Der Klavierstimmer Ihrer Majestät - Daniel Mason - E-Book

Der Klavierstimmer Ihrer Majestät E-Book

Daniel Mason

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Beschreibung

London 1887: Die britischen Kolonialherren in Afrika und Asien stehen auf der Höhe ihrer Macht. Doch von den Gewaltverbrechen in der Ferne bekommt der Klavierstimmer Edgar Drake nur wenig mit, er hat Großbritannien noch nie verlassen - bis sein beschauliches Leben plötzlich komplett auf den Kopf gestellt wird: Wieso schickt ihn das britische Kriegsministerium in den umkämpften Dschungel von Birma, um einen Flügel zu reparieren?

Der Flügel gehört dem dort stationierten Militärarzt Anthony Carrol, der das Instrument einsetzt, um über die Kraft der Musik einen friedlichen Dialog mit den Einheimischen zu führen. Der Brutalität des Krieges auf diese Weise zu trotzten, beeindruckt Drake, er nimmt den Auftrag an. Und tatsächlich verfällt er in Birma nicht nur der exotischen Landschaft und den fremden Bräuchen, sondern auch dem charismatischen Arzt Carrol. Selbst als die Arbeiten am Flügel längst vollzogen sind, schafft er es nicht sich von dieser faszinierenden Welt zu lösen - mit fatalen Folgen.

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Daniel Mason

Der Klavierstimmer Ihrer Majestät

Aus dem Englischen von Barbara Heller

C.H.Beck

Zum Buch

London 1887. Die britischen Kolonialherren in Afrika und Asien stehen auf der Höhe ihrer Macht. Doch von den Gewaltverbrechen in der Ferne bekommt der Klavierstimmer Edgar Drake wenig mit: Er hat Großbritannien noch nie verlassen. Bis Drakes beschauliches Leben plötzlich komplett auf den Kopf gestellt wird: Das britische Kriegsministerium beauftragt ihn, einen seltenen und wertvollen Erard Flügel zu reparieren – und zwar im tiefsten Dschungel von Birma, dem heutigen Myanmar, wo der britisch-birmanische Krieg wütet.

Der Flügel gehört dem dort stationierten Militärarzt Anthony Carrol, der das Instrument einsetzt, um über die Kraft der Musik einen friedlichen Dialog mit den Einheimischen zu führen. Der Brutalität des Krieges auf diese Weise zu trotzen, beeindruckt Drake, er nimmt den Auftrag an. Und tatsächlich verfällt er in Birma nicht nur der exotischen Landschaft und den fremden Bräuchen, sondern auch dem charismatischen Arzt Carrol. Selbst als die Arbeiten am Flügel längst vollzogen sind, schafft er es nicht, sich von dieser faszinierenden Welt zu lösen – mit fatalen Folgen.

Mit poetischer Kraft schreibt Daniel Mason, der Autor von «Der Wintersoldat», über die Macht des Einzelnen in Zeiten des Imperialismus. Und lässt dabei mit großer erzählerischer Leichtigkeit das viktorianische England und den Fernen Osten in einem Feuerwerk von Farben und Düften wiederauferstehen.

Über den Autor

Daniel Mason, 1976 geboren, ist Schriftsteller und Psychiater. Er lehrt Psychiatrie an der Universität Stanford. Seine Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. «Der Wintersoldat», sein jüngster Roman, erschien 2019 bei C.H.Beck.

Über die Übersetzerin

Barbara Heller lebt als Diplomübersetzerin aus dem Englischen, Niederländischen und Französischen in Heidelberg. Sie übersetzte u.a. Salman Rushdie, Georges Simenon, Agatha Christie, Amitav Ghosh, Anne Fine und Connie Palmen.

Inhalt

Prolog

Erstes Buch

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

Zweites Buch

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

Nachbemerkung des Autors

Dank

Glossar

Für meine Großmutter Halina

«Brüder», sprach ich, «die durch hunderttausend Gefahren nach dem Westen seid gelangt, entziehet nicht dem kurzen Lebensabend, der uns noch bleibt, die sinnliche Erfahrung der unbewohnten Welt dort nach der Sonne!»

Dante, Hölle XXVI. Gesang

Um Harmonie zu schaffen, muss die Musik den Missklang erforschen.

Plutarch

Prolog

In den flüchtigen Momenten letzter Erinnerung werden die Sonne und der Sonnenschirm einer Frau zum Sinnbild Birmas. Er hat sich gefragt, welche Eindrücke bleiben würden – die kaffeebraunen, singenden Fluten des Salween nach einem Gewitter, die Palisaden der Fischernetze kurz vor Tagesanbruch, die leuchtende Gelbwurz, die tropfenden Lianen. Über Monate zitterten diese Bilder auf der Netzhaut seiner Augen, bald aufflammend und wieder verlöschend wie eine Kerze, bald ans Licht drängend, dargeboten wie die Waren in einem wimmelnden Basar. Manchmal zogen sie auch nur wie schemenhafte Wagen eines Wanderzirkus vorüber, jedes eine Geschichte, die schwer zu glauben war, nicht weil ihr eine Handlung gefehlt hätte, sondern weil die Natur eine solche Anhäufung von Farben nicht ohne Diebstahl und Leere in den anderen Teilen der Welt zulassen konnte.

Doch über all dem geht die sengende Sonne auf, ergießt sich über die Bilder wie schimmernde weiße Farbe. Die bedin-saya, die in schattigen, duftenden Winkeln der Märkte Träume deuten, sagten ihm, dass in Birma eine andere Sonne aufgehe als in der übrigen Welt. Er brauche nur zum Himmel aufzuschauen, dann wisse er es. Dann sehe er, wie sie die Straßen überflute, Ritzen und Schatten ausfülle, Perspektive und Struktur zerstöre. Dann sehe er, wie sie glühe, flamme, lodere, so dass der Horizont einer brennenden Daguerreotypie gleiche, überbelichtet und an den Rändern sich kräuselnd. Wie sie den Himmel verflüssige, die Banyanbäume, die schwüle Luft, seinen Atem, seine Kehle, sein Blut. Wie die Luftspiegelungen von fernen Straßen her einfielen und ihm die Hände verdrehten. Wie seine Haut sich schäle und aufplatze.

Die Sonne hängt über einer staubigen Straße. Eine Frau geht unter einem Sonnenschirm dahin, ihr dünnes Kleid zittert im Windhauch, ihre bloßen Füße tragen sie fort an den Rand der Wahrnehmung.

Die Hitze nimmt kein Ende, und er spürt, wie sie langsam durch die Adern an seinem Nacken rinnt, wie warme, sich ausbreitende Feuchtigkeit. Er sieht der Frau nach, die der Sonne entgegengeht, allein. Er will sie rufen, doch seine Stimme versagt.

Die Frau wandert in eine Luftspiegelung hinein, in jenen geisterhaften Widerschein von Licht und Wasser, den die Birmaner than hlat nennen. Die Luft um sie herum flimmert, spaltet ihren Körper, umkreist ihn. Und dann verschwindet auch sie. Nur noch die Sonne und der Sonnenschirm sind da.

24. Oktober 1886

Sehr geehrter Mr. Drake,

wie unser Stab mir mitteilt, wurden Sie von unserem Ministerium um die Durchführung eines Auftrags im Namen Ihrer Majestät gebeten, bislang jedoch nicht über die Natur Ihrer Mission in Kenntnis gesetzt. Wir möchten Ihnen daher mit diesem Schreiben die näheren Umstände und die Dringlichkeit dieser überaus ernsten Angelegenheit darlegen und Sie ersuchen, sich im Kriegsministerium einzufinden, wo Colonel Killian, der Leiter des Birma-Stabes, sowie ich selbst Sie über die Einzelheiten informieren werden.

Zunächst ein kurzer Überblick. Wie Sie zweifellos wissen, betrachtet Ihre Majestät seit unserer Besetzung der Küstenstaaten Birmas vor sechzig Jahren und zumal nach der kürzlich erfolgten Annexion Mandalays und Oberbirmas die Besetzung und Befriedung des Gebietes als einen Eckpfeiler der Sicherheit des Empire in ganz Asien. Ungeachtet unserer militärischen Erfolge gibt es jedoch Entwicklungen, die eine ernsthafte Gefahr für unsere birmanischen Besitzungen darstellen. Geheimdienstberichte der letzten Zeit bestätigen den Aufmarsch französischer Truppen am Mekong in Indochina, und in Birma selbst gefährden lokale Aufstände unsere Kontrolle über die entlegeneren Gebiete der Kolonie.

1869, während der Regierungszeit des birmanischen Königs Mindon Min, haben wir einen Oberstabsarzt namens Anthony Carroll, einen Absolventen des University College Hospital in London, nach Birma versetzt; 1874 wurde er auf einen weit abgelegenen Posten in den Shan-Staaten im Osten der Kolonie abkommandiert. Seit seiner Ankunft dort ist Oberstabsarzt Carroll für die Armee unentbehrlich, weit über seine unmittelbaren medizinischen Aufgaben hinaus. Er hat Bemerkenswertes erreicht, was das Zustandekommen von Bündnissen mit den einheimischen Fürsten anbelangt, und sein Stützpunkt bietet ungeachtet der großen Entfernung zu unserem Führungsstab entscheidende Möglichkeiten des Zugangs zum südlichen Shan-Hochland sowie einer raschen Verlegung von Truppen an die siamesische Grenze. Die näheren Umstände von Carrolls Erfolgen sind recht ungewöhnlich, und wir werden Sie, wenn Sie sich im Kriegsministerium einfinden, entsprechend unterrichten. Von Bedeutung für die Krone ist nun eine höchst eigenartige Bitte des Oberstabsarztes, die uns im vergangenen Monat erreichte, die jüngste im Rahmen eines etwas unerfreulichen Briefwechsels bezüglich seines Interesses an einem Konzertflügel.

Doch zunächst zu den Hintergründen, was unsere Seite der Angelegenheit betrifft: Wir sind ungewöhnliche Bitten des Oberstabsarztes, seine medizinischen Forschungen betreffend, zwar gewohnt, waren aber doch verblüfft, als im vergangenen Dezember ein Brief mit der Bitte um umgehende Anschaffung und Lieferung eines Erard-Flügels von ihm eintraf. Der Kommandant in Mandalay stand der Sache zunächst skeptisch gegenüber, doch zwei Tage später erhielten wir per Kurier eine weitere Nachricht, in der Carroll die Dringlichkeit seines Anliegens unterstrich, als hätte er die Reaktion unseres Stabs vorausgesehen. Auf unsere Antwort, dass die Lieferung eines Flügels nicht möglich sei, weil es in Birma ein solches Instrument nicht gebe, traf eine Woche später ein weiterer Eilbote ein. Er überbrachte ein kurzes Schreiben, dessen Inhalt hier in voller Länge wiedergegeben sei:

Sehr geehrte Herren,

mit allem schuldigen Respekt vor Ihrer Dienststelle unterbreite ich Ihnen hiermit nochmals meine Bitte um einen Erard-Flügel. Ich weiß um die Wichtigkeit meines Stützpunktes für die Sicherheit dieser Region. Sollte die Dringlichkeit meiner Bitte abermals auf Unverständnis stoßen und der Flügel nicht innerhalb von drei Monaten geliefert werden, seien Sie versichert, dass ich von meinem Posten zurücktreten werde. Mir ist durchaus bewusst, dass mein Rang und die Zahl meiner Dienstjahre mich zu ehrenvoller Entlassung und vollen Bezügen berechtigen, wenn ich nach England zurückkehre.

Oberstabsarzt Anthony J. Carroll,

Mae Lwin, Shan-Staaten

Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, rief dieser Brief bei unserem Stab große Bestürzung hervor. Der Oberstabsarzt war stets ein untadeliger Diener der Krone, seine Führung vorbildlich. Er war sich jedoch unserer Abhängigkeit von ihm und seinen Bündnissen mit den einheimischen Fürsten vollauf bewusst, ebenso wusste er um die zentrale Bedeutung solcher Bündnisse für die europäischen Mächte. Nach einiger Diskussion gaben wir seiner Bitte statt, und im Januar wurde in England ein 1840er Erard verladen, der Anfang Februar dieses Jahres in Mandalay eintraf. Carroll selbst ließ ihn von dort nach Mae Lwin transportieren, teils mit einem Elefanten, teils zu Fuß. Die ganze Eskapade hat bei einigen Mitgliedern unseres Stabes in Birma zwar erheblichen Unmut hervorgerufen, verlief aber letztlich erfolgreich. In den darauf folgenden Monaten leistete Carroll weiterhin hervorragende Arbeit und trieb die Erkundung von Nachschubrouten durch das Shan-Hochland entscheidend voran. Vor einigen Wochen erreichte uns dann eine weitere Bitte von ihm. Offenbar hat sich durch die Feuchtigkeit das Gehäuse des Erard ausgedehnt, das Instrument ist verstimmt, und alle Versuche, es wieder in Ordnung zu bringen, schlugen fehl.

Damit kommen wir nun zum Grund dieses Schreibens. In seinem Brief verlangt Carroll ausdrücklich die Entsendung eines auf Erard-Flügel spezialisierten Klavierstimmers. Wir schrieben zurück, dass es doch einfachere Möglichkeiten geben müsse, das Klavier zu reparieren, aber der Oberstabsarzt beharrte auf seinem Standpunkt. Schließlich stimmten wir zu und erstellten auf der Grundlage einer Registrierung aller Londoner Klavierstimmer eine Liste mehrerer für das Vorhaben geeigneter Handwerker. Wie Sie sicher wissen, sind die meisten Ihrer Kollegen fortgeschrittenen Alters und somit für ein solches Abenteuer ungeeignet. Eingehendere Nachforschungen führten uns schließlich zu Ihnen und Mr. Claude Hastings in der Poultry Street. Da Sie als Experte für Erard-Klaviere aufgeführt sind, hielten wir es für angebracht, Sie um Ihre Mitarbeit zu bitten. Sollten Sie ablehnen, werden wir uns an Mr. Hastings wenden. Die Krone ist bereit, den dreimonatigen Einsatz mit dem Arbeitseinkommen eines ganzen Jahres zu vergüten.

Ihre Fähigkeiten und Ihre Erfahrung, Mr. Drake, empfehlen Sie für diese äußerst wichtige Mission. Wir bitten Sie daher freundlichst, sich so bald wie möglich zur Erörterung der Angelegenheit mit unserer Dienststelle in Verbindung zu setzen.

Hochachtungsvoll

Colonel George Fitzgerald

Stellvertretender Leiter des Birma- und Ostindien-Stabes

der britischen Streitkräfte beim Kriegsministerium

Es war Spätnachmittag. Sonnenstreifen fielen durch ein kleines Fenster in einen Raum, der mit Klavierrahmen vollgestellt war. Edgar Drake, Klavierstimmer, Erard-Spezialist, legte den Brief auf seinen Schreibtisch. Ein 1840er Flügel ist schön, dachte er, und er faltete den Brief behutsam zusammen und steckte ihn in seine Jackentasche. Und Birma ist weit weg.

Erstes Buch

I

Es war Nachmittag im Büro von Colonel Killian, dem Leiter des Birma-Stabes der britischen Streitkräfte. Edgar Drake saß neben zwei rumpelnden dunklen Heizungsrohren und schaute aus dem Fenster, gegen das der Regen peitschte. Auf der anderen Seite des Raumes saß der Colonel, ein stämmiger, sonnengebräunter Mann mit einem roten Haarschopf. Sein dichter Schnurrbart fächerte sich wohl gebürstet und symmetrisch auf und betonte die harten grünen Augen. An der Wand hinter seinem Schreibtisch hingen ein langer Bantu-Speer und ein bemalter Schild, der die Narben von Kämpfen zeigte. Der Colonel trug eine scharlachrote, mit Flechtschnüren aus schwarzem Mohair eingefasste Uniform. Edgar sollte sie im Gedächtnis behalten, denn die Flechtschnüre erinnerten ihn an die Streifen eines Tigers, und das Scharlachrot ließ das Grün der Augen noch grüner erscheinen.

Mehrere Minuten waren vergangen, seit der Colonel den Raum betreten, einen Stuhl an den hochglanzpolierten Mahagonischreibtisch gerückt und begonnen hatte, einen Stapel Papiere durchzublättern. Endlich blickte er auf. Eine dröhnende Baritonstimme kam hinter dem Schnurrbart hervor. «Vielen Dank für Ihre Geduld, Mr. Drake, ich hatte noch etwas Dringendes zu erledigen.»

Der Klavierstimmer wandte sich vom Fenster ab. «Keine Ursache, Colonel.» Seine Finger spielten mit dem Hut auf seinem Schoß.

«Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir gleich in medias res.» Der Colonel beugte sich vor. «Nochmals: willkommen im Kriegsministerium. Ich nehme an, Sie sind zum ersten Mal hier», sagte er, wartete die Antwort aber gar nicht erst ab. «Ich danke Ihnen, auch im Namen meines Stabes und meiner Vorgesetzten, dass Sie uns in dieser, wie wir meinen, überaus ernsten Angelegenheit Ihre Aufmerksamkeit schenken. Wir haben einige Hintergrundinformationen zu der Sache vorbereitet. Am besten wird es wohl sein, ich lese sie Ihnen vor, wenn Sie einverstanden sind. Sollten Sie Fragen dazu haben, können wir sie erörtern, sobald Sie nähere Einzelheiten kennen.» Er legte die Hand auf einen Papierstapel.

«Danke, Colonel», erwiderte der Klavierstimmer ehrerbietig. «Ich muss gestehen, Ihr Ansuchen hat mich neugierig gemacht. Es ist höchst ungewöhnlich.»

Der Schnurrbart auf der anderen Seite des Schreibtisches zitterte. «Höchst ungewöhnlich, in der Tat, Mr. Drake. Die Sache beschäftigt uns sehr. Und falls es Ihnen bisher entgangen sein sollte: nicht nur wegen des Klaviers, sondern auch wegen dieses Mannes. Ich werde also mit Oberstabsarzt Carroll selbst beginnen.»

Der Klavierstimmer nickte.

Wieder zitterte der Schnurrbart. «Ich will Sie nicht mit Einzelheiten aus seiner Jugend langweilen. Wir wissen selbst nicht viel darüber, und tatsächlich liegt hier einiges im Dunkeln. Carroll ist irischer Abstammung und wurde 1833 geboren als Sohn von Mr. Thomas Carroll, einem Lehrer für griechische Dichtung und Prosa an einem Internat in Oxfordshire. Die Familie war nie wohlhabend, aber das Bildungsinteresse des Vaters muss sich auf den Sohn übertragen haben; er war ein ausgezeichneter Schüler und studierte später am University College Hospital in London Medizin. Nach seinem Abschluss eröffnete er nicht wie die meisten anderen eine Privatpraxis, sondern bewarb sich um eine Stelle an einem Armenhospital in der Provinz. Auch über diese Zeit liegen uns wenig Informationen vor, wir wissen nur, dass er fünf Jahre dort verbrachte. Er heiratete ein Mädchen aus der Gegend, aber die Ehe war von kurzer Dauer; seine Frau starb im Kindbett und ebenso das Kind. Carroll hat nicht wieder geheiratet.»

Der Colonel räusperte sich, nahm ein anderes Dokument zur Hand und fuhr fort: «Nach dem Tod seiner Frau kehrte Carroll nach London zurück und bewarb sich während der Cholera-Epidemie um eine Stelle als Arzt am Armenasyl im East End. Er blieb dort nur zwei Jahre. 1863 erhielt er ein Offizierspatent als Stabsarzt bei der Armee. Und hier werden unsere Informationen nun vollständiger. Carroll wurde dem 28. Infanterieregiment in Bristol zugeteilt, ersuchte aber schon vier Monate später um Versetzung in die Kolonien. Sein Gesuch wurde umgehend bewilligt, und man berief ihn zum stellvertretenden Leiter des Militärkrankenhauses im indischen Saharanpur. Er erwarb sich dort bald ein gewisses Renommee, nicht nur als Arzt, sondern auch als eine Art Abenteurer. Er begleitete zahlreiche Expeditionen ins Pandschab und nach Kaschmir und geriet dabei mehrfach in Gefahr, sowohl durch die dortigen Stämme als auch durch russische Agenten – ein Problem, das auch weiterhin besteht, denn der Zar strebt ähnliche Gebietsgewinne an, wie wir sie verzeichnen. Außerdem erwarb er sich in Indien den Ruf eines literarisch gebildeten Mannes, wobei allerdings noch nichts auf die, nun, nennen wir es Besessenheit hindeutete, die ihn später veranlasste, ein Klavier anzufordern. Mehrere seiner Vorgesetzten haben beobachtet, dass er im Krankenhausgarten Lyrik las und seine Visiten vernachlässigte. Das wurde – wenn auch widerwillig – toleriert, nachdem Carroll offenbar einmal einem Stammesführer aus der Gegend, der im Krankenhaus behandelt wurde, ein Gedicht von Shelley vorgetragen hatte – ‹Osymandias› war’s, glaube ich. Der Stammesführer hatte bereits einen Kooperationsvertrag abgeschlossen, weigerte sich aber, Truppen zur Verfügung zu stellen. Eine Woche nach seiner Entlassung kam er noch einmal ins Krankenhaus und wollte Carroll sprechen, nicht etwa den zuständigen Offizier. Er hatte dreihundert Mann mitgebracht, die ‹dem Dichtersoldaten dienen› sollten – seine Worte, nicht unsere, Mr. Drake.»

Der Colonel blickte auf. Er glaubte ein Lächeln über das Gesicht des Klavierstimmers huschen zu sehen. «Eine erstaunliche Geschichte, nicht wahr?»

«Ein schönes Gedicht.»

«Ja, allerdings muss ich sagen, dass die Episode insgesamt doch etwas unglücklich verlief.»

«Unglücklich?»

«Wir greifen hier vor, Mr. Drake, aber meiner Ansicht nach deutet die Sache mit dem Erard darauf hin, dass der ‹Soldat› immer mehr ‹Dichter› sein will. Das Klavier – und das ist zugegebenermaßen meine bedenkliche Meinung – stellt, wie soll ich sagen, eine bedenkliche Ausweitung dieser Strategie dar. Wenn Dr. Carroll wirklich glaubt, man könne den Frieden befördern, indem man Musik an einen solchen Ort bringt, dann kann ich nur hoffen, dass er auch genug Schützen dorthin bringt, die den Frieden verteidigen.» Der Klavierstimmer schwieg, und der Colonel setzte sich zurecht. «Sagen Sie selbst, Mr. Drake: Einen einheimischen Fürsten mit Rezitationen und Reimen zu beeindrucken ist eine Sache, aber um die Lieferung eines Flügels in unser entlegenstes Fort zu ersuchen eine ganz andere.»

«Ich verstehe nicht viel von militärischen Dingen», erwiderte Edgar Drake.

Der Colonel betrachtete ihn einen Moment lang, bevor er sich wieder seinen Papieren zuwandte. Das Klima und die Strapazen in Birma, dachte er, sind nichts für diesen Mann: Hoch gewachsen, schlank und mit dichtem, angegrautem Haar, das über der Nickelbrille locker in die Stirn fiel, sah der Klavierstimmer eher wie ein Lehrer aus als wie einer, der militärische Verantwortung tragen kann. Er wirkte älter als einundvierzig Jahre; die Brauen über den hellen Augen waren dunkel, und ein weicher Backenbart umrahmte die Wangen. An den Augenwinkeln hatte er Fältchen, allerdings nicht die eines Menschen, der sein Leben lang gelächelt hat, wie der Colonel feststellte. Er trug eine Cordjacke, eine Fliege und abgetragene Hosen aus Wollstoff. Das alles hätte den Eindruck einer traurigen Gestalt vermittelt, wären da nicht die für einen Engländer ungewöhnlich vollen Lippen gewesen, die zwischen Gedankenverlorenheit und leichtem Erstaunen verharrten und dem Gesicht eine Weichheit verliehen, die den Colonel entnervte. Der Klavierstimmer rieb sich unaufhörlich die Hände, und seine Handgelenke verloren sich in der Höhlung der Ärmel. Es war nicht die Art Hände, die der Colonel zu drücken gewohnt war, für einen Mann waren sie zu zart, doch bei der Begrüßung hatte er eine Rauheit und Kraft gespürt, als würden sie unter der schwieligen Haut von Drähten bewegt.

Er senkte den Blick wieder auf die Papiere und fuhr fort: «Carroll blieb also fünf Jahre in Saharanpur. Während dieser Zeit war er bei nicht weniger als siebzehn Einsätzen dabei und hat mehr Zeit im Feld verbracht als auf seinem Posten.» Er blätterte die Berichte über die Missionen durch, die der Arzt begleitet hatte, und las ihre Namen vor. September 1866: Vermessung einer Eisenbahnlinie entlang dem Oberlauf des Sutlej. Dezember: Kartierungsexpedition der Wasserbau-Pioniertruppe im Pandschab. Februar 1867: Erhebung über Geburtshilfe und Wochenbetterkrankungen im östlichen Afghanistan. Mai: Infektionskrankheiten bei Herdentieren in den Bergen von Kaschmir und damit verbundene Gefahren für den Menschen. September: Erfassung der Hochlandflora von Sikkim durch die Royal Society. Dem Colonel schien daran gelegen, sie alle aufzuzählen, und er tat es, ohne zwischendurch Luft zu holen, so dass die Adern an seinem Hals anschwollen und selbst wie die Berge Kaschmirs aussahen – so fand zumindest Edgar Drake, der weder dort gewesen war noch sich je mit der Geographie dieses Landes befasst hatte, jetzt aber allmählich ungeduldig wurde, weil er immer noch wenig vom Grand Piano erfahren hatte.

Der Colonel blickte auf und sah den Klavierstimmer unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her rutschen. Doch er sprach weiter.

«Ende 1868 starb der stellvertretende Leiter unseres Militärkrankenhauses in Rangun, damals das einzige größere Krankenhaus in Birma, plötzlich an der Ruhr. Als Nachfolger empfahl der Oberstabsarzt in Delhi Carroll, der dann im Februar 1868 in Rangun eintraf. Er blieb drei Jahre, und da seine Tätigkeit vorwiegend medizinischer Natur war, liegen uns über diese Zeit kaum Berichte vor. Allem Anschein nach war er mit seinen Aufgaben im Krankenhaus beschäftigt.»

Der Colonel hustete. «Hier ist ein Bild von Carroll in Bengalen.» Er schob eine Mappe über den Schreibtisch. Der Klavierstimmer wartete einen Moment, merkte dann, dass er aufstehen und sie entgegennehmen sollte, und beugte sich vor, wobei sein Hut zu Boden fiel. «Verzeihung», murmelte er und hob ihn auf, nahm die Mappe und setzte sich wieder. Er öffnete die Mappe auf seinem Schoß. Eine Fotografie lag verkehrt herum darin. Vorsichtig drehte er sie um. Sie zeigte einen hochgewachsenen, selbstbewusst wirkenden Mann mit dunklem Schnurrbart und sorgfältig frisiertem Haar in Khakiuniform am Bett eines Patienten mit dunklerer Haut, eines Inders vielleicht. Im Hintergrund sah man weitere Betten und Patienten. Ein Krankenhaus, dachte der Klavierstimmer, und sein Blick kehrte zum Gesicht des Arztes zurück. Es verriet wenig. Während die Patienten alle gut zu erkennen waren, war Carrolls Gesicht seltsamerweise unscharf, so dass es schien, als sei er ständig in Bewegung. Edgar betrachtete ihn und versuchte vergeblich, den Mann mit der Geschichte, die er hörte, in Einklang zu bringen. Er stand auf und legte es wieder auf den Schreibtisch des Colonels.

«1871 ersuchte Carroll um Versetzung auf einen entfernteren Posten in Mittelbirma. Das Gesuch wurde bewilligt, denn zu diesem Zeitpunkt verstärkten die Birmanen ihre Aktivitäten im Tal des Irrawaddy südlich von Mandalay. Auf seinem neuen Posten unternahm Carroll wie zuvor in Indien häufig Inspektionsreisen, oft ins südliche Shan-Hochland. Irgendwie – man weiß nicht recht, wie er bei seinen zahlreichen Aufgaben noch Zeit dafür fand – lernte er praktisch fließend Shan sprechen. Manche meinen, er hätte es von einem birmanischen Mönch gelernt, andere sagen, von einer Geliebten.

Aber ob Mönch oder Geliebte – 1873 erreichte uns die Hiobsbotschaft, dass die Birmanen nach jahrzehntelangem Hin und Her ein Handelsabkommen mit Frankreich geschlossen hatten. Vielleicht haben Sie von der Sache gehört; die Zeitungen haben ziemlich ausführlich darüber berichtet. Die französischen Truppen standen zwar noch in Indochina und waren noch nicht über den Mekong vorgedrungen, aber das war natürlich ein äußerst gefährlicher Präzedenzfall im Hinblick auf eine weitere französisch-birmanische Zusammenarbeit und eine offene Drohung an die Adresse Indiens. Wir trafen in größter Eile Vorbereitungen für die Besetzung der Staaten Oberbirmas. Viele Shan-Fürsten befanden sich seit langem in Opposition zum birmanischen Thron und …» Der Colonel verstummte, außer Atem von seinem Monolog. «Hören Sie überhaupt zu, Mr. Drake?», fragte er den Klavierstimmer, der aus dem Fenster sah.

Edgar Drake wandte sich ihm zu. «Ja … ja, natürlich», sagte er verlegen.

«Gut, dann fahre ich also fort.» Colonel Killian blickte wieder in die Papiere.

Da begann der Klavierstimmer zögernd zu sprechen. «Bei allem Respekt, Colonel, das ist eine überaus komplexe und interessante Geschichte, aber mir ist offen gestanden nicht klar, wozu Sie meine Sachkenntnis benötigen … Ich verstehe, dass Sie Ihre Instruktionen auf diese Weise zu erteilen pflegen, aber würden Sie mir eine Frage gestatten?»

«Ja, Mr. Drake?»

«Nun … um ehrlich zu sein, ich frage mich, was mit dem Klavier ist.»

«Wie bitte?»

«Mit dem Klavier. Man hat mich hergebeten, weil ich ein Klavier stimmen soll. Ihr Bericht ist höchst aufschlussreich, was Dr. Carroll betrifft, aber ich glaube nicht, dass sich mein Auftrag auf ihn bezieht.»

Der Colonel lief rot an. «Wie ich eingangs sagte, Mr. Drake, halte ich diese Hintergrundinformationen für durchaus wichtig.»

«Ganz recht, Sir, nur weiß ich noch immer nicht, was mit dem Klavier ist, geschweige denn, ob ich es reparieren kann. Ich hoffe, Sie verstehen.»

«Aber sicher. Natürlich verstehe ich, Mr. Drake.» Die Kinnmuskeln des Colonels spannten sich. Er wollte noch über die Chin-Feldzüge von 1878 sprechen, die Schlacht von Myingyan und die Belagerung der Garnison Pyin U-Lwin, eines seiner Lieblingsthemen. Er wartete.

Edgar Drake blickte auf seine Hände hinab. «Verzeihen Sie», sagte er. «Fahren Sie doch bitte fort. Ich muss nur bald gehen, denn ich habe es ziemlich weit bis nach Hause, und am meisten interessiert mich der Erard-Flügel.» Er war eingeschüchtert, genoss insgeheim aber die kurze Unterbrechung. Er hatte Soldaten nie gemocht, doch dieser Carroll gefiel ihm immer besser. Er hätte tatsächlich gern Einzelheiten erfahren, aber es wurde bald dunkel, und Killian machte keine Anstalten aufzuhören.

«Nun gut, Mr. Drake», sagte der Colonel, «ich werde mich kurzfassen. 1874 hatten wir bereits einige Vorposten in den Shan-Gebieten eingerichtet, einen bei Pyin U-Lwin, einen bei Taunggyi und einen – den abgelegensten – in einem kleinen Dorf namens Mae Lwin am Salween. Sie finden Mae Lwin auf keiner Landkarte, und bevor Sie den Auftrag übernehmen, kann ich Ihnen auch nicht sagen, wo es genau liegt. Dorthin schickten wir Carroll.»

Es wurde dunkel im Raum, und der Colonel zündete eine kleine Lampe auf dem Schreibtisch an. Das Licht flackerte und warf den Schatten seines Schnurrbartes auf seine Wangen. Wieder betrachtete er den Klavierstimmer. Er wirkt ungeduldig, dachte er und holte tief Atem. «Ich will Sie nicht länger aufhalten, Mr. Drake, und erspare Ihnen Details über die zwölf Jahre, die Carroll bisher in Mae Lwin verbracht hat. Sollten Sie den Auftrag übernehmen, können wir das Gespräch fortsetzen, und ich kann Ihnen Militärberichte zur Verfügung stellen. Es sei denn, Sie möchten sie jetzt gleich hören.»

«Ich würde gern etwas über das Klavier hören, wenn es Ihnen nichts ausmacht.»

«Aber sicher, natürlich, das Klavier.» Der Colonel seufzte. «Was möchten Sie wissen? Ich denke, durch Colonel Fitzgeralds Brief sind Sie über die Einzelheiten weitgehend unterrichtet.»

«Ja, Carroll hat um ein Klavier gebeten. Die Armee hat einen Erard-Flügel aus dem Jahr 1840 beschafft und ihn Carroll geschickt. Wären Sie so freundlich, mir mehr davon zu erzählen?»

«Das kann ich im Grunde gar nicht. Carroll erhofft sich wohl einen ähnlichen Erfolg wie mit seinem Shelley-Vortrag, aber ansonsten verstehen wir nicht, wozu er ein Klavier braucht.»

«Nein?» Der Klavierstimmer lachte, ein überraschend tiefes Lachen für die schmale Gestalt. «Wie oft habe ich mir diese Frage bei meinen Kunden gestellt! Wozu kauft eine Dame der Gesellschaft, die Händel nicht von Haydn unterscheiden kann, einen 1820er Broadwood und lässt ihn wöchentlich stimmen, obwohl nie jemand darauf spielt? Oder wie ist es zu erklären, dass der Bezirksrichter, der seinen Flügel alle zwei Monate stimmen lässt – was, wie ich vielleicht hinzufügen sollte, zwar ganz und gar überflüssig, aber für mein Geschäft ein Segen ist –, dass also derselbe Mann die Genehmigung für den alljährlichen öffentlichen Klavierwettbewerb verweigert? Entschuldigen Sie, aber so seltsam kommt mir Dr. Carroll gar nicht vor. Haben Sie einmal die Inventionen von Bach gehört, Sir?»

«Ja … ich glaube schon», stotterte der Colonel, «ich bin sicher, ich habe sie gehört, aber – nehmen Sie es mir nicht übel, Mr. Drake – ich verstehe nicht, was das mit –»

«Es wäre eine schreckliche Vorstellung für mich, so viele Jahre ohne Musik von Bach leben zu müssen.» Er hielt inne und fügte dann hinzu: «Auf einem 1840er Erard klingt sie besonders schön.»

«Das mag ja sein, aber unsere Soldaten kämpfen noch.»

Edgar Drake holte tief Luft. Sein Herz klopfte schneller. «Verzeihen Sie, Sir, ich möchte nicht anmaßend erscheinen. Ihr Bericht interessiert mich von Minute zu Minute mehr. Aber ich bin etwas verwirrt. Wenn Sie unserem Klavierspieler so ablehnend gegenüberstehen, warum bin ich dann hier? Sie sind ein sehr wichtiger Mann, Colonel, und es kommt selten vor, dass jemand in Ihrer Position ein mehrstündiges Gespräch mit einem Zivilisten führt, das weiß sogar ich. Und ich weiß auch, dass das Kriegsministerium eine horrende Summe für den Transport des Klaviers nach Birma aufgewandt haben muss, ganz zu schweigen vom Kaufpreis des Instruments. Außerdem haben Sie mir eine großzügige Bezahlung angeboten – eine angemessene meiner Meinung nach, aber objektiv gesehen eine großzügige. Dennoch scheinen Sie meine Mission nicht gutzuheißen.»

Der Colonel lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. «Nun gut, darüber müssen wir reden. Ich verhehle meine Missbilligung nicht, aber bitte verwechseln Sie das nicht mit Respektlosigkeit. Der Oberstabsarzt ist ein überaus fähiger Soldat, ein ungewöhnlicher Mensch vielleicht, aber unersetzlich. Einige hochrangige Angehörige dieser Dienststelle haben großes Interesse an seiner Arbeit.»

«Sie aber nicht.»

«Sagen wir nur so viel: Manche Leute fallen eben auf die schönen Reden von unserer Bestimmung als Weltmacht herein und meinen, dass wir nicht erobern, um Land und Wohlstand zu gewinnen, sondern um Kultur und Zivilisation zu verbreiten. Das sei ihnen unbenommen, aber zu den Pflichten des Kriegsministeriums gehört es nicht.»

«Und dennoch unterstützen Sie Carroll?»

Der Colonel schwieg einen Moment. «Wenn ich offen mit Ihnen rede, Mr. Drake», sagte er dann, «so deshalb, weil es wichtig ist, dass Sie die Position des Kriegsministeriums verstehen. Die Shan-Staaten sind gesetzlos, ausgenommen Mae Lwin. Carroll hat mehr erreicht, als einige Bataillone zusammen es vermocht hätten. Er ist unentbehrlich, und er befehligt einen der gefährlichsten Posten in unseren Kolonien. Die Shan-Staaten spielen eine zentrale Rolle bei der Sicherung unserer Ostgrenze; ohne sie riskieren wir eine Invasion von Seiten Frankreichs oder gar Siams. Wenn ein Klavier das Zugeständnis ist, das Carroll auf seinem Posten hält, dann ist das kein allzu hoher Preis. Aber dieser Posten ist ein Militärstützpunkt und kein Musiksalon. Unsere Hoffnung ist, dass Carroll wieder an die Arbeit geht, wenn das Klavier gestimmt ist. Es ist wichtig, dass Sie das verstehen, und es muss klar sein, dass wir Sie beauftragen und nicht der Oberstabsarzt. Seine Ideen können … verführerisch sein.»

«Also handelt es sich um ein Zugeständnis, ähnlich wie Zigaretten», sagte Drake, und er dachte, du traust ihm nicht.

«Nein, es ist etwas anderes, ich denke, Sie verstehen.»

«Ich sollte wohl nicht sagen, dass er eben wegen des Klaviers unentbehrlich ist?»

«Das werden wir wissen, wenn es gestimmt ist. Nicht wahr, Mr. Drake?»

Bei diesen Worten lächelte der Klavierstimmer. «Vielleicht.»

Der Colonel beugte sich vor. «Haben Sie noch Fragen?»

«Nur eine.»

«Und die wäre?»

Edgar Drake blickte auf seine Hände hinab. «Verzeihen Sie, Colonel, aber was genau stimmt denn nicht mit dem Flügel?»

Der Colonel starrte ihn an. «Haben wir das nicht schon erörtert?»

Edgar Drake atmete tief ein. «Bei allem Respekt, Sir, aber wir haben erörtert, was Ihrer Meinung nach mit einem Klavier als solchem nicht stimmt. Ich muss aber wissen, was mit diesem Flügel nicht stimmt, dem 1840er Erard, der irgendwo in einem fernen Dschungel steht, in den ich reisen soll. Von Ihrer Dienststelle habe ich wenig darüber erfahren, nur dass er verstimmt ist, was, wie ich hinzufügen möchte, auf die Ausdehnung des Resonanzbodens zurückzuführen ist und nicht des Gehäuses, wie Sie in Ihrem Brief schreiben. Ich wundere mich natürlich, dass Sie das nicht vorhergesehen haben – dass sich das Klavier verstimmt, meine ich. Feuchtigkeit wirkt sich verheerend aus.»

«Wie gesagt, Mr. Drake, wir haben das alles für Oberstabsarzt Carroll getan. Solche philosophischen Fragen müssen Sie ihm schon selbst stellen.»

Edgar Drake seufzte. «Nun, darf ich dann fragen, was genau ich reparieren soll?»

Der Colonel hustete. «Dergleichen Einzelheiten wurden uns nicht mitgeteilt.»

«Er muss sich doch irgendwie zu dem Klavier geäußert haben.»

«Wir haben dazu nur eine einzige Notiz, eine seltsame und für den Doktor, der ja sonst ein recht beredter Mann ist, ungewöhnlich kurze. Sie hat uns zu einiger Skepsis veranlasst, was seine Bitte betrifft, bis dann diese beunruhigende Rücktrittsdrohung kam.»

«Darf ich die Notiz lesen?»

Der Colonel zögerte einen Moment und reichte dem Klavierstimmer dann ein braunes Stück Papier. «Es ist Shan-Papier», sagte er, «der Stamm scheint berühmt dafür zu sein. Merkwürdig – der Oberstabsarzt hat es für seine sonstige Korrespondenz nie verwendet.» Das Papier war weich, eine handgemachte Matrize, deren Fasern man sah, mit dunkler Tinte beschrieben.

Gentlemen,

man kann auf dem Erard-Flügel nicht mehr spielen, er muss gestimmt und repariert werden, was ich vergeblich versucht habe. Ein auf Erard spezialisierter Klavierstimmer wird in Mae Lwin dringend benötigt. Das dürfte weiter keine Schwierigkeiten machen. Es ist wesentlich einfacher, einen Mann hierher zu schicken als ein Klavier.

Oberstabsarzt Anthony Carroll, Mae Lwin, Shan-Staaten

«Das ist eigentlich zu wenig, um jemanden auf die andere Seite des Erdballs zu schicken.»

«Mr. Drake», sagte der Colonel, «Sie haben hier in Kreisen, die sich mit Musik befassen, einen Ruf als Spezialist für Erard-Flügel. Nach unserer Schätzung wird die gesamte Dauer der Reise von Ihrer Abfahrt bis zu Ihrer Rückkehr nach England nicht mehr als drei Monate betragen. Ihr Einsatz wird gut honoriert, wie Sie wissen.»

«Und ich muss allein reisen.»

«Ihrer Gattin wird es in der Zwischenzeit an nichts fehlen.»

Edgar Drake lehnte sich zurück.

«Haben Sie noch weitere Fragen?»

«Nein, ich denke, ich habe verstanden», sagte der Klavierstimmer leise, wie zu sich selbst.

Der Colonel legte die Papiere nieder und beugte sich vor. «Werden Sie nach Mae Lwin fahren?»

Edgar Drake schaute aus dem Fenster. Es wurde dunkel, und der Wind spielte mit dem Regen, verschlungene Crescendos und Diminuendos aus Wasser. Ich hatte mich, als ich hierher kam, längst entschieden, dachte er.

Er wandte sich wieder dem Colonel zu und nickte.

Sie gaben sich die Hand. Killian bestand darauf, ihn zu Colonel Fitzgerald zu begleiten, dem er die Nachricht überbrachte. Es wurde noch Verschiedenes besprochen, doch Edgar hörte nicht mehr zu. Er kam sich vor wie im Traum, als hätte er noch nicht ganz begriffen, dass seine Entscheidung Wirklichkeit geworden war, und er merkte, dass er immer noch einmal nickte. Die Stabsmitglieder, an denen sie vorbeikamen, glaubten vielleicht, er grüße sie, dabei versuchte er nur, das Unbedeutende dieser Geste mit der Bedeutsamkeit ihrer Folgen in Einklang zu bringen.

Papiere mussten unterzeichnet, Termine festgesetzt und Kopien von Dokumenten «zur weiteren Einsichtnahme» durch Edgar Drake angefordert werden. Doktor Carroll, so erklärte Killian, habe verlangt, dass das Kriegsministerium eine lange Liste von Hintergrundlektüre für den Klavierstimmer zusammenstelle: geschichtliche, anthropologische, geologische und naturkundliche Texte. «Ich würde mir über das alles nicht allzu sehr den Kopf zerbrechen», sagte er, «aber der Doktor hat nun einmal darum gebeten. Was Sie wirklich wissen müssen, habe ich Ihnen bereits gesagt, denke ich.»

Eine Zeile aus Carrolls Brief verfolgte Edgar, als er ging, wie ein feiner Schleier Zigarettenrauch nach einem Salonmusikabend. Es ist wesentlich einfacher, einen Mann hierher zu schicken als ein Klavier. Der Doktor würde ihm gefallen, dachte er; solch poetische Worte fanden sich in Briefen von Militärs nicht oft. Und Edgar Drake hatte großen Respekt vor Menschen, die in der Verantwortung Poesie entdeckten.

II

Schwerer Nebel driftete durch die Pall Mall, als Edgar Drake das Kriegsministerium verließ. Er folgte zwei Fackelträgern, in grobe Lumpen gehüllten Kindern. Der Nebel war so dicht, dass ihre Hände mit den tanzenden Lichtern vom Körper losgelöst schienen. «Brauchen Sie eine Droschke, Sir?», fragte ihn einer der Jungen. «Ja, zum Fitzroy Square, bitte», sagte er, aber dann überlegte er es sich anders. «Nein, bringt mich zum Embankment.»

Sie gingen durch die Menschenmenge hindurch, die sich zwischen den düsteren Marmorsäulen von Whitehall drängelte, tauchten ein in ein Gewirr von Kutschen voller schwarzer Mäntel und Zylinder, hörten aristokratische Akzente und sogen Zigarrenrauch ein. «In einem der Clubs ist heute Abend Tanz, Sir», sagte einer der Jungen vertraulich, und Edgar nickte. Durch die hohen Fenster der Gebäude ringsum sah man Ölgemälde an den Wänden, von Kronleuchtern erhellt. Edgar kannte einige der Clubs. Bei Boodle’s hatte er vor drei Jahren einen Pleyel gestimmt, bei Brooks’s einen Erard, ein schönes intarsienverziertes Stück aus der Pariser Werkstatt.

Sie passierten gut gekleidete Paare mit von Kälte und Brandy geröteten Gesichtern, die Männer lachten unter dunklen Schnurrbärten, die Frauen waren in Fischbeinkorsetts gezwängt und hatten den Rocksaum über der von Regen und Pferdeäpfeln glänzenden Straße leicht angehoben. Auf der anderen Straßenseite wartete eine Kutsche auf sie, an deren Tür ein alter Inder mit Turban stand. Edgar drehte sich zu ihm um. Vielleicht hat er gesehen, was ich sehen werde, dachte er und unterdrückte den Wunsch, ihn anzusprechen. Die Gruppe der Männer und Frauen teilte sich vor ihm, und Edgar stolperte, denn er hatte die Fackelträger aus den Augen verloren. «Passen Sie auf, wo Sie hintreten, mein Bester!», brüllte einer der Männer, und eine Frau sagte: «Also, diese Betrunkenen!» Sie lachten, und Edgar sah die Augen des alten Inders aufleuchten; nur aus Bescheidenheit lachte er nicht mit seinen Fahrgästen mit.

Die Jungen warteten an der niedrigen Mauer, die das Embankment säumte. «Wohin jetzt, Sir?»

«Schon gut, danke.»

Edgar warf ihnen eine Münze zu. Beide sprangen danach, ließen sie jedoch fallen, und das Geldstück hüpfte über das unebene Pflaster und fiel durch ein Gitter. Die Jungen knieten sich hin. Da, halt mal die Fackeln. Nein, dann nimmst du das Geld, und du gibst nie was ab. Du gibst nie was ab, es gehört mir. Aber ich hab ihn angesprochen … Verlegen fischte Edgar zwei weitere Münzen aus der Tasche. «Tut mir leid, hier, nehmt die.» Er ging davon und ließ die streitenden Jungen an dem Gitter zurück. Bald war nur noch das Licht ihrer Fackeln zu sehen. Er blieb stehen und blickte auf die Themse hinaus.

Vom Wasser her kamen Geräusche. Schiffer vielleicht, dachte er und fragte sich, wohin sie fahren oder woher sie kommen mochten. Ein anderer, ferner Fluss kam ihm in den Sinn. Salween. Schon der Name war neu für ihn, und man sprach ihn aus, als sei noch eine dritte Silbe zwischen dem L und dem W versteckt. Er flüsterte den Namen vor sich hin, wandte dann schnell den Kopf und sah sich verschämt um, ob er allein war. Er lauschte den Geräuschen der Schiffer und dem Plätschern der Wellen an der Mauer. Über dem Fluss lichtete sich der Nebel. Der Mond war nicht zu sehen, und nur im Schein der Laternen, die an den Lastkähnen hin und her schwangen, konnte er die Uferlinie erkennen, die mächtigen Gebäude, die sich am Fluss drängten. Wie Tiere an einem Wasserloch, dachte er, und der Vergleich gefiel ihm. Das muss ich Katherine sagen. Ich bin spät dran, dachte er dann.

Er ging das Embankment entlang, vorbei an drei zerlumpten Vagabunden, die an einem kleinen Feuer kauerten. Sie sahen zu ihm auf, und er nickte ihnen unbeholfen zu. Einer von ihnen grinste breit, mit einem Mund voller kaputter Zähne. «Alles klar, Käpt’n?» Cockney, gesprochen mit whiskyschwerer Zunge. Die anderen wandten sich schweigend wieder dem Feuer zu.

Edgar überquerte die Straße und ließ den Fluss hinter sich, schob sich durch die Menge vor dem Metropole, folgte der Northumberland Avenue zum Trafalgar Square, wo sich die Leute um von Pferden gezogene Omnibusse drängten, wo Polizisten sie vergeblich zum Weitergehen zu bewegen suchten, wo Kutscher lautstark ihre Dienste anboten, wo Peitschen knallten, Pferde äpfelten und Reklametafeln verkündeten:

Swanbill Korsetts für die dritte Figur

Rauchen Sie De Joy:

Schon eine einzige Zigarette schafft

schnelle Linderung bei schweren Anfällen von

Asthma, Husten, Bronchitis und Kurzatmigkeit

Hop Bitters Hop Bitters

Weihnachtsstimmung, Glockengeläut

schenk dir was Schönes: schenk dir Zeit –

Robinson Qualitätsuhren.

Unterhalb der beleuchteten Springbrunnen an der Nelson-Säule blieb Edgar stehen und schaute einem Leierkastenmann zu, einem Italiener, um dessen Drehorgel ein kreischender Affe mit einem Zweispitz auf dem Kopf hin und her hüpfte, während sein Herr die Kurbel drehte. Kinder umstanden ihn und klatschten Beifall – Fackelträger und Schornsteinfeger, Lumpensammler, Kinder von Straßenhändlern. Ein Polizist kam stockschwingend heran. «Ihr geht jetzt alle schön nach Hause, und das dreckige Tier da muss weg. Machen Sie Ihre Musik in Lambeth, das hier ist ein Ort für Gentlemen.» Die Kinder trollten sich protestierend. Edgar wandte sich um. Ein anderer Affe, ein grinsender Riese, lauste sich vor einem juwelenbesetzten Spiegel, Brooke’s Seife, die Marke mit dem Affen: Im Haushalt ein Muss – Reklame, die an einem vorbeifahrenden Omnibus prangte. Der Schaffner versuchte Fahrgäste anzulocken. Fitzroy Square, rief er, zum Fitzroy Square, schnell! Das ist zu Hause, dachte Edgar Drake und ließ den Bus vorbeifahren.

Er kehrte dem Platz den Rücken, schob sich in der einbrechenden Dunkelheit durch das Gewimmel von Händlern und Kutschen und folgte der Cockspur Street in das Getöse von Haymarket, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben. Inzwischen bereute er es, dass er nicht in den Bus eingestiegen war. Am Ende der Straße, als er in die Narrows kam, wurde es dunkler, und die Häuser rückten näher zusammen.

Er wusste nicht genau, wo er sich befand, nur in welcher Richtung er ging, vorbei an dunklen Backsteinhäusern und Reihenhäusern in verwaschenen Farben, an einzelnen vermummten Gestalten, die heimwärts eilten, an Zwielicht und Schatten und einem versteckten Glimmen in den schmalen Pfützen, die wie Adern zwischen den Pflastersteinen hindurchliefen, an tropfenden Mansardendächern und einer hohen, flackernden Laterne da und dort, die riesenhaft verzerrte Spinnwebschatten warf. Er ging weiter, und es war wieder dunkel, die Straßen wurden schmaler, und er zog die Schultern hoch. Das tat er, weil es kalt war und weil die Häuser es auch taten.

Die Narrows öffneten sich auf die Oxford Street, und der Weg wurde hell und vertraut. Er passierte die Oxford Music Hall und bog in die Newland, die Cleveland, die Howland Street ein, noch ein, zwei Blocks und dann nach rechts in eine schmale Gasse, so schmal, dass man sie, sehr zum Kummer ihrer Anwohner, auf dem neuesten Stadtplan von London vergessen hatte.

Franklin Mews 14 war das vierte Haus in der Reihe, ein Backsteinbau, nahezu identisch mit dem von Mr. Lillypenny, dem Blumenhändler, der in Nummer 12 wohnte, und dem von Mr. Bennett-Edwards, dem Polsterer in Nummer 16. Die Häuser hatten eine durchgehende Backsteinfassade, die Eingänge befanden sich zu ebener Erde. Ein kurzer Weg überspannte den offenen Raum zwischen dem eisernen Tor und der Haustür, und von hier führte eine Eisentreppe in den Keller hinab, wo Edgar seine Werkstatt hatte. Blumentöpfe hingen am Zaun und an den Fenstern. In einigen blühten trotz der Herbstkälte noch Astern, andere waren nur noch halb mit Erde gefüllt und jetzt vom Nebel beschlagen, der das Flackern der Außenlaterne reflektierte. Katherine muss sie angelassen haben, dachte Edgar.

An der Tür machte er sich mit den Schlüsseln zu schaffen, zögerte seine Rückkehr jetzt bewusst hinaus. Er drehte sich noch einmal zur Straße um, die im Dunkeln lag. Das Gespräch im Kriegsministerium schien weit weg, wie ein Traum, und einen Moment lang dachte er, es könnte auch wie ein Traum verblassen, er bräuchte Katherine nicht – noch nicht – davon zu erzählen, solange er daran zweifelte, dass es wirklich stattgefunden hatte. Sein Kopf zuckte unwillkürlich – wieder das Nicken. Das Nicken ist alles, was ich von der Besprechung mitgebracht habe.

Er öffnete die Tür. Katherine wartete im Wohnzimmer auf ihn und las im gedämpften Licht einer Lampe die Zeitung. Es war kalt im Zimmer, und sie trug ein dünnes Tuch aus besticktem weißem Wollstoff um die Schultern. Er schloss die Tür leise, blieb stehen und hängte Hut und Jacke an den Garderobenständer, schweigend, er brauchte seine späte Rückkehr nicht groß kundzutun, besser, er schlüpfte leise ins Zimmer. Vielleicht kann ich so tun, als sei ich schon eine Weile hier, dachte er, aber er wusste, das würde nicht gehen, und er wusste auch, dass sie nicht mehr am Lesen war.

Katherine saß am Fenster und sah auf ihre Zeitung hinab. Es waren die Illustrated London News, und später sagte sie ihrem Mann, dass sie einen Artikel mit der Überschrift «Empfang im Metropole» gelesen hatte, der den Klang eines neuen Klaviers beschrieb, ohne jedoch die Marke, geschweige denn den Stimmer zu erwähnen. Sie blätterte noch eine Weile in der Zeitung, schweigend, denn sie war eine Frau von untadeliger Haltung, und mit verspäteten Ehemännern verfuhr man so am besten. Die meisten ihrer Freundinnen hielten es anders. Du machst es ihm zu leicht, sagten sie oft zu ihr, aber sie zuckte nur die Schultern. Sollte er einmal nach Hause kommen und nach Gin oder billigem Parfüm riechen, dann werde ich böse. Aber Edgar kommt zu spät, weil er so in seine Arbeit vertieft ist oder weil er sich auf dem Rückweg von einem neuen Auftraggeber verlaufen hat.

«Guten Abend, Katherine», sagte er.

«Guten Abend, Edgar. Du kommst fast zwei Stunden zu spät.»

Er war dieses Ritual gewohnt, die harmlosen Ausreden, die Bagatellisierungen: Ich weiß, Liebes, Liebste, es tut mir leid, ich musste die Saiten fertig machen, damit ich sie morgen nachstimmen kann, oder Es ist ein Eilauftrag, oder Ich bekomme eine Zulage, oder Ich habe mich auf dem Heimweg verlaufen, das Haus liegt in der Nähe von Westminster, und ich habe den falschen Omnibus genommen, oder Ich wollte einfach noch spielen, es war ein seltener Erard von 1835, sehr schön natürlich, er gehört der Familie von Mr. Vicento, dem italienischen Tenor, oder Er gehört Lady Neville, einzigartig, 1827, ich wünschte, du könntest mitkommen und auch darauf spielen. Wenn er log, dann nur, indem er eine Ausrede gegen eine andere austauschte: Dass es ein Eilauftrag gewesen sei, dabei war er stehen geblieben, um sich ein Straßentheater anzusehen, dass er die falsche Straßenbahn genommen habe, dabei hatte er noch länger auf dem Flügel des italienischen Tenors gespielt. «Ich weiß, tut mir leid, ich habe noch an dem Farrell-Auftrag gearbeitet», und das genügte, sie faltete die Illustrated London News zusammen, er ging durchs Zimmer und setzte sich neben sie, und sein Herz klopfte stürmisch. Sie merkte, dass etwas anders war als sonst. Er wollte sie küssen, aber sie schob ihn weg und versuchte ein Lächeln zu verbergen. «Du kommst zu spät, Edgar, das Fleisch ist verbraten, lass das, glaub nur nicht, du kannst so spät kommen und es dann mit Zärtlichkeiten wieder gutmachen.» Sie wandte sich ab, und er schlang die Arme um ihre Taille.

«Ich dachte, du bist mit dem Farrell-Auftrag fertig», sagte sie.

«Nein, das Klavier ist in einem beklagenswerten Zustand, und Mrs. Farrell besteht darauf, dass ich es auf ‹Konzertqualität› stimme.» Er sprach eine Oktave höher, um die Dame nachzuahmen. Katherine musste lachen, und er küsste sie auf den Hals.

«Sie glaubt ja, ihr kleiner Roland wird ein zweiter Mozart.»

«Ja, heute hat sie es wieder gesagt, und ich musste mir auch noch von dem Schlingel vorspielen lassen.»

Katherine versuchte eine ernste Miene aufzusetzen. «Armer Liebling. Ich kann dir einfach nicht lange böse sein.» Edgar lächelte und entspannte sich ein wenig. Wie schön sie noch ist, dachte er. Die goldenen Locken, die ihn so entzückt hatten, als er sie zum ersten Mal sah, waren ein wenig verblasst, aber sie trug ihr Haar wie früher offen, und in der Sonne nahm es wieder die alte Farbe an. Sie hatten sich kennen gelernt, als er noch Lehrling war und das Broadwood-Klavier ihrer Familie reparierte. Das Klavier selbst hatte ihn nicht weiter beeindruckt – ein ziemlich billiges Instrument –, wohl aber die zarten Hände, die es spielten, und die geschmeidige Gestalt neben ihm an der Klaviatur, deren Gegenwart ihn auch jetzt erregte. Er beugte sich erneut zu ihr und wollte sie küssen. «Lass das», kicherte sie, «jetzt nicht, und pass auf das Sofa auf, der Damast ist neu.»

Edgar lehnte sich zurück. Sie ist gut gelaunt, dachte er, vielleicht sollte ich es ihr gleich sagen. «Ich habe einen neuen Auftrag», begann er.

«Den Bericht hier musst du lesen, Edgar.» Katherine strich ihr Kleid glatt und griff nach den News.

«Ein 1840er Erard. Er scheint in einem furchtbaren Zustand zu sein. Aber die Bezahlung ist hervorragend.»