Der Inder - Stephan Elbern - E-Book

Der Inder E-Book

Stephan Elbern

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Beschreibung

Durch den Golfstrom getrieben, gelangen einige Proto-Indianer aus dem Stamm der Schlangensöhne nach Gallien, von dort nach Rom. Hier erlebt ihr Anführer Kriegsadler eine leidenschaftliche Aff äre mit der schönen Clodia, der Gattin eines einflußreichen Senators. Der betrogene Ehemann plant eine grausame Rache... Geschickt verbindet der Roman die abenteuerlichen Geschehnisse mit der Begegnung zweier höchst unterschiedlicher Welten - des naturnahen Daseins der Schlangenkrieger und der hochentwickelten Kultur des römischen Imperiums.

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Für Katrin und Jonathan

Inhalt

Prolog

1. Die Befreiung

2. Das große Wasser

3. Gerettet!

4. Redorix

5. Zu Ariovist

6. In der Wagenburg

7. Auf dem Weg zu den Römern

8. Eine Welt der Wunder

9. Ein Rätsel wird gelöst

10. In Rom

11. Eine schicksalhafte Begegnung

12. Alte Liebe

13. Im Herzen Roms

14. Auf dem Kapitol

15. Erzählungen aus einer fremden Welt

16. Religiöse Gemeinsamkeiten?

17. Abschied von Rom

18. Auf der Villa rustica

19. „toto corpore iungi“

20. Die Orgie

21. Ertappt!

22. In die Arena!

23. Volkshelden

24. Verrat!

Epilog

Nachwort

Anmerkungen

Chronologie

Fachbegriffe

Handelnde Personen

Prolog

Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, um die eigene Anspannung zu verbergen, spähte der Kapitän seit Tagen unentwegt von dem erhöhten Achterdeck seines Schiffes nach Westen. Irgendwann mußte doch das ersehnte Land am Horizont auftauchen – dann würde sich nach einer schier unendlichen Zeit des Wartens und des Bettelns, der Tränen und der Verzweiflung der Traum erfüllen, der ihn seit Jahren umtrieb: Er würde auf dem westlichen Seeweg in das sagenhaft reiche Indien gelangen. Das nimmermüde Studium der antiken Autoren hatte ihm diesen Gedanken eingegeben, den er zunächst am Hof von Lissabon dem portugiesischen Herrscher vortrug. Aber die dortigen Gelehrten hatten seine Pläne verworfen und aufgrund der Entfernung zwischen Europa und Asien für undurchführbar erklärt.1

Danach hatte er sich an den Hof von Kastilien gewandt und dort dieselbe Zurückweisung erfahren. Erst in ihrer Freude über die Eroberung von Granada – der letzten Maurenfestung auf spanischem Boden – hatte ihm Königin Isabella drei Schiffe für die Fahrt nach Indien zur Verfügung gestellt. Nun waren sie bereits nahezu zehn Wochen mit günstigem Wind nach Westen gesegelt, aber es war immer noch kein Land in Sicht! Seine furchtsame Mannschaft hatte er in kluger Voraussicht über die schon zurückgelegte Entfernung getäuscht: Während ein geheimgehaltenes Bordtagebuch – für ihn selbst und das Herrscherpaar bestimmt – die tatsächlichen Strecken festhielt, hatte er diese in einem zweiten heruntergerechnet, damit die Männer nicht an der Rückkehr in die Heimat verzweifelten.

Immerhin kündigten allmählich untrügliche Vorboten an, daß sie sich dem Land näherten: Grasbüschel schwammen im Meer, sogar ein Zweig mit frischen Früchten; Vögel überflogen die Schiffe. Der Kapitän wußte, daß in der Zeit der Römer einige Inder – von Stürmen verschlagen – nach Europa gelangt waren. Dann mußte es doch auch auf dem entgegengesetzten Weg möglich sein, das Ziel seiner heißen Träume und Sehnsüchte zu erreichen! Oder hatte er sich vielleicht bei der Deutung der antiken Texte geirrt? Plötzlich erscholl aus dem Mastkorb der erlösende Ruf „Land! Land!“ Es war zwei Uhr nachts, im Mondlicht schimmerte das Gestade einer Insel. Man schrieb den 12. Oktober 1492.

1. Die Befreiung

„Wie viele Männer sind es?“ fragte der Anführer. „Es sind so viele Hütten, wie Finger an meiner rechten Hand“, erwiderte der Späher. „In jeder leben vielleicht drei Krieger, dazu Weiber, Kinder und Alte.“ „Sie sind mehr als wir“, stellte der Anführer fest, „wir müssen bei Nacht lautlos über sie herfallen. Sie müssen sterben, bevor sie zu sich kommen.“ „Und der Wächter?“ wandte der Kundschafter ein. „Den nehme ich auf mich.“ „Das ist gut“, murmelte der dritte Krieger, der gemeinsam mit einem weiteren Gefährten neben den beiden am Boden kauerte. „Dein Fuß ist lautlos wie ein Fisch im Wasser und dein Messer scharf wie der Zahn des Grauen Bären. Er wird sterben, ohne einen Laut zu vernehmen.“ „Aber die beiden Wachhunde werden uns bemerken,“ versetzte der Späher. „Wir müssen uns den Hütten gegen den Wind nähern, dann können sie uns nicht wittern. Eure Pfeile werden sie töten, bevor sie den geringsten verräterischen Laut ausstoßen“, wandte er sich an die beiden kauernden Gefolgsleute. „Unser Schicksal liegt in eurer Hand. Wenn uns die Hunde bemerken und anschlagen, sind wir verloren! Aber jetzt laßt uns ausruhen; vor Einbruch der Dunkelheit können wir nichts unternehmen.“

Während sich die drei Gefährten in ihre Mäntel wickelten und zu schlafen versuchten, übernahm der Anführer die Wache. Wie ein Eichkätzchen kletterte er auf den hochragenden Baum neben ihrem Rastplatz. Von dort ließ er die Augen über die Hütten und ihre Umgebung schweifen. Seinem geübten Blick würde nicht die geringste Kleinigkeit entgehen!

Unterhalb der Anhöhe, auf der die vier Krieger lagerten, weitete sich eine Lichtung; diese durchzog der Fluß, dessen Unterlauf sie zuletzt gefolgt waren. An seinem Ufer hatten die Breitschädel fünf provisorische Sommerhütten errichtet; diese pflegten sie im Herbst aufzugeben, wenn sie in ihre sorgsamer und dauerhafter gebauten Winterdörfer übersiedelten.2Die Behausungen folgten dem Typus, den er und sein Stamm von zahlreichen Raub- oder Beutezügen kannten. Es waren Rundhütten, errichtet aus paarweise verbundenen aufrechtstehenden Baumstämmen. Dach und Zwischenräume bestanden aus ineinander verflochtenen Zweigen, über die gegerbte Tierhäute gespannt waren; eine Pflanzenmatte bildete den Zugang. Die Häuser waren so angeordnet, daß die Türöffnungen einander gegenüberlagen – so konnten sich die Bewohner im Fall eines Angriffs rasch gegenseitig zu Hilfe kommen. Sie mußten also nicht nur lautlos, sondern auch überaus schnell zuschlagen, sonst wären die Feinde sofort über ihnen. Und eines mußte man den verhaßten Breitschädeln zugestehen: Sie waren zwar häßlich und ungestalt mit ihren vom frühen Kindesalter an verformten Köpfen – aber zu Recht weithin als Krieger gefürchtet! Nicht nur, daß sie mit ihren Waffen vortrefflich umzugehen wußten – sie übertrafen auch sein eigenes Volk, die stolzen Söhne der Großen Schlange, durch ihre langgestreckten Gestalten. Sicher beherrschten seine Stammesgefährten ihre Waffen mit derselben Meisterschaft, man konnte auch die körperlichen Vorteile der Feinde durch größere Gewandtheit und die geistige Überlegenheit ausgleichen, mit der sie die Große Schlange zu Anbeginn aller Zeiten vor den anderen Völkern ausgezeichnet hatte. Aber man durfte die Breitschädel nicht als Gegner unterschätzen, so sehr man sie auch sonst zu verachten pflegte.

Seit mehr als einem Mond war er mit seinen drei Gefährten auf ihrer Spur. Geschickt hatten die Feinde eine günstige Gelegenheit genutzt – fast alle Krieger aus dem Dorf der Schlangensöhne waren auf der Jagd gewesen, nur wenige als Wache zurückgeblieben. Bei der Rückkehr von der erfolgreichen Pirsch hatten sie nur noch ihre Leichen vorgefunden. Immerhin waren sie im tapferen Kampf gestorben; hoffentlich hatten sie ihren Tod noch an den siegreichen Gegnern gerächt. Diese hatten jedoch die eigenen Gefallenen – wenn es sie denn gegeben hatte – ihrer Sitte folgend mitgenommen, um sie in der Heimat würdig zu bestatten. Schlimmer war es den Alten ergangen, den Frauen und Kindern; ihre Körper wiesen die blutigen Spuren furchtbarer Qualen auf. Wenigstens waren ihnen die tagelangen Martern erspart geblieben, für die man die Breitschädel fürchtete und haßte. Die Feinde hatten keine Zeit für ihre üblichen sadistischen Spiele gehabt, da sie jederzeit mit der Heimkehr der Jäger rechnen mußten.

Diese waren tatsächlich wenig später zurückgekommen und hatten die übel zugerichteten Toten aufgefunden. Auch die Spuren der Räuber waren noch deutlich erkennbar. Mit Schaudern erinnerte er sich an den ersten Schrecken, der ihn damals befallen hatte. Wo war Schönes Haar? Er hatte seine Braut nicht unter den aufgetürmten Leichen entdeckt; auch in den Hütten lag sie nicht. Das ließ nur einen Schluß zu: Die blutgierigen Breitschädel hatten sie mitgeschleppt! Kein Wunder – sie war das schönste Mädchen des ganzen Stammes: Ihr schlanker Wuchs, die langen schwarzen Zöpfe, das ebenmäßige Antlitz und die kohlefunkelnden Augen hatten ihn schon bei der ersten Begegnung in den Bann gezogen. Aber auch sie hatte ihm später eingestanden, daß ihr seine hochgewachsene kraftvolle Kriegergestalt nicht verborgen geblieben war.

Freilich gab es mehrere junge Männer, die sich um die Gunst des Mädchens bewarben, und ihr Vater Grauer Wolf war ein hochangesehenes Mitglied des Stammes: In jungen Jahren durch seine kriegerischen Taten weithin berühmt, hatte auch er ein schönes Mädchen heimgeführt. Als das Alter seinen Tribut forderte, war er zu einem der angesehensten Ratgeber der Häuptlinge aufgestiegen. Die langjährige Erfahrung im Kampf und bei der Jagd, ein wohlüberlegtes, kluges Urteil sowie die unbestechliche Redlichkeit als Schlichter in zahllosen Streitigkeiten – bei dem eigenen Stamm ebenso wie im Verkehr mit auswärtigen Händlern oder sogar benachbarten Gruppen – hatten ihm höchste Achtung eingetragen; es gab wohl keinen Anführer in Krieg und Frieden, der sich leichtfertig über seinen erprobten Rat hinweggesetzt hätte.

Obwohl sich der junge Mann bereits durch einige mutige Taten hervorgetan hatte, war er dennoch nur zögerlich gefolgt, als ihn der Alte kürzlich an das Feuer des großen Gemeinschaftshauses rief. Dort hatte er ihm eröffnet, daß er seinen Aufstieg zu einem der bewährtesten jungen Krieger des Schlangenvolkes mit Wohlgefallen beobachtet habe: „Ich sehe, wie deine Blicke meiner Tochter folgen – und wie der ihre auf dich fällt. Ich bin ein alter Mann, und ich will, daß unsere Sippe fortlebt. Daher möchte ich, daß sie dir dereinst in dein Haus folgt. Wie viele Feinde hast du schon getötet?“ „Zwei“, hatte er wahrheitsgemäß erwidert, und ihm war klar, daß es in den Augen des alten Helden lächerlich scheinen mochte. Grauer Wolf nickte jedoch nachdenklich mit dem Kopf: „In deinem Alter hatte ich nicht mehr erlegt, du hast noch Zeit. Und ich erinnere mich – es waren starke Gegner, außerdem hast du dich als Kundschafter ausgezeichnet. Du bist mutig und besonnen zugleich, ein guter Läufer und Schwimmer, sicher mit Messer und Beil. Ich werde dir meine Tochter geben. Als Geschenk magst du ihr an jenem Tag den Schädel eines weiteren Feindes überreichen. Der bezwungene Geist des Toten, seine Kraft, Gewandtheit und Schnelligkeit werden auf euren erstgeborenen Sohn übergehen. Wähle ihn also gut aus! Meine Tochter kann erwarten, daß du ihr ein Siegeszeichen bringst, das ihrer Schönheit, dem betagten Vater und eurem Sohn Ehre einträgt.“

Nun aber war sie geraubt worden – von den Breitschädeln, deren Häßlichkeit ihn nur noch mehr erbitterte. Sollte sich ausgerechnet einer von ihnen in den jungfräulichen Schoß von Schönes Haar drängen? Allein dieser Gedanke ließ ihn erschauern!

Wochenlang war er mit drei Gefährten den Spuren der Mörder und Entführer gefolgt. Zunächst war dies ganz leicht gewesen, denn das Mitführen der eigenen Gefallenen hatte deren Geschwindigkeit erheblich beeinträchtigt. Aber dann hatten sie offenbar die Leichen irgendwo am Wege vergraben, um sie später heimzuholen und in einem ihrer Grabkegel beizusetzen. Danach war es ihm nur mit Mühe gelungen, der Fährte zu folgen. Vielleicht wären ihnen die Feinde längst entkommen, aber er vermutete, daß Schönes Haar alles Menschenmögliche versuchte, um ihren Marsch zu verlangsamen. Sie brauchte ja nicht zu befürchten, daß die Breitschädel sie verstümmelten oder sonstwie blutig bestraften, wie sie es in solchen Fällen häufig taten. Sie würden doch den Wert einer so ansehnlichen und kostbaren menschlichen Beute nicht mindern! Und daß man sie vielleicht hungern und dürsten ließ – das nahm seine Braut mit Sicherheit gern auf sich, wenn sie ihm nur mit weiblicher List ermöglichte, die Feinde einzuholen und sie zu befreien.

Vielleicht war einer der Entführer auch ein angesehener Krieger – und dessen abgetrennter Kopf das Siegeszeichen, das sein künftiger Schwiegervater von ihm gefordert hatte. Für einen kurzen Moment erfüllte ihn stille Sehnsucht – die Geliebte in die Arme zu schließen, die Freude in ihren Augen strahlen zu sehen, aber auch danach, vor den Ältesten des Stammes von der gelungenen Befreiung zu berichten – mit dürren, zurückhaltenden Worten, wie es einem wahren Krieger geziemte, aber in dem stolzen Bewußtsein, daß ihm die ehrwürdigen Väter des Schlangenvolkes wohlgefällig lauschten und sich sein Ruhm weiterhin mehrte. Die jungen Frauen würden mit Bewunderung auf ihn blicken – das galt es bei aller Zuneigung für Schönes Haar zu genießen! –, die Kinder zu ihm aufschauen und bei ihren Kriegsspielen dem Besten seinen Namen geben.

Aber nur für einen flüchtigen Augenblick ließ er sich ablenken, dann wandte er die Aufmerksamkeit wieder ganz den Feinden zu. Nach Einbruch der Dunkelheit würde er ihr Dorf erkunden. Mit einem zufriedenen Lächeln fiel sein Auge auf die drei Kameraden. Die Strapazen der letzten Wochen hatten ihren Tribut gefordert; sie waren eingeschlafen, voll Vertrauen auf seine Wachsamkeit. Wie viele erfolgreiche Raubzüge hatte er mit den bewährten Freunden schon erlebt! Sie hatten sich als treu bis zur Selbstaufgabe erwiesen, außerdem als hervorragende Krieger: Tödlicher Pfeil war ein Meister mit dem Bogen; er traf den Vogel im Flug, niemand wußte das todbringende Geschoß so weit zu entsenden. Großer Biber – der Name sagte es – war ein vorzüglicher Schwimmer, der zudem lange Zeit unter Wasser bleiben konnte. Wie oft hatte er feindliche Siedlungen oder gegnerische Raubscharen auf dem Marsch ausgespäht; dabei verbarg er sich geschickt unter der Wasseroberfläche, den Körper schwarzbemalt und dadurch unsichtbar, im Mund ein Schilfrohr, das ihn mit Atemluft versorgte. Sein engster Gefährte aber war der Schnelle Hirsch – ein ausdauernder Läufer und gefürchteter Kämpfer mit dem schweren Kriegsbeil. Mit solchen Kameraden konnte man schon einiges wagen!

Aber im Urteil der Stammesgenossen stand er, Kriegsadler, noch weit über den Freunden. Dies beruhte weniger auf seinen körperlichen Fähigkeiten, auch wenn er ihnen darin durchaus gleichkam. Es war vielmehr ein fast untrüglicher Sinn für den günstigen Augenblick zum tödlichen Schlag, aber auch dafür, wenn es galt, sich klug zurückzuziehen, bis sich eine bessere Gelegenheit zu kühner Tat bot. Deshalb hatte er auf seinen Unternehmungen noch nie einen der Gefährten im Kampf verloren, sie hatten auch nur wenige, zudem leichte Wunden davongetragen. Ihm zu folgen, verhieß Ruhm und Ehre, außerdem reiche Beute und kriegerische Trophäen.

Ein kalter Windhauch streifte ihn; es begann Abend zu werden. Nun wurde es im Dorf lebendig; die Frauen bereiteten das Essen vor. Die Krieger versammelten sich um einige Feuer, der Rauch ihrer Tabakspfeifen stieg in die Luft. Diese Barbaren mißbrauchten die kostbare Gabe der himmlischen Mächte zu jeder Gelegenheit – anders als die Schlangensöhne, bei denen dieser Genuß besonderen Anlässen vorbehalten war, etwa um die Götter des Stammes oder hochverdiente Krieger zu ehren. Aber sie würden die gebührende Strafe erhalten! Haß und Abscheu stiegen in Kriegsadler auf – und erneut die Furcht (ja, hier konnte sie auch den tapfersten Mann befallen!), einer der Breitschädel könnte sich an seiner schönen Braut vergehen.

Nun brachten die Frauen die Tongefäße zu den Feuern; der Duft von gebratenem Fleisch stieg auf. Die Umgebung war reich an jagdbarem Wild – am Fluß hausten Waschbären, Biber errichteten ihre kunstvollen Dämme, Hirsch und Elk stillten hier den Durst, auch der schwarze Bär, dem man zwar besser aus dem Weg ging, den aber die verhaßten Breitschädel – Feiglinge waren sie nicht! – dennoch tapfer angingen. Mißmutig kaute Kriegsadler an dem harten Trockenfleisch, das sie als eiserne Ration mit sich führten. Auf dem Weg hatten sie sich überwiegend von Waldfrüchten und Nüssen ernährt, manchmal auch ein Tier erlegt, das ihnen zu spät ausgewichen war und dadurch zur raschen Beute wurde. Nichts durfte die Verfolgung der Räuber und Mörder aufhalten! Immerhin hatten sie in dieser wasserreichen Gegend niemals dürsten müssen. Eine alte Frau erregte seine Aufmerksamkeit; sie humpelte zu einer kleinen Hütte, ein Tongefäß in den Händen. Vor dem hölzernen Bau hockte ein Bewaffneter; er hatte seinen Speer, das Kriegsbeil sowie Bogen und Köcher neben sich gelegt und schien sich zu langweilen. Das hätte sich keiner von Kriegsadlers Stammesgenossen erlaubt – auf der Wacht war die höchste Aufmerksamkeit geboten! Auch wenn die Breitschädel zweifellos bärenstark und tapfer im Kampf waren, hatten sie sich doch nie die unbedingte Manneszucht angeeignet, die allein auf Dauer zum Erfolg führte. Der nachlässige Wächter hob die Türmatte und ließ die Alte eintreten. Kriegsadler erfaßte die Situation blitzschnell: In der Hütte wurde Schönes Haar gefangengehalten, man ließ sie offensichtlich nicht hungern. Der schläfrige Aufpasser sollte ihn nicht hindern, die Geliebte zu befreien! Doch zunächst mußte die Dunkelheit eintreten; dann würde er die Gegend sorgsam auskundschaften – und zuletzt entschlossen zuschlagen.

Das Abendessen war beendet; erneut brannten die männlichen Dorfbewohner ihre Pfeifen an, man erahnte die Laute der Unterhaltung. Allmählich suchten sie die Hütten auf, Stille senkte sich über die Siedlung. Jetzt war seine Stunde gekommen! Kriegsadler legte den Mantel ab, ebenso den Speer – er wäre beim Kriechen auf dem Boden nur hinderlich. Sorgfältig prüfte er den Sitz der kupfernen Brustplatte, des Feuersteinmessers und des schweren Kriegsbeils. „Ihr unternehmt nichts, bevor ich zurückkomme!“ schärfte er den drei Gefährten ein, die inzwischen aufgewacht waren und sich ebenfalls mit Trockenfleisch gestärkt hatten. „Wenn ich nicht bis morgen früh wieder bei euch bin, haben mich die Feinde getötet. Sollten sie mich fangen, werdet ihr es beobachten. Dann könnt ihr auch Schönes Haar nicht mehr befreien, denn die Breitschädel sind gewarnt. Kehrt in unser Dorf zurück und meldet, daß ich als Krieger der Großen Schlange einen würdigen Tod gefunden habe – entweder im tapferen Kampf oder durch die Martern der Feinde.“

Lautlos verschwand er zwischen den Bäumen, seine weichen Lederschuhe verursachten nicht das geringste Geräusch. Er war ein Meister im Anschleichen; das hatte schon mancher Feind – und zahlreiche Wildtiere – zu ihrem eigenen Verderben erfahren. Zunächst wandte er sich flußabwärts und forschte nach möglichen Fluchtwegen. Auch der tapferste Krieger konnte gezwungen sein, vor einer feindlichen Übermacht zu weichen, um später über--raschend zurückzukehren und den tödlichen Streich zu führen. Kriegsadler lächelte, als er unterhalb des Dorfes einige langgestreckte Boote am Ufer sah. Sie waren unbewacht, daher konnte er überprüfen, wo sich die Paddel befanden. Sie lagen jeweils in den Einbäumen, wie er befriedigt feststellte.

Von dort näherte er sich auf dem Bauch kriechend der Siedlung; verächtlich zog er die Oberlippe hoch: „Sie halten wirklich keine Kriegszucht“, murmelte er bei sich. „Keine Palisade, kein Wall. Sie müssen sich hier vollkommen sicher fühlen.“ Zwischen den hölzernen Behausungen flackerte im Dunkel der Nacht ein kleines Feuer, an dem ein Wächter hockte. Er hatte den Speer über die Schenkel gelegt, Bogen und Pfeile waren in Griffweite. Hinter einer Hütte hatten sich zwei struppige Hunde faul ausgestreckt. Wie eine Schlange – der Schutzgeist seines tapferen Volkes – kroch Kriegsadler zu dem kleinen Holzbau, in dem er Schönes Haar vermutete. Verstohlen spähte er durch eine Ritze, konnte aber in dem finsteren Innenraum nichts erkennen. Leises Stöhnen verriet ihm, daß sich die Bewohnerin fürchten mochte oder unter ihren Fesseln litt. Hier mußte die Geliebte sein!

Ohne von dem Posten oder den Hunden bemerkt zu werden, schlich er zu der flußaufwärts gelegenen Seite des Dorfes. Am Rande der Siedlung sah er die typischen konischen Grabhügel emporragen. Sie ähnelten denen seines eigenen Volkes, erreichten aber nicht deren eindrucksvolle Ausmaße. „Es sind eben Barbaren“, dachte er abschätzig. Zufrieden schlug er den Rückweg ein. Die Kameraden erwarteten ihn ungeduldiger, als einem Krieger zukam; aber sie zeigten es wenigstens nicht. Zunächst beschrieb er ihnen die Lage der Häuser und der Langboote, dann entwarf er seinen Schlachtplan: „Wir müssen die Hunde töten, bevor sie Laut geben können. Das ist deine Aufgabe, Tödlicher Pfeil!“ „Und wie soll ich gleichzeitig beide erlegen? Einen Schuß übernehme ich gern, aber dann wird der zweite Köter schon losbellen“, entgegnete der Meisterschütze. „Aber ich weiß, daß du mir mit dem Bogen gleichkommst, Kriegsadler.“ „Abgemacht! Und wer nimmt den Wächter auf sich?“ „Ich werde ihn von hinten erdrosseln“, erklärte Schneller Hirsch. „Danach schleichen wir zu der kleinen Hütte“, fuhr der Anführer fort „– oder laufen, wenn wir entdeckt werden. Wir befreien Schönes Haar und eilen zu den Booten.“ Nachdem er alle Einzelheiten seines Plans dargelegt hatte, gab er das Zeichen zum Aufbruch. Trotz aller kriegerischer Erfahrung verspürte er eine gewisse Anspannung: Heute nacht ging es nicht nur um einen erfolgreichen Schlag gegen die verhaßten Feinde des Schlangenvolkes, sondern um das Schicksal seiner Braut und ihre gemeinsame Zukunft!

In einiger Entfernung von den Hütten gingen Kriegsadler und Tödlicher Pfeil kauernd in Stellung. Zwei gefiederte Geschosse schnellten durch die Luft, mit leisem Winseln sanken die Hunde nieder. Das fiel jedoch dem Posten auf. Er schlug keinen Alarm – dafür war das Geräusch zu leise gewesen –, aber er stand auf und spähte in die Dunkelheit. Wie ein Schatten erhob sich hinter ihm der Schnelle Hirsch. Ein Lederriemen schlang sich um den Hals des Wächters, mit geschicktem und kraftvollem Griff brach ihm der Gegner das Genick. Er zog den erschlafften Körper in den Schatten einer Hütte, dann versammelten sich die drei Freunde. Großer Biber war etwas zurückgeblieben; er sollte ihnen im Notfall unbemerkt von den Feinden zu Hilfe kommen.

Ohne jedes Geräusch schlängelten sie sich zu der kleinen Hütte, in der sie Schönes Haar vermuteten. Durch die Ritzen und seitlich der Türmatte drang Fackelschein nach außen. Mit einer Handbewegung gebot Kriegsadler den Gefährten Einhalt. „In drei Tagen bist du mein Weib“, verkündete triumphierend eine männlich tiefe Stimme. „Du wirst deinen Stamm nicht wiedersehen. Aber ich werde dich gut behandeln. Schließlich hat nicht jeder Krieger das Glück, ein so junges und schönes Mädchen zu erbeuten.“ Kriegsadler verstand ihn gut – der Feind gebrauchte nicht die Mundart seines eigenen Volkes, sondern das Wörtergemisch aus den Sprachen der Schlangensöhne und der Breitschädel, das in dem gesamten Gebiet der großen Ströme im weiten Waldland allgemein verstanden wurde, auch wenn man die Worte mitunter durch Gesten verdeutlichen mußte. „Lieber ersteche ich mich“ – mit Freude und Sorge zugleich vernahm er die Stimme der Geliebten. „Dann werde ich mir wohl am besten schon jetzt das nehmen, was mir ohnehin bald gehören wird“, höhnte der Mann. „Ich werde schreien, daß mich das ganze Dorf hört!“ „Glaubst du wirklich, dummes Kind, daß irgendjemand hier Drei Bären hindern wird, nach seinem Willen zu tun?“

Kriegsadler konnte einen leisen Laut des Erstaunens nicht unterdrücken. Drei Bären – jedermann in dem dunklen Waldland kannte diesen Namen, den der Häuptling der Breitschädel einer seiner zahllosen Heldentaten verdankte: Er hatte einst in einem furchtbaren Kampf auf Leben und Tod eine riesige Bärin erlegt, die ihre Jungen mit Zähnen und Klauen erbittert verteidigte, und danach die beiden Kleinen abgetan, die freilich ebenfalls schon eine stattliche Höhe erreicht hatten. Viele Feinde waren dem grausamen Stammesführer zum Opfer gefallen, dessen Einfallsreichtum beim Ersinnen teuflischer Martern weithin ebenso berühmt war wie der meisterhafte Umgang mit allen Arten von Waffen. Sofort fuhr ihm sein Ziel durch den Sinn – der Schädel dieses Gegners würde ihm nicht nur die höchste Gunst des künftigen Schwiegervaters einbringen, sondern ihn außerdem zum größten Helden unter den Schlangensöhnen erheben. Drei Bären mußte von seiner Hand fallen!

Langsam und bedächtig schob er die Türmatte beiseite, ohne das leiseste Geräusch zu verursachen. Aber es hätte dieser Vorsicht nicht bedurft, denn Drei Bären wandte ihm den muskulösen Rücken zu; er hatte sich über seine Gefangene gebeugt, die mit Händen und Füßen durch lederne Riemen an vier kurze Pfosten gefesselt war und ihn angstvoll anstarrte. Mit einem kraftvollen Ruck riß er die Felldecke von ihrem Leib, die linke Hand umfaßte sein aufgerichtetes Glied, das Lendentuch hatte er abgestreift. Geschickt nutzte Kriegsadler die Sorglosigkeit des Feindes, dessen Gedanken nur auf das wehrlose Mädchen und die eigene Lust gerichtet waren. Lautlos erhob sich der Schlangensohn, das schwere Feuersteinbeil in der Rechten. Gleich mußte ein furchtbarer Hieb den Gegner treffen!

Da unterlief Schönes Haar ein verhängnisvoller Fehler: Sie erkannte den Geliebten, für einen winzigen Moment überzog ein freudiges Zucken ihr Antlitz. Das veränderte Mienenspiel des Mädchens entging dem erfahrenen Krieger nicht; mit einer blitzschnellen Bewegung wandte er sich um. Sein Feind hatte bereits das Beil zum tödlichen Schlag erhoben, die Waffe sauste auf Drei Bären nieder – freilich nicht auf dessen Haupt, sondern auf die rechte Schulter. Mit einem häßlichen dumpfen Geräusch zersplitterten die Knochen unter dem furchtbaren Hieb. Der Schwerverwundete versuchte, nach Kriegsadlers Kehle zu fassen; gleichzeitig rief er mit lauter Stimme die Stammesgenossen um Hilfe. Zu spät! Ein zweiter Schlag zerschmetterte seinen breiten Schädel, mit einem Wehlaut sank Drei Bären tödlich getroffen zu Boden.

Vier rasche Schnitte der rasiermesserscharfen Feuersteinklinge lösten die Bande der Geliebten. Schon erhob sich bedrohlicher Lärm aus den umliegenden Hütten. „Schnell, zu den Booten“, raunte er den Gefährten zu. Glücklicherweise hatte man Schönes Haar nicht so scharf gefesselt wie einen männlichen Gefangenen. Dadurch war der Blutkreislauf nicht gehemmt, sie konnte laufen – allerdings nicht so schnell wie ihre Befreier. Kriegsadler blieb an der Seite der Geliebten, Großer Biber und Tödlicher Pfeil sicherten den Weg. Schneller Hirsch war bereits enteilt, in uneinholbarem Lauf strebte er den Booten zu.

Trotz der gebotenen Eile hielten sich die Schlangensöhne stets im Schatten, so daß sie den Verfolgern kein sicheres Ziel boten. Diese beabsichtigten offenbar ohnehin, die Fliehenden lebend zu ergreifen. Niemand wollte das schöne Mädchen verletzen, und der qualvolle Martertod der Gefangenen würde nicht nur Drei Bären rächen, sondern auch den Ruhm des Stammes mehren – und zugleich ein willkommenes Schauspiel bieten. Dagegen wandten sich Tödlicher Pfeil und Großer Biber immer wieder um; wenn ihre gefiederten Geschosse auch nicht trafen, hielten sie doch die Breitschädel in respektvollem Abstand.

Nur noch wenige Schritte, dann war das Ziel erreicht. Schneller Hirsch wartete am Ufer und hatte bereits eines der Boote zu Wasser gelassen. Sicher wäre es klug gewesen, auch die anderen in den Fluß zu schieben, um die Feinde an der weiteren Verfolgung zu hindern. Aber es hätte nicht nur erhebliche Kraft, sondern auch geraume Zeit erfordert, die schwerfälligen Einbäume in Bewegung zu setzen oder gar zu versenken – zumal für einen einzelnen Mann. Schneller Hirsch schien die Gedanken seines Anführers zu erahnen: „Seid unbesorgt, ich habe alle Paddel in unser Boot geworfen. Sie können uns nicht folgen!“

Etwas unsanft stieß Kriegsadler seine Braut in das Fahrzeug, dann sprang er mit zwei der Kameraden hinterher. Großer Biber tauchte unter und gab dem Einbaum noch einen letzten kraftvollen Stoß, langsam nahm er Fahrt auf. Jetzt hatten die Feinde das Ufer erreicht; man hörte ihre wütenden Schreie, als sie das Fehlen der Paddel bemerkten. Eine Verfolgung war unmöglich – nun galt es, die Schlangensöhne aus der Ferne zu töten, auch wenn ihnen dadurch die ersehnte grausame Rache entging. Für die Speere war die Entfernung bereits zu groß, aber ein kraftvoller Pfeilschuß konnte das Boot noch erreichen. Kriegsadler erhob sich und hielt seinen schweren Fellmantel empor; in diesem beweglichen Schild verfingen sich etliche Geschosse – freilich nicht alle. Großer Biber zuckte zusammen; ein Pfeil war ihm in den Arm gedrungen. Trotzdem paddelte er kraftvoll weiter, obwohl das Blut aus der Wunde strömte. Plötzlich schrie Schönes Haar gellend auf – auch sie war getroffen. Dennoch verharrte Kriegsadler unbeirrt auf seinem Posten. Von Jugend an hatte man ihm eingeschärft, alle persönlichen Empfindungen hintanzusetzen, wenn es um das Wohl und Wehe der gesamten Gruppe ging. Das galt auch, wenn die eigene Braut leiden oder gar sterben sollte; schließlich war er ebenso für seine drei Gefährten verantwortlich. Sollten sie umkommen, war Schönes Haar ohnehin gleichfalls dem Tod oder einem schlimmeren Schicksal geweiht.

2. Das große Wasser

Langsam verklangen die Rufe der Breitschädel in den Flußnebeln. Kriegsadler ließ den Mantel auf den Boden des Einbaums gleiten und wandte sich der Geliebten zu. Sie war schwerverwundet, das sah man sofort. Ihr Gesicht war weiß wie der Schnee in den langen Wintermonden, ein gequältes Lächeln spielte um die Lippen: „Das war Rettung in höchster Not“, ächzte sie, der Gedanke an die drohende Vergewaltigung durch den häßlichen Breitschädel ließ sie auch jetzt noch erschauern. „Hast du starke Schmerzen?“ fragte Kriegsadler besorgt. „Die Mädchen unseres Volkes haben gelernt, nicht zu jammern und zu klagen. Ich will dir einen starken und mutigen Sohn schenken – kann er so werden, wenn seine Mutter schwachherzig ist?“ Vorsichtig schnitt er das Gewand der Verwundeten an der Seite auf; der Pfeil stak in ihrer Lunge. Glücklicherweise trat nur wenig Blut aus. „Ich bin kein Medizinmann“, flüsterte Kriegsadler, „aber ich werde dir ein wenig Erleichterung schaffen, mehr kann ich nicht tun. Sei jetzt stark!“ Mit einem energischen Ruck brach er den hölzernen Schaft des Geschosses kurz vor dem Rücken ab; die Spitze blieb freilich in ihrem Leib. „Meine tapfere Braut“, lobte er, als sie keinen Schmerzenslaut von sich gab. Dann schnitt er einen Streifen von ihrem Gewand und reichte ihn Schönes Haar. „Drücke ihn fest auf die Wunde! Es soll nicht noch mehr von dem Lebenssaft entweichen.“ Liebevoll strich er mit der Hand über das bleiche Antlitz der Geliebten, dann kehrte er auf seinen Wachposten zurück.

Inzwischen hatte Schneller Hirsch die Wunde des Großen Bibers versorgt; sie war schmerzhaft, aber nicht gefährlich, denn der Pfeil hatte den Arm glatt durchschlagen. Man konnte den oberen Teil des Schafts abbrechen und das untere Ende mit der Feuersteinspitze mühelos aus der Wunde ziehen. Schneller Hirsch riß ein Stück seines Mantels ab und umwickelte die getroffene Stelle. Die kraftvolle Konstitution des Gefährten würde für eine rasche Heilung sorgen.

Unterdessen glitt der Einbaum weiter flußabwärts. Immer wieder loderten Feuer an den Ufern. „Wohin wollen wir fahren?“ fragten die Kameraden. „Wir dürfen in keinem Fall an Land gehen“, überlegte Kriegsadler. „Hier ist das Kernland der Breitschädel, und ihr wißt, was uns bevorsteht, wenn sie uns fangen sollten. Auch auf dem Flußweg können wir nicht sofort zurückkehren. Der Tod von Drei Bären bleibt bei den Feinden sicherlich lange Zeit unvergessen, sie werden mit allen Sinnen auf uns lauern.“ Fast resignierend fügte er hinzu: „Wir müssen aufs Geratewohl dem Strom folgen, bis wir weit genug entfernt sind, und dann versuchen, uns zu Lande in die Heimat durchzuschlagen. Der Lauf der Sonne wird uns den Weg weisen. Einstweilen bleiben wir in der Mitte des Flusses; dann können sie unsere Gestalten vom Ufer aus nicht erkennen und uns auch nicht mit den Pfeilen erreichen, falls sie doch ahnen sollten, daß wir tapfere Schlangensöhne sind und keine widerwärtigen Breitschädel.“

Inzwischen war der Tag angebrochen. Man sah keine Siedlung, nicht das geringste Lebenszeichen an den Ufern des Flusses; dennoch wagten die vier Krieger nicht, an Land zu gehen, um etwas Eßbares zu suchen. Aufmerksam spähten sie in die dichten Wälder: Verbargen sich Feinde in den Ästen oder hinter den Stämmen – in der Erwartung, sie würden anlanden und ihren Geschossen ein nahes Ziel bieten? Die Strömung hielt das Boot in steter Bewegung, unterstützt von den kraftvollen Schlägen der Paddel. Schneller Hirsch und Tödlicher Pfeil führten diese mit geübter Hand; Großer Biber hatte die Wache bei Schönes Haar übernommen, da ihn seine Verwundung noch behinderte. Kriegsadler stand am Bug des Einbaums und lauschte mit den geschärften Sinnen eines Waldbewohners auf jedes Geräusch. Bei dem geringsten Anzeichen einer Gefahr würde sein Warnruf die Gefährten auffordern, sich rasch hinter die starken Bootswände zu ducken.

Die Stunden rannen dahin. Bis zum Nachmittag hatte sich kein Feind gezeigt. „Sollen wir an das Ufer gehen und nach Nahrung suchen?“ fragte Kriegsadler die Kameraden. „Wir hungern lieber einige Tage, als in die Hände der Breitschädel zu fallen“, meinte Tödlicher Pfeil. „Ich habe einmal einen Lagerplatz dieser Barbaren gesehen. Dort hatten sie vier unserer Krieger langsam zu Tode gemartert. Jedes Sinnesorgan hatte man ihnen verstümmelt, jedes Körperglied abgeschnitten. Wir Schlangensöhne fürchten den Tod nicht, und wir würden keinen Schmerzenslaut hören lassen. Aber wir müssen einem solchen Tod auch nicht geradewegs in die Arme laufen. Oder wollt ihr den verhaßten Feinden zur Unterhaltung dienen?“

„Mein Vater hat uns einst erzählt, daß sich auch die Weiber der Breitschädel an den Marterungen beteiligen. Sie sind mindestens ebenso grausam wie die Männer! Und diese Barbaren lieben es auch, den Todesstreich von den Frauen führen zu lassen, vor allem, wenn ein berühmter Krieger in ihre Hände fällt. Sie glauben, er geht dann als Weib in die Ewigkeit ein und muß für alle Zeiten niedere Arbeiten verrichten“, ergänzte der Große Biber.

Schneller Hirsch beteiligte sich nicht an der Unterhaltung. Er werkelte an einem der überzähligen Paddel sowie einem Lederriemen herum und hatte schon bald eine provisorische Angel gefertigt. Wie umsichtig von den Breitschädeln, einige Fischhaken im Boot liegenzulassen! Er befestigte daran ein kleines Bröckchen seiner eisernen Ration und warf die behelfsmäßige Rute aus. Geduldig wartete er auf einen gierigen Fisch, dessen Bestimmung es war, seinerseits den hungrigen Schlangensöhnen als Nahrung zu dienen. Unterdessen ging Kriegsadler immer wieder zu seiner Braut, wenn auch nur für kurze Zeit. Das Pflichtgefühl des Anführers stand über allen persönlichen Empfindungen, auch wenn es ihm in das Herz schnitt, Schönes Haar leiden zu sehen. Ohne die baldige Hilfe eines Schamanen war sie dem Tod geweiht – und wie lange mochte es währen, bis sie eine Siedlung des Schlangenvolkes erreichten? Sollte sie ihre Befreiung mit dem Leben bezahlen?

Erneut brach die Nacht herein. Schneller Hirsch hatte erfolgreich geangelt; auf dem Boden des Einbaums zuckten einige Fische. Immer wieder besprengte er sie mit Wasser – so konnten sie ein wenig länger leben und frisch bleiben. Schließlich griff er sich einen nach dem anderen, nahm sie aus und reichte sie den Gefährten; gierig bissen sie in die rohen Körper. Kriegsadler bot auch der Geliebten von der Speise; zu schwach für eine Antwort, schüttelte sie nur leicht den Kopf, blickte ihn aber dankbar an, als er ihr ein wenig Wasser einflößte und die Lippen benetzte. Ein schmerzhafter Hustenreiz begann sie zu quälen. Sie lag im Sterben, und er mußte ihrem Tod hilflos zusehen. Immerhin hatte er sie vor einem weitaus schlimmeren Schicksal bewahrt. Die stolze Tochter von Grauer Wolf hätte es als unerträglich empfunden, den verachteten Feinden tagsüber als Sklavin zu dienen und nachts ihren Lüsten zu willfahren. Dann lieber ein ehrenvoller Tod an der Seite des Geliebten!

Allmählich legte sich nächtliches Dunkel über den Fluß, der das Boot langsam weitertrieb. Kriegsadler teilte die Wachen ein und wählte für sich die letzte. In der Frühe war es am gefährlichsten – das Morgengrauen verbarg menschliche Feinde und andere Bedrohungen auch vor einem geübten Blick, zudem war die eigene Müdigkeit am größten. Während sich Großer Biber am Bug des Einbaums niederließ und mit Adleraugen in die nachtschwarze Umgebung spähte – später würden ihm die ebenso geübten Ohren noch bessere Dienste erweisen – streckten sich die Kameraden auf dem Boden aus, soweit es der beengte Raum zuließ. Kriegsadler legte sich zu seiner Braut. Er hatte zu viele Menschen sterben gesehen, als daß er die Anzeichen des nahenden Todes nicht erkannt hätte; daher würde er die kurze verbleibende Zeit nutzen, um ihr Trost zu geben.

Schönes Haar lag zusammengerollt im Heck des Bootes. Leise ließ er sich neben ihr nieder; sie bemerkte ihn nicht. Vergeblich kämpfte er gegen den Schlaf an – er wollte doch der Geliebten in den letzten Stunden ihres jungen Lebens nahe sein. Aber die vergangenen Tage waren zu anstrengend gewesen, und das leichte Schaukeln des Einbaums verstärkte noch seine Müdigkeit, bis sie ihn vollends übermannte. Es herrschte noch tiefe Finsternis, als ihn Tödlicher Pfeil sanft anstieß: „Es ist Zeit zur Wache“, flüsterte er, bemüht, die Sterbende nicht zu wecken. Kriegsadler schlang den wärmenden Mantel als Schutz gegen die Morgenkühle eng um den Leib, dann übernahm er den Posten an der Bootsspitze.

Einige Stunden später stieg rotglühend die Sonne empor und enthüllte seinem erstaunten Blick ein ungewohntes Bild: Die grünenden Flußufer waren entschwunden, den Einbaum umgab grenzenloses Wasser. „Vor Feinden sind wir hier jedenfalls sicher“, brummte Großer Biber zufrieden; er war lautlos neben seinen Anführer getreten. „Laß die anderen schlafen“, meinte dieser. „Ich fühle mich noch frisch, und man sieht jede Gefahr aus weiter Ferne.“ „Geh ruhig zu Schönes Haar“, riet sein Gefährte, „sie braucht dich vielleicht.“ Kriegsadler folgte der Aufforderung; vorsichtig stieg er über die schlafenden Kameraden hinweg und sah nach seiner Braut. Ein kurzer Blick genügte jedoch – sie war der schweren Pfeilwunde erlegen, während er Wache gehalten hatte.

Grenzenloser Haß durchzuckte ihn: Das sollten die Breitschädel bitter büßen! Sobald sie heimgekehrt wären, würde er mit einer Schar von Freiwilligen Tod und Verderben über die benachbarten Siedlungen der Feinde bringen. Das war seit jeher Sitte unter den Schlangensöhnen und bei den anderen Völkern des Waldlandes: Der Häuptling gebot nur im eigenen Dorf sowie auf allgemeinen Kriegszügen des Stammes. Jedem ruhm- und beutebegierigen Mann stand es frei, Gleichgesinnte um sich zu scharen und einen Schlag gegen die Nachbarvölker zu führen. In dieser Zeit lag die Gewalt über Leben und Tod der Gefolgsleute bei ihm; danach trat er wieder hinter den Stammeshäuptling zurück. Natürlich wuchs das Ansehen eines Kriegers, der wiederholt erfolgreiche Raubzüge befehligt hatte. Wenn es sich herumsprach, daß seine umsichtige Führung keine unnötigen Verluste, sondern reiche Beute und kriegerischen Ruhm einbrachte, fand er immer wieder willige Gefährten. Der Häuptling suchte vor größeren Unternehmungen des Stammes seinen Rat, junge Mädchen träumten von ihm, Mütter bezogen ihn in ihre Überlegungen ein, mit wem sie wohl die Töchter verheiraten sollten. Und wenn man auf einem derartigen privaten Raubzug das Leben einbüßte – war der rasche Tod im Kampf nicht einem langen Siechtum im Krankenzelt des Schamanen vorzuziehen? Das wäre der Tod eines Weibes, nicht eines tapferen Mannes! In Kriegsadlers augenblicklicher Stimmung verdrängte der Schmerz über das gewaltsame Ende der Geliebten ohnehin jegliche Todesfurcht. Es erschien ihm sogar geradezu wünschenswert, Schönes Haar in das Jenseits zu folgen und dort schon bald erneut mit ihr vereint zu werden. „Aber dann sollen uns möglichst viele Breitschädel begleiten“, knurrte er grimmig. „Mögen sie uns in der anderen Welt als Sklaven dienen!“

Inzwischen waren die Kameraden aufgewacht; wie es sich für die tapferen Söhne der Großen Schlange geziemte, äußerten sie kein Wort des Mitgefühls, aber auf ihren Mienen lag tiefe Trauer. „Du kennst das Gesetz unseres Volkes; wir müssen sie unverzüglich bestatten.“ Die mahnenden Worte der Gefährten trafen Kriegsadler schmerzlich, doch er mußte ihnen recht geben. Kein Toter – sei es auch der Häuptling oder der Schamane des Stammes – durfte einen Kriegszug aufhalten. Er würde seine Braut niemals vergessen, aber er mußte sich von ihrem Körper lösen. Während er einen nahezu unhörbaren Abschiedsgruß murmelte, preßte er den schlanken Leib der Geliebten kurz an sich; dann ließen sie den Leichnam langsam vom Boot in die Wogen gleiten.

Unterdessen hatten die vier Männer ihre Situation völlig aus dem Blick verloren. Jetzt stellten sie mit Erstaunen fest, daß sich das Boot auch ohne den Einsatz der Paddel fortwährend weiterbewegt hatte – und zwar stetig der aufgehenden Sonne entgegen. Beschämt darüber, daß er in seinem Schmerz die Pflichten als Anführer der kleinen Truppe vernachlässigt hatte, griff Kriegsadler zum Paddel; die Gefährten folgten diesem Beispiel. Aber so sehr sie sich auch mühten – der Einbaum glitt weiter nach Osten, schneller als sie das schwerfällige Boot in die Gegenrichtung bewegen konnten. „Wir entfernen uns immer mehr von den heimatlichen Wäldern!“ schrie Großer Biber auf. „Wohin führt uns das grenzenlose Wasser noch?“ „Immerhin können wir hier nicht verdursten“, versetzte Schneller Hirsch mit sarkastischem Gleichmut. „An Wasser fehlt es uns ja wirklich nicht.“ Wie um seinen Worten Gewicht zu verleihen, griff er über die Bootswand und schöpfte mit der Hand von dem kühlen Naß. Aber er hatte kaum die Lippen benetzt, da fuhr er erschrocken auf. „Das ist ja salzig! Davon bekommt man ja noch mehr Durst.“ Mit entsetztem Blick beobachteten ihn die Kameraden. „Wir sind dem Tod geweiht!“ stellte Tödlicher Pfeil in stoischer Ruhe fest. „Wir werden elend an Wassermangel sterben – nicht im Kampf wie unsere tapferen Brüder und Väter.“

Kriegsadler schwieg. Nach einigen Minuten des angestrengten Nachdenkens war er wieder ganz der überlegene und verantwortungsvolle Führer. „Wir müssen mit unseren Wasserreserven sehr sparsam umgehen. Noch haben wir in den Vorratsgefäßen genug für ein bis zwei Tage. Es ist nicht sehr heiß, das wird uns helfen. Wir dürfen uns auch nicht mehr bewegen als unbedingt nötig. Die Paddel sind hier sowieso nutzlos.“ „Glaubst du, wir sind verloren?“ fragte der Biber. „Ich weiß es nicht“, erwiderte Kriegsadler. „Das große Wasser ist uns gänzlich unbekannt. Wir wissen nicht, wann wir wieder an Land gelangen, wo wir trinkbares Wasser und frischen Mundvorrat finden können. Ich glaube jedoch an die Worte, die uns der Schamane so oft feierlich verkündet hat: In der äußersten Not wird die Große Schlange ihren Kindern beistehen. Warten wir daher mit dem Mut und der Geduld von Kriegern auf alles, was da kommen mag. Einstweilen werden wir uns im Boot zur Ruhe legen. Einer wird jeweils am Bug Wache halten; ich bin der erste.“

Die Stunden zogen sich endlos dahin. Auch wenn die Männer kein Wort darüber verloren, erfüllte sie tiefe Sorge um ihr weiteres Schicksal. Würden sie die Ihren jemals wiedersehen – oder würden diese nie erfahren, was mit ihnen geschehen war. Würden sie dem Durst oder später dem nagenden Hunger erliegen? Lauerten auf dem großen unübersehbaren Wasser vielleicht weitere, noch unbekannte Gefahren? Die Schlangensöhne fanden keinen Schlaf, aber es gelang ihnen, jeden Gedanken an den Durst zu verdrängen. Die Vorräte sollten doch möglichst lange reichen! Zu hungern hatte man sie bereits als kleine Kinder gewöhnt; ein Krieger mußte lernen, bei der Fährtensuche oder auf der Verfolgung eines Feindes tagelang ohne Nahrung auszukommen. Immerhin lagen noch einige Fische im Boot, an den Gürteln hing der Notvorrat aus getrocknetem Fleisch. Freilich – alle diese Speisen vermehrten den Durst; es war besser, vorläufig darauf zu verzichten. Während der Nacht würde die aufkommende Kälte wenigstens den Durst lindern. Geduldig ergaben sich die Schlangensöhne vorerst in ihr Schicksal. Schon als Kinder hatte man sie das Warten gelehrt. Ein Krieger mußte nicht nur stark und tapfer sein, nicht nur Schmerz und Tod verachten; es galt auch – ob beim Fischfang, auf der Jagd oder im Kampf gegen menschliche Feinde – geduldig auszuharren, bis sich eine günstige Gelegenheit bot. Ein wahrer Krieger wußte sein Ungestüm zu beherrschen!

Am nächsten Tag änderte sich nichts; unübersehbar breitete sich das graublaue Meer vor ihren Augen aus. Ein Blick zur morgendlichen Sonne zeigte ihnen nur allzu deutlich, daß sie sich immer weiter von der Heimat entfernten. Sorgenvoll überprüften sie den Inhalt ihrer Wassergefäße; bei äußerster Sparsamkeit mochte er noch einen Tag reichen. Obwohl sie der Durst zunehmend quälte, begnügten sie sich mit wenigen kleinen Schlucken. Schon bald traten die Folgen des Wassermangels auf: Hart und trocken lag die Zunge im Mund, Schwindelgefühle erfaßten sie. Seltsame Bilder erschienen vor ihren Augen: Horden von Breitschädeln stürmten auf sie zu, in den Fäusten die drohend erhobenen Schlachtbeile; immer wieder durchlebte Kriegsadler die letzten gemeinsamen Stunden mit Schönes Haar. Wenn sie ein wenig tranken, schwanden die Halluzinationen; aber ihre Vorräte gingen zur Neige. Wie lange würde es noch dauern, bis sie die rettende Küste erreichten, fragten sie sich in den immer selteneren lichten Momenten verzweifelt. Würde ihnen der Schutzgeist ihres Volkes rechtzeitig zu Hilfe kommen?

Auch Kriegsadler wußte in dieser Lage keinen Rat. Wie oft hatte er auf Raubzügen oder bei Kundschaftergängen den entscheidenden Ausweg gefunden. Hier versagte jedoch seine vielfach bewährte Klugheit, allerdings hatte sich wohl kein Sohn des Schlangenvolkes jemals in einer derartigen Situation befunden. In kürzester Zeit waren alle seine Träume und Hoffnungen zuschanden geworden. Schönes Haar wäre sein Weib geworden; sie hätte ihm die wahren Freuden der Liebe bereitet – nicht den brutalen Genuß, den ein siegreicher Krieger empfand, wenn er gefangenen Frauen feindlicher Völker mit Gewalt seinen Willen aufzwang. Und sie hätte ihm Söhne geschenkt, Abbilder der eigenen kriegerischen Tugenden, sowie Töchter, die in ihrem Liebreiz der Mutter glichen. Die erfolgreiche Befreiung von Schönes Haar hätte ihm unsterblichen Ruhm gebracht, der abgeschlagene Schädel von Drei Bären zu den kostbarsten Beutestücken gezählt, die das Schlangenvolk jemals heimgeführt hatte.

Und nun kauerte er in einem schwanken Boot, umgeben von der unendlichen Weite des großen Wassers. Nicht das kriegerische Beil eines ebenbürtigen Gegners würde ihm dereinst den Tod bringen – als krönendes Ende eines Heldenlebens, das die Lieder seines Stammes noch lange preisen würden –, sondern Hunger und Durst in langewährender Qual. Zudem hatte er die Gefährten ins Verderben geführt; ihre Sippen würden seiner auf ewig fluchen! Vielleicht auch Grauer Wolf, der nie von dem Schicksal seiner Tochter erfahren würde?

Lange Zeit sann Kriegsadler vor sich hin, regungslos verharrten die Kameraden auf dem Boden des Einbaums. Plötzlich riß ihn der Ruf von Schneller Hirsch aus allen düsteren Überlegungen: „Wolken! Dunkle Regenwolken!“ Rasch wandte er sich um – tatsächlich! Schwarzgraue Wolkenmassen ballten sich am Horizont zusammen. Vielleicht waren sie vorerst gerettet! Neue Hoffnung erfüllte die von Hunger und Durst geschwächten Männer; erwartungsvoll starrten sie zum Himmel, der sich zusehends verfinsterte. Da brach auch schon der Regen los; schwere Tropfen fielen auf das ungefüge Boot, der Wind peitschte über die Köpfe der Schlangenkrieger. Begierig reckten sie die geöffneten Münder dem erlösenden Naß entgegen, später auch die Vorratsgefäße, die sich rasch füllten. Noch während des kräftigen Gusses wandten sie sich dem gleichfalls langentbehrten Essen zu. Jetzt war es gleichgültig, daß die schon etwas faulig riechenden Fische und das Trockenfleisch neuen Durst wecken konnten – es gab Wasser im Überfluß, und sie bedauerten nur, keine größeren Gefäße mit sich zu führen. Sie mußten sogar ein wenig von dem köstlichen Naß abschöpfen, damit ihr Boot nicht vollief. Wer hätte sich gestern vorstellen können, daß sie heute Wasser über Bord kippen würden?

Schließlich ließ der Regen nach, ebenso der stürmische Wind. Nur noch vereinzelte Tropfen fielen vom Himmel, dann versiegten seine Pforten. Frischer Lebensmut erfüllte die vier Kameraden und weckte in ihnen neue Hoffnung. War dieses große Wasser öfters mit Regenfällen gesegnet? Oder kündigten sie gar die Nähe eines rettenden Ufers an? Zumindest blieben sie jetzt für einige Zeit vor dem Verschmachten bewahrt. Die Große Schlange hatte ihre Söhne nicht vergessen.

Die nächsten Tage zogen sich ereignislos dahin; endlos breitete sich das große Wasser vor ihrem Blick aus. Mehrfach hatten ihnen neue Regenfälle das lebenspendende Naß gebracht; immer spürbarer wurde hingegen der Hunger. Die Notrationen waren längst aufgebraucht. Die Männer spürten, wie ihre körperlichen und geistigen Kräfte dahinschwanden; apathisch lagen sie in dem Boot, das noch immer von einer rätselhaften Macht der aufgehenden Sonne entgegengetrieben wurde. Sie wußten nicht mehr, wie lange sie bereits auf dem Meer gefangen waren. Willenlos ergaben sie sich in ihr Geschick; allmählich schwanden ihnen die Sinne, eine dumpfe Ohnmacht umfing sie.

3. Gerettet!

Einige kräftige Wassergüsse riefen sie ein wenig unsanft in das Leben zurück; außerdem hatte die stete Bewegung der Wellen aufgehört. Sofort meldete sich der angeborene Kriegerinstinkt der Schlangensöhne für drohende Gefahren: Sie waren umstellt von einer Gruppe aus etwa zehn hochgewachsenen und kräftigen Männern, die sie neugierig betrachteten. Der Einbaum lag an einem weißsandigen Strand, über dem rötliche Granitfelsen aufragten. Offenbar war er durch die Strömung an ein fremdes Gestade verschlagen worden und dort gestrandet. Verstohlen sahen die Krieger nach ihren Waffen; sie lagen hinter der anderen Gruppe, sorgsam auf einen Haufen geschichtet. Man hatte sie entwaffnet, während sie schliefen; aber in ihrem geschwächten Zustand hätten sie ihnen ohnehin nichts genützt.

„Wer seid ihr? Woher kommt ihr?“ Verständnislos hörten sie die Laute einer unbekannten Sprache. Mit einer fragenden Geste wies der Wortführer der – feindlichen? – Männer auf das große Wasser. Kriegsadlers Arm beschrieb einen Halbkreis in dieselbe Richtung. „Offenbar sind sie über das Meer gekommen“, meinte ein anderer. „Vielleicht aus Britannien?“ sinnierte ein dritter. „Wohl kaum, sonst würden sie uns doch verstehen.“ „Sind sie etwa über den Ozean angetrieben worden? Unmöglich!“ stellte der Anführer fest. „Oder es sind wahre Lieblinge der Götter.“

„Kommt mit“, gebot er. Einer seiner Männer hielt ihn zurück. „Siehst du nicht, daß sie völlig erschöpft sind? Wer weiß, wann sie das letzte Mal etwas gegessen oder getrunken haben. Gebt ihnen zunächst von unserem Proviant!“ Willig griffen seine Kameraden nach ihren Vorratsbeuteln. Mit einladender Geste hielten sie den schiffbrüchigen Fremden runde Brote entgegen. Mißtrauisch beäugten diese die unbekannte Speise. Hilfsbereit brach einer der Einheimischen das Gebäck. „Nimm schon, es ist gut gegen den Hunger“, forderte er Kriegsadler auf. „Es ist auch nicht vergiftet“, ergänzte er und biß selbst herzhaft hinein, um das Mißtrauen seines Gegenübers zu beschwichtigen. Nun langte dieser zögernd zu, die drei anderen folgten dem Beispiel des Anführers.

Einer der Männer schnitt für die Gestrandeten mundgerechte Stücke von einem weißlichen Speckstreifen. Wohlgefällig sogen sie den würzigen Duft ein. „Ja, noch besser wäre es natürlich mit einer Cervisia“, lachte der gutmütige Eingeborene, der den Schlangensöhnen das Essen verschafft hatte, und reichte ihnen zu trinken. „Aber bei Jagd und Fischfang gibt es nun einmal nichts anderes als Wasser.“ Gierig stopften die ausgehungerten Fremden das Essen in den Mund; langsam kehrte die Kraft ein wenig zurück. Als sie sich aber erheben wollten, versagten ihnen die Beine den Dienst; nach den endlosen Tagen und Nächten auf dem schwankenden Boot konnten sie sich nur mit Mühe auf den Füßen halten.

„Wir rasten hier über Nacht“, entschied der Anführer. „Ich habe keine Lust, die Fremden bis zu unserer Stadt zu tragen. Vielleicht können sie morgen schon wieder laufen.“ Zwei seiner Männer mußten zur Siedlung aufbrechen und die Verspätung der Gruppe ankündigen. Besser, wenn sich dort niemand Sorgen machte – schließlich lebten sie in einer unsicheren, kriegerischen Zeit. Zugleich nahmen sie die prall gefüllten Netze mit der Ausbeute ihres Fischzuges mit. „Fesselt sie, aber nicht zu scharf“, befahl der Anführer. Obwohl ihn die Schiffbrüchigen ohnehin nicht verstanden, meinte er fast entschuldigend: „Eine reine Vorsichtsmaßnahme – schließlich kennen wir euch nicht.“ Kriegsadler und seine Gefährten nahmen diese Demütigung ohne jede erkennbare Regung hin. Wie hätten sie sich auch – ob mit oder ohne Waffen – in ihrem Zustand der Übermacht widersetzen können? Ein tüchtiger Krieger mußte erkennen, wann ein Kampf sinnlos war und man lieber eine günstigere Gelegenheit abwartete. Falls der Gegner die tapferen Schlangensöhne deswegen unterschätzte – um so besser. Außerdem war ihnen dieses Land vollkommen fremd. Selbst wenn sie sich erfolgreich gewehrt hätten – wie sollten sie sich hier zurechtfinden oder gar den Heimweg antreten? Da sie nichts anderes tun konnten, fielen sie erneut in einen tiefen traumlosen Schlaf, jetzt freilich ohne das quälende Gefühl des Hungers. Morgen würden sie sehen, ob sie weiterhin auf ihren Schutzgeist vertrauen durften.

Als sie erwachten, fühlten sie sich schon weitaus kräftiger. Die Einheimischen lösten ihre Fesseln und teilten erneut das Essen mit ihnen; sie hatten sogar einige Fische gebraten. Die Schiffbrüchigen aßen mit herzhaftem Appetit, unbeschwert von Sorge oder Furcht. Nach der Mahlzeit rüsteten ihre Bewacher zum Aufbruch; das gab den Gefangenen die Gelegenheit, sie eingehend zu betrachten: Es waren hochgewachsene Gestalten mit auffallend weißer Haut, die sich erheblich von der hellbraunen Färbung der Schlangensöhne abhob. Die Haare waren lichtfarben – gelb oder rötlich, ganz anders als ihr eigener tiefschwarzer Schopf. Eigenartig war auch deren Tragweise; sie hingen an beiden Seiten des Kopfes in langen Zöpfen herab. Geradezu abstoßend aber war der struppige Bewuchs in den Gesichtern der Einheimischen – das kannte man bei ihrem Volk nicht, ebensowenig bei den Breitschädeln. Während des Essens hatte man immer wieder gesehen, daß ein Teil der leckeren Bissen darin hängenblieb. Höchst unbequem, höhnte Tödlicher Pfeil in wortlosem Spott. Eindrucksvoll waren jedoch die blitzenden blauen Augen ihrer Bewacher, aus denen Mut und Streitlust strahlten. Seltsam war auch deren Kleidung: Anders als bei den Schlangensöhnen und allen ihren Nachbarvölkern üblich, waren die Beine vollständig mit Stoff umhüllt; derartige Gewänder hatten die Schiffbrüchigen noch nie erblickt. Damit kann man bestimmt nicht gut laufen und schon gar nicht schwimmen, dachte Großer Biber; immerhin, im Winter mochten sie ganz hilfreich sein. Der Oberkörper blieb bei einigen unbedeckt, andere trugen bunte Kittel. Um ihre ausladenden Schultern hingen auffällige Mäntel: Sie waren in ungezählte kleine viereckige Felder von unterschiedlicher Farbe geteilt, manche auch in langgestreckte bunte Streifen. Konnte man so auf die Jagd oder gegen benachbarte Stämme ziehen, fragte sich Kriegsadler; damit würde man doch den Feind oder das Wild vorzeitig warnen. Da waren die Söhne der Großen Schlange wesentlich klüger – ja sogar die verachteten Breitschädel! Mit Haß und Abscheu dachte er an die Feinde, aber auch in einem schmerzvollen Augenblick an Schönes Haar und ihren frühen Tod. Würde er je in die Heimat zurückfinden, um sie zu rächen? Sofort schob er diese nutzlosen Überlegungen beiseite. Er war immer noch der Anführer der Kameraden; es war seine Pflicht, sie durch alle Gefahren zu geleiten. Persönliche Empfindungen hatten da zurückzustehen!

Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen; der Wortführer der Einheimischen gab mit unmißverständlichen Gebärden das Zeichen zum Aufbruch. Immerhin: Sie wurden nur locker an eine lange Leine gebunden; man hatte sie bisher gut behandelt, sie hatten dasselbe zu essen bekommen wie ihre Bewacher. Die Breitschädel hätten sie hingegen hungern, vielleicht sogar dürsten lassen und so scharf gefesselt, daß die Bande tief in das Fleisch schnitten und grausame Schmerzen verursachten – ein kleiner Vorgeschmack auf die tagelangen Martern, die ihnen bevorstanden. Hoffnungslos erschien ihre gegenwärtige Lage jedenfalls nicht!

Der Weg führte durch eine liebliche Küstenlandschaft, mehrfach an kleineren unbefestigten Siedlungen vorbei, die nur aus wenigen langgestreckten Häusern bestanden. Diese erinnerten die Schlangenkrieger an die Hütten ihres eigenen Volkes: Sie waren gleichfalls aus aufrechtstehenden Holzpfosten erbaut; die Zwischenräume füllten unregelmäßige Felder von weißlichgelbem Lehm, den man – wie einige schadhafte Stellen offenbarten – auf grobem Flechtwerk verstrichen hatte. Unbekannt waren ihnen dagegen die steilen Dächer; später sollten die Fremdlinge erfahren, daß sie dazu dienten, den Schnee abrinnen zu lassen. Am Rand der Siedlungen erhoben sich weitere Holzbauten auf Ständern – Magazine für Getreide und andere Feldfrüchte, die dadurch gegen die Feuchtigkeit des Bodens, vor allem aber vor Mäusen und anderem gefräßigen Ungeziefer geschützt waren. Ein Gebäudetypus fehlte jedoch, der in ihren eigenen Dörfern unabdingbar war – die großen Gemeinschaftshäuser als Mittelpunkt des öffentlichen Lebens, wo man sich zu Festen und dem abendlichen Gedankenaustausch ebenso traf, wie zur Vorbereitung auf die feierliche Beisetzung der Toten, die für den Stamm von höchster Bedeutung war.

Mit großem Interesse betrachteten die Schlangenkrieger die vielen unbekannten Tiere. Sie selbst lebten lediglich mit halbwilden Hunden zusammen; diese liefen hier ebenfalls frei herum und verbellten die Vorüberziehenden, ohne sich freilich in deren unmittelbare Nähe zu wagen. Mancher kräftige Fußtritt mochte ihnen die allzu große Vorwitzigkeit abgewöhnt haben, das wußten die Neuankömmlinge aus eigener Erfahrung. Aber es gab auch zahlreiche andere Tierarten – etwa Hühner und Gänse, die offenbar den Siedlern gehörten. Es war sicherlich einfacher, das Geflügel im Dorf zu halten, statt wie sie selbst in der Wildnis nach Truthähnen zu jagen. Allerdings verleitete es auch zur Bequemlichkeit und übte wohl kaum die kriegerischen Fähigkeiten, etwa das lautlose Anpirschen als Vorbereitung für die Raubzüge gegen menschliche Feinde. Aber es gab auch größere Tiere – einige glichen im Körpermaß den Hirschen und Elchen ihrer Heimat, waren aber bedeutend dicker und hatten kurze Hörner. Sie wären eine leichte Beute, dachten die erfahrenen Jäger; hier aber waren sie von Zäunen umschlossen, also offenbar sehr wertvoll für die Besitzer. Andere liefen dagegen frei herum und ließen dabei ein fröhliches Meckern hören – schlankere gehörnte Tiere, auch diese den Hirschen vergleichbar, wenn auch wesentlich kleiner. Noch mehr wunderten sich die Schlangensöhne über schwarzgraue rundliche Wesen mit eigenartigen Nasen, die sich in zwei Löchern öffneten; die Tiere schnüffelten und wühlten damit im Boden, wobei sie ein wohlgefälliges Grunzen von sich gaben. Als er die fragenden Blicke der Gefangenen bemerkte, zog einer der Bewacher ein Stück Speck aus seinem Vorratsbeutel und deutete vor ihren Augen zunächst darauf, dann auf die Schweine. Offenbar stammte die Delikatesse von diesen Tieren.

Am meisten aber faszinierten sie die großen Vierbeiner mit den glänzenden Mähnen und Schweifen, auf denen einige der Gallier saßen; geschickt lenkten sie die Tiere mit Riemen, die sie ihnen um Kopf und Maul gelegt hatten. Offenbar war es ihnen gelungen, diese gewaltigen, sicher sehr kräftigen und lebhaften Wesen zu zähmen. Die Schlangensöhne staunten immer mehr – das hatten sie zu Hause nicht einmal bei den Hunden erreicht, die in ihren Dörfern ein nahezu eigenständiges Dasein fristeten. Nur manchmal vermochten die Kinder sie anzulocken und sogar zum Spielen zu bewegen, vor allem wenn sie die Vierbeiner mit einigen Fleischfetzen oder nicht völlig abgenagten Knochen fütterten.