Der Knabe im Moor - Günther Neidinger - E-Book

Der Knabe im Moor E-Book

Günther Neidinger

4,8

  • Herausgeber: Silberburg
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Die idyllischen Höhen des Nordschwarzwalds sind Kommissar Doningers Revier. Er ist ein Genuss- und Gemütsmensch, dabei aber ausgestattet mit der nötigen Portion Hartnäckigkeit, um Verbrecher aufzuspüren, die sein Idyll bedrohen. Ein Unfall, der zum Mordfall wird, und ein Mordfall, der fast als Unfall ad acta gelegt worden wäre, geben der Kriminalpolizei in Baden-Baden Rätsel auf. Wie hängt das alles zusammen: rumänische Kinderbanden, die aus dem nahe gelegenen Elsass heraus agieren, und ihre zwielichtigen Hintermänner, ein Jäger, der nicht nur hinter Wild, sondern ebenso eifrig hinter den Ehefrauen seiner Jagdkollegen her ist, ein toter Junge im Moor und ein Liebesnest im Wald?

Robert Doninger und seine hübsche junge Kollegin Simone Mertens folgen beharrlich jeder noch so kleinen Spur, um Licht ins Dunkel zu bringen. Doch immer wieder landen sie in einer Sackgasse. Zum Glück sorgen die wunderschöne Landschaft und die liebevoll zubereiteten Vesperbrote von Doningers Ehefrau Gabi dafür, dass der Kommissar seine gute Laune immer schnell wiederfindet. Doch wo verbirgt sich der letzte Mosaikstein, um das Rätsel um den Knaben im Moor zu lösen?

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Günter Neidinger Der Knabe im Moor

Günter Neidinger

Der Knabe im Moor

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Günter Neidinger, Jahrgang 1943, wuchs mit fünf Geschwistern im badischen Bühl auf, studierte dann an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe und wirkte lange Jahre als Lehrer und Rektor. Seit 30 Jahren ist er als erfolgreicher Autor tätig. Über 400 Bücher mit einer Gesamtauflage von über vier Millionen Exemplaren wurden in dieser Zeit veröffentlicht und teilweise in andere Sprachen übersetzt.

1. Auflage 2016

© 2016 by Silberburg-Verlag GmbH, Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © Schmitz Olaf – iStockphoto. Lektorat: Gertrud Menczel, Böblingen.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1742-4 E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1743-1 Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1480-5

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Weitere Bücher und E-Books aus dem Silberburg-Verlag

1

»Die ideale Gegend, um eine Leiche verschwinden zu lassen«, sagte Sonja Muri zu ihrem Mann, als sie über den schmalen Weg des Hochplateaus wanderten.

Rechts und links lag die Feuchtheide des Hochkopfs mit dem tückischen Moorboden, typisch für die Grinden-Hochmoore des Nordschwarzwaldes.

»Achtung Lebensgefahr!«, war auf den Schildern zu lesen, die Frau Muris Fantasie angeregt hatten.

»Mal den Teufel nicht an die Wand!«, meinte Armin Muri. »Sonst siehst du bald noch eine Hand oder ein Bein aus dem Boden ragen.«

Der Aufstieg von Hundseck über den Westweg hatte sich gelohnt. Die Landschaft hier oben war einmalig schön: Verwitterte Hölzer, sturmgebeugte Latschenkiefern und verkümmerte Birken zwischen Binsen, Gräsern und Moosen, Heidekraut und Beerensträuchern. Und darüber ein paar weiße Wölkchen am blauen Himmel.

»Jetzt stell dir doch mal diese Gegend im dichten Nebel vor!«, gab seine Frau zurück. »Dann sieht die Szene gespenstisch aus, richtig passend für einen Krimi!«

»Lass uns weitergehen!«, entgegnete ihr Mann mit einem etwas gequälten Lachen. »Für Gruselgeschichten bin ich heute nicht zu haben.«

Sie wanderten weiter und erreichten bald den Gipfel. Eine Bank lud zur Rast ein. »1038 m über dem Meeresspiegel« stand auf einer Tafel. Der Blick des Paares schweifte hinüber zu den Türmen und Windrädern der Hornisgrinde, dem höchsten Berg des nördlichen Schwarzwaldes. Weithin sichtbar der Sendeturm des SWR mit der rot-weißen Antenne auf dem Betonsockel. Und im Westen bot sich im gleißenden Sonnenlicht das Panorama der Rheinebene mit Sicht auf das Straßburger Münster und die Vogesen im benachbarten Elsass.

»Der ideale Platz für eine Pause!«, rief Armin Muri und holte das Vesper aus dem Rucksack.

Auf dem steinigen Pfad von Unterstmatt her näherte sich ein kläffendes Etwas. Dahinter erschien ein älteres Paar, das sich schnaufend den Weg hochquälte.

»Den Hund sollten Sie besser an die Leine nehmen«, konnte sich Herr Muri nicht verkneifen zu sagen, als sie sich ächzend auf die Nachbarbank setzten.

Doch niemand schien Notiz davon zu nehmen.

»Die verstehen wohl kein Deutsch«, sagte er ärgerlich zu seiner Frau. »Denkst du, ich soll’s mal mit Französisch versuchen?«

»Mach keinen Ärger!«, beschwichtigte ihn Frau Muri. »Die sind eh schon fix und fertig, das siehst du doch!«

Irgendwie schien den Neuankömmlingen die Gesellschaft nicht zu passen, vielleicht drängelte auch der Hund. Jedenfalls standen sie auf und gingen weiter, begleitet vom Gebell des Vierbeiners.

»Bei denen gibt der Hund das Kommando«, konstatierte Armin Muri grinsend und biss herzhaft in sein Vesperbrot.

Noch eine ganze Weile war das Hundegebell zu vernehmen und dazwischen immer wieder das aufgeregte Rufen seines Frauchens: »Hierher, Schätzchen! Komm zu Frauchen, mein Liebling!«Das zeitigte allerdings anscheinend keinen Erfolg.

Wenige Minuten später mischte sich ein fürchterlicher Schrei in das Gekläffe.

»Da muss was passiert sein!«, sagte Sonja Muri besorgt. »Das kam aus der Richtung, wohin die mit dem Hund verschwunden sind.«

»Ach was, die Alte ist nur hysterisch«, versuchte ihr Mann abzuwiegeln und biss in einen Apfel.

Plötzlich kam der ältere Herr herangekeucht und japste von Weitem: »Kommen Sie schnell … im Moor … es ist furchtbar!«

»Oha! Der kann ja sprechen!«, grummelte Armin Muri vor sich hin und stand auf.

»Die alte Dame wird doch nicht ins Moor gelaufen sein?«, fragte seine Frau erschrocken.

Sie ließen alles stehen und liegen und rannten los. Rasch erreichten sie den Ort des Geschehens.

Zum Glück war der älteren Dame nichts passiert. Sie kauerte am Boden und presste ihren Hund an sich.

»Dort … dort drüben … hinter der Baumwurzel … etwas Schreckliches …«, stammelte sie und zeigte aufs Moor hinaus.

Nur mühsam war den Herrschaften zu entlocken, was sie so erschreckt hatte. Der Hund war ins Moor gelaufen und war durch kein Zurufen zum Kommen zu bewegen. Da hatte die Frau sich entschlossen, ihn zu holen. Die Feuchtheide neben dem Pfad war zum Glück nicht tief, das gefährliche Moor begann erst ein Stück weiter hinten. Trotzdem war das Betreten nicht ungefährlich, wenn man die Gegend nicht genau kannte.

Und dann sah sie, was ihr Hund entdeckt hatte. Aus dem Moorboden ragte etwas Gespenstisches heraus. Es sah aus wie eine menschliche Hand. Die Frau schrie und stolperte auf den Weg zurück. Ihr Schrei musste den Hund so verblüfft haben, dass er wie der Blitz zu ihr gerannt kam.

Jetzt, wo Hilfe da war, schien sich die ältere Dame langsam zu beruhigen, zumal sich Frau Muri um sie kümmerte.

»Man muss die Polizei verständigen«, schlug der ältere Herr vor.

»Soll ich nicht sicherheitshalber noch einmal nachsehen, ob es tatsächlich eine Hand ist? Vielleicht ist es auch nur ein Wurzelstück, das so aussieht«, versuchte Armin Muri darauf einzuwenden.

»Hören Sie«, fuhr ihn die Dame an, »ich bin vielleicht etwas älter als Sie, aber nicht senil! Ich weiß noch, was ich sehe!«

»War ja nur ein Vorschlag zur Güte«, beschwichtigte Herr Muri, zog sein Handy aus der Hosentasche und wählte die Notrufnummer.

2

»Ach Gott, diese neue Rechtschreibung«, seufzte Melanie Ams und unterbrach kurz ihr Getippe. »Schreibt man Stofffetzen jetzt mit zwei oder drei Eff?«

Hilfesuchend blickte sie zu Hauptkommissar Doninger hinüber, der sich über seinen Schreibtisch gebeugt hatte und etwas zu suchen schien.

»Zwei zu Stoff und eines zu Fetzen«, brummte er beiläufig und entdeckte endlich die Lupe, die er gesucht hatte.

»Nicht verzagen, Doninger fragen!«, kommentierte Melanie Ams und tippte fröhlich weiter.

»Ja, ich und der Herr Direktor wissen alles, sagte schon unser Hausmeister im Gymnasium«, meinte Robert Doninger und grinste vor sich hin. »Ich glaube, Berger hieß der.«

Dann vertiefte er sich wieder in seine Arbeit. Vor Jahren hätte er noch nicht nach der Lupe gegriffen, doch seine Augen hatten etwas nachgelassen.

»Was suchen Sie?« Damit machte sich Melanie Ams wieder bemerkbar.

»Den Feierabend«, sagte Doninger nur kurz, denn er hatte zu tun.

Die Büroangestellte kannte ihren Chef. Wenn so eine Bemerkung kam, wusste sie, er wollte nicht mehr gestört werden, zumal er jetzt auch noch vor sich hin summte. Ein gutes Mittel, um sich zu konzentrieren, hatte er ihr einmal erklärt. Nicht jeder konnte damit etwas anfangen. Manch einer grinste sich eins und dachte vielleicht insgeheim, der Alte würde langsam senil. Aber das täuschte gewaltig. Die grauen Zellen arbeiteten dabei umso genauer und lieferten am Ende oft die Lösung schwierigster Fälle.

Das Summen hatte ihm auch den Spitznamen »Die Drohne« eingebracht. Doninger amüsierte das. Klingt doch nicht schlecht, eher ehrfurchtsvoll, hatte er sich gedacht. Und Drohne hörte sich schließlich auch nicht ganz ungefährlich an. Den meisten war ja nicht bekannt, dass im Bienenvolk die Drohnen keinen Stachel haben und wehrlos sind. Aber war »Drohne« im Militärbereich nicht die Bezeichnung für ein schlagkräftiges Aufklärungsflugzeug? Das passte doch gut zu einem Chefermittler, wie er einer war.

Es klopfte. Kriminalrat Schaumann streckte den Kopf herein, nickte kurz Melanie Ams freundlich zu und sagte dann zu Doninger: »Kommen Sie mal kurz rüber? Die Neue ist da!«

Das hatte der Kommissar fast vergessen. Heute sollte ja die Neue kommen, die Nachfolgerin für seinen Assistenten Kaminski, der letzten Monat aus familiären Gründen nach Köln gewechselt war. Doninger hatte ihn ungern ziehen lassen, mit Kaminski hatte er gut zusammengearbeitet. Und das Sprichwort sagt, es kommt selten was Besseres nach. Die Neue kam im Austausch ebenfalls von einem Kölner Dezernat und galt als tüchtig, aber etwas zickig. Jedenfalls eilte ihr dieser Ruf voraus.

»Na, schauen wir mal, was uns da erwartet!«, brummte der Kommissar und erhob sich.

Und da stand sie.

»Darf ich Ihnen Herrn Hauptkommissar Doninger vorstellen?«, fragte Schaumann galant. »Mit ihm werden Sie ab heute zusammenarbeiten.«

Er durfte.

»Und das ist Ihre neue Mitarbeiterin, Frau Kommissarin Mertens.« Er wandte sich an Doninger.

Der Kommissar war angenehm überrascht. Eine Zicke hatte er sich anders vorgestellt. Vor ihm stand eine recht attraktive junge Dame, die ihn offen anblickte und einen sehr sympathischen Eindruck machte. Er reichte ihr die Hand.

»Willkommen in Baden-Baden!«, sagte er freundlich. »Ich hoffe, wir vertragen uns.«

»Das hoffe ich auch«, gab die Neue zurück und lächelte ihn an.

Damit war die Begrüßungszeremonie auch schon beendet, denn vom Polizeirevier Bühl war eben ein Anruf eingegangen. Im Moor auf dem Hochkopf zwischen Hundseck und Unterstmatt war eine Leiche gemeldet worden.

»Sehen Sie mal nach, was da los ist, Doninger«, ordnete der Kriminalrat an. »Sie kennen sich in der Gegend aus!«

»Wenn das kein guter Einstand ist!«, sagte Doninger zu seiner neuen Kollegin. »Darf ich Sie zu einer Fahrt in den Schwarzwald einladen?«

»Sie dürfen«, nickte die Kommissarin.

Doninger kannte den Hochkopf. Schon oft war er an freien Tagen mit seiner Frau über den Westweg von Hundseck oder Unterstmatt her zum Gipfel gewandert und hatte die wunderbare Aussicht ins Rheintal genossen. Er wusste auch, dass der Moorboden dort nicht ungefährlich war.

Deshalb rief er noch schnell das Forstamt an und bat, den zuständigen Revierförster an den Fundort zu schicken.

»Er wird uns in Hundseck erwarten«, sagte er zu seiner Kollegin, als sie losfuhren.

3

Der Wagen bahnte sich auch ohne Blaulicht und Martinshorn zügig seinen Weg durch den Straßenverkehr der Bäderstadt in Richtung Schwarzwaldhochstraße. Doninger spielte nebenbei den Fremdenführer. Nach Lichtental und Geroldsau ging es die Windungen hinauf zur Bühlerhöhe, dann am ehemaligen Kurhaus Sand vorbei nach Hundseck.

»Das müssen Sie sich alles mal in Ruhe anschauen«, empfahl er der Kommissarin. »Hier gibt es Park- und Wandermöglichkeiten in Hülle und Fülle, dazu herrliche Aussichtspunkte. Es lohnt sich, glauben Sie mir!«

Aber heute war keine Zeit dazu. In Hundseck wartete bereits Revierförster Anton Huber auf sie. Nach kurzer Begrüßung stiegen sie in seinen Geländewagen. Der war für die Waldwege besser geeignet. Vom Mannheimer Weg in Richtung Unterstmatt führte ein Weg hinauf zum Hochkopf.

Beim Aussteigen wagte die Kommissarin einen kurzen Blick ins Tal.

»Das da drüben sind die Vogesen und dort links hinten kann man das Straßburger Münster sehen«, erklärte Doninger.

Dann stapften sie hinter dem Revierförster her in Richtung Moor. Die Kollegen vom Bühler Polizeirevier hatten die Gegend bereits abgesperrt.

»Dort hinten haben wir etwas gefunden, was tatsächlich zu einer Leiche gehören könnte«, sagte der zuständige Kollege. Er zeigte in Richtung einer Baumwurzel.

Revierförster Huber ging voraus. »Hier ist es noch relativ ungefährlich«, erklärte er. »Da hinten aber ist Vorsicht geboten.«

Als sie am beschriebenen Ort angelangt waren, war sich Doninger schnell sicher, dass da wirklich eine Leiche im Moor lag. Es war eine Hand, die aus dem Boden hervorschaute, daran gab es keinen Zweifel.

»Wir rühren nichts an. Moorleichen sind heikel. Da muss die Spurensicherung her«, sagte er.

»Und ein Fachmann dazu. Im sauren Moorboden zersetzen sich Leichen anders als sonst«, ergänzte Simone Mertens.

Doninger blickte die neue Kollegin erstaunt an. »Respekt!«, sagte er anerkennend.

»Habt ihr denn in Köln auch Hochmoore?«, wollte er wissen.

»Nein, das nicht direkt.« Die Kommissarin musste lachen. »Aber auch bei uns lernt man in der Schule was.«

»Wollen Sie die Leute sehen, die den Fund gemeldet haben?«, fragte der Kollege vom Revier. »Sie sitzen da vorn auf der Bank.«

»Prima!«, antwortete Doninger und sah die Kommissarin an. »Können Sie das übernehmen?«

»Klar«, sagte sie nur und ging mit dem Polizisten hinüber zu den Wanderern.

Doninger rief über sein Handy die zuständigen Stellen an. Der Fundort musste genau untersucht und die Leiche geborgen werden. Vom Bericht der damit beschäftigten Kollegen und dem Ergebnis einer Obduktion erhoffte er sich Näheres über die Todesursache, das Geschlecht und das Alter der Leiche, um dann über weitere Schritte entscheiden zu können. Im Augenblick konnte er hier nichts mehr tun. Auch wenn er gern sofort mit weiteren Untersuchungen begonnen hätte, sagte ihm die Erfahrung, dass er nun erst einmal Geduld brauchen würde.

Denn auch die Aussagen der beiden Ehepaare, die auf den grausigen Fund gestoßen waren, hatten nichts Verwertbares gebracht. Das war auch nicht anders zu erwarten gewesen. Zum Glück hatten sie nichts angerührt und die Polizei gleich verständigt.

Schneller als gedacht trafen die Kollegen von der Spurensicherung ein. Sie machten sich gleich ans Werk. Auch Dr. Seifert von der Rechtsmedizin war dabei. Doninger wartete noch so lange ab, bis der Arzt seine ersten Untersuchungen abgeschlossen hatte.

»Wie sieht’s aus?«, fragte er ihn nach geraumer Zeit. »Kann man schon etwas sagen?«

»So viel steht fest«, meinte Seifert, »eine antike Moorleiche für die Wissenschaftler ist das nicht, eher etwas für euch. Sie dürfte ihrem Zustand nach noch nicht allzu lange hier gelegen haben. Könnte der Größe nach fast noch ein Kind sein.«

»Der Knabe im Moor«, murmelte Doninger und dachte an ein Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff, das er in der Schule lernen musste.

»Könnte sein«, stimmte der Rechtsmediziner zu und grinste dabei. Bestimmt würde Doninger auf der Heimfahrt seine Kollegin mit den Versen beglücken. Er kannte den Kommissar.

Und so kam es auch. Kaum waren sie in Hundseck losgefahren, begann Doninger auch schon versonnen, die gruselige Ballade aufzusagen:

»O schaurig ist’s übers Moor zu gehn, wenn es wimmelt vom Heiderauche, sich wie Phantome die Dünste drehn und die Ranke häkelt am Strauche, unter jedem Tritte ein Quellchen springt, wenn aus der Spalte es zischt und singt, o, schaurig ist’s übers Moor zu gehn, wenn das Röhricht knistert im Hauche!«

»Da kommen noch fünf Strophen, aber die kann ich nicht mehr auswendig«, meinte der Kommissar. »Nur an den Schluss erinnere ich mich noch.« Und er fuhr fort:

»Ja, im Geröhre war’s fürchterlich, o schaurig war’s in der Heide!«

Stolz schaute er zu Frau Mertens hinüber.

»Die Ballade heißt ›Der Knabe im Moor‹ und ist von Annette von Droste-Hülshoff, schon mal gehört?«, fragte er, als ob eine Schülerin neben ihm säße.

»Im Gymnasium haben wir ihre Novelle ›Die Judenbuche‹ gelesen. Die Droste stammte aus Westfalen, 1797 auf der Burg Hülshoff bei Münster geboren.« Die Kommissarin ließ sich auf die Rolle ein.

»Und 1848 auf der Burg Meersburg in Meersburg am Bodensee gestorben, wahrscheinlich an Lungenentzündung«, ergänzte der Kommissar. »Ich sehe, wir verstehen uns.«

»An Lungenentzündung? Ist ja auch kein Wunder, wenn man bedenkt, wie kalt es im Gemäuer der Burgen damals war«, meinte die Kommissarin und fröstelte bei dem Gedanken.

»Wie heißen Sie übrigens mit Vornamen?«, fragte Doninger unvermittelt.

»Simone«, kam die Antwort.

»Ich heiße Robert«, fügte Doninger an.

»Soll das heißen, dass wir uns ab jetzt duzen?«, fragte die Kommissarin nach einer Weile.

»Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber ich bin dienstlich immer beim ›Sie‹ geblieben, ich finde, man geht respektvoller miteinander um«, antwortete der Kommissar. »Und dabei soll es bleiben!«

»Klar, Chef«, meinte Simone Mertens, »ist mir auch lieber so!«

Inzwischen hatten sie Baden-Baden erreicht. Für heute war Dienstschluss. Morgen würde einiges an Arbeit auf sie warten.

»Haben Sie eigentlich Kinder?«, fragte Simone Mertens unvermittelt. Es ging ihr nahe, dass es sich bei dem Leichenfund um ein Kind handeln konnte.

Auch Kommissar Doninger blieb davon nicht unberührt. »Meine Kinder sind erwachsen«, gab er zur Antwort. Und nachdenklich fügte er noch an: »Niemand möchte sein Kind zu Grabe tragen müssen.«

Simone Mertens ließ sich vor einer kleinen Pension absetzen, die ihr vorläufig als Unterkunft diente. In den nächsten Tagen wollte sie sich eine passende Wohnung suchen. Robert Doninger fuhr gemächlich über das Rebland in seinen Wohnort im Laufbachtal.

»’s ist Feierabend, ’s ist Feierabend, das Tagwerk ist vollbracht …«, summte er vor sich hin und versuchte auf diese Weise, die Gedanken an das tote Kind im Moor zu vertreiben. Er dachte an seine Enkelkinder, die zum Glück noch zu klein waren, um allein auf den Höhen des Schwarzwaldes unterwegs zu sein.

4

Das Haus, das Robert Doninger ansteuerte, lag oberhalb des Dorfes an einem Berghang. Für Fremde war es nicht leicht zu finden. Der schmale Teerweg führte immer wieder ein Stück durch den Wald und mündete schließlich in einen unbefestigten Waldweg. Spätestens an dieser Stelle dachte jeder Besucher, sich irgendwo verfahren zu haben. Doch wer sich weiter wagte, gelangte plötzlich aus dem Kastanienwald auf eine Lichtung, auf der malerisch ein schmuckes Häuschen stand mit einem herrlichen Blick ins Rheintal und die Vogesen im Hintergrund.

Hierher waren die Doningers gezogen, als die vier Kinder aus dem Haus waren und ihre eigenen Familien gegründet hatten. Jedesmal, wenn der Kommissar nach Hause kam, seine Freizeithose anzog, sich mit einem kühlen Bier auf die Terrasse setzte und in freier Natur den Blick in die Weite schweifen ließ, fühlte er sich wie im Urlaub. Kein Gedanke an die Kriminalfälle, die ihn tagsüber beschäftigten! Das war nicht immer so, aber inzwischen hatte er gelernt abzuschalten – meistens jedenfalls.

»Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps!«, lautete ein landläufiges Sprichwort. Und da war was dran. Seit er sich daran hielt, bekam er auch den Kopf wieder frei für neue Ideen und Lösungsansätze, wenn ein Fall mal völlig verworren schien.

Nicht jeder Besucher teilte Doningers Meinung. Manchem war es hier zu einsam. Im Süden und Osten Kastanienwald, im Norden Kirschbäume und nur im Westen die herrliche Aussicht und der Blick auf die nächsten Häuser unten im Ort.

»Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen«, war noch der gelindere Ausdruck, mit dem die Wohnlage beschrieben wurde.

»Am Arsch der Welt«, bekamen die Doningers auch zu hören.

Aber das kümmerte den Kommissar wenig. Seine Frau und er fühlten sich hier wohl. Sie hatten tagtäglich das, wofür andere in den Urlaub fahren und teures Geld hinlegen mussten: Natur pur und trotzdem keine Langeweile!

»Na, wie sieht sie aus, deine Neue?«, fragte Gabi Doninger beiläufig, als sie mit dem Vesper auf der Terrasse erschien.

Robert Doninger kannte seine Frau. Was da so beiläufig klang, war in Wirklichkeit eine Frage, die eine gewisse Neugier kaum verdecken konnte.

»Ganz passabel«, antwortete er gespielt uninteressiert.

Doch Gabi Doninger spürte, dass sich hinter dem »ganz passabel« eine anerkennende Zufriedenheit auf dem Gesicht ihres Gatten ausbreitete.

»Kannst sie ja mal mitbringen«, schlug sie vor.

»Nur mal langsam mit den jungen Pferden«, meinte er. »Man muss ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen!«

Und er widmete sich dem Vesper, das einladend vor ihm stand: Ein erfrischender Salat aus Fleischwurst, Tomaten, Gurken und Radieschen, dazu selbstgebackenes Brot und ein kühles Bier!

»Du bist einfach ein Schatz!«, sagte er und lächelte seine Frau an.

Die Doningers genossen den schönen Sommerabend. Wie oft war er schon sehr spät nach Hause gekommen, wenn er an einem Fall dran war oder manchmal noch weg musste, wenn ein dringender Anruf kam. Sie hatten gelernt, die gemeinsame Zeit zu genießen. So vermieden sie es auch, über die aktuellen Ermittlungen zu sprechen. Wenn Robert ihre Meinung dazu erfahren wollte, fing er schon von selbst davon an. Das hatte sich inzwischen so eingespielt.

Doch über die Neue hätte Gabi Doninger schon gerne ein wenig mehr erfahren.

»Ist sie noch jung?«, fragte sie deshalb unverblümt.

»Ich glaub schon!«, kam die Antwort.

Nicht dass Gabi Doninger eifersüchtig gewesen wäre, aber neugierig auf die Neue war sie doch. Immerhin war sie die Partnerin ihres Mannes, wenn auch nur dienstlich. Aber man wusste ja nie, was in den jungen Dingern heutzutage vorging, kam ihr so in den Sinn. Der Kommissar ahnte ihre Gedankengänge.

»Ich bringe sie mal mit, sie ist in Ordnung!«, sagte er zu ihrer Beruhigung.

»Und, wer hat dich heute überfallen?«, wollte er nach einer Pause wissen.

»Stell dir vor, heute ist tatsächlich mal jemand vorbeigekommen. Genauer gesagt, es waren sogar vier«, lautete die Antwort.

Das passierte nicht oft, denn ein offizieller Weg ging am Haus nicht vorbei. Doch heute hatten sich vier Wanderer verirrt, die auf dem Ortenauer Weinpfad unterwegs waren und die Richtung verloren hatten. Es stellte sich heraus, dass sie aus Kanada waren und nach Obersasbach wollten, wo ihre Tagesetappe heute enden sollte. Sie sprachen nur Englisch und Gabi musste ihre ganzen Sprachkenntnisse aus einem Volkshochschulkurs für Anfänger zusammenkratzen, um dem Mann und den drei Frauen zu erklären, welchen Weg sie einschlagen mussten. Sie hatte ihnen auch angeboten, sie mit dem Auto das letzte Stück zu kutschieren, zumal die Sonne vom Himmel brannte und eine der Frauen ziemlich erschöpft schien. Das ließ ihr Stolz aber nicht zu, denn sie hatten sich vorgenommen, die Tagesetappen auf dem Weinpfad zu Fuß zurückzulegen.

Frau Doninger hatte sie aber vorsorglich noch mit kühlen Getränken bewirtet, ehe sich die Wanderer wieder auf den Weg machten.

»Ein Foto haben sie auch noch gemacht, bevor sie aufgebrochen sind.« Gabi Doninger musste schmunzeln.

»Vielleicht kommst du in Kanada in die Zeitung als barmherzige Samariterin«, meinte ihr Mann. »Jedenfalls hast du dafür gesorgt, dass sie eine gute Erinnerung an Deutschland haben.«

Es war nicht das erste Mal, dass sich Leute hierherverirrt hatten. Einmal war eine Wandergruppe des Schwarzwaldvereins vor der Tür gestanden und hatte nach dem Weg nach Sasbach gefragt. Ein andermal wollte eine Gruppe zu den Riederhöfen und wusste nicht mehr weiter. Oder ein Motorrad- oder Autofahrer stand ohne Orientierung plötzlich im Hof – selbst mit Navi konnte das vorkommen. Da half dann nur umkehren, in diesen Fällen gab es keine Alternative. Doch seit oben auf Doningers Betreiben das Schild »Sackgasse« angebracht worden war, kam das nur noch selten vor.

Aber Wanderer klopften weiterhin an, was auch positive Seiten hatte. Denn so kam ein wenig Abwechslung in die Einsamkeit, nicht nur, wenn Besuch da war. Doch an diesem Abend genossen die Doningers die Ruhe rund ums Haus und den Blick auf die untergehende Sonne, ein feuerroter Ball, der langsam hinter den Vogesen verschwand.

»Abendrot – trocken Brot«, zitierte Gabi Doninger eine Volksweisheit. »Morgen wird es wieder schön werden.«

»Wollen wir’s hoffen«, seufzte ihr Gatte behaglich und nahm einen Schluck Rotwein, den er sich als Schlummertrunk eingeschenkt hatte.

5

Dr. Richard Seifert war ein alter Hase in seinem Beruf. Seit er in der Rechtsmedizin arbeitete, wusste er, dass Kommissare bei ihren Ermittlungen die Ergebnisse seiner Untersuchungen lieber gestern als heute vorliegen hatten. Und so war er manchmal die halbe, in komplizierten Fällen sogar die ganze Nacht am Werk, um rasch etwas präsentieren zu können. Auch dieses Mal würde Doninger bereits früh am Morgen auftauchen und einen umfangreichen Bericht erwarten. Er hatte sich nicht getäuscht. Nur war diesmal die Neue dabei.

»Welch Glanz in meiner Hütte!«, rief der Rechtsmediziner und stürzte auf die verdutzte Kommissarin zu, um ihre Hände mit solcher Vehemenz zu schütteln, dass Doninger um seine Kollegin fürchtete.

»Lass gut sein, Richard!«, wehrte er ab. »Ich brauche sie noch für die weiteren Ermittlungen. Sag lieber, was uns in dem Fall weiterhilft!«

Wenn es ums Erklären ging, war Dr. Seifert in seinem Element. Da war er ganz Dozent, wie er es an der Universität gelernt hatte, wo der Professor nebenbei die Studierenden in die Geheimnisse der Rechtsmedizin einweihte. Am liebsten fing er dann bei Adam und Eva an, um ja keine Zeitepoche auszulassen. Doch gähnende Langeweile kam dabei nie auf. Seine Schilderungen waren so plastisch und mit heiteren Anekdoten gespickt, dass das Auditorium gebannt zuhörte. Nur die Kommissare, mit denen er im Lauf der Zeit zu tun bekam, waren meistens ungeduldig und wollten nur die neuesten Erkenntnisse hören. Bei Doninger war das nicht anders.

»Also, wie gestern bereits vermutet, handelt es sich hier tatsächlich nicht um eine Moorleiche im klassischen Sinn, die aus grauer Urzeit stammt und für die sich die Wissenschaft interessieren könnte, sondern um einen Fall für die Mordkommission. Eine Moorleiche wäre durch die Huminsäuren mumifiziert, die Haut durch die Gerbsäure gegerbt. Sehen Sie sich die Bilder an, die ich hier für Sie bereitgelegt habe. Das sind Fotos von Mumien, die in Mooren gefunden wurden und die den Anthropologen und Archäologen wichtige Aufschlüsse über die Menschen und ihre Lebensgewohnheiten früherer Zeiten geben. Unsere Leiche, die wir gestern aus dem Moor gefischt haben, dürfte dort drei bis vier Monate gelegen haben, sie ist männlich und etwa dreizehn Jahre alt«, erklärte Dr. Seifert.

»Der Knabe im Moor, habe ich es nicht gestern gesagt?«, brummte der Kommissar.

»Ja, aber im Unterschied zu dem Knaben in der Ballade ist unser Bursche nicht von selbst ins Moor gelaufen, sondern dorthin geschleift worden. Und die gravierendste Abweichung betrifft das Ende. Während bei Droste-Hülshoff der Knabe dem Moor lebend entkommt, war es für den armen Kerl hier sein Grab«, wandte der Mediziner ein.

»Können Sie etwas zur Todesursache sagen?«, wollte Simone Mertens wissen.

Dr. Seifert lächelte vielsagend, zog das Tuch beiseite und zeigte auf einen Körper, an dem das Moor schon seine Spuren hinterlassen hatte.

»Die Verletzungen am Hinterkopf könnten von einem Schlag herrühren«, erklärte der Mediziner, »allerdings könnte er auch mit dem Kopf irgendwo hart aufgeschlagen sein.«

»Vielleicht von einem Auto angefahren und auf die Fahrbahn geschleudert?«, fragte die Kommissarin.

»Wäre möglich«, antwortete Dr. Seifert.

»Also ein Unfall«, resümierte Doninger.

»Ja, aber der Schädelbasisbruch hätte bei rechtzeitiger Hilfe nicht unbedingt zum Tode führen müssen«, erklärte der Rechtsmediziner. »Der Knabe ist an Erbrochenem erstickt.«

Doninger und seine neue Kommissarin sahen sich an. Mord, Totschlag, Unfall mit unterlassener Hilfeleistung, alles kam in Frage. Aber wie war der Tote dann im Moor ge landet? Und das in einer Höhe von über tausend Metern in unwegsamem Gebiet? Die beiden Ermittler spürten, dass da eine Heidenarbeit auf sie wartete.

»Viel Glück!«, meinte der Professor.

»Können wir gebrauchen.« Simone Mertens lächelte ihn an.

»Und melde dich, wenn du noch was Hilfreiches entdeckst!«, sagte Kommissar Doninger. »Kannst ja mal wieder bei uns vorbeischauen, ein paar Flaschen Affentaler Spätburgunder und Sasbachwaldener Alde Gott liegen immer im Barfach bereit.«

»Ist gebongt!«, gab Seifert zurück.

»Das Angebot gilt auch für Sie«, sagte Robert Doninger zu seiner Kollegin, als sie das Gebäude verließen und ins Auto stiegen.

»Ein Glas Sekt wäre mir fast lieber.«

»Trifft sich gut, Sekt trinkt meine Frau auch gern.« Der Kommissar startete den Wagen.