erinnern, dich ermutigen und in eine Bewusstheit bringen – doch dein Weg darf ein anderer sein.

In diesem Buch erwarten dich:

Von mir kreierte Heilwerkzeuge, die über die Jahre entstanden sind. Wenn du das Lesen nicht unterbrechen möchtest, kannst du diese praktischen Übungen auch im Anschluss machen. Sie sind am Ende des Buches noch einmal für dich zusammengefasst. Die Heilkraft dieses Buches kann jedoch viel tiefer in dich eindringen, wenn du sie beim ersten Mal begleitend zum Lesen machst.Meine eigene Selbsterfahrung, die dich ermutigen soll, in allem für dich einzustehen.Prinzipien und Zusammenhänge, durch die du dich selbst besser verstehen lernst.Eine gleichberechtigte Wertschätzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und intuitivem Erfahrungswissen sowie von menschlichen und tierischen Beobachtungen.Sehr persönliche Beispielfälle von anderen Menschen, mit denen ich zusammenarbeiten durfte. Namen und Merkmale, die zu einer Wiedererkennung führen könnten, habe ich dazu abgeändert, ohne den Wahrheitsgehalt zu beeinflussen.Eine Playlist mit Musik auf Spotify, die du für die Live-Erfahrungen nutzen kannst. (Für diesen Zweck kannst du die kostenfreie Version als App aus dem Internet herunterladen.)

Gib in der Suchfunktion den Titel der Playlist an: Maja Nowak – Zum Buch Behutsame Wege zur Traumaheilung. Dort findest du die Musik zu den Heilwerkzeugen.

Falls dir eine Live-Erfahrung allein nicht gelingt oder dabei Fragen auftauchen, so hast du die Möglichkeit, einen Download zu erwerben, auf dem ich alle Erfahrungen in Anschauungsfilmen live mit einem anderen Menschen anleite. Weitere Möglichkeiten der Livebegleitung findest du auf www.maike-maja-nowak.de/heilwerkzeuge. Alle kostenfreien Videos, die ich zur Verdeutlichung eines Inhaltes anführe, findest du auf YouTube, wenn du den Titel des genannten Videos und meinen Namen eingibst.

1 Albert Camus: Der glückliche Tod. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1983.

2 Um den Lesefluss nicht zu stören, verzichte ich zum größten Teil auf das sprachlich umgesetzte Gendern. Ich lade dich jedoch ein, dich als Mensch in allem, was du bist, angesprochen und willkommen zu fühlen. Von Herzen, Maja.

Teil 1 – Beginn

Das Gewitter in mir

Es geschieht in meinen Dreißigern im russischen Dorf Lipowka. Warum ich 1991 für sieben Jahre an diesen Ort auswanderte, schrieb ich im Buch Wanja und die wilden Hunde. Hier soll es um ein Ereignis gehen, welches im Nachhinein betrachtet die Initialzündung für meine Beschäftigung mit dem Thema Trauma wurde und meine tiefe Verbindung zu den Hunden begründet. Warf die folgende Begebenheit doch Fragen auf, aus denen wiederum viele Impulse entstanden, die eine tiefe Veränderung in mir in Gang setzten.

Es ist ein Tag mit drückender Schwüle. Die Luft liegt wie Blei über den Wiesen, und jeder Atemzug kostet Mühe. Am Abend kündigt der aufgeregte Gesang einer Amsel ein Gewitter an. Kurz darauf wird es so still, als halte die Welt den Atem an. Der Wind, die Vögel und die Insekten verstummen. Die Hunde, mit denen ich lebe, trappeln unruhig im Hof umher und hecheln mit zurückgezogenen Lefzen. Ich gehe hinaus, um ihnen Beistand zu leisten, und öffne die Scheune, damit wir dort Schutz suchen können.

Scheune in Lipowka

Während sich neun der Hunde sofort in den Raum drängen, irrt die scheue Hündin Alma weiter herum. Immer wieder erscheint ihr Kopf in der geöffneten Tür, doch bei meinem Anblick springt sie sogleich zurück. Ihre panische Angst vor Menschen bringt uns beide in einen Zwiespalt, denn ich kann mich ja nicht entfernen, weil die anderen Hunde mich brauchen und sich angstvoll an mich drängen. Ich weiß nicht, was Alma mit menschlichen Wesen erlebt hat, aber offensichtlich will sie auf keinen Fall mit ihnen in einem geschlossenen Raum sein. Ich kann nichts anderes tun, als mich vollkommen ruhig zu verhalten und sie nicht anzusprechen, denn eine direkte Kontaktaufnahme würde sie noch mehr ängstigen.

Plötzlich kommt Wind auf und lässt die Blätter der riesigen Silberweide vor dem Haus rauschen. Schhhhhhh, schhhhhhh … In den Ritzen der Scheunenwände wird er zu einem pfeifenden Heulen. Regen geht wasserfallartig nieder, als hätte der Himmel alle Schleusen geöffnet. Alma steht pitschnass in der Tür und hat ihre Rute unter den Bauch geklemmt. Mit weit aufgerissenen Augen sieht sie auf die Hunde, die sich eng um mich versammelt haben. Doch trotz dieser Demonstration von Vertrauen kann sie sich noch immer nicht entschließen hereinzukommen. Erst der gewaltige Kracher eines Donnerschlages bringt sie dazu, mit großen Sätzen herein und zwischen die Holzräder eines alten Fuhrwerkes zu springen. Dort drückt sie sich platt auf den Boden und erstarrt.

Die ersten Blitze zucken gespenstisch durch den Raum, und ich gehe zur Tür, um sie zu schließen. Die Hunde schieben und schubsen sich gegenseitig, um möglichst nah bei mir zu bleiben, sodass ich beim Gehen fast stolpere. Einige zittern und hecheln stark. Um diesen neun schutzsuchenden Leibern mehr Fläche zu bieten, lege ich mich rücklings auf den heubedeckten Boden. Wanja, Husar und Anton verteilen sich zu meiner linken Seite, während sich rechts die Hunde Milyi, Laska und Wasja an mich heranpressen. Der zierliche Bambino ist auf meinen Bauch gesprungen und hat sich dort zusammengerollt. Meine Schienbeine werden von Felix beschwert, der sich leise winselnd zwischen den anderen Hunden durchgezwängt hat, um diesen Platz zu ergattern. Die alte Baba steht genau hinter meinem Kopf, und ihre blinden Augen starren uns an. Es gelingt mir, meinen rechten Arm wieder unter den anderen Hunden hervorzuziehen, ihn über meinen Kopf zu beugen und Baba sanft zu berühren. Sie leckt kurz meine Hand, wie um mir zu antworten, und drängt dann, ehe ich es verhindern kann, über meine Schulter auf meine Brust. Dort presst sich die kleine Hündin fest auf mich.

So eingepackt zwischen all diesen Hundeleibern kann ich mich nicht mehr rühren und bekomme wenig Luft. Noch bevor ich darüber nachdenken kann, wie ich meine Lage etwas verbessere, empfinde ich unvermittelt ein diffuses Gefühl von Bedrohung. Ich spüre eine starke Beklemmung in meinem Brustraum. Sie fühlt sich beängstigend an, und eine Welle von Panik geht durch mich hindurch. Mein Hals verschließt sich. Ich fühle mich wie begraben unter all den Hunden. Der Drang, sie wegzustoßen, wird überwältigend groß. Ich kann ihm nur widerstehen, weil auch sie so große Angst haben und ich mich für ihren Schutz verantwortlich fühle. Dann lähmt die Panik mich. Wie einer Fremden lausche ich dem saugenden Atemgeräusch, das aus der noch verbleibenden Öffnung meiner Kehle kommt. Veränderung ist jetzt nicht mehr möglich. Ich kann mich einfach nicht mehr bewegen.

Unvermittelt schießt ein heftiges Stechen in meine Hände, so als hätte ich eine Hochspannungsleitung berührt. Die prickelnde Ladung breitet sich rasant in meinem ganzen Körper aus, und der plötzliche Überdruck fühlt sich so heftig an, dass ich meine, mich übergeben zu müssen.

Eine Berührung an meinem Arm und etwas Nasses an meinem Kinn stoppen diese Körperreaktion. Es braucht einen Moment, bis ich mich wieder orientieren kann. Als ich die Augen aufschlage, sehe ich Wanja mit der Pfote immer wieder an meinen Unterarm stupsen. Er sieht mich mit einem eigenartig dringlichen Blick an. Die blinde Baba massiert mit der Zunge eifrig mein Kinn. Die anderen Hunde betrachten mich aufmerksam oder beunruhigt. Einige sind aufgesprungen und stehen dicht neben meinem Kopf, andere sitzen abwartend ein wenig entfernt. Mein Beistand für die Hunde hat sich offenbar in einen Beistand von ihnen für mich gewandelt.

Die Gewittergeräusche sind nur noch schwach hörbar. Einzig der Regen trommelt gleichmäßig und beruhigend auf das Scheunendach. Ich bekomme langsam wieder Luft und atme erleichtert die vertraute Nähe der Hunde ein. Noch immer eingekeilt zwischen ihren Leibern könnte ich mich nun vorsichtig befreien, doch zu meiner Verwunderung spüre ich keine Beklemmung mehr. Im Gegenteil. Ein Gefühl tiefer Geborgenheit kriecht in mich hinein und füllt mich aus, so als würden sich meine Körperzellen für einen Eindruck öffnen, auf den sie schon immer gewartet haben. Ich verschmelze mit den Hunden zu einem Wesen und spüre nicht mehr, wo ich anfange und ende. Das ruft ein tiefes Staunen in mir hervor. Noch nie empfand ich so viel Sicherheit, Gehaltensein und Frieden wie gerade jetzt. Diese Erfahrung soll von nun an in jeder künftigen Begegnung mit Hunden mitschwingen und mich ihnen tief im Herzen vertrauen lassen.

Doch wie kann es sein, dass ich noch wenige Minuten zuvor durch ihre körperliche Nähe so in Panik geraten bin?

Das Bild einer Zeichnung blendet sich ein, die ich einmal als Kind gemalt habe. Es zeigt die psychisch empfundene Wahrheit meiner Kindheit, die ich verdrängt habe.

Zeichnung Maja, 6 Jahre

Ich liege unter einem Grabhügel, kenntlich gemacht durch ein Kreuz. Auf ihm steht ein großer schwarzer Stiefel, und ein Zeigefinger deutet auf diesen wie auf die Ursache meiner Beerdigung. Der Stiefel selbst macht den Eindruck, als trampele er unerbittlich auf mir herum. Ein Gitter an der Seite des Grabes scheint mich davor zu beschützen, dass diese äußere Gewalt in das Grab eindringen kann, sperrt mich jedoch auch selbst ein. Ich liege darin mit angelegten Armen, flach wie ein Brett und sehe, die Luft anhaltend, angstvoll und entsetzt nach oben. Diese Sequenz erinnert mich an Alma, die vorhin genauso platt gedrückt auf dem Boden unter dem Fuhrwerk erstarrte. Selbst ihre Panik erkenne ich in mir wieder. Erstaunt begreife ich, dass es dieses Kind in mir offenbar noch immer gibt und es in Angst und Schrecken geraten kann, wenn man ihm zu nahe kommt. Doch wo versteckt es sich im Alltag? Wo ist es so lange gewesen?

Und die dringlichste Frage: Wenn ich mich als Kind unter diesem Erdhügel in Sicherheit gebracht habe, wer eigentlich lebt mein Leben außerhalb davon?

Entwurzelt

Ein Baum, der teilweise entwurzelt ist, wird instabil, und seine losgelösten Wurzeln können keine Nährstoffe mehr beziehen.

Mit einem Trauma verhält es sich ähnlich. Etwas in uns wird entwurzelt und ist nicht mehr mit der Seele verbunden. Diese isolierten Anteile sind dadurch auch nicht weiter von Lebensfreude, Vertrauen, Mitgefühl, Mut, Willen, Liebe und Zuversicht beseelt. Ihnen fehlt diese Versorgung, und eine schmerzhafte Leere entsteht. Auch wenn es keinen Wirkstoff gibt, der diesen (teilweisen) Seelenverlust ersetzen könnte, versuchen wir uns dennoch mit unzähligen Suchtmitteln zu (er)füllen. Essen, TV, Computer- und Smartphone, Alkohol und Drogen sind nur einige davon.

Ich selbst habe zweiundzwanzig Jahre lang den Rauch von Zigaretten inhaliert, um mich zu beruhigen, anzuregen, zu funktionieren und für einen Moment innerlich zu beheimaten. Dazu brauchte ich in diesen zweihundertvierundsechzig Monaten im Durchschnitt täglich dreißig Zigaretten, also 237.600 insgesamt. Die besänftigende Wirkung des Nikotins, die nach nur sieben Sekunden das Gehirn erreicht, ermöglichte es mir, nett zu bleiben, Dinge auszuhalten und mir etwas vorzumachen. Alles, was mir zu viel wurde, mich traurig machte, schmerzte, ängstigte, wütend stimmte und zutiefst beschämte, versuchte ich wegzurauchen.

Bereits als Kind fällt mir auf, dass ich häufig Worte sage, die das Gegenteil von dem ausdrücken, was ich fühle. So kann ich aussprechen: »Ja, es hat Spaß gemacht«, obwohl mein Körper starr vor Angst ist. Oder: »Du bist die liebste Mama der Welt!« – und eine bleierne Schwere liegt auf meiner Brust. Besonders im Umgang mit meiner Mutter beginne ich, Details auszulassen, die ihr vielleicht Angst, Wut, Scham oder Trauer bereiten könnten, weil die Folgen, die sich daraus ergeben, selten angenehm sind. Ihre Angst lähmt auch mich, ihre Wut reißt mich in einen Abgrund, ihre Scham beschämt mich, und ihre Trauer erfüllt mich mit Verzweiflung. Jede alarmierende Regung in ihrem Gesicht, jedes winzige, irritierte Blinzeln genügt, und ich wechsele die Erzählrichtung.

»Heute im Wald habe ich einen Eichenbaum mit einem Gesicht gesehen. Er steht hinter den vielen kleinen Birken …« Die Augen meiner Mutter weiten sich, denn ich verrate durch den Standort der Birken, dass ich unerlaubterweise tief im Unterholz gewesen bin. »… und man sieht ihn schon von Weitem, man muss gar nicht den Weg verlassen«, wandele ich meinen Bericht ab.

Mutter hasst es, wenn ich nicht die Wahrheit sage. In einer beängstigenden Verbissenheit verfolgt sie jede meiner Lügen, bis sie bloßgestellt ist. In diesem Fall geht sie mit mir noch am selben Tag zu der beschriebenen Stelle, weist vom Wegrand aus wortlos auf die dichten Sträucher, die sogar die Sicht auf die weit entfernten Birken versperren, geschweige denn einen Blick auf den Großvaterbaum ermöglichen, der noch dahinter steht. Den restlichen Tag über schweigt Mutter in einer Weise, als habe ich ihr eine weitere Lebenslast aufgebürdet. Es erzeugt ein Gefühl von Ausweglosigkeit in mir, die Abenteuer, die ich liebe, für ein Vergehen halten zu müssen. Mein Bedürfnis, Mutter zu schonen, kollidiert immer wieder mit dem Wunsch, mich ganz spontan auszudrücken.

Meine damals sehr junge Großmutter empfing Mutter 1938 unehelich. Zu dieser Zeit wurden Frauen dafür aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Zudem hinkte Großmutter wegen einer nicht ausgeheilten Kinderlähmung und wurde bereits dafür gehänselt. Auch meine Urgroßeltern drängten auf die Abgabe des Kindes, das meine Mutter war. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion übergab Großmutter ihr Baby der jüngeren Schwester meines Großvaters. Dessen Familie lebte auf dem Land in der Altmark. Mein Großvater fiel kurz darauf im Krieg.

Mutter wuchs auf dem Land auf, wissend, dass sie weggegeben worden war. »Ich war immer das fünfte Rad am Wagen« ist einer ihrer Standardsätze. Aus diesen Erfahrungen heraus entstammt vielleicht ihre Schlussfolgerung, sie müsse sich stets unglaubliche Mühe geben, um nach außen hin in allem perfekt zu wirken und sich nichts zuschulden kommen zu lassen. Es ist, als bezahle sie damit die Eintrittskarte in eine Welt, zu der sie sich sonst nicht zugehörig fühlt. Doch Mutter bezahlt sie jeden Tag neu, mit unermüdlichem Fleiß und großer Aufopferung. Es bleibt selten Raum für Muße, für entspannte Freude oder Genuss.

Im Rahmen ihrer Möglichkeiten versucht Mutter alles, um mir eine gute Kindheit zu geben. Ich glaube, sie ist selbst bestürzt über ihre impulsiven Ausbrüche, die sich oft wie ein Abgrund unter ihr und mir auftun. Wenn sie mich als Kind schlägt, ist es, als schlüge sie auf etwas ein, das sie einfach nicht ertragen kann. Besonders versetzt es sie in Angst, wenn ich etwas tue, das aus der Reihe fällt und worüber andere negativ sprechen könnten. Für Mutter bedeutet, in der Masse unterzugehen, ein Gefühl von Sicherheit. So berühre ich als Kind offenbar viele Ängste in ihr mit meinen spontanen Ideen, die im Minutentakt aus mir herauskommen.

Mutter klagt häufig darüber, dass Vater das wenige Geld stets für teure Klamotten durchbringt, mit denen er zu glänzen sucht. Aus diesem Grund leben wir in meinen ersten Lebensjahren mit Möbeln vom Sperrmüll, für die sich Mutter so schämt, dass uns niemand besuchen darf. Mutter kümmert sich um den Haushalt, geht arbeiten, versorgt mich, versorgt meinen Vater und malert oft zusätzlich an den Wochenenden bei fremden Leuten, um uns über Wasser zu halten.

In dem Wunsch, sie zu unterstützen, will ich dem Beispiel eines Jungen aus einem gerade gesehenen Film folgen. Er hielt darin seine arme Familie mit Schuheputzen über Wasser. Mit meinen sechs Jahren kann ich nicht wissen, dass diese Tätigkeit nicht unbedingt übertragbar auf den sozialistischen Alltag ist. Ich spüre einfach eine tiefe Begeisterung, putze ich doch bereits die Schuhe für die ganze Familie und bin sozusagen Profi. Ich trage einen Stuhl, einen Hocker und unser gesamtes Schuhputzzeug die Treppen des Mietshauses hinunter und baue alles im Hinterhof auf. Mutter ist noch nicht von der Arbeit zurückgekehrt, und ich hoffe, sie käme auch nicht auf die Idee, mich im Hof zu suchen, weil ich sonst immer im Wald bin. Mit großem Stolz stelle ich ein handgemaltes Schild vor meine Schuhputzstation: Schuhputzen für 1 Mark. Dann setze ich mich auf den Hocker, der zum Abstellen der Füße vorgesehen ist, und warte. Lange geschieht nichts, und ich vertreibe mir die Zeit mit dem Beobachten zweier Spatzeneltern, die laut tschilpend aus einem breiten Spalt der maroden Häuserfassade fliegen, um nach kurzer Zeit wieder zurückzukehren. Zwischendurch fällt mein Blick immer wieder sehnsüchtig auf die Haustür, durch die sicher gleich ein Bewohner kommen wird, um seinen Müll wegzutragen oder etwas in den hinteren Garagen zu erledigen. Mein Herz klopft vor Freude und Begeisterung bis zum Hals bei der Vorstellung, Mutter am Abend Geld geben zu können, damit sie sich keine Sorgen mehr machen muss.

Eine Gardine im Hochparterre schiebt sich zur Seite, und das Gesicht eines Mannes taucht auf. Er öffnet das Fenster und fragt mit argwöhnisch zusammengekniffenen Augen: »Was treibst du denn hier?«

Ich recke meine magere Brust heraus und sage mit stolz erhobenem Kopf: »Ich putze Schuhe. Und es kostet nur eine Mark.« Dabei weise ich einladend auf den Stuhl hinter mir.

Der Mann schließt das Fenster, zieht die Gardine zurück, und ich mache mich bereit in der Annahme, er käme jetzt zu mir und ich könne seine Schuhe putzen. Ich habe den Lappen bereits in der Hand und wedele ihn ungeduldig durch die Luft. Warum dauert es so lange? Sucht er vielleicht ganz viele Schuhe zusammen? Das wäre toll. Ich würde dann mehrere Mark auf einmal verdienen! Wie würde Mutter überrascht sein!

Vor Schreck und Erstaunen fahre ich jäh zusammen, als sich die Haustür öffnet und der Mann gefolgt von meiner Mutter in den Hof kommt, die mit heller, aufgeregter Stimme seine Beschimpfungen zu beschwichtigen sucht. »Sie ist doch noch ein Kind …«

Maja, 6 Jahre

»Eben, Kinderarbeit. Sind wir hier im Kapitalismus?! Wo leben wir denn. Ich werde Sie der Partei melden!«

»Aber ich habe es doch gar nicht gewusst …« Ein Flehen ist in die Stimme meiner Mutter getreten.

»Sie sind die Erziehungsberechtigte, Sie müssen Bescheid wissen und das unterbinden! So etwas darf nicht passieren!«

Instinktiv kauere ich mich zusammen und halte die Luft an, wie um mich unsichtbar zu machen. Es ist mir unbegreiflich, dass meine gut gemeinte Idee für eine solche Reaktion sorgt, und ich hoffte auf den Wider- und Beistand meiner Mutter. Diese reißt mich mit hochrotem Gesicht vom Hocker hoch, weist mit einem auffordernden Nicken darauf und schnappt sich überhastet und fahrig den Stuhl und das Schuhputzzeug. Ich folge ihr mit dem Hocker in unsere Wohnung. Dort versucht sie, sich zu beruhigen. Ihre zitternden Hände umkrampfen den Stuhl, ihr Blick irrt hilflos umher, und ihre Todesangst, ausgelöst durch den Tadel und die harsche Beurteilung des Mannes, steht wie eine flirrende Säule zwischen ihr und mir. Es ist offenbar lebensgefährlich, etwas zu tun, das anderen nicht gefällt.

Bei einem Ereignis in der Schule wird diese Annahme für mich zur Gewissheit. Man kann andere mit dem eigenen Verhalten nicht nur verärgern, sondern auch abstoßen und Gefahr laufen, nicht mehr dazuzugehören.

In einer Pause erzähle ich meinen Mitschülern und Mitschülerinnen von einer Filmszene aus einem Indianerfilm3 und reite dazu auf einem imaginären Pferd durch das Klassenzimmer. Begeistert schwinge ich ein unsichtbares Lasso, um ein ebenso unsichtbares wildes Pferd einzufangen. Weil ich die Figur in diesem Moment nicht nur nachspiele, sondern bin, fühle ich mich innerlich frei, verwegen und wunderbar. Auch auf den Gesichtern der anderen spiegelt sich so etwas wie Faszination über die verkörperte Wildheit des Indianers wider. Dann taucht das Gesicht der Biologielehrerin plötzlich vor mir auf, und ich strahle ihr erfüllt von Lebendigkeit und Freude entgegen.

Mit einem angewiderten Gesichtsausdruck, der wie Gift in mich eindringt, sagt sie: »Iiieh, das ist wirklich eklig, wie du dich als Mädchen benimmst.«

Die anderen Kinder senken erschrocken den Blick, so als liefen auch sie Gefahr, getadelt zu werden, wenn sie mich weiter anblicken.

Je älter ich werde, umso mehr versuche ich, mein Verhalten in der Öffentlichkeit zu kontrollieren. Erste Steifheit zieht in meinen quirligen, lebensfrohen Körper ein. Es ist, als hätte ich meinem besten Freund die Hand entzogen und könne ihn nicht mehr richtig spüren. Da all diese Entwicklungen schleichend stattfinden, bemerke ich das Ausmaß meiner Entfremdung erst mit dreißig Jahren im russischen Dörfchen Lipowka.

Es beginnt damit, dass eine meiner Kontaktlinsen kaputtgeht. Gleich nach der Wende habe ich mir weiche Kontaktlinsen gekauft, denn die harten, die es in Ostdeutschland gegeben hatte, vertrug ich nicht. Obwohl auch diese beim ersten zweistündigen Probelaufen stark drücken, habe ich das Empfinden, endlich den Makel einer gehänselten Brillenschlange los zu sein. Ich fühle mich fantastisch und lerne die Toiletten fast jeden Restaurants um den Optiker herum kennen. Ich kann mich einfach nicht sattsehen an meinem befreiten Gesicht. Mein Selbstvertrauen steigt – wie ich glaube.

Die in Lipowka verbliebenen Großmütter und Großväter sehen mich deshalb nie mit Brille. Als die Jahreslinse kaputt geht und ich auf das ungeliebte Brillengestell zurückgreifen muss, erwartet ein sehr kindlicher Teil in mir, dass nun die Abwertungen von Neuem begännen.

Als ich draußen dem ersten Bauern begegne, senke ich den Kopf und registriere seinen verwunderten Gruß, den ich natürlich auf meine Brille beziehe.

Die nächste Babuschka hält mich an und fragt besorgt: »Majotschka, was ist denn mit dir? Du siehst so blass aus. Willst du etwas Milch?« (Milch ist für die Großmütter ein Allheilmittel, so wie es für die Großväter der Wodka ist.)

Benommen schüttele ich den Kopf und gehe mit den Hunden weiter, bis Baba Pascha mich anruft: »Kannst du mir helfen, das Heu nach oben zu bringen?« Dabei weist sie auf einen Heuhaufen vor ihrer Scheune und nach oben zum Speicher.

Erleichtert, dass sie mich nicht auf meine Veränderung anspricht, reiche ich ihr mit der Heugabel die großen Packen nach oben. Danach möchte ich verschwinden, doch Pascha sagt einladend: »So, jetzt können wir einen Tee trinken.«

Ich lehne ab, wohl, damit sie mich nicht in Ruhe begutachten kann, doch Pascha wendet das Blatt in der ihr eigenen Art: »Du kannst erst Tee trinken und dann gehen.«

»Ich habe heute nicht so viel Zeit«, versuche ich weiter zu entkommen.

»Zum Teetrinken ist immer Zeit.« Die Bestimmtheit in Paschas Stimme zeigt an, dass die Diskussion für sie beendet ist.

Innerlich angespannt sitze ich auf ihrem Sofa und warte auf die erste Bemerkung zu meiner Veränderung. Sie schaut mich mit ihren warmen, dunklen Augen vertrauensvoll an und sagt: »Siehst du meine Kleine, Tee trinken ist immer schön.«

Ich frage Pascha, ob sie gar nicht bemerkt hätte, dass ich ganz anders aussehe als vorher. Sie betrachtet mich überrascht und sagt: »Aber was ist denn an dir anders, du hast doch nur eine Brille auf?«

Ich bin mir sicher, dass Pascha nicht verstehen würde, welche Ängste in mir sind, und ich wage auch nicht, jemandem davon zu erzählen.

Nach außen gebe ich mich wie eine Person, die unbefangen ist, fröhlich und mutig. Niemand kommt auf die Idee, wie viel Unsicherheit, Angst und Selbstzweifel in mir leben. Am wenigsten ich selbst.

Durch dieses Erlebnis wird mir bewusst, dass etwas mit meinem Selbstbild nicht stimmen kann.

Die Angst der Hunde vor dem Gewitter hat mich wie auf einer Welle mitgenommen und einen Damm an Ängsten in mir aufgebrochen. Ich komme wieder in Kontakt mit dem Gefühl der Enge und des inneren Begrabenseins. Ich habe eine Heidenangst davor, mich diesem Kind in mir zu nähern und es in mein Leben zu lassen. Die Person, die ich zu meinem Schutz erschaffen habe, die alle kennen und auf die ich mich bisher immer verlassen konnte – müsste beiseitetreten. Die Vorstellung, mich vor aller Augen von einer vermeintlich unbefangenen, kompetenten Person vielleicht in eine Versagerin zu verwandeln, löst Panik in mir aus. Mir ist, als müsse ich mich von einer hohen Klippe stürzen, ohne zu wissen, ob unten ein Netz ist, das mich auffängt. Doch ich muss springen, wenn ich mich wieder verwurzeln will.

3 Die im Text reproduzierte Stereotypisierung von Native Americans im kindlichen Spiel spiegelt nicht die Weltanschauung des Verlages wider, ist jedoch wichtig für die Ausführungen unserer Autorin über ihre Kindheit. In Anlehnung an die Ausführungen des Native American Association of Germany e. V. möchten wir auf die Verwendung des Indianer-Begriffs nicht verzichten, aber auf einen sensiblen Umgang damit hinweisen hinsichtlich der Weiterverbreitung von Stereotypen.

Verwurzelt

In meiner Kindheit gibt es drei Inseln, die mich tragen. Eine Parallelwelt, die ich mir mit Spielzeugindianern erschaffe, tiefe Begegnungen mit Tieren und hohe Fieberschübe, in denen ich Wundersames erlebe.

Mit meinen Indianerfiguren stelle ich Menschen und Ereignisse aus dem Alltag nach. Während das reale Leben um mich herum sehr schnell aufeinanderfolgt und für mich oft nicht nachvollziehbar ist, kann ich es im Nachspiel anhalten, wo ich will, und an bestimmte Situationen wie mit einer Lupe heranfahren.4

Eines Tages kommt Mutter in einer Pause auf den Schulhof, öffnet ihre Tasche und schenkt mir einen Indianerhäuptling. Entspannt und würdevoll steht er auf einem kleinen Gummipodest, und eine Friedenspfeife liegt in seiner linken Armbeuge. Mit der rechten Hand umfasst er einen langen Zeremoniestab, an dem ein rundes Schild mit einer weißen Taube befestigt ist. Während er unter der Schulbank in meinen Händen liegt und ich ihn betrachte, wird es immer stiller in mir. Es ist, als erinnere ich mich durch ihn an etwas, das größer ist als ich selbst und die Menschen um mich herum. Doch ich kann nicht sagen, was – ich fühle es nur im Herzen, das sticht und sich weitet und eine große Sehnsucht verströmt.

Noch immer gefangen von diesem Eindruck, gehe ich in sehr feierlicher Stimmung nach Hause. »Das ist Weiße Feder«, stelle ich meinem Indianerstamm den neuen Häuptling vor. Unter all den Figuren, die ich mit einem eigenen Charakter ausgestattet habe, tritt ebenfalls Stille ein. Es fühlt sich an, als stehe die Zeit still.

Ich platziere Weiße Feder in die Mitte des Indianerdorfes, das begrenzt ist von angemalten Kartonhäuschen und Tipis aus Taschentüchern und Zweigen. Seine erste Ansprache hinterlässt einen tiefen Eindruck in mir: »Brüder und Schwestern, es wird euch kein Leid mehr geschehen, ich bin jetzt da. Ich verkünde Frieden und Liebe. Niemand muss mehr Angst haben. Howgh, ich habe gesprochen.«

Häuptling »Weiße Feder«

Während er mit meiner Stimme redet, spüre ich eine sehr ruhige, kraftvolle Präsenz in mir, die meine tief empfundene Ohnmacht aufhebt.

Der Zauber, der durch Weiße Feder geschieht, verändert etwas in meinem Kinderleben. Ich kann mich durch ihn in ein Gefühl begeben, das mich trägt und in dem ich vollkommen angstfrei bin.

Die Begegnungen mit Tieren sind meine zweite Seeleninsel. Tiere spiegeln mich auf eine Weise wider, als wären sie mit mir einverstanden, so wie ich bin. Sie tadeln nicht, sie loben nicht. Wir sind einfach zusammen. Das ist eine ungewohnte Erfahrung, die ich mit Menschen nicht habe.

Viele Sommerferien verbringe ich auf dem Hof meiner altmärkischen Verwandtschaft und sitze oft stundenlang bei den Schweinen. Ihre leisen grunzenden Töne und die schmatzenden Berührungen ihrer weichen Rüssel entspannen mich. Besonders Willi, der Eber, strahlt eine solche Gelassenheit und Kraft aus, dass ich mich nur in seiner Nähe aufhalten muss, um zur Ruhe zu kommen. Oft erzähle ich ihm von meinen Sorgen und Ideen und lege mich an seinen riesigen Körper, wenn er schläft. Ich komme verdreckt und stinkend aus dem Stall und soll die Sachen wechseln, bevor ich ins Haus komme. So ziehe ich mich jedes Mal im Stall um, doch ich nehme weder den Dreck noch den Gestank wahr – nur die Geborgenheit, die ich neben meinem Freund spüre. Wenn ich Willis Blick länger begegne, empfinde ich ein Gefühl von tiefer Vertrautheit und Freude. Mein Herz weitet sich, wird heiß, und ich spüre, dass dieses Gefühl Liebe ist – auch wenn ich nichts darüber weiß. Den Erwachsenen erzähle ich nicht davon. Ich fürchte, sie könnten mir diese Liebe lächerlich machen. Dennoch nimmt meine sonst eher nüchtern denkende Tante die Verbindung, die ich zu Willi habe, offenbar wahr.

»Kannst du mal oben in unserer Schlafstube warten?«, bittet sie mich eines Tages und stottert eine Ausrede zusammen, die ich nicht verstehe. Sie zieht mich am Arm in ihre Dachschlafstube, und ich bin so verblüfft über das Ganze, dass ich reglos verharre, bis ich höre, wie sie von außen den Schlüssel in der Tür umdreht. Irgendetwas ist faul, das ist nun klar. Laut rufend rüttele ich an der verschlossenen Zimmertür. Dann übertönen Willis hohe quiekende Schreie meine Rufe um ein Vielfaches. Seine Todesangst ist deutlich zu hören. Es ist, als bliebe mein Herz stehen. Ich stürze an das Fenster und sehe meine Tante mit drei anderen Bauern aus der Nachbarschaft im Hof herumlaufen. Sie haben Mistforken in der Hand und fuchteln wild herum, um Willi in eine Ecke des Hofes zu drängen. Obwohl ich noch nie dabei gewesen bin, wenn ein Schwein geschlachtet wird, weiß ich instinktiv, dass genau dies ihre Absicht ist.

Ich reiße das Fenster auf und brülle: »Aufhören! Das dürft ihr nicht tun! Willi ist mein Freund!«

Irritiert von dieser Störung ruft meine Tante zur Seite weg: »Mach das Fenster zu! Geh! Stör jetzt nicht!«

Außer mir vor Sorge schätze ich die Höhe bis nach unten ab, begreife jedoch, dass ich mir bei einem Sprung alle Knochen brechen könnte. Während die Erwachsenen ihre Aufmerksamkeit wieder auf Willi gerichtet haben und aufgeregt rufen: »Lass ihn nicht aus der Ecke! Mist. Du musst ihm den Weg versperren!«, fällt mein Blick auf das Fallrohr der Regenrinne, das unten im Hof über einer Regentonne endet. Ohne zu zögern, steige ich auf das Fensterbrett, hangele mit einem Arm nach einer Rohrschelle, um mich festzuhalten, springe, den anderen Arm nach vorn werfend, an das Fallrohr und klammere mich an ihm fest. So schnell ich kann, rutsche ich daran herunter bis auf den Rand der Regentonne und dann auf den Boden. An den überraschten Gesichtern der Erwachsenen sehe ich, dass sie meine Aktion nicht erwartet haben. Meine Tante blickt irritiert von Willi zu mir, und ich spüre ihren Zwiespalt.

Erhitzt pflanze ich mich vor ihr auf und sage mit Grabesstimme: »Wenn du das tust, spreche ich nie wieder mit dir!«

Sie stöhnt, wischt sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn, und ich spüre den Ruck, der durch sie hindurchgeht, als sie sagt: »Marsch jetzt, geh rein, aber schnell, jedes Schwein muss einmal sterben, das weißt du. Du bist hier bei Bauern.«

Willi, dem diese Aktion eine kurze Verschnaufpause verschafft, steht schwer atmend eingekreist auf dem Hof. Ich begegne seinem Blick und spüre, dass wir gegenseitig unsere tiefe Verzweiflung wahrnehmen. Überrascht erlebe ich wieder einen Moment vollkommener Stille. Es ist, als erschaffe die Überwältigung für uns einen Ort, an dem Frieden ist. Bis heute hat es etwas Tröstliches für mich, dass Willis letzter Moment friedvoll war, bevor ihn ein Bauer von hinten betäubte.

Das braun-weiße Pferd steht inmitten einer Kuhherde auf der Weide. Ich setze mich auf den obersten Balken der Koppel, kaue auf einem Grashalm und beobachte es. Auch das Pferd mustert mich neugierig aus der Ferne. Dann nähert es sich. Es ist meine erste Begegnung mit einem so großen Tier, doch ich verspüre keine Angst. Es blickt mich mit warmen Augen an, und ich empfinde seine Freundlichkeit mit meinem ganzen Körper. Sein Maul und seine Nüstern beginnen schnuppernd über mein Gesicht zu streifen. Dies ist eine der sanftesten Liebkosungen, die ich bis dahin erfahren habe. Seine Haut ist von so einer Zartheit und hat einen so wohligen Duft, dass ich tief überrascht bin von diesem neuen Eindruck einer Berührung. Ein Gefühl von stiller Freude und Weichheit durchströmt meinen ganzen siebenjährigen Körper. Ich steige auf den obersten Balken des Koppelzaunes und klettere auf den Rücken des Pferdes. Er ist so breit, dass ich meine Beine nicht darüber grätschen kann. Also lege ich mich lang hin und grabe meinen Kopf in seine erdig duftende Mähne. Während das Pferd weitergrast, erlebe ich Wunderbares auf seinem Rücken. Ich bin ein kühnes und furchtloses Indianermädchen und schütze meinen Stamm vor Angriffen. Ich male mir diese Szenen bis ins kleinste Detail aus und spüre meinen wilden Ritt auf dem Pferd, den Wind, der mir durch die Haare streift, die wendige Kraft, die in meinem Körper ist. Obwohl ich ganz still liege, atme ich schneller durch die Abenteuer, die ich erlebe.

Freudig schwinge ich ab jetzt einen Beutel mit Diebesgut in der Luft, wenn ich das Pferd besuche. »Ich habe Zwiiiiiieback!«, rufe ich schon von weitem, oder: »Mööööhren!« – oder irgendetwas anderes, das ich aus den Vorräten meiner Verwandtschaft ergattern kann. Das Pferd wartet dann bereits an der mir zugewandten Seite der Koppel und wiehert leise mit gesenktem Kopf.

Am zehnten Tag reagiert das Pferd nicht und liegt wie tot ungefähr dreihundert Meter vom Koppelzaun entfernt auf der Wiese. Die Kühe, mit denen es zusammen auf der Weide steht, grasen, ohne Beunruhigung zu zeigen. Ich klettere durch die Koppel hindurch und renne schreiend auf meinen Freund zu. Dabei wedele ich wild mit den Armen und bin außer mir vor Angst. Das Pferd hebt den Kopf, springt auf und stößt einen tiefen schnorchelnden Laut aus, der wie eine Warnung klingt. Irritiert bleibe ich stehen und folge seinem Blick. Es sieht hin zur Kuhherde, die sich gerade hinter einem riesigen Bullen formiert.

Dieser hat den Kopf gesenkt, prustet aus und rennt los. Ein Teil der Herde folgt. Das Stampfen ihrer Hufe klingt in meinen Ohren wie das Büffelgetrappel aus den Indianerfilmen, die ich so liebe. Nur ist dies kein Film – es geschieht tatsächlich.

Die Angst befreit mich aus diesem Moment des Schreckens, und ich laufe, so schnell mich meine Beine tragen, auf eine kleine Koppel mitten auf der Weide zu, die wohl zum Isolieren von Tieren dient. In sie springe ich hinein und kauere mich angstvoll in der Mitte zusammen. Der Bulle bremst kurz vor der Begrenzung ab, schnaubt aus und stampft einmal zornig mit dem Vorderhuf auf den Boden. Die Kühe hinter ihm beziehen Posten in meiner Nähe. Das Pferd scheint eine Weile die Szene zu beobachten, dann beginnt es wieder zu grasen.

Reglos vor Angst verbringe ich eine unbestimmte Zeit, bis es dämmert. Dann entfernt sich die Herde, und ich kann mich befreien. Vorsichtig um mich spähend krieche ich unter dem Koppelpfosten hindurch und robbe auf allen vieren fast in Zeitlupe über die Wiese. Mehrere Hundert Meter können lang sein, wenn man sich auf diese Weise fortbewegt. Bald bin ich völlig nassgeschwitzt und erschöpft vor Anstrengung. Die Bemühung, leise zu sein, hat offenbar meine ganze Konzentration beansprucht, denn als der Bulle plötzlich neben mir steht, bin ich vollkommen überrascht. Vor Schreck mache ich mir fast in die Hose. Es ist, als könne ich für einen Moment einen Schritt auf eine andere Seite der Wahrnehmung tun. Dorthin, wo das Leben in jedem Moment den Tod bedeuten kann. Ich sehe in das breite Gesicht des Bullen, der im ersten Dämmerlicht wirkt wie ein mächtiges Wesen aus einer anderen Zeit. Mein Blick gleitet über seine riesigen Hörner und bleibt am Schimmern seiner Augen hängen. Darin liegt so viel unmittelbares Leben, dass es mich wie ein Funke berührt. Ein tiefer Respekt vor diesem mächtigen, schönen Wesen ergreift mich. Ich spüre eine Mischung aus Angst und Demut bei der Erkenntnis, gerade nur ein kleines Wesen zu sein, das einem größeren in der Natur gegenübersteht. Das stimmt mich, trotz meiner Furcht, auf eine überwältigende Weise ehrfürchtig. Der Bulle hebt den abgesenkten Kopf, und ich habe den Eindruck, als schauten wir uns beide für einen Moment lang fast verwundert an. Mit meinem ganzen Gewahrsein spüre ich, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgeht. Verlegen um einen Abschiedsgruß, nicke ich in seine Richtung, bevor ich mich erhebe und langsam weggehe.

Bei meinem späten Heimkommen werde ich mit Fragen bestürmt. Alle sind in hellem Aufruhr gewesen, wo ich bleibe, und ich muss mein Geheimnis lüften. Als ich bei der Geschichte mit dem Bullen ankomme, schlägt sich mein Onkel die Hand vor den Mund, und meine Tante wird blass. »Dieses Tier hat letzte Woche einen Melker getötet. Bist du wahnsinnig?! Was hätte passieren können?! Du gehst dort nie wieder hin! Ist das klar?!« Meine Tante bebt vor Aufregung. Ich muss mein Versprechen halten, und so sehe ich das Pferd und den Bullen nicht wieder.

Doch diese und andere Erfahrungen mit Tieren zeigen mir, dass es eine Welt gibt, in der man verbunden ist, in einer geheimnisvollen Form des Seins.

Die zugleich realsten wie auch unwirklichsten Seeleninseln sind bis zu meinem zwölften Lebensjahr hohe Fieberschübe, die ich mehrfach im Jahr habe. Sie überfallen mich während einer Mandelentzündung und schleudern mich zuerst in eine Welt des Spuks, die ganz grauenvoll ist.

Reglose Königinnen und Könige werden in Sänften durch die Gegend getragen. Bleichgeschminkt sitzen sie wie Puppen darin und blicken mit leeren Augen in die Welt. Ihre Kleidung und Sänftenausstattung quellen über von Rüschen. Ich habe das Gefühl zu ersticken beim Anblick des überbordenden Tülls. Manchmal schweben Zuckerstangen, groß wie Leitungsrohre, über mir vorbei, und mich ekelt, dass sie so bunt aussehen und nichts in ihnen lebendig scheint.

Am meisten jedoch fürchte ich den Anblick einer Stahlplatte, unter der ich mitunter im Fieberwahn dahingleite wie unter der Plane eines Swimmingpools. Ich sehe ihre machtvolle Bauart, ihre riesigen Verschraubungen und dass dies die begrenzte Welt ist, in der ich mit anderen lebe. »Ist das furchtbar«, schreie ich häufig im Delirium, wie Mutter berichtet. Verzweifelt suche ich in meinem Fieberwahn nach einem Ausgang. Doch überall um mich herum ist nur dunkler Muff und Leere. Einmal, in größter Not, hämmere ich gegen die Stahlplatte und rufe: »Hilfe! Hilfe. Aufmachen!«

Tatsächlich verwandelt sie sich in fast durchsichtiges Pergamentpapier, und Licht flutet herein. Hinter dem Papier, das mich trennt von der anderen Welt, erscheint eine madonnenhaft wirkende Gestalt. Sie hat lange dunkle Haare und trägt ein hell umstrahltes, weißes Gewand. Die Luft hat sich bei ihrem Erscheinen verändert. Überall spüre ich Milde und Wohligkeit. Sie streckt ihre Arme aus, und wie von selbst gleite ich durch das Papier hindurch in sie hinein. Das liebevolle, ruhige Gehaltenwerden an ihrem Körper ist so überirdisch schön, dass sich jede meiner Zellen weit öffnet. Als ich aus diesem Fieberschub erwache, möchte ich nicht mehr sprechen vor Erschrecken und Trauer, wie sich die Welt anfühlt außerhalb dieses Eindrucks von Liebe.

Ein anderes Mal begegne ich bei meinen Hilferufen in einem Meer von Sternen einer männlichen Gestalt. Sie ist weich eingehüllt in ein rot-grünes wallendes Gewand, und um sie herum ist ein grünes Licht. Eine belebende, prickelnde Frische geht von ihr aus, wie von einem intensiven Platzregen nach einem stickigen Tag. Die Erscheinung steht in der Mitte eines Kreises aus grau ummantelten Menschen, deren Gesichter unter den Kapuzen nicht zu erkennen sind. Erstaunt registriere ich, dass auch ich in diesen Kreis eingereiht werde und nun eine ebensolche graue Kutte trage. Warum bin ich hier, und wer sind die anderen, denke ich erstaunt.

Die Gestalt in der Mitte hebt daraufhin wie ein Dirigent den Arm, und die Hände im Menschenkreis verbinden sich. Ganz langsam beginnen wir zu schweben und uns zu drehen wie ein Rad. Von Runde zu Runde werde ich immer tiefer von einem wundersamen Wohlgefühl erfüllt. Unsere Kutten beginnen zu phosphoreszieren und in unzähligen Farben zu leuchten. In diesem Moment spüre ich, dass das Leben Myriaden von Möglichkeiten bietet und es weder eine Stahlplatte noch andere Begrenzungen gibt.

4 Im Wesentlichen bildete diese kindliche Form, das Leben zu verstehen, wohl auch den Einstieg für die Aufstellungsarbeit, die ich heute als vielfältiges Werkzeug in meiner therapeutischen Begleitung verwende.

Heilung

Der Weg zur Heilung wird von vielen betreten. Manche gehen ihn hastig, um schnell zum Ziel zu kommen. Andere gehen ihn vorsichtig, um ja keine Fehler zu machen. Viele suchen Abkürzungen, einige scheuen keinen Umweg. Menschen verlaufen sich darauf oder finden etwas, wonach sie suchen.

Egal, wie du ihn gehst, du kannst den Prozess des Lebens weder beschleunigen noch anhalten – du kannst nur ein Teil davon werden, um ganz lebendig zu sein. Welche äußerlichen Ziele du auch verfolgst – das Leben kann sich nur in deinem Inneren entfalten.

Aus der Wahrheit über uns selbst kommt Heilung.

Alle im Außen erreichten Erfolge und Taten fallen von dir ab wie ein Mantel, wenn du wieder gehst. Du nimmst nur mit, wie lebendig sie dich gemacht haben oder nicht. Welche Spuren hinterlassen sie in deiner Seele? Wie viel Liebe und Mitgefühl hast du empfunden und wie viel Freude? Hast du dem Schmerz zugehört, der dein Lehrer sein wollte? Hast du die Angst zugelassen, die dir Kraft geben wollte, um etwas zu verändern? Oder bist du allem ausgewichen, was dir Furcht machte und dir Unbehagen bereitete? Hast du dich betäubt in der Illusion, das Leben fühle sich gedämpft sicherer an? Oder denkst du, es ist nur lebenswert, wenn es Belohnungen bereithält?

Egal, wo du gerade stehst – sobald du die Wahrheit über dich selbst erkennen und annehmen kannst, wirst du in den Prozess deines Lebens zurückfinden.

Der Weg zur Heilung, auf den ich dich einladen möchte, ist sowohl ein sehr persönlicher als auch einer, auf dem ich bereits viele Menschen begleiten durfte. Mit Heilung sind weder spezifische Behandlungen noch Heilversprechen gemeint.

Heilung bedeutet für mich ein Zusammenfinden von allem, was in uns getrennt ist und uns von anderen trennt.

Sich wieder beisammenzuhaben in Körper, Geist und Seele ist ein heilsamer Prozess. Du kannst dir deiner selbst nur wieder sicher werden, wenn du bereit bist, dich wahr- und anzunehmen. Die Entfremdung und Hilflosigkeit, die durch gesellschaftliche und persönliche Traumata entstanden sind, kann nur durch Selbstermächtigung wieder aufgelöst werden. Es ist Zeit, in die eigenen Kräfte zurückzufinden, anstatt auf die Entscheidungen anderer zu warten und in einer Illusion von Ohnmacht zu verharren.

Oft tun wir etwas nicht, weil wir Angst haben. Wir schreiben einen Brief nicht, vermeiden ein klärendes Gespräch, eine Kündigung oder einen Umzug. Wir warten dann auf den »richtigen Moment«, der nie kommen kann, weil es Dinge gibt, die uns naturgegebenermaßen Angst machen, wie zum Beispiel Veränderungen. Wir hätten als Spezies nicht lange überlebt, wenn wir bei Veränderungen keine Angst spüren würden, die uns sowohl zu ausreichend Vorsicht als auch zu kreativen Ideen bringt. Deshalb ist es vermutlich einer der größten Irrtümer, erst auf Angstfreiheit zu warten, um etwas zu verändern.

Wesentliche Veränderungen im Leben können häufig nur mit dem Motor der Angst gemacht werden.

Willst du die Angst vor einer Veränderung vermeiden, so ist das, als würdest du den Motor von einem Auto ausbauen und dann starten wollen.

Wenn du den Zündschlüssel der Angst jedoch mutig umdrehst, kannst du starten.

Die wahre Angst ist fantasievoll, mobilisiert, will einen Ausweg finden und Veränderung herbeiführen. Hab also keine Angst vor der Angst.

Carlas Schatz

Carla besucht 2012 mein erstes Heilseminar, um Veränderungen in ihrem Leben zu erreichen, wie sie sagt. Sie will ihren Körper mögen lernen, ihren Hund anders führen können und den Rückzug vor den Menschen beenden. Forsch wirft sie ihre Tasche auf den Boden neben einen Stuhl, wuchtet ihren kräftigen, großen Leib auf die Sitzfläche und beginnt mit zusammengekniffenen Augen die anderen zu beobachten. Dann lehnt sie sich zurück, streicht sich durch die kurzen dunklen Haare, reckt kämpferisch ihr Kinn nach oben und sieht herausfordernd in die Runde. So, nun zeigt mal, was ihr draufhabt, könnte ihr Blick bedeuten.

Am Ende des ersten Seminartages kommt sie zu mir und beschwert sich: »Die anderen hier sind nicht auf meinem Niveau, wie soll ich da weiterkommen?« Einigermaßen verblüfft über diese Aussage stelle ich ihr frei, weiter teilzunehmen oder nicht.

Am nächsten Morgen meldet sie sich zu einer Einzelarbeit vor der Gruppe. Seltsam genussvoll beschreibt sie ihre Themen und sieht sich dabei um, als wolle sie die anderen zu einem Problem-Duell herausfordern. »Ich musste mit einer schwer gestörten, narzisstischen Mutter leben, die mir jeden Atemzug missgönnt hat.« Wer hat mehr zu bieten, drückt ihr Blick in die Runde aus. »Sie hat mich geprügelt, eingesperrt, verachtet, gedemütigt und von anderen ferngehalten. Sie hat mich seelisch verkrüppelt.« Diesmal ist ihr Blick in die Runde eher ein: Na, da staunt ihr, was!

Es ist wahrnehmbar, dass sie die Hintergründe ihrer Themen bereits gut erforscht und zusammengetragen hat. Doch sie sitzt darauf wie auf einem Schatz und nicht wie auf einem Scheiterhaufen.

Um sie herauszufordern, frage ich, was sie im Leben tun würde, wenn all diese Probleme nicht mehr vorhanden wären, weil sie gelöst sind.

Ungehalten und überrascht schluckt sie und funkelt mich böse an. »Das ist doch Blödsinn und rein spekulativ, ich habe sie ja, und sie werden so schnell auch nicht weggehen!« Danach verschränkt sie die Arme und sieht mich provozierend an. Es ist spürbar, dass ich sie mit solcherart Fragen nur verärgere und einen ersten Bruch herbeigeführt habe.

Danach begegnet sie jeder meiner Aussagen mit einem »Aber …«.

Carla hat bereits viele Therapien angefangen und wieder abgebrochen sowie Workshops und Seminare besucht. »War alles sinnlos«, berichtet sie. »Hat nichts gebracht fürs Geld.«

Sie ist offenbar der Meinung, dass diese Unterstützungsangebote ein bezahlter Service seien, bei dem ihr im Anschluss Lebensveränderungen zustünden, ohne dass sie selbst etwas zu verändern bräuchte.

Ich habe viele Menschen kennengelernt, die nach Unterstützung suchten, ohne etwas verändern zu wollen. Dieser Widerspruch führte oft dazu, dass ich mich entweder abzuarbeiten begann oder von therapeutischen Kolleginnen den Rat bekam, mit einem Menschen, der eine solche Einstellung hat, nicht zu arbeiten, weil es keinen Zweck hätte. Beides, das Abarbeiten wie der Abbruch, fühlt sich für mich nicht richtig an. Wenn ein Mensch immer wieder nach Hilfe sucht, ist da auch jemand in ihm, der sie braucht. Es muss also einen Weg geben, um Carla zu unterstützen, und ich möchte ihn finden.

Wie immer im Leben folgen rasch Antworten auf das, worauf man seine innere Aufmerksamkeit richtet. Dazu nehme ich dich nun mit, bevor ich von Carla weitererzähle.

Die neue Perle

Eine verletzende Bemerkung meiner Mutter umkreist mich wie ein lauerndes Raubtier – jederzeit bereit, die Zähne in alte Wunden zu schlagen. Ich versuche, mich auf die Hunde zu konzentrieren, während wir durch den Wald gehen. Doch mit jedem Schritt sinkt ihre Klage – »Du warst wirklich ein schwieriges Kind, es hat mir sehr viel abverlangt, was du alles gemacht hast« – tiefer in mich ein. So viel Lebenskraft habe ich dafür aufgebracht, Mutter zu schonen und auf vieles zu verzichten, was sie ängstigte, aufregte und bestürzte, mir jedoch Freude bereitet hätte – und sie hat es nicht einmal bemerkt. Noch immer bin ich in ihrer Vorstellung einfach zu viel für sie, und der Schmerz, den diese Erkenntnis in mir auslöst, haut mich wie eine Abrissbirne fast um.

Spreche ich Mutter daraufhin an, erwidert sie: »Das stimmt nicht. Du warst ein Wunschkind. Ich wollte dich haben.« Doch dabei tritt nie ein zärtliches oder liebevolles Lächeln auf ihre Lippen. Ich spüre nur Bedürftigkeit und Trauer in ihrer Stimme. Auch wenn sie mir versichert, dass sie mich liebt, habe ich nie das Gefühl, dass sie mich wirklich mag und meine Nähe auch dann suchen würde, wenn wir nicht Mutter und Tochter wären.

Dennoch war es früher für uns beide nicht vorstellbar, uns nicht immer wieder der vermeintlichen Liebe zu versichern. Wir hatten so große Sehnsucht danach und wussten nicht, dass die Fähigkeit zu lieben, nicht allein durch unser Wollen und Wünschen entsteht – sondern nur durch die erlebte Erfahrung von Liebe. So versuchten wir, eine harmonische Beziehungslandschaft für uns zu erschaffen, doch es war, als hätten die Bäume darin keine Wurzeln und die Blumen keinen Duft.

Mich erstaunt, wie sehr diese Wunde noch immer schmerzt, wenn sie wieder berührt wird. Obwohl ich gelernt habe, für mich und meine Bedürfnisse einzustehen und dem willkürlichen Wollen meiner Mutter nicht mehr nachzugeben – es tut weh.

Hinter diesem Schmerz steigt Wut auf. Sie lässt mein Herz rasen, klopft im Hals und gerinnt zu einem Kloß, den ich nicht ausspucken kann.

Wieder versuche ich, mich den Hunden zuzuwenden, um mich aus diesen Erinnerungen zu befreien und in die Gegenwart zurückzufinden.

Die kleine Hündin Tinka untersucht gerade einen Fichtenzapfen auf dem bemoosten Boden, den ein Eichhörnchen abgeknabbert hat. Um den Zapfen herum sind Schuppen verstreut, die der Nager entfernte, um an die Samen heranzukommen. Frieda hat ein Bein angehoben und markiert mit einem missgünstigen Blick die Stelle, auf der sie hockt. Mitja trägt mit zurückgeworfenem Kopf und einem triumphierenden Grummeln einen Stock und versucht, Raida auf sich aufmerksam zu machen. Der große Blonde jedoch schnüffelt gerade an ein paar Zweigen im Unterholz, die offenbar größere Tiere gestreift haben. Er muss den Kopf weit hochrecken, um sie zu erreichen. Plötzlich zuckt seine Nase heftig, und sein Kopf schnellt in Richtung Unterholz herum. Für einen kurzen Moment steht er ohne Regung, als kalibriere er gerade einen Kompass in sich.

Es ist klar, dass dies der Auftakt zu einem »Ausflug« werden soll, und ich sage: »Hier bleibst du!« Meine Stimme klingt gereizt, und ich spüre, wie der zuvor stecken gebliebene Wutkloß nun aus mir herausfahren will. Dennoch ist mir bewusst, dass Raida nichts dafürkann, und ich versuche, mich zusammenzunehmen. »Raida, du bleibst bitte hier«, sage ich vermeintlich ruhig. Doch wie immer, wenn ich mich nur äußerlich zusammenreiße, sieht er mich an mit einem Blick, der sagen könnte: Gut, dann zeige ich dir mal, wo der Hammer hängt, und rennt los.

An einer Stelle, an der ich ihn gerade noch sehen kann, hält er an und beginnt, sich im Kreis zu drehen. Dann findet er offenbar, was er sucht und schnüffelt.

Raida rennt weg

Obwohl dies sichtbar das Ende seines Ausfluges kennzeichnet und kein Handlungsbedarf meinerseits mehr nötig wäre, wühlt der Ärger in mir. Ich fühle mich stehen gelassen, nicht ernst genommen, vorgeführt. Das »Raubtier« hat mich gepackt und bestimmt den Ton. »Raida, hierher, sofort!« Der große Blonde blickt alarmiert auf, wägt die Situation ab und schnüffelt dann gemächlich weiter.

»Hierher! Aber dalli!« Das Raubtier in mir startet und prescht durch das Unterholz auf ihn zu. Zweige peitschen mir ins Gesicht, immer wieder stolpere und rutsche ich über die mit Laub bedeckten Äste am Boden und verliere das Gleichgewicht. Das Clowneske an meinem Lauf löst eine Mischung aus Scham und Wut in mir aus. Wenn mich jetzt jemand sehen würde, das wäre mein Untergang, sagt eine weitere Stimme in mir.

Raida wägt ab

Schockiert registriere ich, wie sehr der Zorn gerade dem meiner Mutter ähnelt, wenn sie in meiner Kindheit etwas an mir wegschlagen wollte. Dennoch beendet dieser Schreck nicht meine Wut. Im Gegenteil, das plötzlich ausgebrochene Raubtier will Raida endlich unter Kontrolle bringen und seine Verweigerung brechen. »Du-kommst-jetzt-hierher!«, brülle ich noch einmal, so fest ich kann, und meine Stimme hört sich dabei seltsam kindlich an. Raida sieht jetzt nicht einmal mehr auf, und ich beginne zu zittern vor Ohnmacht und Erregung.

Fahrig stolpere ich weiter durch das Unterholz und stürze plötzlich rückwärts in eine Bodenkuhle. Es ist, als fiele ich abrupt in meine eigene Wut hinein, und ich komme zur Besinnung. Ich setze mich auf, lege eine Hand auf mein Herz, das rasend klopft, und die andere an meinen Hals, der wie zugeschnürt ist und brennt. Auch jetzt ignoriert mich Raida, während ich ihn entsetzt von so viel vermeintlicher Gleichgültigkeit anstarre. Wie kannst du nur, denke ich. Warum ist es für dich vollkommen unerheblich, was ich fühle und was mit mir ist! Ein tiefer Schmerz setzt sich wie ein zweiter Körper in mich hinein. In diesem Moment schiebt sich das Gesicht meiner Mutter vor den Hund. Ich sehe ihren unwilligen Blick, der kalt über mich hinweggeht. Ein tiefes Schluchzen schüttelt mich bei dieser Erinnerung, die der Hund in mir weckte. Ich wiege meinen Oberkörper vor und zurück und registriere plötzlich erstaunt, dass Raida ganz nah vor mir steht und mich aufmerksam ansieht.

Raida sieht mich an

Auch Frieda, Mitja und Tinka sind unbemerkt herangekommen und stehen ruhig neben mir. Sie geben mir ein Gefühl von Geborgenheit und Annahme, wie damals die russischen Hunde in der Gewitternacht.

Ich schließe noch einmal die Augen, und eine stumpfe kleine graue Kugel erscheint, in der offenbar der gerade erlebte Schmerz gefangen ist. Über der Kugel schwingt eine Perlenkette, und ich weiß intuitiv, jede Perle steht für all die Wertschätzung und die Liebesbeweise, die ich inzwischen von anderen Menschen erhalten habe. Während ich die einsame graue Kugel und die Perlenkette betrachte, wird mir klar, warum mich auch spätere Anerkennungen nie von einem latenten Gefühl der Wertlosigkeit erlösen konnten: Während ich mit der Ansammlung neuer Perlen beschäftigt war, um mich besser zu fühlen, ist die graue Kugel nie erlöst worden. Der in ihr enthaltene Schmerz enthält so viel Schwere, dass ich unbewusst immer davon beschwert blieb.

Plötzlich erscheint das Wort »Schmerz« in einer Art Monitorscheibe und starrt mich an wie ein Ungeheuer, das ich scheinbar niemals besiegen kann.

Einer Eingebung folgend wische ich das Wort »Schmerz« aus dem Monitor heraus, sodass nur noch das Gefühl zurückbleibt, ohne eine Bezeichnung dafür.

Jetzt verändert sich alles. Was mich zuvor fast überwältigt hat, kann ich nun ohne Zögern in mich aufnehmen und verdauen. Die Energie in meinem Herzen und Hals fließt in meine Hände, die wie heilsame Hüter auf ihnen liegen und den Schmerz in mir ganz ohne Last beheimaten. Wie viele Jahre habe ich damit zugebracht, ihm auszuweichen in der Annahme, er würde mich überwältigen. Was habe ich alles an Strategien ausprobiert, um ihn zu umwandern, zu überlisten, zuzudecken und zu verleugnen. Mir dämmert, dass ich durch seine Ablehnung auch das kleine Mädchen aus seinem Grabhügel nicht befreien konnte, weil es ja mit diesem Schmerz verbunden war.

Tiefe Reue steigt in mir auf, dass ich es so allein gelassen habe. Während ich seiner Einsamkeit und Schutzlosigkeit nachspüre, fühle ich das kleine Mädchen von damals. »Verzeih mir«, flüstere ich und lege sein Gesicht in meine Hände. Es ist eine alles verändernde Erfahrung, dass etwas in mir lebt, das auch den größten Schmerz akzeptieren und verdauen kann. Die Lehrerschaft, die ich gerade durch ihn erfahre, ist die Akzeptanz des Lebens in all seinen Farben.

Plötzlich bewegt sich die kleine graue Kugel auf die Perlen zu und reiht sich wie selbstverständlich in die Kette hinein. Perplex nehme ich wahr, wie der in ihr enthaltene Schmerz sich auflöst zwischen all den Perlen erlebter Zuneigung und Anerkennung. Er verwandelt sich nun ebenfalls in eine Perle und wird zu einem neuen Teil meines Lebens.

Sich befreien

Trauma bedeutet, dass etwas in uns abgespalten wurde, um schockierende Kurz- oder Langzeiterfahrungen zu überleben, um im Alltag weiter zu funktionieren. Diese Möglichkeit der Trennung von uns selbst ist dafür ausgelegt, uns so lange zu schützen, bis die Gefahr vorbei ist.

Gibt das Nervensystem Entwarnung, weil genügend Sicherheit vorhanden ist, wird die Energie der überwältigenden Erfahrung wieder freigesetzt, in dem wir sie abzittern. Vielleicht hast du das bereits einmal nach einer OP