Der kleine Pferdehof am Deich - Susanne Ziegert - E-Book
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Der kleine Pferdehof am Deich E-Book

Susanne Ziegert

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Beschreibung

Der kleine Pferdehof ihrer Großmutter war für Lara der Lieblingsort ihrer Kindheit. 19 Jahre lang hatte sie nach einem Familienstreit keinen Fuß mehr auf das Anwesen gesetzt, als der Brief vom Notar eintrifft. Ihre Großmutter hat ihr den zauberhaften Reetdachhof hinterm Deich vermacht. Mit der Absicht, das Anwesen schnellstmöglich zu verkaufen, reist Lara in den Norden. Aber es gibt einen weiteren Erben - den Pferdetrainer André - und der hat ganz andere Pläne. Es stellt sich heraus: Nur wenn sie das Gestüt ein Jahr lang gemeinsam führen, können sie den Hof und die Pferde retten …

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Susanne Ziegert

Der kleine Pferdehof am Deich

roman

Zum Buch

Sehnsuchtsort am Meer Nach vielen Jahren kehrt die Berliner Journalistin Lara an den Lieblingsort ihrer Kindheit zurück – den kleinen Pferdehof am Deich. Ihre Großmutter hat ihr den Familiensitz vermacht, jedenfalls die eine Hälfte. Denn es gibt einen zweiten Erben, Pferdetrainer André. Mit der Absicht, den Hof schnellstmöglich zu verkaufen, reist Lara in den Norden. Der attraktive Pferdetrainer ist über ihr Kommen alles andere als erfreut, hat er doch ganz andere Pläne für die Zukunft des Hofs. Beim Zusammensein mit den Pferden, den morgendlichen Ausritten und den rasanten Galoppaden im Watt fühlt sich Lara in die Glücksmomente ihrer Kindheit versetzt. Doch soll sie wirklich ihre erfolgreiche Karriere aufgeben und in Andrés Projekt einsteigen? Spricht sie noch die Sprache der Pferde, so wie früher? Nur wenn sie das Gestüt ein Jahr lang gemeinsam führen, können sie den Hof und die Pferde retten. Wird es ihnen gelingen, die Differenzen zu überwinden?

Mit 30 Jahren erfüllte sich die Journalistin Susanne Ziegert einen Kindheitstraum und erlernte das Reiten. Kurz darauf entschied sie sich für ihr erstes eigenes Pferd – Haflingerstute Hanna. Aus der Leidenschaft entstand der Wunsch, mit Pferden zu leben. 2019 zog sie mit ihrem Ehemann, zwei Pferden und zwei Eseln in einen alten Bauernhof im Landkreis Cuxhaven. Sie ist als Journalistin und Dolmetscherin für Französisch tätig. Sie liebt das Meer und die grüne Landschaft ihrer neuen Heimat, ganz besonders aber die herzlichen Menschen im Norden und lässt sich hier für ihre Romane inspirieren.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © delphinus12 / istockphoto.com und ccgocke / stock.adobe.com und auntmasako / Pixabay

und Pawel Kazmierczak / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-7838-3

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Erschrocken löste Lara ihre Arme vom Hals des Ponys und sah durch einen Tränenschleier auf.

»Was tun Sie da?« Vor ihr stand ein hochgewachsener Mann, der mit Jeans und Cowboyhut aussah wie aus der Zigarettenwerbung. Dunkle Locken quollen unter seinem Hut hervor. Sein Gesichtsausdruck wirkte, als würde er gleich den Colt ziehen.

»Das ist mein Pferd.« Sie streichelte ihre Stute an der Stirn, und diese schürzte genussvoll ihre Lippen zu einer Grimasse. Das Fell, der Geruch. Alles war vertraut, obwohl sie 19 Jahre lang nicht mehr hier gewesen war.

Einen Moment hatte sie innegehalten, nachdem sie der Taxifahrer vor dem schmiedeeisernen Tor der Ranch abgesetzt hatte. Es schnürte ihr den Hals zu, als sie das alte Reetdachhaus wiedersah. »786« stand an der Fassade, die »1« von der Jahreszahl war verschwunden.

Mehrere Generationen ihrer Familie hatten ihr Zuhause hier hinter dem Deich gehabt. Es sah genauso aus wie damals. Der Geruch, eine Mischung salzhaltiger Luft mit dem Duft der zahlreichen Rosen und von Lavendel, war so vertraut. Wie ferngesteuert war sie durch die kleine Pforte neben dem Tor geschlüpft. Ihr Koffer holperte über das bucklige Kopfsteinpflaster. Nirgendwo hatte sie so prächtig blühende Rosen gesehen wie hier an der Nordsee. Rote, gelbe und weiße Blütenköpfe reckten sich im Spalier den ganzen Weg entlang bis zum Haupteingang an der Seite, geschützt vor den Herbststürmen.

Genau wie damals in ihrer Kindheit war sie direkt zu den Koppeln marschiert. Die letzten Meter rannte sie, denn sie hatte das hellbraune Kleinpferd mit der blonden Mähne und den ausdrucksvollen dunklen Augen entdeckt. Ihre Hanna. Sie lebte, das hatte sie kaum zu hoffen gewagt.

Die Stute stand mit ihrer Herde auf dem vordersten Paddock. Sie hob den Kopf und schien in Laras Richtung zu sehen. Mit einem leisen Schnauben war das Pferd langsam auf sie zugekommen, dann hatte sie lange an ihrer Hand geschnüffelt. Lara konnte die Tränen, die sich wie eine innere Talsperre angestaut hatten, nicht mehr zurückhalten. Sie hatte ihr Gesicht ins Fell versenkt und den vertrauten Geruch eingesogen. Verstohlen wischte sie mit dem Handrücken über die Augen.

»Das wüsste ich aber. Ich habe Sie hier noch nie gesehen!« Der Mann sah sie prüfend an und strich Hanna über den Hals.

»Ich bin Lara, Johannas Enkelin.«

Er zog seine Hand zurück und musterte sie mit zusammengepressten Lippen. Er hielt es nicht für nötig, sich vorzustellen.

»Und Sie sind?«

Er antwortete nicht, stattdessen ging er in Richtung Reitplatz weiter. Dabei murmelte er: »Das verstehe ich nicht, wie man sein Pferd zurücklässt wie ein Sportgerät, das man nicht mehr braucht.«

Tausende Erwiderungen lagen ihr auf der Zunge, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Was nahm der Mann sich heraus? Vermutlich war er ein Reitlehrer. Sie sah ihn, wie er mit zwei Reiterinnen und Pferden auf den Reitplatz ging und ihnen Anweisungen zurief. Was war das für ein Akzent?

Ihr Pony stupste sie mit der Nase wieder an, wie um zu sagen »weiterstreicheln«. Schon früher war es ein kleiner Frechdachs.

Am Morgen ihres siebten Geburtstags hatte ihre Großmutter sie mit diesem Blick geweckt, der verriet, dass sie etwas im Schilde führte. Sie hatte es kaum erwarten können, die sieben Kerzen auszupusten. Dann bat Johanna sie, ihr zu den Pferdekoppeln zu folgen. Das neue Pony galoppierte wiehernd über die Wiese und machte wilde Sprünge. Mit einer Möhre hatte sie es angelockt. Vorsichtig hatte es sich ihr genähert, und sie entdeckte die rote Schleife und ein Schild um den Hals. »Willst du mich, Lara?« Die kleine Stute stürzte sich auf die Leckerei und zwickte sie in die Hand.

Sie hörte in Gedanken das vertraute Lachen von Oma Johanna: »Das ist dein erstes eigenes Pferd, erziehen darfst du den Frechdachs selber.« Sie war vor Freude auf und ab gehüpft. Heute musste ihre Hanna etwa Mitte 20 sein. Das Gesicht war schmaler, sie hatte einen kleinen Bauch bekommen, aber vor ihr stand unverkennbar Hanna. Nur der unverschämte Cowboy trübte die Freude. Er hatte keine Ahnung, was in ihrem Leben vorgefallen war, und maßte sich an, ihr Verhalten zu beurteilen. Sie verabscheute Menschen, die anderen ungefragt Lektionen erteilten.

Sie schluckte und ging auf das alte Fachwerkhaus mit dem Reetdach zu. Dieses Haus strahlte noch immer Behaglichkeit aus. Wie gerne war sie als Kind hier zu Besuch gewesen, doch das war lange her. Nun stand sie wieder vor der dunkelgrünen Holztür, und während ihr ein Kloß im Hals saß, wühlte sie in ihrer Tasche, um den Schlüssel zu finden. Erhalten hatte sie diesen zusammen mit dem Schreiben des Notars. Unter ihrem Portemonnaie, Taschentüchern, dem Handy und ihrem Kalender fand sie das kleine Ledertäschchen. Sie knetete es lange in der Hand, bevor sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Was würde sie in dem alten Haus vorfinden? Als sie die Tür berührte, sprang diese auf. Es war nicht abgeschlossen. Lara zögerte, ihr war so, als tue sie etwas Verbotenes, und sie versicherte sich, dass sie den Brief in der Tasche hatte. Zögernd setzte sie den Fuß über die Schwelle. Hinter der Tür befand sich ein kleiner Vorraum als Windschutz mit einer Garderobe. Dort hing ein blauer Reitmantel, wie ihn ihre Großmutter immer getragen hatte, daneben standen Reitstiefel. Waren es noch die von ihrer Oma? Hinter dem Eingangsbereich öffnete sich ein hoher Raum mit mächtigen Deckenbalken und einem Treppenaufgang. Hier hatte zu Weihnachten immer die prächtig geschmückte Tanne gestanden, ein riesengroßes Exemplar, und im Kamin mit den Holzschnitzereien dahinter flackerte damals ein wärmendes Feuer. Von der zentralen Diele gingen die Zimmer ab, und auf der einen Seite führte eine breite Treppe in den ersten Stock. Ein Geruch von Holzfeuer lag in der Luft, sie meinte, den Bratapfelgeruch wahrzunehmen. Oder spielte ihr die Sehnsucht einen Streich? Lara schien es, als hätte sie das Haus gestern erst verlassen. Sie sah sich eine Fotowand neben der Sitzgruppe vor dem Feuerplatz an und entdeckte ein Bild von sich und ihrem Pony Hanna im Watt. Sie erinnerte sich genau an diesen Tag, es war der letzte Sommer, den sie mit ihrem Pferd verbringen durfte, sie war damals elf Jahre alt. Als unzertrennliches Gespann waren sie in den Ferien unterwegs, schwammen in der Nordsee oder lernten gemeinsam Kunststücke. Es war die glücklichste Zeit in ihrem Leben. Sie ging weiter durch das Haus bis zur gemütlichen Wohnküche. Es duftete nach Keksen, wie sie ihre Oma immer gebacken hatte. Fast meinte sie, Johanna am Herd zu sehen, doch der Raum war leer.

Auf der Sitzbank am großen runden Holztisch nahm sie Platz. Dort kamen die Familie, Mitarbeiter und Besucher zusammen, es ging laut und fröhlich her. Jetzt saß sie allein hier, und ihre Kehle schnürte sich zusammen, die Erinnerungen hatten sie einfach überwältigt. Vor 19 Jahren hatte dieses unbeschwerte Leben mit den Pferden – zumindest für Lara – geendet. Sie versuchte, die aufsteigenden Tränen mit dem Handrücken wegzuwischen, als die Tür aufging und eine ältere Frau mit forschem Schritt in die Küche trat. Laras Blick fiel auf die blinkenden Turnschuhe, die bei der mindestens 70 Jahre alten Frau mit dem weißen Bob ungewöhnlich wirkten. Bei ihrem Anblick blieb die Besucherin wie angewurzelt stehen: »Lara?«

Die Stimme war ihr vertraut, trotz der Falten und der weißen Haare. Tante Else! Die Nachbarin und damals beste Freundin ihrer Großmutter. Sie stürzte zu ihr und umarmte sie vorsichtig, um sie nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Else drückte sie an sich und hielt Lara eine Armlänge von sich, um sie besser betrachten zu können. »Mädchen, warum kommst du jetzt erst, Johanna hat dich so vermisst.«

Lara war verwirrt. Denn Oma Johanna hatte sich nach dem einen grauenvollen Tag, den sie am liebsten aus dem Gedächtnis radieren würde, nie wieder gemeldet. Manchmal hatte sie sich gefragt, was sie falsch gemacht hatte. Als Kind hatte sie nicht die Möglichkeit, einfach in den Zug zu steigen. Damals gab es noch keine Handys. Sie hatte einmal versucht, ihre Großmutter anzurufen, doch die hatte aufgelegt. Lara hatte immer gehofft, dass ihre Oma ihre Meinung irgendwann ändern würde.

»Die interessiert sich doch nur für ihre Gäule«, hatte ihre Mutter behauptet. Sie hatte sich nicht mehr getraut, ihre Mutter darauf anzusprechen, da diese dann entweder wütend oder sehr traurig wurde. »Das hätte sie doch nicht gewollt«, ging sie auf Elses Frage ein. Die drückte sie noch fester an sich. »Eine wunderschöne junge Frau bist du. Schade, dass sie dich nicht mehr sehen kann!«

»Wie lange bleibst du?«, wollte Else wissen, während sie den schweren Wasserkessel füllte und auf den Herd setzte. Das altmodische Gefäß erinnerte Lara an Johanna, die sich geweigert hatte, einen elektrischen Kocher zu benutzen. »Trink erst einmal einen warmen Tee!«

Das hatte Johanna immer gesagt, wenn sie traurig war.

Lara fummelte in ihrer Tasche und zog das Schreiben des Notars heraus, wegen dem sie an die Nordsee gekommen war. Es ging um die Testamentseröffnung für die Ranch.

»Ich habe morgen diesen Termin. Ich sollte unbedingt persönlich kommen.« Mit dem Schreiben hatte sie vom Tod ihrer Großmutter erfahren und das Datum des Notartermins. Außerdem lag das Kaufangebot einer Hotelkette für das Grundstück bei – dadurch könnte sie das Ganze schnell hinter sich bringen. Das Notariat hatte auf ihrer Anwesenheit bestanden. Sie war überrascht gewesen, dass ihre Großmutter sie überhaupt in ihrem Testament bedacht hatte. Denn Lara hatte mit all dem abgeschlossen. Niemals zurücksehen. Diese Erinnerungen belasteten sie nur. Da sämtliche Hotels und Gästezimmer ausgebucht waren, hatte Lara beschlossen, wie in dem Schreiben vorgeschlagen, im Haus zu übernachten. Das vertraute Pfeifen des Kessels unterbrach ihre Gedanken.

Else nahm die Keramikkanne mit dem Blumenmuster aus dem Regal, füllte das Teeei und ließ das Wasser von weit oben in die Kanne fließen, damit es ein wenig abkühlte. Sie stellte die Eieruhr auf den Tisch, Kandiszucker und Sahne. Nach exakt 4,5 Minuten nickte sie Lara zu und sie füllte das dampfende Getränk in die Tassen. Aus der grünen Tür, hinter der sich die Speisekammer verbarg, brachte sie die vertraute Keksdose. Lara kostete vorsichtig von dem selbst gebackenen Butterkeks, wieder spürte sie den Schmerz aufsteigen, so mächtig kamen die Erinnerungen zurück. Sie kämpfte die Tränen nieder und konzentrierte sich auf das Gebäck. Niemand konnte diese Kekse so backen wie Oma Johanna. Else ging wieder zur Kammer, kippte einen kleinen Schuss aus einer Flasche in Laras Tasse. »Das kannst du gebrauchen.«

Lara schloss die Augen und trank die wärmende Flüssigkeit.

Dann flog die Tür auf, und der Cowboy trat ein, begrüßte Else, musterte Lara kurz und setzte sich mit dem Rücken an die Tür, so weit wie möglich von ihr entfernt. Er beachtete sie nicht, bedankte sich für die angebotene Tasse Tee und trank in kleinen Schlucken.

»Lara, kennst du schon André Rivière, Johannas Partner?« Sie nickte und verkniff sich ein »leider.« Der Mann schien sie ebenso wenig zu mögen.

Er nickte kurz und sah missmutig in ihre Richtung: »Wie stellen Sie sich das vor? Sie verkaufen das alles hier und dann sind Sie wieder weg?«

Sie sah Hilfe suchend zu Else, die sich neben sie gesetzt hatte und das Geschirr auf dem Tisch zurechtrückte.

»Ich bin erfolgreiche Journalistin in Berlin, was sollte ich hier? Ich kann doch mein Leben nicht wegwerfen.«

Sie ahnte, dass Else enttäuscht sein würde, doch sie wollte keine falschen Hoffnungen wecken.

»Genau, was hätten Sie hier tun sollen, außer eine schwerkranke Großmutter und ein altes Pony zu besuchen?« Er spie die Worte aus. Seine Augen hatten einen harten Glanz angenommen. »Ich kann leider mit einem Investor nicht mithalten, ich habe mit Johanna diesen Betrieb aufgebaut. Ein Paradies für die Pferde und die Menschen. Aber das wird Ihnen genauso gleichgültig sein wie Ihre Großmutter und Ihr Pferd.« Er knallte seine Tasse auf den Tisch. »Ich muss die Tiere versorgen.«

Lara blieb der Mund offen stehen. Ehe sie sich eine scharfe Erwiderung zurechtgelegt hatte, war er schon draußen.

»Er meint das nicht so«, beschwichtigte Else, als er aus der Tür war. Sie legte ihre Hand tröstend auf Laras Arm. »Sie hat mich vergessen. Und sie hätte mir ja sagen können, dass sie schwer krank ist«, schluchzte Lara an der Schulter der alten Frau. Else nickte beruhigend. »Johanna war stolz auf dich, sie hat immer verfolgt, was du tust, und mir Artikel von dir vorgelesen. Die hat sie alle ausgeschnitten und aufgeklebt.«

Jetzt brachen die Tränen heftiger aus ihr heraus. Denn eigentlich kam der Brief aus Cuxhaven wie gerufen. Sie hatte zu Hause gesessen, nachdem sie gleichzeitig ihren Job und die Liebe ihres Lebens verloren hatte. Sie war froh über diese Abwechslung, denn als der Brief eintraf, hatte sie gerade mitten am Tag eine Flasche Wein geleert, um den Frust und die Sorgen zu betäuben. Davor hatte sie überschlagen, wie lange sie die Wohnung aus ihren Ersparnissen finanzieren könnte. Ein halbes Jahr würde sie das schaffen, aber dann? Sie war froh um den Ortswechsel. Sie würde hier die Formalitäten abwickeln und nach ihrer Rückkehr eine Lösung finden. Sie hatte immer ihr Leben aus eigener Kraft in den Griff bekommen, und das würde sie wieder schaffen.

Jetzt wollte sie sich um ihre Stute Hanna kümmern. Dieser Cowboy sollte ihr nicht vorwerfen können, dass sie lieber Tee trank, statt ihr Pferd zu versorgen. Sie ging über den gepflasterten Hof zur Scheune, wo sich die Futterkammer in einem Anbau befand. Wie früher standen Tonnen mit Futter auf wandhohen Regalen. An der anderen Wand entdeckte sie die mit den Pferdenamen beschrifteten Eimer. Eine Liste in Johannas Schrift an der Tür führte die Pferde und ihre jeweiligen Rationen und Medikamentengaben auf. Dieses System kannte sie noch, doch sie wusste nicht, ob André ihr Pony schon versorgt hatte. Sie fand ihn im Hof, wo er drei Pferde angebunden hatte, die ihre Portionen malmten.

»Soll ich Hanna füttern?«

Er blickte auf und zuckte die Schultern.

»Meinetwegen, aber nicht die Medikamente vergessen.«

Sie bereitete Hannas Eimer mit etwas Mineralfutter vor und ging zum Paddock. Der kleine Frechdachs schnüffelte an ihrer Tasche. Sie brachte die Stute in den Hof und stellte sie neben die anderen Pferde. Als Hanna genussvoll den letzten Krümel verschlungen hatte und sie das Pferd zurückgebracht hatte, folgte sie dem Cowboy und verteilte mit ihm die übrigen Eimer. »Ich bin André«, er reichte ihr die Hand und sah friedlicher aus. Der Akzent erinnerte sie an eine Freundin aus Frankreich. Ob er auch Franzose war? Sie traute sich nicht, ihm persönliche Fragen über seine Herkunft zu stellen. Ob er im Haus lebte?

Als hätte er ihre Gedanken erraten, deutete er auf das alte Backhaus, einen verwunschenen Ziegelbau hinter dem Haupthaus. »Dort wohne ich mit meiner schwer kranken Mutter und meiner Verlobten Rosalia. Wir sind wegen des Seeklimas gekommen.«

Lara überlegte. Das Häuschen hatte damals leer gestanden, und sie hatte es nur als Ruine mit kaputten Fenstern in Erinnerung. »Da haben wir oft gespielt. Seit wann wohnt ihr hier?«

»Schon 14 Jahre, und wir hatten nicht die Absicht, wieder wegzuziehen. Johanna ist viel zu früh gestorben.« Seine Augen schimmerten feucht.

Lara bekam Gewissensbisse, doch sie beschwichtigte ihn. »Wir finden eine Lösung, wenn das verkauft wird, gibt es ja auf jeden Fall eine Abfindung«, versprach sie. Sie hatte keine Ahnung, ob sie etwas von Johanna erben würde. Das Ganze katapultierte sie nur zurück in die Vergangenheit. Es wäre wohl am besten, das Erbe auszuschlagen. Sie musste ihren Gedanken laut ausgesprochen haben, denn der Cowboy sah alarmiert aus.

Er runzelte die Stirn, deutete auf die Paddocks und das Backhaus. »Und was wird aus den Pferden? Wenn Ihre Stute Hanna zum Schlachter muss, ist Ihnen das vermutlich egal. Aber mir nicht! Und meine Mutter ist schwer krank, so ein Umzug wäre lebensgefährlich.«

Verdattert stand sie da. Sie hatte versöhnliche Worte gewählt, bei ihm jedoch das Gegenteil erreicht. Er hatte die Pferde am Strick genommen. »Den Rest schaffe ich alleine«, erklärte er schroff und bedachte sie mit einem finsteren Blick. Er brachte die Tiere zurück zu ihren Paddocks und ließ Lara stehen.

Wieder hatte er sie mit Vorwürfen bombardiert, dabei kannte er ihre Vorgeschichte überhaupt nicht. Sie würde sich die Testamentseröffnung beim Notar am nächsten Morgen anhören und dann so schnell wie möglich wieder in ihr altes Leben zurückkehren. Falls sie etwas erben sollte, konnte das der Notar regeln. Keine Sekunde nach dem Termin würde sie im Taxi zum Bahnhof sitzen. Morgen um diese Zeit würde sie schon längst wieder im Zug nach Berlin fahren. Zögernd lief Lara in Richtung des Hauses. Diese eine Nacht musste sie unter Johannas Dach schlafen, so schwer ihr das fiel.

Kapitel 2

Sie hatte damit gerechnet, dass sie kein Auge schließen würde. Aber die Nordseeluft hatte Lara geschafft, schon damals als Kind hatte sie immer geschlafen wie ein Stein. Früh am Morgen war sie voller Energie aufgewacht und hatte aus dem Fenster in die Dämmerung geschaut. Die ersten spärlichen Sonnenstrahlen erleuchteten den wattigen Morgennebel über dem satten Grün der Weiden. Sie hatte dem Drang nicht widerstehen können und war in den Stall gegangen. Sie lächelte bei der Erinnerung an früher. Sie war oft im Schlafanzug zu ihren Lieblingen gelaufen, wenn Johanna noch nicht aufgestanden war. Einige Pferde schliefen liegend, andere standen wachend neben ihnen. Von den Schritten schreckten sie auf, blickten aufmerksam in ihre Richtung. Hanna sprang auf und lief ihr entgegen, stupste sie auffordernd in die Seite. Das hatte sie damals auch immer getan. Lara überkam eine unbändige Lust, endlich wieder im Sattel zu sitzen. Der Cowboy würde ihr vermutlich Vorhaltungen machen, weil sie nach vielen Jahren einfach in den Stall ging und ihr Pferd nahm. Aber sie hatte nur diesen einen Tag nach all den Jahren. Im Gedenken an ihre Kinderzeit auf der Ranch würde sie es einfach tun, ohne irgendjemanden um Erlaubnis zu fragen, auch wenn das vollkommen unvernünftig war. In der Kammer in der Scheune fand sie den Sattel, in dem sie früher so viele glückliche Momente verbracht hatte. Sie bürstete ihr Pferd und legte die Ausrüstung an. Auf dem Reitplatz stieg sie auf und begann langsam im Schritt zu reiten. Ihr Körper folgte den wiegenden Bewegungen ihres Pferdes, die frühere Harmonie stellte sich nach einigen Runden ein, ein Glücksgefühl durchströmte sie. »Was meinst du, Süße, wollen wir?«, fragte Lara die Stute. Diese lief hurtig voran und gab ein munteres Schnauben von sich.

»Also ja?« Lara öffnete vom Pferd aus das Gatter und ritt durch das Außentor der Ranch. Gegenüber führte ein Feldweg auf einen alten Deich, dem sie folgte, während sich ein glutroter schmaler Streifen am Horizont abzeichnete. Kurz sah sie auf. Diese Weite! Wie hatte sie diese Landschaft vermisst. Takatak – bewegten sie sich im gemütlichen Schritttempo voran.

Über einen weiteren ungepflasterten Weg am Rande eines Maisfelds kam sie an den hohen vordersten Deich, den sie an einem Übergang überquerten, um ans Ufer der Nordsee zu kommen. Am Grasstrand sattelte sie ab und setzte sich neben Hanna, die gierig tiefgrüne Büschel Gras zupfte. Sie sah zu, wie sich die Haufenwolken über dem Meer rötlich färbten. Die Sonne erschien wie ein Ball, tänzelte mit ihren Strahlen auf der Meeresoberfläche, ließ ihr Rot immer weiter über den Himmel laufen, bis dieser in Flammen stand. Sie atmete die salzgetränkte Luft ein, um neue Kräfte zu sammeln. Dieser Tag würde ihr einiges abverlangen, die Erinnerungen übermannten sie. Jahrelang hatte sie versucht, mit der Vergangenheit abzuschließen.

»Auf geht’s«, forderte sie ihr Pony auf, stieg wieder in den Sattel und ritt gemütlich am alten Deich zurück zur Ranch. Bei Elses gelbem Haus bog sie in einen kleinen Stichweg ein. Im Garten blitzte etwas auf. Else war schon so früh am Morgen dabei, Näpfe für eine ganze Schar von Katzen zu verteilen.

»Du warst ja lange nicht hier, meine Schöne«, hörte sie. Offenbar meinte sie eine Katze. Else zuckte bei Laras »Guten Morgen« zusammen. Sie hatte sie offenbar nicht kommen gehört.

»Ihr beiden! Mit euch hätte ich so früh nicht gerechnet. Möchtest du einen Tee?« Lächelnd war die Nachbarin zu ihnen getreten und reckte Hanna ein paar Löwenzahnblätter über den Zaun.

»Ich muss leider nach Hause. Heute ist doch der Notartermin und ich muss noch das Taxi bestellen«, bedauerte Lara. Hatte sie »nach Hause« gesagt? Sie wunderte sich über sich selbst.

»Da bist du spät dran, unser Herr Meier ist über Wochen ausgebucht. Nimm doch den Käfer«, schlug die alte Dame vor.

Wenn sie den Wagen nahm, musste sie ihn auch zurückbringen, aber nichts sprach dagegen, einen Zug später nach Berlin zu nehmen. »Danke, sehr gerne.«

Hanna war schon weitergelaufen, und sie musste ihren Kopf nach hinten drehen, um zu antworten. Auf dem Heimweg wurde sie schon damals schneller. Sie ließ die Zügel lang und trabte bis zur Ranch. Noch immer war niemand zu sehen. Nachdem sie Hanna ihre Schüssel serviert und das Pony wieder auf die Weide gebracht hatte, ging sie zurück zum Haus. Einen Moment Ruhe brauchte sie, dann musste sie sich für den Termin beim Notar vorbereiten. Sie wählte einen dunklen Hosenanzug und eine helle Bluse, tuschte ihre Wimpern.

Sie ging zu ihrer Nachbarin und sah sich den Wagen in der Garage an. Als sie pustete, kam ihr eine ganze Staubwolke entgegen. Das Auto war schon seit Langem nicht mehr im Einsatz.

»Das geht immer, ist einfach unverwüstlich«, beruhigte Else. Sie versuchte einzusteigen, ohne den gesamten Schmutz mitzunehmen, und stellte dann ihren Sitz ein.

Zum Glück besaß die Rostlaube eine normale Gangschaltung, sie hatte aber den Eindruck, dass jedes Teil an dem Auto klapperte. Erleichtert atmete Lara auf, als sie am Ende der schmalen Straße hinter dem Deich in Richtung Cuxhaven abbog. Nach einer halben Stunde war sie an der Adresse und parkte.

Der Notar hatte seinen Sitz in einer Villa gegenüber dem Schloss Ritzebüttel. Sie wurde in einen Sitzungsraum mit deckenhohen Regalen voller Fachliteratur und einem länglichen Glastisch in der Mitte gebeten. Der Blick aus dem Fenster fiel direkt auf das Schloss, das auf einer Anhöhe gegenüber thronte. Ein korpulenter Herr mit dunklem Anzug und Fliege hielt ihr höflich die Tür auf. Von seinem rötlichen Gesicht perlte Schweiß, den er mit einem großen Taschentuch abwischte.

Überrascht sah sie, dass bereits jemand am Tisch saß. Fast hätte sie ihn ohne Cowboyhut mit seinen lockigen Haaren nicht erkannt. Der Reitlehrer André trug einen dunklen Anzug mit weißem Leinenhemd. Es stand ihm. Nur kurz sah er von seinem Magazin auf, als sie eintrat, und nickte fast unmerklich. Dann las er weiter.

Warum waren sie beide eingeladen? Das war Lara ein Rätsel. Der Notar nahm ächzend an der Stirnseite Platz und bat Lara, sich zu setzen. Er stellte sich als »Doktor Harry Rickmer« vor.

»Das ist das merkwürdigste Testament, das ich im Lauf des Berufslebens gesehen habe. Wenn Johanna nicht eine meiner besten Freundinnen gewesen wäre, hätte ich das zurückgewiesen. Auf fachlichen Rat hat sie gepfiffen.« Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln, er wischte seine Stirn erneut ab.

Die Vorzimmerdame erschien mit einem Tablett und bot ihnen Getränke an. Lara hatte das Gefühl, dass ihr Puls raste. Sie hatte um einen Früchtetee gebeten. Ihre Hand zitterte so, dass sie die Tasse lieber stehen ließ. All die Jahre hatte sie nichts von Johanna gehört. Und nun hatte ihre Großmutter sie im Testament erwähnt. Warum meldete sie sich posthum, als es zu spät war? Der Notar hatte die Mappe vor sich geöffnet. Dann sah er Lara und André nacheinander an. »Können wir anfangen, oder gibt es vorab irgendwelche Fragen?« Da beide den Kopf schüttelten, begann er zu lesen.

»Ich, Johanna Kolberg, vererbe die Nordseeranch inklusive aller Pferde und des Inventars sowie das Vermögen jeweils zur Hälfte meiner Enkelin Lara und meinem langjährigen Partner André Rivière.«

Er sah sie prüfend an, um sicherzustellen, dass sie seine Worte verstanden hatten. Dann senkte er wieder den Kopf und las weiter.

»Für die Übertragung der Ranch an meine Erben müssen diese folgende Bedingungen erfüllen: Beide Parteien führen den Reiterhof gemeinsam für ein Jahr erfolgreich. Alle Tiere bleiben auf dem Hof. Das Konzept des gewaltfreien Umgangs wird fortgeführt.«

»Wie bitte?«, fragte Lara perplex.

Doktor Rickmer nestelte das Stofftuch aus seiner Tasche und betupfte sich die Stirn. »Sie dürfen gerne am Ende Fragen stellen, wenn etwas unklar ist. Jetzt kommt eine wichtige Passage.« Lara schreckte hoch, was kam da noch? Ihre Gedanken fuhren Karussell, sie versuchte, das Gehörte zu verarbeiten.

Der Notar schwieg und drehte seinen Kugelschreiber in der Hand. »Kann ich weitermachen?« Sie signalisierte durch ein Nicken, dass sie bereit war, und er las weiter aus dem Testament vor. »Wenn das gelingt, geht mein Besitz zu gleichen Teilen an die zwei Erben über. Falls die beiden sich gegen diesen letzten Wunsch entscheiden oder es nicht schaffen, den Hof gemeinsam ein Jahr lang weiterzuführen, erhält die Tierglück-Stiftung Hof und Vermögen. Es besteht die Auflage, allen Pferden auf dem Hof einen angenehmen Ruhestand zu sichern. Meine Lieben, ich wünsche euch ein gutes Gelingen. Eure Johanna und Großmutter.«

Lara fragte sich, ob sie richtig gehört hatte oder ob sie gerade aus einem Traum aufgewacht war. Einem Albtraum, genauer gesagt. Was hatte Oma Johanna sich nur für einen Unfug ausgedacht! Das konnte nicht ihr Ernst sein! War sie am Ende nicht mehr bei Trost gewesen? Die andere Möglichkeit war, dass sie das alles bei klarem Verstand geplant hatte. Das schien Lara ebenso wenig zu gefallen. Warum wollte Johanna sie nach Jahren des Schweigens manipulieren und so in ihr Leben eingreifen?

André riss sie aus ihren Gedanken. »Nicht mit mir! Was soll der Blödsinn?« Er war aufgestanden und hätte beinahe den Stuhl umgerissen.

Lara stand ebenfalls auf: »Nein, vielen Dank. Das Spiel läuft ohne mich.«

Der Notar machte eine beschwichtigende Geste und entnahm der Mappe zwei Briefumschläge, er hielt ihr den einen und André den anderen hin. »Johanna hat diese Briefe hinterlassen. Ich bin mir sicher, sie wünschte nur das Beste für den Hof und Sie beide. Und bedenken Sie, es war ihr letzter Wille.«

Mit widerwilligem Gesichtsausdruck nahm André sein Schreiben entgegen. Der Notar hatte sich erhoben, während Lara wie unter Schock sitzen geblieben war. Er schob ihr den Umschlag über den Tisch.

»Sie haben eine Woche Zeit für Ihre Entscheidung«, wandte er sich nochmals an sie. Dann mussten sie erneut persönlich beim Notar erscheinen, um das Erbe anzunehmen oder auszuschlagen.

Lara schüttelte den Kopf. »Das ist völlig unmöglich, ich habe ein Leben in Berlin und kann nicht ein Jahr Bäuerin spielen. Dann bin ich raus.« Sie würde zumindest schnell eine neue Stelle finden, da war sie sicher. Aber das ging diesen Cowboy nichts an. Sie nickte kurz und wandte sich zur Tür. »Tut mir leid«, sagte sie in Richtung André.

»Das war ja klar«, entgegnete der Cowboy und schüttelte den Kopf.

»Spielen Sie nicht die gekränkte Eitelkeit. Sie haben zuerst abgesagt«, verabschiedete sie sich wütend. Sie verließ die Kanzlei und stieg in den klapprigen Käfer. Erstaunlicherweise sprang er auch dieses Mal ohne Probleme an, sie fuhr zurück und stellte den Wagen in die Garage.

Sie würde ihre Taschen packen, abreisen und keinen Gedanken mehr an Johanna und ihre Ranch verschwenden. Ihre Sachen hatte sie schnell eingesammelt. Ohne Abschied von Else wollte sie nicht nach Berlin zurückfahren. Auf dem Weg zu ihrem Haus schaute sie nicht nach rechts oder links. Möglichst bald alles hinter sich lassen. Lächelnd öffnete die alte Dame die Tür und bat Lara, ihr zu folgen. Das Haus sah anders aus, als sie es in Erinnerung hatte. Die Wohnung war lichtdurchflutet und sparsam möbliert. Sie gingen in einen verglasten Wintergarten, der einer blühenden Oase glich. Orangenbäume und Oleander umrahmten den gedeckten Tisch.

»Setz dich«, bat Else und hob zwei Kätzchen von ihrem Stuhl.

»Das sind meine Findelkinder. Ich habe sie in einem Karton am Straßenrand entdeckt. Sie hätten den Winter nicht überstanden.« Else kam aus der Küche mit einer Torte, die wieder Erinnerungen weckte.

»Rhabarber-Baiser-Torte? Die habe ich ewig nicht gegessen.«

»Die habe ich extra gebacken. Erzähl doch mal, wie der Termin gelaufen ist«, bat Else, nachdem sie ihr ein riesiges Stück auf den Teller gelegt und Tee eingeschenkt hatte.

Else nickte nach Laras Bericht.

»Ich habe erwartet, dass du so reagierst. Das war keine gute Idee von Johanna.«

Lara war nicht überrascht, dass Else in die Pläne eingeweiht war. Die beiden Frauen hatten ein enges Verhältnis gehabt, fast als wären sie Schwestern. Sie war erleichtert, dass Else sie nicht verurteilte.

»Und du fährst wieder?«, fragte sie nur. Lara nickte, obwohl sie gerne noch mehr Zeit mit Else verbracht hätte. Mit der Rückkehr an die Nordsee kamen all diese Fragen zurück, auf die sie keine Antwort hatte. Es quälte sie – und die Menschen, die ihr etwas darüber hätten sagen können, waren tot.

»Diese Torte ist ein Gedicht«, lobte sie. Else schob ihr ein weiteres Stück zu. Sie würde die nächsten Mahlzeiten auslassen.

»Hast du Uli wiedergesehen? Sie hat die Praxis von Doktor März übernommen.«

Lara machte große Augen. Das hätte sie von ihrer Kindheitsfreundin nicht erwartet.

»Sie ist Ärztin geworden?«

»Ja, eine hervorragende. Sie hat sich um Johanna gekümmert. Sie redet oft von dir, vielleicht kannst du ja auf dem Weg kurz vorbeischauen.«

Lara nickte, dann drückte sie die zerbrechliche alte Frau vorsichtig. Else war damals für sie wie ein Familienmitglied, das immer ein offenes Ohr hatte und manchmal vermittelnd auf ihre Großmutter einwirkte. Sie ging aus der Tür und schlug den Weg über den alten Deich ein, den sie am Morgen mit Hanna entlanggeritten war. Sie kannte die Praxis, mal hatte sie sich den Fuß verstaucht, einen Zeh von einem Pferdetritt gebrochen und einmal ihr Schlüsselbein verletzt. Sie staunte, dass Uli die Stelle des alten Landarztes eingenommen hatte.

Uli war damals ihre beste Freundin. Oft hatten sie auf dem Heuboden über dem Pferdestall gesessen und sich Geschichten erzählt. Tagsüber waren sie mit den Pferden unterwegs. Uli schwang sich, ohne mit der Wimper zu zucken, auf den wilden Hengst und lachte nur, wenn er sie abwarf. Für Lara war ihre Freundin immer eine zweite Pippi Langstrumpf. Wann immer sie die Bücher las, hatte sie die unerschrockene und schlagfertige Uli vor Augen. Nach einer Viertelstunde Fußmarsch war sie an dem rot geklinkerten Zweifamilienhaus direkt am vorderen Deich an der Nordsee angekommen.

»Doktor Ulrike Meyer. Internistin und Hausärztin«, stand auf einem Messingschild am Haus. Wie würde Uli reagieren, nach all den Jahren? Lara trat unschlüssig vor dem Eingang von einem Fuß auf den anderen. Es war Mittagspause. Sollte sie klingeln oder wieder gehen? Sie hatte sich für Letzteres entschieden, da flog die Tür auf, und Uli stand ihr sprachlos gegenüber. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

Uli sah genauso aus wie damals, nur dass ihre roten drahtigen Haare nicht zu Zöpfen geflochten waren. Ein eleganter Pagenschnitt umrahmte ihr Gesicht. Sommersprossen bedeckten ihre Nase genau wie damals. Was, wenn die Freundin sie nach so vielen Jahren nicht erkannte, sich gar nicht an diese Zeit erinnerte. Ein wenig bang musterte sie die junge Frau. Doch ihre Bedenken waren unbegründet.

»Lara, bist du es wirklich?« Uli erkannte sie, ohne zu zögern. Sie strahlte sie an und umarmte Lara stürmisch. »Ich habe dich so vermisst all die Jahre. Lebst du jetzt wieder hier?«

Lara schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich muss zurück nach Berlin. Aber komm mich doch besuchen.«

»Schade, aber lass uns zusammen mittagessen. Ich habe einen Mordshunger.« Lara lächelte, das hatte Uli früher schon immer gesagt. Sie gingen zur Hafenschänke im kleinen Kutterhafen vor dem Deich. Sie musterte sie von der Seite. »Journalistin in Berlin? Du musst mir alles erzählen!«

Die Kutterfischer waren von ihren Touren zurück und luden Kisten mit frischem Fisch und Krabben aus. Der Himmel hatte sich verdunkelt, bedrohlich peitschten hohe Wellen der aufgewühlten See ans Ufer, die Gicht spritzte fast bis zu ihnen. Schnell schlüpften sie in die Tür der Hafenschänke in dem kleinen roten Häuschen am Deich. Es roch nach Holz, im Kamin flackerte ein Feuer. Im Gastraum mit den Fischernetzen an den dunkel getäfelten Wänden schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Sogar die Seebären am Tresen sahen aus wie früher, vermutlich waren es mittlerweile ihre Söhne.

Lara berichtete über den Termin beim Notar, und Uli hörte aufmerksam zu. Die kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen wurde tiefer. »Bist du glücklich in Berlin?«

Sie musterte sie forschend mit ihren blassblauen Augen, und Lara hatte wieder das Gefühl, dass die Freundin ihr in die Seele schaute. »Ja, doch«, druckste sie zögerlich. Uli hatte eine Augenbraue nach oben gezogen. Zum Glück bohrte sie nicht weiter. Am Tresen war es laut geworden, hektisch räumte der Kellner die Stühle vor dem Haus weg. Der Wind trieb die Plastikkästen der Fischer über den Kai. Während des Essens berichtete Uli, wie es sie von Göttingen nach dem Studium zurück in die Heimat verschlagen hatte. Es war so ein vertrautes Gefühl, hier mit Uli zu sitzen. Nach 19 Jahren. Das hätte Lara nicht erwartet. Sie sprang auf, als sie einen Blick auf die Uhr am Tresen warf. »Meine Güte, ich muss doch zum Zug!«

»Das würde ich nicht tun«, warnte die Bedienung, als sich Lara und Uli zum Ausgang begaben. Die Tür wurde von einem Windstoß erfasst und schloss sich mit einem Knall, der den Raum erschütterte. Vor dem Fenster krachte eine schwere Werbewand direkt neben dem Restaurant zu Boden. Das war kein laues Lüftchen, sondern ein ausgewachsener Nordseesturm. Sie waren gefangen. Uli sagte per Telefon ihre Sprechstunde ab, vermutlich wären bei dem Unwetter ohnehin keine Patienten gekommen.

Dann setzten sie sich wieder und bestellten einen Grog. Nachdem Lara diesen hinuntergestürzt hatte, sah Uli sie mit ihrem Röntgenblick an. »Jetzt sagst du mir mal, wo der Schuh drückt.« Lara erzählte ihr von dem Zeitungsartikel über den Korruptionsskandal, der sie den Job gekostet hatte. Bis dahin war sie in ihrem Beruf anerkannt gewesen, hatte Preise gewonnen. »Eine Kollegin hatte mir den Informanten vermittelt, das war alles schon geklärt. Deshalb habe ich es nicht so gründlich geprüft wie üblich. Doch das Ganze war erfunden, ich bin benutzt worden.«

Der Senator, um den es ging, hatte den Verlag verklagt. Daraufhin hatte die Rechtsabteilung die Unterlagen geprüft, von dem angeblichen Interviewpartner gab es keine Spur mehr. Er meldete sich weder am Handy noch antwortete er auf Mails. Unter dem Namen und der Adresse, die er Lara gegeben hatte, war niemand gemeldet, auf den die Personenbeschreibung zutraf. Sie war einem Betrüger aufgesessen. Im Zuge der Aufdeckung hatte sie sich oft mit Lars, ihrem Verlobten, gestritten. Sie schrien sich dauernd an. Er hatte kein Verständnis für ihre Fehler gezeigt – und wurde zu ihrem härtesten Kritiker.

»Du musst wissen, dass er der Sohn des Verlegers ist und die Firma eines Tages übernimmt. Leider hat der ganze Vorgang mit der Klage die aktuelle Krise in der Zeitung verschärft«, fasste sie zusammen.

Ihre Kindheitsfreundin hatte beruhigend den Arm um sie gelegt. »Und was ist das für eine Kollegin, die dir das eingebrockt hat?«

»Das ist Stella, eine erfahrene Reporterin, die ich immer bewundert habe. Sie hat mir das Thema übergeben, da sie eine Auszeit nehmen wollte. Sie hat das nicht mit Absicht getan«, erklärte Lara. Andererseits hatte die Kollegin sie nicht verteidigt, ohne ihre Empfehlung hätte Lara anders gearbeitet. Nur die wenigsten Menschen hatten Rückgrat, wenn sie um den eigenen Arbeitsplatz bangen mussten.

»Noch mal dasselbe«, rief Uli in Richtung Tresen und hielt die Finger hoch. Draußen wütete der Orkan. Es war unmöglich, einen Fuß vor die Tür zu setzen. Sie sahen die Masten der Kutter schwanken, Gartenstühle und abgebrochene Äste wirbelten über den Platz vor dem Hafen.

»Warum nimmst du Johannas Testament nicht an und versuchst es?«, fragte Uli, nachdem sie das nächste Glas zu Hälfte geleert hatte. Lara tat es ihr gleich und schüttelte überzeugt den Kopf.

Sie hatten sich über die Jahre auseinandergelebt, das war nicht anders zu erwarten. Sie wünschte sich, die Freundin könne sie ohne Worte verstehen so wie früher.

»Nie im Leben. Erst verstößt sie mich und dann veranstaltet sie posthum Spielchen mit mir. Ich bin weg, so schnell es geht.« Lara hatte beschlossen, sich in Berlin eine neue Stelle zu suchen. Ihr war ein Fehler unterlaufen, doch sie hatte jede Menge Auszeichnungen aufzuweisen. Sie wollte nicht alles aufgeben, was sie sich in harter Arbeit aufgebaut hatte.

»Da schätzt du deine Oma falsch ein«, meldete sich Uli zu Wort. »Sie hat immerzu von dir geredet, aber sie hat dich in Ruhe gelassen, um keinen Loyalitätskonflikt auszulösen.«

Lara zuckte mit den Schultern. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie tagtäglich darauf gehofft, Johanna endlich wiederzusehen. Die alten Geschichten lagen hinter ihr. Sie würde einen späteren Zug nehmen und suchte die Fahrzeiten in der App auf ihrem Handy. Kein einziger Zug wurde angezeigt. Wegen des Sturms war der gesamte Verkehr eingestellt worden. Erst am Morgen war wieder mit einer Verbindung über Hamburg nach Berlin zu rechnen. Sie seufzte. Sie musste eine weitere Nacht in Johannas Haus verbringen, falls sie die Kneipe an diesem Abend verlassen konnten. Endlich nahm der Wind ab, sie verließen das Lokal. Schnell verabschiedete sich Lara von der alten Freundin.

Kapitel 3

Vor dem Zugfenster sah sie die Elbmündung, wo ein haushohes Frachtschiff in Richtung Meer steuerte. Dann passierten sie die Dicke Bertha, ihren Lieblingsleuchtturm. Früher hatte sie an dieser Stelle immer tränenreich Abschied vom Meer genommen. Wieder hatte sie einen Kloß im Hals. Überrascht war André am Morgen zurückgeprallt, als er sie am Küchentisch gesehen hatte. Sie hatte Tee getrunken und zum letzten Mal einen der unvergleichlichen Butterkekse genascht, der wie von allein im Mund zerbröselte und dennoch nicht trocken schmeckte. Er stand vor dem Tisch und sah sie mit großen Augen an.

»’tschuldigung, alte Gewohnheit. Ich habe mich morgens immer mit Johanna besprochen. Ich dachte, Sie sind weg.« Sie zeigte auf ihre fertig gepackte Tasche und bot ihm einen Tee an: »Ich beiße nicht. In zehn Minuten sind Sie mich los.«

Er lehnte den Tee ab, seine Augen hatten einen harten Glanz, sein Mund bildete eine schmale Linie. »Das hätte ich mir denken können von jemandem, der seine Großmutter kein einziges Mal besucht und nur an die eigene Karriere denkt.« Dann wandte er sich zur Tür.

»Eine Großmutter, die einen völlig vergessen hat? Die einem nicht einmal zum Geburtstag eine Karte schickt! Sie haben doch keine Ahnung!«, schleuderte sie ihm hinterher. Lara spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg, leider wurde sie immer krebsrot, wenn sie wütend war. Vor diesem Typen war ihr das fürchterlich peinlich. Sie knallte ihre Teetasse auf den Tisch und sprang auf. Sie würde ihrer Hanna noch einmal die Mähne kraulen und dann ein Taxi rufen. Er war hinter der Tür stehen geblieben und deutete über das Anwesen. »Und was wird aus den Tieren? Ich habe eine schwer kranke Mutter, die ihr Zuhause verliert, wenn ich vom Hof gejagt werde. Wir könnten doch alles ein Jahr lang durchziehen. Sie lassen mich machen und kümmern sich um nichts. Dann nehme ich einen Kredit auf und zahle Sie aus?«

Das war unverfroren. Soeben hatte er sie mit ungerechten Vorwürfen traktiert, nun wollte er ihre Zustimmung für ein krummes Geschäft. »So hat sich das Johanna bestimmt nicht vorgestellt«, wandte sie ein.

»Komisch, dass Sie Johannas Wille auf einmal interessiert!«

Sie schulterte ihre Tasche und rief über ihre Schulter.