Der Inseltraum - Marga Lemmer - E-Book

Der Inseltraum E-Book

Marga Lemmer

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Beschreibung

Zwei Frauen, zwei Generationen und ein Schicksal, das sich auf Teneriffa erfüllt. 1967. Die deutsche Frauenbewegung steckt noch in den Kinderschuhen, als Marianne Vocke sich entschließt, nach Teneriffa auszuwandern und noch einmal von vorn anzufangen. Sie lässt ihr bisheriges Leben zurück: Mann, Kinder, Geschäft, Freunde, Eltern­haus. Auf der Kanaren-Insel findet sie eine neue Liebe und auch ihre persönliche Freiheit. Doch ­Heimweh und Schuldgefühle plagen sie...­ Als sie die Urlauberin Kerstin aus Leipzig kennenlernt, kann sie gut verstehen, als die Jüngere be­schließt: "Hier will ich für immer leben". Marianne hat den Inseltraum, der oft zum Albtraum geriet, mit allen Konsequenzen gelebt. Kann sie ihrer neuen Gefährtin die eigenen, oft bitteren Erfahrungen ­ersparen? Die Geschichte einer Aussteigerin: ehrlich - ungeschminkt - lebensnah

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Marga Lemmer

Der Inseltraum

Teneriffa. Story einer Aussteigerin

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Über das Buch
Die Autorin
DER INSELTRAUM - Teneriffa - Story einer Aussteigerin
Impressum
Mehr Kanaren-Literatur im Zech Verlag

Über das Buch

Zwei Frauen, zwei Generationen und ein Schicksal, das sich auf Teneriffa erfüllt. 1967. Die deutsche Frauenbewegung steckt noch in den Kinderschuhen, als Marianne Vocke sich entschließt, nach Teneriffa auszuwandern und noch einmal von vorn anzufangen. Sie lässt ihr bisheriges Leben zurück: Mann, Kinder, Geschäft, Freunde, Eltern­haus. Auf der Kanaren-Insel findet sie eine neue Liebe und auch ihre persönliche Freiheit. Doch ­Heimweh und Schuldgefühle plagen sie...­ Als sie die Urlauberin Kerstin aus Leipzig kennenlernt, kann sie gut verstehen, als die Jüngere be­schließt: »Hier will ich für immer leben«. Marianne hat den Inseltraum, der oft zum Alptraum geriet, mit allen Konsequenzen gelebt. Kann sie ihrer neuen Gefährtin die eigenen, oft bitteren Erfahrungen ­ersparen? Die Geschichte einer Aussteigerin: ehrlich – ungeschminkt – lebensnah

Die Autorin

Marga Lemmer, geboren 1938 in Nürnberg, schreibt Kurz­geschichten, Romane, Reisebeschreibungen und Mundartgedichte. 1987 gewann sie den ­Ersten Preis im Mundart-Autorenwett­bewerb in Heiligenstadt, seit 1999 ­­veröffentlicht die Hersbrücker Zeitung ­regelmäßig ihre zeitkritischen, humorigen Beiträge. Der hier vorliegende Roman erschien erstmals 1998 im Selbstverlag unter dem Titel »Jenseits des Käfigs«.

*

»Sie sprechen Spanisch und so fließend wie eine Einheimische. Wunderbar!«

Ich schaue die Frau am Nebentisch, die mich da so unerwartet anspricht, an, will eigentlich unwirsch sein. Aber als ich das freundliche, erwartungsvolle Gesicht sehe, sage ich verträglich: »Wenn man so lange hier lebt wie ich, lernt man es.«

»Sie leben hier? Sie Glückliche, wie ich Sie beneide.«

Ich lächele und schaue auf José, der mir meinen Cortado und den für mich obligatorischen Brandy 103 negro serviert. Wir wechseln ein paar freundliche Worte. Die Urlauberin sieht und hört fasziniert zu.

»Sie leben also schon lange hier?«, bohrt sie weiter.

»Lange? Ich weiß nicht, was in Ihrem Alter lang oder kurz bedeutet. In meinem Alter hat Zeit nicht mehr so viel Bedeutung.«

»Darf ich fragen...?«

»Natürlich dürfen Sie. Wenn Sie’s nicht sollten, hätte ich nicht darüber geredet. Rücken Sie zu mir herüber. Ich hasse diese deutsche Unsitte, dass sich jeder separat an seinen eigenen Tisch setzt, so als hätte er ihn für die Dauer seines Hierseins erworben und er dann beleidigt ist, wenn es jemand wagen sollte, sich dazu zu gesellen. Na ja, und nun raten Sie mal. Wie alt bin ich?«

Kaum habe ich das gesagt, ärgere ich mich über dieses altweiberhafte Kokettieren mit der längst vergangenen und vergessenen Jugend. Nun kommt es auf zehn Jahre hin oder her doch wirklich nicht mehr an, sollte man meinen. Aber in welchem Weib ist nicht, solange es lebt, die Sehnsucht nach ewiger Jugend und Schönheit verborgen? Und wenn es manche auch nicht zugeben wollen, das Ich-möchte-schön-sein, das Begehrt-werden-wollen wurde uns allen in die Wiege gelegt. Und dies trotz mannigfaltiger Verleugnung, die uns die Selbstachtung diktiert. Wir machen es wie jener Fuchs, dem die Trauben zu hoch hängen, und als er merkt, dass sie unerreichbar für ihn sind, sagt er, er möge sie nicht, weil sie ihm zu sauer seien.

»Ich warne Sie«, lächelt mein Gegenüber in mein verbiestertes Gesicht, »ich bin Psychologin, und in meinem Beruf beobachtet man gut.«

»Psychologin«, sage ich mit mäßiger Begeisterung und füge in Gedanken hinzu: »...auch das noch.«

Sie lächelt immer noch, aber ein bisschen spöttisch, und sie verunsichert mich dadurch, weil ich merke, dass sie mich durchschaut. Sie ist ja so clever, meine Nachfolge-Generation, und so cool. Diese Frauen dürften die Probleme meiner Generation nicht haben. Sie sind selbstbewusst und haben es nicht mehr nötig, die Sklavin eines Mannes zu sein. Sie fordern und bestimmen und leben ihr eigenes Leben... Sie beziehen einen Mann ein, aber sie sind nicht mehr abhängig von ihm. Meinte ich!

»Fünfundsechzig!«, sagt die Fremde und schaut mich abwartend an.

Natürlich bin ich sauer. Wenn auch nur ganz tief im Innern verborgen. Doch mein Lächeln ist liebenswürdig, ich hin erhaben über jegliche Kleinlichkeiten, über Äußerlichkeiten sowieso. Habe ich das noch nötig? Ich doch nicht! Ich weiß, dass meine Hülle in relativ gutem Zustand ist. Meine rotblonden Haare, schulterlang und brav hochgesteckt, haben nur wenige graue Strähnen. Seit ich nicht mehr fresse und saufe, sondern mir Genuss speise und trinke, bin ich von Kleidergröße 46 wieder bei normaler, meiner Statur entsprechenden 42 gelandet. Jedenfalls ist mein Körper in einer wesentlich besseren Verfassung als meine Seele. Da ist etwas gestorben, da fehlt ein Stück. Ich lebe nicht mehr. Ich überlebe nur noch.

Fünfundsechzig! Blöde Kuh, denke ich und lache freundlich, meine paar echten Zähne, verbrämt mit den künstlichen Zahnarztprodukten, bleckend.

»Muss doch was dran sein an der Psychologie.« Und sie lacht herzlich mit beneidenswert echten Zahnreihen zurück. »Verzeihen Sie, aber in meinem Beruf ist man auch so furchtbar neugierig.«

»Jaja. Und jetzt wollen Sie wissen, warum, wo und wie ich hier lebe. Stimmt’s? Und ob ich alleine bin. Ja, ich bin alleine! So gottverdammt alleine, dass ich Ihnen, als einer völlig Fremden, gerne erzähle, warum ich hier im Ghetto lebe, statt zu Hause in meinem wunderschönen Frankenland, in meiner Heimat...«

Da sind sie wieder, diese verfluchten Tränen. Zeichen der Verkalkung, sagte kürzlich einer unserer begehrten und umworbenen männlichen Überlebenden über Siebzig. Und jetzt rät die Psycho-Tante: »Weinen Sie ruhig. Das erleichtert.«

»Noch so eine Bemerkung von Ihnen und Sie haben mich gesehen, junge Frau!«

»Junge Frau? Ich werde bald vierzig!«

»Und ich siebzig! Und mit vierzig war ich eine junge Frau!«

Ich plaudere noch ein bisschen mir der Urlauberin, dann habe ich genug. Ich hasse neugierige Menschen. Ich verabscheue Aufdringlichkeit. Doch in Wirklichkeit schockiert mich einfach die Tatsache, dass ich mich irgendwie in ihr wiederzuerkennen glaube.

Ich war auch vierzig, als ich das erste Mal nach Teneriffa kam. Vierzig Jahre alt, nicht vierzig Jahre jung, so wie die da. Denn da hatte ich bereits zwanzig Jahre Ehe hinter mir und lebte die letzten achtzehn Jahre davon in der Hölle der Eifersucht, die, obwohl berechtigt, alles kaputt machte, was da an Gefühl für den Mann, den sie ›meinen Mann‹ nannten, in mir war. Und dieses Gefühl schmolz wie Eis in der Sonne. Nach jedem Betrug von ihm wuchs der Hass in mir, und ständig war da die Frage: Was hat sie, das ich nicht habe? Immer war eine da, die mehr oder besseres zu bieten hatte als ich. Ich fühlte mich minderwertig, unnütz, überflüssig und vor allem ungeliebt.

Nur wer es selbst erlebt hat, kennt dieses Gefühl. Das Festhalten-wollen an dem Partner. Das Unvermögen, ihm zu vermitteln, dass man ihn und nur ihn braucht und will, und die Konfrontation mit den Tatsachen, dass man wohl geduldet und im Alltag akzeptiert wird, aber dass dieser offenbar erdrückende Alltag seine Ausweichmöglichkeiten bietet... Viele Frauen kennen dieses Gefühl des verloren gegangenen Stolzes, der Minderwertigkeit und der Ohnmacht, des Duldens und Hoffens.

Es schüttelt mich heute noch, wenn ich an meinen damaligen Seelenzustand denke. An die schlaflosen Nächte. An das Warten. Warten worauf? Geliebt und begehrt werden anstatt geduldet als billige Arbeitskraft, als Hausdrachen und als Erzieherin der beiden Kinder. Den Kindern zuliebe ertrug ich meine Pein bis zu jener Silvesternacht 1966. Da überraschte ich meinen Mann mit meiner Freundin Liana in meinem Bett. Dass es in meinem Bett geschah, war das Dreckigste an seinem Verrat.

Wir waren drei Paare an jenem Abend und feierten in unserem Haus die Jahreswende. Wir hatten alle zu viel getrunken. Trinken war in den sechziger Jahren modern und hatte nichts Anrüchiges. Whisky war »in«. Man lernte gerade Aperitifs, Digestifs, die ausgefallensten Mixgetränke, die wahre Bomben waren, kennen. Es wurde gesoffen, geraucht und nicht nach Gesundheit gefragt, das kam erst später. Damals befanden wir uns nach all dem Kriegselend im Konsumrausch und dem Wunsch, alles Versäumte nachzuholen. Die fetten Jahre hatten begonnen.

Ohne meinen Alkoholpegel hätte ich nie den Mut aufgebracht, in dieser Nacht meine Koffer zu packen und sang- und klanglos zu meiner Freundin aus Schultagen nach Frankfurt zu flüchten. Der Kater hatte mich dann auch gnadenlos in seinen Fängen, als ich im tristen Grau des ersten Januartages im Frankfurter Westend aus dem Taxi kroch und von meiner ebenfalls recht ramponiert wirkenden ehemaligen Busenfreundin ohne viel Firlefanz aufgenommen wurde. Irene war ein Kumpel, der nicht viel fragte, sondern handelte.

›Da, trink das erst mal‹, sagte sie, ob ihrer rauhen Stimme die Augen verdrehend, ›zu viel geraucht und natürlich zu viel getrunken.‹

Ich hustete, als ich von dem scharfen roten Zeug nippte. Sie grinste: ›Prärieoyster! Wirkt Wunder. Macht einen sauberen Magen und einen klaren Kopf.‹

›Kann ich brauchen‹, flüsterte ich und empfand die Schärfe des Tomatengetränks jetzt als angenehm.

›Hast schon mal besser ausgesehen, Mariannchen‹, stellte sie fest und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.

Ich heulte: ›Sag nicht Mariannchen. Das sagt er immer, der Idiot. Der Teufel soll ihn holen...‹ Ich erzählte nur das Nötigste und fiel dann aus allen Wolken, weil ich so sicher war, hier eine Weile Unterschlupf finden zu können, um diesem Schuft zu Hause Angst einzujagen.

›Natürlich hättest du hierbleiben können, aber wir verreisen am 4. Januar. Stell dir vor, wir fliegen für zwei Wochen nach Teneriffa.‹

›Nach Teneriffa?‹, fragte ich fassungslos. ›So weit?‹ Ich war über die italienische Adria nie hinausgekommen.

›Ja, denk dir nur, Teneriffa! Allein das Wort klingt schon wie eine Verheißung. Da ist es jetzt so warm, dass man im Meer schwimmen kann.‹

›Im Meer baden‹, schniefte ich schon wieder weinend. Ich liebte das Meer, und ich dachte an unseren letzten Urlaub in Pesaro. Da hatte ich Uwe im Postamt überrascht, als er mit einer Angelika telefonierte, die er Schätzlein nannte. Ich ging, noch ehe er die Telefonzelle verlassen hatte. Schluckte die neue Demütigung hinunter zu all den anderen. Fühlte mich nur wieder um ein Stückchen minderwertiger.

Teneriffa! Irene und ihr Mann Herbert redeten von nichts anderem an diesem 1. Januar 1967 als von der Kanareninsel im südlichsten Europa, die eigentlich mehr zu Afrika gehört, geographisch gesehen. Sie sprachen von Weihnachtssternen, Bananen und Zitrusfrüchten, die dort wachsen. Vom warmen Golfstrom und vom kühlenden Passatwind. Ich vertiefte mich in ihren Reiseführer und wurde immer begieriger auf diese Oase im Atlantik. ›Wenn ich da doch auch hinfliegen könnte‹, weinte ich. Ich weinte nur noch.

›Ich habe mein Sparbuch mitgenommen. Es sind siebentausend Mark darauf. Meine Mutter hat mir das hinterlassen. Uwe weiß überhaupt nichts davon, sonst wäre das Geld längst in die Firma gewandert.‹

›Siebentausend Mark‹, lachte Herbert, ›dafür kannst du zehnmal nach Teneriffa fliegen und mit Vollpension.‹ Ja, so war das damals vor 30 Jahren.

›Könnte ich? Würdet ihr mich mitnehmen?‹

›Mensch, Marianne, das ist die Idee!‹ Und als Irene am nächsten Morgen im Reisebüro anrief, hatte sie zwei Stunden später das Okay für meine Reise. Ich würde nach Teneriffa fliegen. Auf die Kanaren!

Nachts, als ich vor Aufregung zitternd nicht schlafen konnte, packte mich die Panik. Mein Leben lang war ich gewohnt, untertan zu sein. Nie hatte ich mich aufgelehnt, nie protestiert gegen die Rolle der Leibeigenen. Jetzt hatte ich Angst vor meiner eigenen Courage. Rebellin konnte man eben nicht über Nacht werden.

Jetzt schrecke ich hoch, muss erst zurückfinden von dieser spontanen Reise in die Vergangenheit. Ach ja, da ist ja noch die Psychologin.

»Darf ich mich verabschieden?«

»Sie hatte ich ganz vergessen!«

»Ja, Sie waren weit weg mit Ihren Gedanken.«

»Erinnerungen«, sage ich versonnen und ohne recht nachzudenken: »Sie wollten doch meine Geschichte hören. Wollen Sie es immer noch?«

»Rasend gerne!«

»›Gerne‹ würde genügen«, brummte ich. Diese neue Art sich auszudrücken missfällt mir einfach. Rasend gerne, unheimlich schön, irrsinnig interessant, schrecklich gut und all diese Unsinnigkeiten. Ich bereue schon wieder, dass ich so schnell beschlossen habe, vor dieser Fremden mein Leben auszubreiten.

Aber da ist eine spontane Zuneigung zu dieser Frau, der ich mich nicht entziehen kann. Ich spüre so etwas wie Seelenverwandtschaft, irgendwie ist die Art von meiner Art. Ich mag sie vom ersten Augenblick an.

»Also, wenn Sie wollen und mit der ›schönsten Zeit des Jahres‹ nichts Besseres anzufangen wissen, als die Lebensbeichte einer alten Frau anzuhören, so besuchen Sie mich doch. Sehen Sie dort diesen Riesenkasten auf der Landzunge? Dort wohne ich, habe da ein Apartment gekauft.«

Ihr Gesicht drückt leise Enttäuschung aus, und sie sagt nur: »Oh!«

»Ja, ich weiß. Von außen gesehen und vor allem vor der grandiosen Bergkulisse im Hintergrund ist der Kasten nicht gerade eine Zierde. Architektonische Geschmacksverirrung aus den Anfangszeiten des Massentourismus. Aber wenn Sie erst mal drin sind, von meiner Terrasse aus auf den endlosen Atlantik schauen, den Teide in seiner majestätischen Größe greifbar nahe, dann meinen Sie, es sei der Blick auf ein Reklameschild für Teneriffa.«

»Der Teide? Ist das der Berg mit der Schneekuppe?«

»Ja, das ist er, der Berg, fast viertausend Meter hoch und der Werbegipfel der Insel.«

»Wann darf ich zu Ihnen kommen, ich kann es kaum erwarten, alles über dieses Land zu erfahren.«

»Alles? Da überschätzen Sie mich und meine Kenntnisse wohl etwas. Aber wenn Sie nichts vorhaben, können Sie gleich mitfahren, drüben steht mein Auto.«

»Sie haben sogar ein Auto?«

»Mehr ein Fortbewegungsmittel, mein Mini-Fiat, aber ich bin beweglich. Fahre nach La Laguna zum Einkaufen und am Samstag auf den Bauernmarkt nach Tacoronte. Und manchmal, wenn ich das Toben und Brausen der Brandung nicht mehr hören kann, fahre ich ein Stück hinauf in den Mercedes-Wald, genieße dort die Stille und Einsamkeit, und wenn ich die Augen schließe und die würzige Waldluft atme, wähne ich mich daheim in Deutschland.«

»Das könnte mir nicht passieren«, sagt die Jüngere wenig später beim Wegfahren. »Nie würde ich genug bekommen von diesem grandiosen Naturschauspiel der anrollenden Wogen. Stundenlang kann ich das betrachten...«

»Haben Sie es mal ein paar Monate oder noch länger. Tag für Tag, Nacht für Nacht, dann kommt der Moment, wo Sie sich die Ohren zuhalten und sich nichts wünschen außer Ruhe. Aber wir Ausländer müssen das Meer ja immer in greifbarer Nähe haben. Ich war damals auch süchtig nach diesem Toben und Brausen des Atlantiks in seiner Urkraft, so wie Sie jetzt. Sogar nachts, vor allem wenn es mondhell war, saß ich stundenlang draußen und schaute den herandonnernden Wellen zu. Atmete wie eine Verdurstende die salzige Luft ein.

Doch sehen Sie mal, wo die Einheimischen ihre Häuser haben: da oben am Berghang, und sie wissen warum. Ein alter Mann von dort sagte mir einmal, es sei nicht gut und ungesund, so unmittelbar am Wasser zu leben. Es peitsche die Nerven auf, mache nervös, sei Gift für kleine Kinder und ähnliches. Sie werden bald selbst merken, dass allein durch das Toben und Schlagen der Wogen ein richtiger Tiefschlaf verhindert wird. Alpträume suchen Sie heim. Der alte Mann hatte Recht. Der Atlantik hier an der Nordküste liefert eben kein beruhigendes Wellenplätschern wie das Mittelmeer. Und vor allem in den Wintermonaten präsentiert er Urgewalten.«

Dann steht die Besucherin mit leuchtenden Augen auf meinem Balkon.

»Mein Gott! So herrlich habe ich es mir nicht vorgestellt. Wahnsinn!«, sagt sie und strahlt mich an.

Schon wieder so ein irres Wort. Ich alte Nörglerin kann es aber auch nicht lassen zu kritisieren. Aber ich finde, wenn einem schon die richtigen Worte fehlen, um Gefühle auszudrücken, kann man doch auch schweigend staunen. Ich überlasse ihr Balkon und Aussicht und mache uns eine Kanne Kaffee.

Ich lächele. 30 Jahre, die ich mehr hier als in Deutschland verbracht habe, und trotzdem trinke ich noch immer meinen Filterkaffee, zumindest zu Hause, nicht in den hiesigen Restaurants, da mag ich den kleinen Café solo oder den mit Milch aufgegossenen Café cortado.

»Seit dreißig Jahren dürfen Sie das schon genießen«, seufzt meine Besucherin, »Sie Glückliche«, und schaut hingerissen hinunter in die anrollende Flut, deren Wogen sich blau und grün schimmernd überschlagen.

»Ja«, sage ich, »ich genieße es. Manchmal. Und ich hasse es. Manchmal. Aber wie auch immer, ich kann von diesem Land hier nicht lassen. Ich hin süchtig nach meiner Insel. Seit ich vor dreißig Jahren zum ersten Mal hier war, bin ich zweigeteilt. Konnte mich zum einen nie von meiner fränkischen Heimat abnabeln und war doch dieser Zweitheimat hier verfallen. Sagen Sie, sind Sie eigentlich zum ersten Mal hier? Ich nehme es schon an, da Sie nicht einmal den Teide kennen.«

Sie lacht. »Ich hoffe, das ist keine unbedingte Bildungslücke. Aber ich weiß tatsächlich nichts von dieser Insel. Ich habe einen Last-Minute-Flug gebucht. Mir war egal wohin. Ich wollte endlich Sonne und Wärme, raus aus unserem neblig-tristen, stinkenden Leipzig. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie trostlos es jetzt im November bei uns ist.«

»Doch, kann ich. Ich war einmal dort, natürlich noch vor der sogenannten Wende, als es noch Ostzone hieß. Zwar wohnte ich mit allem westlich gewohnten Komfort im Hotel Merkur, das japanische Architekten dem Herrn Honecker beschert hatten, aber es war trotzdem entsetzlich. Ich wähnte mich in die Nachkriegszeit zurückversetzt.«

»Na ja, der Ostzonenmief ist natürlich weg, und die Stadt selbst ist sehr schön. Aber im Winter ist es eben in den meisten Städten trostlos.«

»Stinkt es immer noch so nach Braunkohle?«

»Ich weiß nicht, ob es Braunkohle ist, aber ich habe jedenfalls manchmal das Gefühl, ich müsse ersticken, hauptsächlich an diesen Nebeltagen.«

Dann atmet sie tief ein. Mit geschlossenen Augen flüstert sie lächelnd: »Ich fühle mich wie ein Schwamm, der all das hier aufsaugt. Das ist Leben! Am liebsten möchte ich nie mehr zurück...« – Das waren auch meine Worte vor drei Jahrzehnten.

Wir landeten am 4. Januar 1967, abends um achtzehn Uhr auf dem Flughafen Los Rodeos, dem einzigen, den Teneriffa damals hatte. Fast eine Stunde lang war unsere Maschine zuvor im dichten Wolkengebräu um die Insel gekreist, ehe sie Landeerlaubnis erhielt. Da hatte ich, meine Kotz-Tüte einer der Stewardessen überlassend, mit meinem Leben abgeschlossen. Das ist die Strafe, dachte ich und umklammerte mit geschlossenen Augen den fest verzurrten Sicherheitsgurt. Mein Gott, lass es schnell gehen! Wir werden abstürzen, an diesem grässlichen weißen Berg zerschellen, der sich immer wieder durch ein Loch in der Wolkendecke zeigte. Wieder sackte die Turbo-prop-Maschine in ein Luftloch. Wieder dachte ich, das war’s. Dann ratterte und rumpelte es. Vater unser..., betete ich.

›Geschafft!‹, rief Irene. ›Marianne, mach’ die Augen auf, sieh nur, alles ist grün.‹

Alles ist grün? Ich war wirklich auf dem Boden? Ich war in Sicherheit! ›...in Ewigkeit. Amen!‹, murmelte ich, und eine Welle der Dankbarkeit durchflutete mich. Ich lebte!

Vergessen war meine Todesangst, und ich dachte auch nicht mehr an meine Familie. Uwe, meinen Mann, Eva und Karin, meine Kinder. Das war in einem anderen Leben. Ich fühlte mich von Hochstimmung erfasst. Ich war neugeboren. Soeben begann mein neues Leben. Ich konnte mich nicht sattsehen.

Das waren also die vielgerühmten Weihnachtssterne. Meterhohe, rotglühende Blütenhecken von der untergehenden Sonne angestrahlt. Von Bougainvillea überwucherte Hauswände. Fruchtschwere Zitronenbaume in Vorgärten. Bananenplantagen entlang der Straße zum Meer. Sommerlich gekleidete Menschen. Einheimische, die scheinbar viel Zeit hatten, auf Steinbänken vor einer Kirche sitzend. Auf einem Platz drehte ein altes Kettenkarussell inmitten von verschiedenen Verkaufsbuden seine Runden. Schauen, schauen und staunen.

Als wir nach einer guten halben Stunde aus dem Bus stiegen und ich las Hotel Tinguaro, da versank der glutrote Sonnenball im Zeitlupentempo im Meer, und mit einem Schlag, ohne Dämmerung, war es Nacht. Ich schaute auf meine Uhr. Neunzehn Uhr dreißig, halb acht abends und das am 4. Januar, und jetzt war erst die Sonne untergegangen, was für ein Land!

Ich hatte ein Doppelzimmer zur Alleinnutzung. Irene und Herbert wohnten in der gleichen Etage, nur drei Zimmer weiter. Jedes Apartment hatte ein Schlafzimmer, einen sogenannten Salon und ein großes Bad. Dazu einen Balkon, der entlang der beiden Wohnräume verlief und einen herrlichen Ausblick über den gesamten Ort hinweg auf den Atlantik bot.

Lange stand ich draußen, atmete tief den bitteren Geruch der Wermutsträucher ein, die den ganzen Hang unterhalb des Hotels bedeckten. Ein lauer Wind ließ das Laub der riesigen Gummibäume unter mir rascheln, und neben dem beleuchteten Eingang standen Riesenkakteen, die bis zum zweiten Stock reichten.

Ich zog die Kostüm-Jacke aus und dehnte und streckte mich voll Wohlbehagen. Es war Januar! Ich konnte es einfach nicht fassen.«

Mit geschlossenen Augen habe ich erzählt. Und es scheint mir so, als wäre es gestern gewesen, was ich hier berichte.

›Carlos!‹, denke ich noch und spüre mein Herz rasen, dann bin ich wieder in der Gegenwart.

»Oh bitte, erzählen Sie weiter«, sagt mein Gast.

Doch ich schüttele den Kopf. Heiß brennt die Nachmittagssonne jetzt auf meinen Balkon. Den kühlen Wind, der von Nordost kommt, spürt man hier auf der Südwestseite nicht. Ich drehe die Markise so weit herunter, dass unsere Oberkörper im Schatten sind, und sie sagt: »Schade, ich liebe die Sonne so sehr.«

»Ich auch, wie man sieht, und deshalb habe ich auch eine Haut wie vergilbtes Pergamentpapier.«

»Nein! Sie sind so herrlich braun.«

»Eher lufttrocken«, lache ich und dann: «Sie wissen ja nun, dass ich Marianne heiße, und Sie?«

»Kerstin. Kerstin Schmittge.«

»Also Kerstin. Sehen Sie, die Flut kommt. Unser Meerwasserschwimmbad wird dann über diese Fontäne, die jetzt hereinschäumt, aufgefüllt. Und sehen Sie, auch vom Atlantik direkt erwischt ab und zu eine Welle das Becken. Da, die rote Fahne, wir bekommen Hochflut. Morgen ist Vollmond.«

»Rote Fahne? Vollmond? Hochflut?« Sie sieht mich fragend an, und ich erkläre ihr, dass die rote Fahne ›gefährliches Schwimmen‹ signalisiert, dass bei Vollmond die Flut besonders hoch ist und welch grandioses Naturschauspiel stattfindet, wenn auch noch der Wind mit der Flut kommt.

Doch dann werde ich ungeduldig: »Ich möchte jetzt schwimmen. Kommen Sie mit?«

»Ja, nein, ich weiß nicht... Meine Badesachen sind im Hotel.«

»Machen Sie doch keinen Firlefanz. Ich habe da noch einen etwas vorsintflutlichen Einteiler, zu klein für mich. Er wird’s tun für Sie. Hier sind wir sowieso fast alle lauter alte Leutchen und keiner wird schauen, was Sie da anhaben.«

»Ja, wenn Sie meinen...«

»Ich meine nicht. Sie können machen, was Sie wollen. Können jetzt auch rüberfahren in ihr Hotel. Der Bus kommt da oben an der Ecke jede halbe Stunde.«

»Wenn ich Ihnen nicht lästig bin, würde ich lieber bleiben.«

Ich lächele nur und werfe ihr den Badeanzug über einen Stuhl. Sie ist gar nicht so ungehobelt und anmaßend, diese Nachfolge-Generation, wie man als älterer Mensch oft glaubt. Vielleicht sind aber auch die »von drüben« noch nicht ganz so versnobt wie unsere Nachkriegsbrut, die immer alles oder sogar noch mehr als das bekam, was sie forderte.

»Buenas tardes, Manolo«, grüße ich zu unserem jungen Mann am Meerwasser-Bad, der das Mädchen für alles ist, was mit dem Pool zu tun hat. Er passt auf, dass keine Fremden unser Refugium betreten, es sei denn gegen angemessenen Obolus. Er repariert tropfende Wasserhähne, streicht rostige Begrenzungspfähle, entfernt mit stoischer Ruhe, »trabajo, mucho trabajo« murmelnd, jedes Fäserchen Unrat aus dem Pool, bringt und entfernt Liegen, er warnt Unkundige vor den Tücken glatter Steine oder zu viel Mut, wenn sie draußen im Atlantik schwimmen wollen. Vor Jahren habe ich ihm diesen Job hier vermittelt und so für das Überleben seiner Familie gesorgt.

Außerdem ist unser Manolo auch noch ein schöner Mann, und als solcher fühlt er sich sofort verpflichtet, meiner Ossi-Kerstin dezent, aber unverkennbar zu zeigen, wie erbaut er von ihrem Anblick ist. Wen wundert es, dass der Mann, ständig konfrontiert mit uns Alten, sich freut, wenn einmal etwas auftaucht, bei dem es sich lohnt sein Mannestum spielen zu lassen. Und wie er spielen lässt. Die Muskeln sind da noch das wenigste. Er trippelt wie ein Pfau und legt ein betörendes Timbre in die Frage: »Su hija, señora Marianna?«

»Nein, Manolo. Sie ist nicht meine Tochter.«

Er fragt nicht einmal, ob sie hier wohnt. Er balzt nur. Er bringt ihr mit langen Erklärungen eine Liege, stellt sie so, dass der Passatwind sie nicht erreicht. Dann nimmt er gestikulierend ihren Ellenbogen, stützt ihn mit zwei Händen, als sei sie gebrechlich und führt sie um das Becken. Da ist der beste Einstieg, da sind glatte Steine. »Cuidado – bumm«, droht der Schlawiner und hat einen Grund, Kerstin um die schlanke Taille zu fassen. Dann geleitet er sie zu ihrer Liege und geht mit einem langen, schmelzenden Blick, der sagt: ›Du bist eine begehrenswerte Frau‹.

Die begehrenswerte Frau schaut zu mir herüber, wir blinzeln uns zu. Während ich dann längst schwimme, plätschert sie unschlüssig mit den Zehen von der Leiter aus im Wasser. Endlich steigt sie eine Stufe tiefer und jammert, als ich zu ihr hinschwimme: »Kaaaalt«.

»Neunzehn Grad«, sage ich ein bisschen verächtlich und denke: Memme. Dabei vergesse ich, dass ich seit September jeden Tag hier schwimme, und da zeigte das Wasserthermometer noch dreiundzwanzig Grad. Wenn es dann langsam immer etwas kühler wird, merkt man das natürlich kaum. Ich tauche meinen Kopf in das salzige Nass. Wie schön! Wie erfrischend nach der angestauten Wärme des Balkons.

30 Jahre Teneriffa und noch immer ist da das gleiche animalische Wohlbefinden, das Eins-sein mit der Natur, so wie damals. Mein erster Tag auf der Insel.

»Mit den Badesachen in unseren Taschen gingen wir zuallererst hinunter zu den Meerwasserbädern von Bajamar. Wir konnten einfach nicht glauben, dass man hier wirklich mitten im Winter schwimmen kann. Nichts wollte ich so sehr wie jetzt und gleich im Meer schwimmen. Ich stellte mir so etwas Ähnliches wie am Mittelmeer vor. Sand, samtene Mittelmeerluft und blauen, südlichen Himmel.

Als wir unten ankamen, war ich maßlos enttäuscht. Das sah ja einfach grässlich aus: Nur schwarzes, düsteres Lavagestein, eine drohende graue Wolke vor den Bergen verdeckte die Sonne, und ein scharfer Wind ließ mich frieren.

Als Krönung dazu stellte sich nun auch meine Seelenpein wieder ein. Mein schlechtes Gewissen war wieder erwacht. Ich glaubte, die Stimme meiner Mutter zu hören: ›So etwas macht man nicht, schäme dich!‹

Vorbei war die Euphorie des gestrigen Tages. Was hatte ich mir da erlaubt? Ich war einfach davongelaufen, geflüchtet. Nun kam die gnadenlose Ernüchterung. In zwei Tagen würden meine beiden Töchter, neunzehn- und siebzehnjährig, von der Skifreizeit zurückkommen.

›Eure Mutter hat euch verlassen‹, würde ihr zu Tode gekränkter Vater stöhnen. Ich sah ihn vor mir. Meine Jüngere, Karin, die ihn abgöttisch liebte und bewunderte, würde mich sofort verdammen, und Eva hätte endlich einen echten Grund gefunden, von daheim ausziehen zu dürfen.

Vielleicht ist es für die beiden gar nicht so schlimm, versuchte ich mich zu beruhigen. Und als ich ein Wasserglas voll Cuba libre, damals bestehend aus halb Cola, halb Rum, getrunken hatte, wurde mir wieder besser.

›Ihr spinnt‹, sagte Herbert und zeigte auf die immer höher anrollenden Wogen, die jetzt teilweise über den Rand des vorher so tümpelig ruhigen Beckens schwappten. Doch wir rannten schon hinunter, und mit einem Satz war ich im Wasser.

›Herrlich!‹, schrie ich, und Irene sprang jauchzend hinter mir her. Wir alberten, prusteten, spuckten, schrieen und schwammen kichernd den sanften Wogen entgegen, die der Atlantik herbeitrug.

›Vorsicht, meine Damen, die Flut kommt‹, sagte ein ältliches, mit Badehaube bewehrtes Wesen, das uns mit hochgerecktem Hals emsig entgegen schwamm. Wir kicherten albern und schwammen dann ganz nach vorne an den Beckenrand. Ich legte mich auf den Rücken, ließ mich treiben, auf- und niederschaukeln von dem salzigen, brodelnden Nass.

Die Kulisse der Berge war von hier aus wundervoll. Dolomiten im Atlantik, dachte ich gerade, als mich völlig unvorbereitet die Welle von hinten traf, mich hochhob, auf den Kopf stellte, und als ich spuckend und keuchend nach Luft ringend wieder hochkam und aufs Meer hinausblickte, bekam ich Angst. Das waren ungeheure Wogen, die sich dort draußen auftürmten, überschlugen und wieder aufbauten. Da kam schon die nächste Welle, die ich blitzschnell durchtauchte.

›Jaa!‹, schrie Irene. ›So geht das. Toll, was?‹ Und wieder tauchten wir unter.

›Champagnerbad!‹, schrie ich, den gischtenden Schaum durchpflügend. Oben an der Strandbar winkte Herbert und bedeutete uns, wild gestikulierend, herauszukommen. Irene folgte ihm, schrie zu mir noch einmal ›einfach toll‹ und rannte nach oben.

Erst als ich, total erschöpft, kaum noch in der Lage war, unter den meterhoch hereintobenden Wellen durchzutauchen, schwamm ich, eine Pause des wild anstürmenden Meeres nutzend, schnell zu einem der Ausstiege. Doch kaum fasste ich nach der Leiter, packte mich eine hohe Welle von hinten und warf mich wieder zurück. Ich hatte bis dahin noch nie Angst vor dem Wasser gehabt, schwamm und tauchte wie ein Fisch, aber das hier war etwas anderes!

Als ich hier dann endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte und mit weichen Knien Richtung Strandbar wankte, vorbei an einem erbosten Bademeister, der mit hochrotem Gesicht ein Stakkato von Verwünschungen ausstieß und auf die rote Fahne zeigte, da war ich zahm wie ein geprügelter Hund.

›Lumumba!‹, kredenzte mir grinsend ein pockennarbiger Kellner ohne Schneidezähne, der aussah, als hätte ihn ein Piratenschiff verloren, den heißen Kakao mit Rum.

›Trink‹, knurrte Herbert, ›und mach das nie wieder, du dumme Gans!‹

›Herbert!‹, tadelte halbherzig Irene und sah mich strafend an, während ich, mit den Tränen kämpfend, den Kakao schlürfte.

›Es war trotzdem schön‹, sagte ich bockig, und eine Dame am Nebentisch moserte:

›Schön leichtsinnig, ja. Da, sehen Sie mal hinaus. Glauben Sie, damit ist zu spaßen?‹

›Grandios‹, dachte ich mit leisem Schaudern und schätzte die Wellen, die da heranbrausten, auf sechs bis acht Meter hoch, wenn sie sich zu Riesenrollen auftürmten und überschlugen.

Die Sonne schien jetzt, und die zerberstenden Kämme der Wellen schillerten in allen Regenbogenfarben. Ich schaute nach links, wo die weiße Gischt wütend gegen die schwarzglänzende Lavasteilküste donnerte. Bis hoch zu den wuchtigen, dunklen Bergen hob sich der Schleier der Gischt. Mein Herzklopfen kam nun nicht mehr von meinem leichtsinnigen Schwimmabenteuer, sondern ich war überwältigt von diesem Naturschauspiel.

Ich war plötzlich ausgefüllt von einer ungeheuren, freudigen Erregung. Tief Luft holend fühlte ich, wie Glückseligkeit und Lebensfreude mich durchströmten. Und dieses einmalige, überwältigende Hochgefühl war der Beginn einer Liebe: Tenerife! Du würdest mich nie mehr loslassen.

›Du musst jetzt unbedingt deinen Mann anrufen‹, holte mich Irenes Stimme auf den Boden zurück.

›Ich? Nein! Warum sollte ich?‹

›Wenn du es nicht für ihn tun willst, dann denke wenigstens an deine Kinder. Sie haben ein Recht...‹

›Ein Recht?‹, schrie ich. ›Jeder hat hier ein Recht. Nur ich habe keines. Ich bin Leibeigene.‹

Meine Kinder. Ich fühlte einen Kloß im Hals. Hau ab, schlechtes Gewissen. Ich wollte nicht denken, mich nicht erinnern an vorher. Jetzt wollte ich leben. Wollte weiter schauen und weiter diese ungestüme Lebenslust empfinden und mit ihr das Hochgefühl von grenzenloser Freiheit.

Ich konzentrierte mich wieder auf das Naturschauspiel vor mir, doch auf einmal empfand ich es als bedrohlich. Die Sonne war wieder hinter den schwarzen, weit in den Atlantik hinausreichenden Wolken verschwunden. Das Meer grollte, und es klang für mich nun bösartig. Ich fror plötzlich.

Eva! Karin! Nie würde ich meine Kinder verlassen können. Uwe ja, redete ich mir ein, doch waren auch hier Bedauern und Trauer um den Verlust stärker als mein gekränktes Ich.

›Du kommst sofort nach Hause!‹, befahl er wenig später, als ich von Irene gezogen und geschoben widerwillig das Postamt aufsuchte und, viel zu schnell für mich, die Verbindung nach Deutschland bekam.

›Nein‹, krächzte ich heiser. ›Ich komme nicht. Nie mehr‹ und fügte in Gedanken hinzu ›du Schwein‹.

Zum Donnerwetter, warum weinte ich? Ich konnte nicht mehr sprechen, umkrampfte mit geschlossenen Augen den klebrigen Telefonhörer.

›Dumme Ziege ... verhungern würdest du ohne mich ... hysterisch ... krankhafte Eifersucht ... unsere Kinder werde ich behalten ...‹

›Nein‹, flüsterte ich, und dann nahm mir Irene den Hörer aus der Hand, schob mich zur Seite und sprach sachlich und beruhigend:

›Gönn ihr diesen Urlaub. Mach kein Theater. Tut doch euch beiden gut, ein bisschen Abstand zu gewinnen. Ja, natürlich, wir bringen sie wieder mit zurück. Nichts wird so heiß gegessen ... Tschüss Uwe, wir wohnen im Hotel...‹

›Jetzt ist es abgerissen, möchtest du ihm noch deine Adresse durchgeben, dann melden wir noch einmal an?‹

›Ich? Meine Adresse? Ich glaube, du spinnst. Nie mehr gehe ich zurück, nie mehr.‹

Und Irene orakelte: ›Sag niemals nie!‹

Am Abend gingen wir dann ins Hotel Nautilus zum Tanzen. Ein großes Orchester spielte im Salon. Heiße Rhythmen servierte eine Drei-Mann-Band im Nightclub. Es war überall brechend voll. Engländer, Skandinavier, Franzosen und hauptsächlich Deutsche aller Altersklassen waren hier in Urlaubshochstimmung.

Jetzt, drei Jahrzehnte danach, schwimme ich hier im Nachbarort und schaue voller Wehmut auf die Ruine hoch über Bajamar, die einst das gemütliche Hotel Tinguaro war, und nach unten zum strandbeherrschenden Bau des ehemaligen Hotels Nautilus, das nun, immerhin wieder renoviert, ein Apartmenthaus vorwiegend für spanische Bewohner geworden ist. Der Norden hier ist einfach out, zumindest für diejenigen, die etwas erleben wollen und immerwährende Sonne schätzen, diese zieht es in den Süden.

Ich friere jetzt. Wie lange schwimme ich hier schon einsam und in Gedanken versunken meine Runden, nachdem Kerstin, kaum im Wasser, gleich wieder in die Sonne geflüchtet ist.

Ich steige aus dem Wasser und lächele, weil ich meinen Besuch wie vermutet in Gesellschaft von Manolo antreffe, der ihr hingebungsvoll Sonnenmilch auf den käseweißen Rücken verteilt. Sie genießt es mit geschlossenen Augen.

Manolo hebt lächelnd die Augenbrauen, als er mich sieht. Ich zwinkere ihm zu und lege den Finger auf meinen Mund, Schweigen signalisierend. Er nickt grinsend, und im Weitergehen drohe ich ihm mit dem Zeigefinger. Er weiß schon warum, denn ich bin gut Freund mit seiner Frau Maria, die als Zimmermädchen hier im Haus arbeitet, und ich bin die Patin seines ersten Kindes, Maria-Inés.

Beteuernd legt Manolo eine Hand aufs Herz, als ich mich noch einmal zu ihm umdrehe. Männer, denke ich in meiner Kabine, als ich mich abtrockne und in meinen Bademantel schlüpfe.

Manolo hat vor meiner Kabine meine gepolsterte Liege deponiert. Als Besitzerin eines Apartments habe ich hier die Privilegien der Eigentümer, eigene Kabine, eigene Liege, etc.

›Carlos‹, denke ich, als ich dann die Augen schließe und die von der Sonne gewärmten Polster genieße. Keine Minute meines Lebens bereue ich, die mir das Schicksal mit dir bescherte.

›Carlos‹, du warst für mich wie der Traumprinz aus einem Märchenbuch, und dass es dich für mich geben sollte, konnte ich anfangs einfach nicht glauben. Dass Traumprinzen in erster Linie auch Männer und normale Menschen sind, wurde mir erst später in langen, oft bitteren Jahren klar. Doch damals, an jenem ersten Abend im Nautilus änderte sich mein Leben von einem Tag zum anderen.

Am Nachmittag waren Irene und ich einkaufen gegangen. Ich hatte ja außer Geliehenem von Irene nichts anzuziehen, nichts was für einen Urlaub hier geeignet gewesen wäre. Ich kaufte zwei Badeanzüge, ein Badetuch, zwei T-Shirts, die damals noch Oberteile hießen, und dann ein fließendes, seidenes Etwas in Regenbogenfarben mit zwei dünnen Trägern. Transparent, durchscheinend war die Seide, und den zu jener Zeit noch obligatorischen Büstenhalter musste ich wegen seiner Träger weglassen. Ich freute mich, dass meine nackte Brust unter dem irisierenden, dünnen Stoff viel schöner war als vorher in ihrem überflüssigen Panzer.

›Man glaubt einfach nicht, dass du bald vierzig wirst‹, sagte neidlos Irene, als wir dann an der Bar des Hotels saßen und Campari-Orange tranken.

Ich drehte mich um und schaute lächelnd den Tanzenden zu. Da steppte und hüpfte ein baumlanger junger Mann auf mich zu. Engländer, wie sich herausstellte. Er riss mich wortlos vom Barhocker und tanzte, hielt mich fest um die Taille und stieß kehlige Laute aus, als gelte es, den ersten Preis für das wildeste Tanzen zu erringen. Doch ich gewann: Als ich nach dem Tanz atemlos den Kopf in den Nacken warf, vor Lebenslust und Lebensfreude laut lachte, da stand ruhig und abwartend ein Mann vor mir.

Für ein paar Sekunden schien die Welt still zu stehen. Ich hörte nicht mehr die hämmernden Rhythmen, ich bemerkte nicht mehr die wechselnden Farben der Tanzflächenbeleuchtung. Ich war allein. Allein mit ihm. Sah in tiefblaue Augen, schweifte ab zu einem sensiblen, schön geschwungenen, lächelnden Mund, bemerkte graublonde störrische Haare und hörte dann eine warme Stimme wie eine volle, tieftönende Glocke:

›Perdone, señora ... Bitte, tanzen Sie mit mir!‹

Mein ›Ja, gerne!‹ klang eingerostet, während ich ihm wieder wie hypnotisiert in die blauen, von Lachfalten umrahmten Augen sah. Er hob eine Augenbraue, lächelte und nahm mich in den Arm.

Ja, das war Tanzen! Verschmelzen mit dem Partner, im gleichen Rhythmus eins-sein. Wie lange kannte ich diesen Mann schon? War er es, auf den ich gewartet hatte? Die Vertrautheit schien es zu bestätigen. Angekommen, dachte ich, heimgekehrt – und schloss die Augen.

Erst beim nächsten Tanz – die Kapelle spielte immer drei Lieder nacheinander, um dann eine Pause zu machen – sprach er. Er schien genauso verwirrt wie ich und bemühte dann das übliche Geplänkel des ersten Kennenlernens.

›Woher kommen Sie? Wo wohnen Sie hier? Wie lange bleiben Sie?‹ Und nach einem gezielten Blick auf meine Hände und meinen Ehering: ›Und wo ist Ihr Mann?‹

›Leichtsinnig von ihm, Sie so alleine zu lassen‹, sagte er recht ernst, nachdem ich ihm wie eine leicht vertrottelte Schülerin Rede und Antwort gestanden hatte. Natürlich ohne ihm von meiner Flucht zu erzählen.

›Ich heiße Carlos, und Sie...?‹

›Marianne!‹, flötete ich, und er wiederholte mit diesem Knie-weich-machenden Timbre in der Stimme:

›Marianna!‹

Es war nur eine Sekunde, als er mich etwas näher an sich zog, ganz normal bei einem Tango, und ich schmolz dahin. Dann war er sofort wieder höflich-förmlich und brachte mich mit einem gemurmelten ›Dankeschön‹ an die Bar zurück.

Charmant lächelte er zu Irene und Herbert mit einer angedeuteten Verbeugung: ›Señora, me llamo Carlos. Aber bitte, Sie brauchen nicht zu erschrecken, ich spreche Deutsch fast wie meine Muttersprache. Ich habe in Heidelberg studiert.‹

Wow, was für ein Mann! Später erfuhr ich dann, dass er zwar lediglich als Kellner in Deutschland tätig war, aber da war’s schon zu spät und eigentlich war das auch gar nicht wichtig.

Jetzt bat er Irene, die entzückt zustimmte, um einen Tanz. Herbert, der Tanzmuffel, schob mir ein frisch gefülltes Sektglas zu: ›Da, trink! Wird dir gut tun, um abzukühlen. Mach nur keinen Mist mit diesem spanischen Aufreißer. Der sucht nur etwas Billiges für heute Nacht und du siehst aus, als hättest du in der Lotterie gewonnen. Aber so blöd sind die Weiber. Schau nur. Die Meine ist auch ganz hingerissen von diesem Lackaffen.«

›Ein besseres Benehmen als du hat er auf jeden Fall‹, sagte ich kühl und ging hinaus zu den Servicios. Wie fast überall in Spanien waren auch hier die Toilettenräume großzügig, fast luxuriös ausgestattet. Da waren Marmor, Gold und riesige Kristallspiegel, die mein entrücktes Lächeln reflektierten.

›Carlos‹, flüsterte ich und streichelte mit der Zunge über meine Lippen. Ich stand vor dem Spiegel, entrückt, verzaubert und war bereit für alles. Und sollte es nur für eine Nacht sein, ich würde es tun. Es war mir völlig egal, was dann kommen würde, aber diesen Mann will ich. Heute und sofort. Dann betrat ich entschlossen wieder die Arena.

Nur war mir mein Torero zwischenzeitlich abhanden gekommen. Er saß, umringt von einer Schar vorwiegend weiblicher Urlauber, an einem großen, runden Tisch in der Ecke des Salons neben dem Orchester. Er verteilte Wangenküsse nach allen Richtungen, tauschte Umarmungen, prostete der gesamten ausgelassenen Schar zu, grüßte dazwischen auch noch zu Nebentischen.

Die kalte Dusche ließ mich im Nu zu Aschenputtel werden. Ich schämte mich meiner hemmungslosen Euphorie und wollte nur so schnell wie möglich weg von hier. Als er dann mit einer blondgefärbten und, wie ich fand, ordinären jungen Frau tanzte, winkte er grüßend in meine Richtung. Ich sah kühl an ihm vorbei.

Und doch dachte ich beim Einschlafen an ihn. Sah und fühlte mich wieder eins mit ihm im Tanz. Er war nur wenig größer als ich, also knapp über einen Meter siebzig. Er hatte eine stämmige, gedrungene Statur und sah vom Typ her eher wie ein Nordländer aus, von seiner tiefgebräunten Haut abgesehen. ›Das macht das Guanchen-Blut in mir‹, erklärte er mir später. ›Ich bin Ur-Kanare und die waren blond und hatten blaue Augen, ehe die Spanier dazwischenfunkten.‹

Ich träumte von ihm in dieser Nacht. Von dem Ur-Kanaren und Ur-Mann und natürlich träumte ich Sexuelles. Als ich ihn dann am nächsten Morgen ganz überraschend an den Meerwasserbädern wiedersah, erinnerte ich mich sofort an meine wilden Träume und fühlte, wie mir Hitze die Wangen rot werden ließ.

Wieder befand er sich in einer Gruppe lachender übermütiger Urlauber. Doch als er mich sah, kam er sofort auf mich zu. Sein freudiges ›Marianna!‹ unterstrich er mit einer Umarmung und mit Wangenküsschen.

Dass ich ihm dabei gleich die Arme um den Hals legte und mich an ihn drückte, geschah so spontan, dass ich mich anschließend dafür verabscheute. Das war ein offenkundiges, klares Angebot meinerseits, und da fiel mir mein Mann ein. Also, warum nicht? Gleiches Recht für alle.

Was mich umwarf war, dass dieser Carlos nur mir charmanter Freundlichkeit reagierte und nicht etwa ebenfalls einen Angriff startete. So dumm war ich noch mit vierzig Jahren. Carlos mit seinen später genannten siebenundfünfzig Jahren, die in Wirklichkeit vierundsechzig waren, hatte alle Erfahrungen der Welt und wusste doch vom ersten Augenblick an, dass ich an der Angel zappelte. Und je länger »Mann« einen Fisch trimmt, desto müheloser zieht »Mann« ihn dann an Land.

»Marianne! Entschuldigen Sie...«

Kerstin sagt es leise, und ich antworte mit geschlossenen Augen noch immer lächelnd: »Ich war dreißig Jahre zurück in meinen Gedanken... Kommen Sie, es wird kühl, wir gehen nach oben.«

Eigentlich habe ich damit gerechnet, dass mein Gast sich dann verabschieden würde, und entgegen meiner sonst so frostigen Zurückhaltung gegenüber Fremden freue ich mich über ihre Bitte, noch bleiben zu dürfen.

Die tief stehende Sonne wärmt Terrasse und Zimmer und taucht alles in heimeliges Rosarot. Dann sitzen wir in meinen bequemen, verstellbaren Lehnstühlen draußen, eine Karaffe des roten Tacoronte-Weines vor uns, und es ist mir wie ein Beisammensein mit einer Tochter. Ich fühle mich wohl in Gesellschaft dieser natürlichen, unkomplizierten Frau. Nach einiger Zeit des beruhigenden Schweigens bittet sie mich fast flehentlich, meine Geschichte weiter zu erzählen.

»Meine Geschichte«, sage ich versonnen, »begann dort drüben in Bajamar und sehen Sie, dort, wo die Hügel sich unter dem Teide schmiegen, kommt zuerst Tejina, das links darüber ist Tegueste, und von dort aus wieder hinunter Richtung Meer fährt man über Socorro nach Tacoronte. Zumindest fuhr Carlos immer diese Strecke, man kann auch über Valle de Guerra...«

»Carlos?«

»Ja! Carlos Sard-Faqueur. Mein Lover, wie man heute wohl zu sagen pflegt.«

»Sie hatten... Sie sind...?«

»Ja, ich bin meinem Mann davongelaufen, zu meinem Liebhaber hierher nach Teneriffa. Ich beging den Fehler, den so viele Menschen machen. Mein Ausweg hieß: ein neuer Partner. Und die vermeintliche Freiheit, die ich mir nahm, war nur der Gang von einem Gefängnis ins andere. Ich hätte mich abnabeln müssen. Mir ein eigenes Leben, ungebunden und frei, aufbauen müssen. Na ja, wer weiß, ob ich dann glücklicher gewesen wäre.«

Ungeduldig fragt Kerstin: »Und? Wie begann damals die Teneriffa-Lovestory?«

»Es passierte während meines ersten Urlaubs hier im Januar 1967. Ich war mit Freunden hier und hatte Carlos beim Tanzen kennengelernt. Für die zwei Wochen, die ich erstmals hier verbrachte, war er dann mein täglicher Begleiter. Er war der charmanteste und aufmerksamste Mann, den ich in meinem ganzen Leben kannte. Ja, das war er. Er war aber auch so gerissen, mich nicht anzurühren, obwohl ich ihm wie ein überreifer Apfel vor die Füße gefallen war. Und während ich zu allem bereit war, hielt er eisern Distanz.

Ich war verzweifelt. Dachte, er würde mich nicht begehren. Suchte nach irgendetwas Abstoßendem an mir, das ihn davon abhielt, die letzte Hürde zu nehmen. Der Mann meiner Freundin Irene meinte, entweder ist der schwul oder impotent. Ihre Generation heute würde ganz einfach der Sache auf den Grund gehen und so einen Burschen fragen: ›Warum schläfst du nicht mit mir?‹. Aber damals war das, außer wenn es sich um ein Flittchen handelte, undenkbar. Schließlich gab es nur zwei Sorten Frauen: die anständigen und die Huren.«

»Wenn Sie mich nicht auslachen, sage ich Ihnen etwas«, flicht Kerstin ein.

»Top! Es gilt! Ich lache Sie nicht aus und Sie mich nicht. Also?«

»Ich könnte auch keinen fragen, ob er mit mir schlafen will. Heute noch nicht. So bin ich nicht erzogen. Und obwohl bei uns in der DDR die freie Liebe propagiert wurde, wilde Ehen und Abtreibungen als normal angesehen wurden, konnte ich nie so sein.«

Gerührt streiche ich meiner Besucherin über die langen, dunkelblonden Haare und fühle mich ihr sehr verbunden.

Sie lächelt: »Bitte, bitte weiter erzählen.«

»Ja, die vierzehn Tage Urlaub waren im Nu vorbei, und als der Zubringerbus zum Flughafen vor unserem Hotel Tinguaro stand, um uns nach Los Rodeos abzuholen, war mir, als müsse die Welt untergehen. Es war wie die Vertreibung aus dem Paradies, in dem ich mich, taub für die Tatsachen, eingeigelt hatte.

›Ich fahre nicht mit‹, schluchzte ich. ›Ich will hierbleiben.‹

Meine Freundin Irene versuchte mich zu beruhigen, redete von Vernunft, von Pflicht, und ich hielt mir die Ohren zu. ›Ich gehe nicht mehr zu meinem Mann zurück, für den ich nichts als eine billige Dienstmagd bin. Ich will leben. Ich will hier leben.‹

›Mit dem Traumprinzen im Traumschloss, was?‹, spottete Herbert. ›Wo ist er denn, dein Galan?‹

›Carlos‹, flüsterte ich. ›Carlos, wo bist du?‹

Und Herbert meinte gnadenlos: ›Putz’ dir die Nase. Aus der Carlos-Traum. Bist schon vergessen, Mariannchen. Heute kommt eine neue Ladung dankbarer Damen.‹

Sie hatten mich soweit, ich stieg ein. Es war ja sowieso alles egal.

Tränenblind schleppte ich meine Reisetasche zum Abfertigungsschalter. Verspürte Grauen, als ich an daheim dachte. Ich putzte mir die Nase, nibbelte meine Augen mit dem Tempotuch trocken, so als könne ich sie damit am Weiterweinen hindern.

Und als ich sie wieder öffnete, sah ich lauter rote Rosen. Es war ein Riesenstrauß direkt vor meinem Gesicht, und dahinter tauchte im Zeitlupentempo ein graublonder Schopf auf und dann blaue Augen, die tatsächlich in Tränen schwammen. Und dann dieser Mund, von dem ich träumte und der ›Marianna‹ flüsterte.

Es muss bühnenreif gewesen sein, was dann ablief: Selbst der Mann und die Frau im Abfertigungsschalter stellten kurzfristig ihre Arbeit ein, um an unserem Schauspiel Anteil zu nehmen. So erzählte zumindest später Irene.

Jedenfalls war der Rosenstrauß ramponiert, weil ich mich dem Überbringer einfach entgegenwarf und dann endlich feststellen konnte, wie dieser küsste. Ich hob ganz einfach ab, konnte nicht mehr denken, war nur noch Gefühl und Empfinden.

Als wir uns dann endlich wieder, Liebkosungen flüsternd, in die Augen sahen und uns fest umarmten, klatschten zuerst ein paar, dann viele der nächststehenden Reisenden Beifall. Es war mir egal. Ich war allein auf der Welt. Allein mit Carlos. Allein mit einem Traum.

›Carlos‹, flüsterte ich, ›Liebling! Mein Liebster!‹.