Der Makronenmord - Siegfried Schwarz - E-Book

Der Makronenmord E-Book

Siegfried Schwarz

3,7

Beschreibung

Wer könnte den unbeliebten, notorischen Säufer, der selbst von seiner Mutter verachtet wurde, ermordet haben? Hat das junge Paar etwas mit dem Erfrierungstod eines Neugeborenen zu tun? Der ehemalige Kriminalist Siegfried Schwarz stellt in Der Makronenmord sieben wahre und authentische Fälle der DDR-Kriminalgeschichte vor. Nach dem großen Erfolg seines ersten Buches Mord nach Mittag liefert der Hauptmann a. D. weitere spannende Einblicke in die Ermittlungsarbeit der Volkspolizei. Sachlich und detailgetreu lässt er uns teilhaben an den Verbrechen und ihrer Aufklärung, zeigt Hintergründe und Umstände auf und beweist: In der DDR wurde nicht wenig gemordet.

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Siegfried Schwarz

Der Makronenmord

und sechs weitere Kriminalfälle aus der DDR

Unter Mitarbeit von Antje Penk

Bild und Heimat

Von Siegfried Schwarz liegen bei Bild und Heimat außerdem vor:

Mord nach Mittag (Blutiger Osten, 2012)

eISBN 978-3-86789-595-8

1. Auflage

© 2015 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: © arfo, shutterstock

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Im Interesse des Schutzes der Persönlichkeitsrechte der Täter, Opfer und Zeugen wurden die Namen der Beteiligten sowie einiger Handlungsorte verändert.

Vorbemerkung

Am 20. Mai 1971 titelte die Kreisausgabe der Freiheit in Wittenberg: »Staatsanwalt plädiert für Todesstrafe«. Für mich als langjährigen Mordermittler stellte sich dabei, wie schon einige Male zuvor, die Frage: »Wo werden denn die in der DDR ergangenen Todesurteile vollstreckt?« Auch die Art des Vorgehens bei der Vollstreckung des Urteils nach 1968 blieb für mich bis nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ein gutgehütetes Geheimnis.

Bis 1968 war zumindest die Vollstreckung eindeutig: Der Verurteilte wurde durch das Fallbeil vom Leben zum Tode befördert. Mit der neuen Strafgesetzgebung der DDR erfolgte die Hinrichtung ab 1968 durch einen sogenannten »unerwarteten Nahschuss in das Hinterhaupt«. Aber wie wurde die Erschießung des Delinquenten vollzogen? Gab es ein Erschießungskommando? Oder gab es eine Maschinerie für ein automatisches Erschießen, für den Genickschuss?

Erst 1987 wurde die Todesstrafe per Gesetz aufgehoben. Die letzte Hinrichtung der DDR fand am 26. Juni 1981 in der Zentralen Hinrichtungsstätte im Gebäude der Strafvollzugsanstalt Alfred-Kästner-Straße in Leipzig statt. Der letzte Henker der DDR, Hermann Lorenz, erschoss mit der vorgegebenen Methode den Hauptmann des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR Werner Teske. Pro Exekution erhielt Lorenz einhundertfünfzig Mark, seine beiden Helfer je einhundertfünfundzwanzig Mark.

In einem Fernsehinterview 1991 des MDR antwortete Lorenz: »Für Gefühle war kein Platz.« – »Mit dem Schuss war das für mich vorbei.« – »Ich habe keinen erlebt, der geschrien oder Widerstand geleistet hätte. Dafür ging alles viel zu schnell.«1 Hermann Lorenz starb 2001 in Leipzig.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle ein Geständnis einfügen: Wenn ich zu einem Tatort gerufen wurde und dort Mordopfer, insbesondere bestialisch getötete Kinder, ansehen oder untersuchen musste, dann hatte ich doch ab und an den Gedanken, dass dieser Mörder hingerichtet werden müsse. Andererseits beweisen Länder, in denen bis heute die Todesstrafe vollstreckt wird, dass die Hinrichtung in keiner Weise Täter davon abhält, Morde zu begehen.

Im Jahr 1992 wurde das Urteil auf der Grundlage des 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes überprüft. Ergebnis: Es gab keinerlei Beanstandungen der 1971 geltenden Rechtslage in der DDR.

Mein besonderer Dank gilt meiner guten Freundin Antje Penk (Kemberg), die mir beim Aufschreiben der Fälle eine sehr große Hilfe war. Weiter danke ich Herrn Prof. Manfred Kleiber (Halle), Jens Schwarz (Aschersleben), Wolfgang Henn (Naumburg), Jürgen Krebs (Teutschen­thal), Remo Kroll (Wandlitz), Irene Robus (Schulzendorf), Gerhard Röthe (Wittenberg) und Detlef Schulze (Bergholz-Rehbrücke), die mich bei der Recherche zu diesem Buch hervorragend unterstützt haben.

Siegfried Schwarz

Die blutige Hand

Bei meinen Überlegungen, mit welchem Kriminalfall ich ein neues Buch beginnen sollte, kam mir eines Morgens ein Zufall zu Hilfe. Im Bad erfuhr ich aus meinem kleinen Radio die neuesten Nachrichten. Es gab auch Hinweise zum Fernsehprogramm. An diesem Tag wies man auf eine Mankell-Verfilmung hin: Mord auf einem Bauernhof. »Bauernhof« – sofort kam mir in Erinnerung, wie ich vor vielen Jahren und noch jung in der Mordkommission als Tatortuntersucher zusammen mit unserem Kriminaltechniker die Suche und Sicherung von Beweisen zu einem Doppelmord an einem Ehepaar auf einem Bauernhof vorgenommen hatte.

Carola setzte sich müde in den Schaukelstuhl ihrer Großmutter. Sie schloss die Augen und genoss die Schwingungen. Auf und ab. Auf und ab. Das Schaukeln machte sie leichter, ließ die Schwere des Arbeitstages von ihr abfallen. Sie blieb mit geschlossenen Augen sitzen, obwohl der Stuhl zum Stillstand gekommen war. Nur noch zwei Minuten. Dann würde sie aufstehen und das Abendessen bereiten. Bernd hatte heute Spätschicht. Zwei der Traktoren waren wieder einmal ausgefallen. Nun feilte er an Ersatzteilen. Bernd fand bei solchen Arbeiten kein Ende. Erst, wenn der Traktor wieder lief, machte er Feierabend. Es konnte also spät werden.

In ihre Entspannung hinein hörte sie das leise Knarren der Hoftür. Das war bestimmt Ingrid, die Nachbarin. Sicher hatte sie das Fahrrad vor der Tür gesehen und wusste, dass Carola zu Hause war. Ingrid brachte öfters altes Brot für die Kaninchen oder gekochte Kartoffeln, die vom Mittag übrig waren. Carola schloss die Augen wieder. In der Regel hängte Ingrid den Stoffbeutel mit dem Futter an die Hoftür. Das war ein anstrengender Tag gewesen. Einige der Tiere im Kuhstall waren wund. Das Melken fiel dann schwer, weil die Euter erst weich massiert werden mussten, bevor sie Milch gaben. Dann hatten mindestens vier Kühe abgekalbt. Die mussten auch betreut werden. Und anschließend noch das Heu umladen. Ja, sie war heute erschöpft. ›Ob Ingrid schon raus ist?‹, dachte sie. ›Ich habe die Hoftür gar nicht mehr gehört.‹ Einen Moment später hörte sie stattdessen Schritte, die sich dem Wohnzimmer näherten. »Gibt’s was, Ingrid?«, rief Carola. Als niemand antwortete, richtete sich die junge Frau im Schaukelstuhl auf. »Ingrid?« Sie wollte gerade aufstehen, da öffnete sich die Stubentür. Carola zuckte zusammen. Fassungslos stotterte sie: »Was, was machst du denn hier?« Auf der Schwelle stand Herbert. Der kräftige Mann mit den dunklen Haaren sah sie an. Er bewegte sich nicht, hielt noch die Klinke in der Hand und wandte den Blick nicht von ihr. Carola wurde blass. »Willst du was?«, brachte sie heraus, und bemerkte dabei selbst, wie zaghaft ihre Stimme klang. Herbert wohnte am anderen Ende des Dorfes zusammen mit seiner Mutter. Immer wenn Carola dort am Grundstück vorbeifuhr, stand er im Vorgarten oder im Hoftor und sah sie mit diesem seltsamen Blick an. Carola wurde heiß. Der Mann in ihrer Stubentür sagte nichts, bewegte sich nicht, sah sie nur unverwandt an. Was konnte sie tun? Sollte sie freundlich sein und ihn hin­aus bitten? Sollte sie ihn schroff des Hauses verweisen? Aber vielleicht war Herbert aggressiv? Vielleicht reizte sie ihn, wenn sie ihn ausschimpfte. Gegen ihn hätte sie sich nicht wehren können. Klar, kräftig war sie, musste sie ja sein. Wer im Kuhstall arbeitete, war schwere Arbeit gewohnt und hatte entsprechend Kraft. Aber diesem Mann dort fühlte sie sich nicht gewachsen. Sie stand aus dem Schaukelstuhl auf. Langsam. Vorsichtig. Nur keine falsche Bewegung machen. »Bernd kommt gleich«, log sie. »Besser, du gehst jetzt nach Hause.« Ihre Stimme klang gütig aber entschieden. Sein stechender Blick wanderte ihren Körper hinab. Carola tat einen Schritt vor, noch einen. Dann blieb sie stehen. Die Begierde, die in seinem Blick steckte, konnte Carola körperlich fühlen. Es war, als könne er durch ihre Kleidung hindurch sehen. Unwillkürlich schlang sie die Arme um den Bauch. »Du solltest jetzt gehen!« Doch sie sah ihn nicht an, sah an ihm vorbei in den Hausflur. Wenn sie ihn doch nur los wäre! Sehnsüchtig sah sie auf den freien Flur. Das wäre ein Fluchtweg. Sie könnte weg, wenn nicht dieser massige Mann da in der Tür stünde und ihr den Weg versperrte. Unschlüssig stand sie da, fühlte sie angefasst, unsittlich berührt von diesem Blick. Er machte einen winzigen Schritt auf sie zu. Zurück, sagte ihr Instinkt. Fliehen!, gebot er ihr. Nicht zurückweichen, sagte die Vernunft. Wie erstarrt blieb sie stehen. Zu Stein geworden, innerlich erkaltet. Sollte sie ihm entgegentreten? Ihn einfach hinausdrängen? Aber weiter konnte sie nicht. Sie hatte ihre unsichtbare Grenze erreicht. Zwei Meter trennten sie nun noch von der Tür und dem Eindringling. »Du musst nach Hause!«, beharrte Carola tapfer, und ihre Stimme zitterte nicht. Der starre Blick des Mannes wanderte ihren Körper wieder hinauf, tastete ihn ab. Noch enger schlang Carola ihre Arme um sich. Endlich schaute er weg, sein Blick wanderte hinüber zur Schrankwand. Es schien Carola, als mustere er jedes Glas in der Vitrine, jeden Henkel. Dann löste sich die Hand plötzlich von der Klinke. Ohne sie noch einmal anzusehen, drehte Herbert sich um und ging schweigend hinaus. Starr blieb Carola stehen. Als sie die Hoftür ins Schloss fallen hörte, spürte sie, wie ihre Anspannung nachließ. Sie löste ihre Arme und atmete auf.

Als sie den Vorfall am nächsten Tag ihrer Nachbarin Ingrid erzählte, nickte die nur. »Es ist schon einige Zeit her. Da ist mir das auch passiert.« – »Was?« Carola sah sie mit großen Augen an. »Na ja, es war schon spät, so gegen elf. Ich saß noch unten. Karl hatte sich schon hingelegt. Der steht ja auch früher auf. Jedenfalls wollte ich noch den Pullover zu Ende stricken, mir fehlte nur noch der Kragen. Auf einmal steht der Herbert in meiner Tür. Ich bringe kein Wort heraus. Er setzt sich neben mich auf die Couch und sieht mich so komisch von der Seite an. Ich hatte natürlich einen furchtbaren Schreck. Dann sage ich zu dem: ›Wenn du nicht gleich verschwindest, hole ich den Karl aus dem Bett. Und der wird dir schon zeigen, dass man nachts keine Besuche macht!‹ Da ist er aufgestanden und gegangen. Einfach so.« – »Ist was nachgekommen?«, wollte Carola wissen. »Du siehst ja, er wohnt immer noch hier«, entgegnete Ingrid. »Natürlich ist da nichts nachgekommen!« Verständnislos schüttelten beide Frauen die Köpfe.

Die nächsten zwei Wochen schloss Carola jede Tür hinter sich ab. Kaum eine Nacht schlief sie ruhig. Immer wieder lauschte sie, ob ein verdächtiges Geräusch zu hören war. Nur schwer fand sie Schlaf, morgens wachte sie gerädert auf. Bernd wollte Herbert die Meinung sagen, aber Carola hielt es für besser, diesen Kerl nicht weiter auf sie aufmerksam zu machen. Auch so spürte sie jeden Tag, wenn sie mit dem Fahrrad an seinem Grundstück vorbeifuhr, diesen Blick, der sie abtastete. Sie glaubte, Herbert hinter der Gardine zu sehen. Sah ihn hinter der Hecke lauern. Wirklich stand er dreimal am grünen Hoftor und sah sie an, mit diesem durchdringenden Blick. In Carola verspannten sich alle Muskeln und sie trat in die Pedale, als sei der Teufel hinter ihr her.

Am Sonntagabend fütterte sie wie immer die Kaninchen. Als sie den letzten Stall schloss und sich zum Gehen wandte, stand er hinter ihr. Sie hatte ihn nicht kommen gehört. Lautlos wie eine Katze war Herbert hinter sie getreten. Sie schrie. Ein Glitzern lief über sein Gesicht. Ihre Reaktion gefiel ihm. Dann schimpfte sie los. »Das kann ja wohl nicht wahr sein! Mach, dass du von hier verschwindest!« Mit jedem Wort wurde Carola lauter. Sie schrie die Angst aus sich heraus. Doch Herbert bewegte sich nicht. All der Lärm prallte an ihm ab. Er sah sie an, grinste und bewegte sich keinen Zentimeter zurück. Carolas Geschrei hatte Bernd angelockt. Wütend ging dieser auf Herbert los. Mit erhobenen Fäusten schrie er ihn an: »Mach dich von meinem Hof. Du hast hier nichts verloren! Und lass Carola in Ruhe, sonst …« Drohend schwang er die Rechte. Da drehte der schwarzhaarige, untersetzte Mann sich langsam um und ging ruhig vom Grundstück, als habe er nur ein Paar Brotscheiben für die Hühner vorbeigebracht. Nun war es Bernd, der sich nicht mehr beruhigen konnte, beruhigen wollte. »Die Polizei hetze ich ihm auf den Hals. Gleich nachher sage ich dem ABV Bescheid! Es kann doch nicht sein, dass der überall einfach hingehen und die Leute erschrecken kann. Der gehört wieder eingesperrt. Ich verstehe sowieso nicht, wieso der auf freiem Fuß ist.«

Als Bernd vom ABV zurückkam, sah er ernüchtert aus. »Und? Was hat er gesagt?«, fragte Carola erwartungsvoll. Bernd zuckte hilflos mit den Schultern. »Da kann man nichts machen. Der hat den Paragraph  512.« Carola wurde wütend. »Aha! Und deshalb kann er machen, was er will?« – »Sieht so aus.« Bernd atmete resigniert aus. »Dieter hat mir erzählt, der stand schon mal mit einem Messer hinter ihm.« Carola sah ihn entsetzt an. »Wie bitte?« – »Ja, Dieter war gerade dabei, Futter mit der Sense zu machen – drüben am Dorfrand, da war ihm, als ob jemand hinter ihm stünde. Er drehte sich um. Und da war Herbert. Er hatte ein Messer in der Hand und sah ihn so komisch an. Ganz anders ist ihm geworden, dem Dieter. Aber dann hat er die Sense geschwungen. Die ist ja nun mal länger als so ein Messer. Und da ist Herbert dann weggegangen.« – »Und die Polizei hat nichts gemacht?« Carola spürte, wie der Ärger ihr die Kehle zuschnürte. »Nee, Heidi hat die Polizei und das Kreisgesundheitswesen angerufen. Die hat in der Buchhaltung ja ein Telefon. Aber nichts. Es passiert nichts!«

In dieser Nacht schlief Carola noch schlechter. Sie träumte von Herbert, der mit einem Messer neben ihrem Bett stand. Schweißgebadet wachte sie gegen ein Uhr auf und schlief nicht wieder ein. Auf der Arbeit lachten die Kollegen. »Na, du scheinst ja tolle Nächte zu haben. Was macht denn der Bernd mit dir? Er sollte wirklich mehr Rücksicht auf uns nehmen. Du bist ja kaum noch zu gebrauchen.« Carola verzog nur säuerlich den Mund. Aber zugeben, dass sie wegen dieses Irren schlecht schlief, das wollte sie auch nicht. ›Und nachher muss ich wieder an seinem grünen Zaun vorbei!‹, dachte sie verbittert. Gab es denn keinen anderen Weg zur LPG? Doch! Ihr fiel ein, wenn sie um das Feld vom alten Müller herumfuhr und dann hinter den Höfen entlang, dann konnte sie dieses verfluchte Grundstück vermeiden. Aber das war ein Umweg von gut zwanzig Minuten. »Egal«, sagte sie sich. »Hauptsache, ich muss da nicht mehr vorbei.« Die nächsten Tage stand sie zwanzig Minuten früher auf. Das war ungewohnt, aber sie fühlte sich besser. Nachdem sie drei Wochen den neuen Weg gefahren war und nicht mehr an Herberts Haus vorbei kam, schlief sie wieder ruhiger. Herbert selbst war auch nicht noch einmal auf ihrem Hof aufgetaucht. Carola entspannte sich langsam. Vielleicht hatten sie ihn weggesperrt, vielleicht ließ er sie einfach in Ruhe. Die Türen schloss sie trotzdem sorgsam ab.

Zwei Monate später kursierte im Dorf das Gerücht, Herbert sei zur Kur. Carola atmete auf. Sie fuhr mit dem Fahrrad wieder ihren alten Weg, den kürzeren, an Herberts Haus vorbei. Selbst den Kollegen fiel auf, dass sie entspannter war. Das Leben ging seinen gewohnten Gang – bis zu jenem Donnerstag. Bernd war einige Tage auf Schulung der VdgB in der nahe gelegenen Kreisstadt. Carola war daher allein im Hause. Das beunruhigte sie. Obwohl sie wusste, dass von dem abwesenden Herbert keine Gefahr ausgehen konnte, fühlte sie sich unwohl, besonders wenn sie daran dachte, nachts allein zu sein. Aber Bernd würde morgen wiederkommen. Es war also nur eine Nacht.

Erst hatte sie vor, alle Lampen brennen zu lassen. Das gab ihr ein Gefühl der Kontrolle. Sie konnte alles gut sehen. Niemand hatte die Möglichkeit, unbemerkt an sie heranzukommen. Leider galt das auch für den Schlaf. Durch das Licht fand sie einfach keine Ruhe. Sie versuchte, auf allen Seiten einzuschlafen: links, rechts, auf dem Bauch, auf dem Rücken, sogar in Bernds Betthälfte. Nichts half. Müde war sie, ohne Frage. Aber schlafen konnte sie bei dem Licht eben nicht. Endlich raffte sie sich auf und schaltete das Licht aus. Sofort merkte sie, wie sich die Träume ankündigten. Beruhigt schloss sie die Augen.

Wie lange und ob sie überhaupt geschlafen hatte, konnte sie später nicht sagen. Irgendeine Unruhe weckte sie. Das Gefühl, nicht allein im Zimmer zu sein. Noch hatte sie die Augen nicht geöffnet. Sie überlegte sogar, ob sie sie überhaupt öffnen sollte. Aber dann reagierte der Körper doch ohne ihr Zutun. Und da stand in der Tür, als Schattenriss erkennbar, die allzu bekannte Statur: mittelgroß, kräftig. Herbert war in ihrem Schlafzimmer! Carola war mit einem Satz aus dem Bett. »Jetzt reicht’s!«, schrie sie in ihrem Schrecken überlaut. »Ich rufe die Polizei!« Der Schatten stand unbewegt, so wie er sonst auch einfach dagestanden und sie angestarrt hatte. Carolas Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Sie sah die Augen, die auf ihrem Nachthemd ruhten. Ihr wurde heiß. Sie hatte ja quasi nichts an! Jetzt konnte hier alles Mögliche passieren. Wie sollte sie sich nur helfen? Und dann schrie sie. Sie schrie das halbe Dorf zusammen. Schon bellten nebenan die Hunde. Licht ging bei den Nachbarn an. Herbert bewegte sich nicht, sah nur sie. Als Stimmen laut wurden, drehte er sich gemächlich um und ging, als mache er einen Sonntagsspaziergang, hinaus. Carola stand starr. Endlich trafen die Nachbarn ein. Als Ingrid ihr beruhigend den Arm um die Schulter legte, löste sich die Starre. Carola zitterte und schluchzte, ihr bleiches Gesicht war tränennass. Ingrid gab ihr ein Taschentuch. Dann kam die Polizei, die Ingrids Mann angerufen hatte. Carola schilderte kurz den Vorfall. Man untersuchte das Schloss und stellte fest, dass das Haus zwar verschlossen gewesen, Herbert aber ohne weiteres eingedrungen war. »Das dürfte reichen!«, beruhigte Ingrid die verängstigte Frau. »Jetzt nehmen sie ihn mit.« – »Und für wie lange?«, fragte Carola. »Der ist doch in null Komma nix wieder da!« Sie holte Luft. »Ich will hier weg. Wenn der nicht wegkommt, dann muss eben ich gehen!« Ingrid sah sie entgeistert an. »Das geht nicht! Du kannst hier nicht alles stehen und liegen lassen. Warte nur ab. Der Morgen ist klüger als der Abend. Morgen früh sieht alles schon viel besser aus.« Sie überlegte einen kurzen Augenblick. »Ich bleibe heute Nacht hier. Du solltest jetzt wirklich nicht alleine sein.« Carola sah sie dankbar an.

Die Reaktion auf den nächtlichen Besuch seitens der Behörden war einfach: »Herbert bleibt im Dorf. Für ihn gilt Paragraph 51, und er wird als harmlos eingestuft. Seine nächtlichen Besuche mögen unangenehm sein, aber verletzt wurde niemand.«

Bernd tobte, als er das hörte. Von Carolas Idee, wegzuziehen, hielt er natürlich nichts. »Ich habe hier meine Arbeit, eine gute Arbeit. Du übrigens auch. Wir haben unser Haus hier, unser Viehzeug. Und nur wegen diesem Knallkopp alles aufgeben? Dann hätte der ja gewonnen! Nee, da mach ich nicht mit.« Carola presste die Lippen aufeinander. »Hinter dir ist er ja auch nicht her!«, quetschte sie hervor. Bernd nahm sie in den Arm. »Ich pass auf dich auf.« – »Das hab ich gemerkt«, erwiderte sie trocken. »Herrgott noch mal!« Hilflos hob Bernd die Arme zum Himmel. »Kann man denn ahnen, dass er ausgerechnet dann zurückkommt, wenn ich weg bin?« Carola sah ihm ernst in die Augen. »Genau! Kannst du garantieren, dass er nicht wiederkommt, ausgerechnet, wenn du weg bist?« Bernd atmete tief ein und aus. »Und weg musst du ja doch immer mal«, beharrte sie. »Du musst zu diesen leidigen Schulungen. Glaubst du, jemand wird sagen: Oh, der Herr Zimmermann, der kann an der Schulung nicht teilnehmen, der muss auf seine Frau aufpassen?« Bernd schüttelte traurig den Kopf. »Vielleicht kannst du dann bei Ingrid schlafen? Oder sie kommt für die eine Nacht zu uns?« Carola ließ sich in den Schaukelstuhl fallen und dachte darüber nach. Auch sie wollte das Dorf und ihr Grundstück nicht verlassen. »Wir denken einfach beide noch mal darüber nach«, schlug Bernd vor. Dann stützte er sich auf beide Armlehnen, beugte sich zu Carola und gab ihr einen Kuss.

Auch dass am nächsten Abend das Wohnzimmerfenster klirrte, ein Stein an Carolas Kopf vorbei sauste und in die Vitrine dahinter einschlug, änderte an der Haltung der Behörden nichts. Herbert war kein gemeingefährlicher Mensch, seine Mutter wohnte in dem Dorf. Sie war rüstig genug, sich um ihren Sohn zu kümmern. Daher würde er dort bleiben. Keine weitere Diskussion.

In den Morgenstunden des 17. August 1969, einem Sonntag, wurden wir in ein kleines Dorf im südlichen Teil des Bezirkes Halle gerufen. Wir machten uns sofort auf den Weg und waren schon kurze Zeit später da. Der Ereignisort war ein Vierseitenhof mit Nebengelassen und Scheune und einem aus Feldsteinen gepflasterten Innenhof. Gras wuchs zwischen den Ritzen hervor, vor der Scheune stand ein leerer Wagen. Am Hoftor empfingen uns der zuständige Leiter der Kriminalpolizei, ein Kriminaltechniker des Volkspolizeikreisamtes und der ABV des Ortes. »Das sieht ganz schön schlimm aus«, sagte der Kriminaltechniker. »Da führen große, rötliche Spuren von der Haustreppe rein, über den Hausflur, die Holztreppe rauf, bis in den ersten Stock. Eine ganz schöne Sauerei. Na, schaut es euch selbst an.« Schon beim Näherkommen waren die beschriebenen Spuren unübersehbar. Rein visuell war für mich klar, dass diese Spuren aus Blut bestanden. Ich konnte natürlich nicht wissen, ob menschliches oder tierisches Blut hier eine Rolle spielte. Aber Recht hatte der Kriminaltechniker. Jemand hatte hier ganz viel Blut verloren oder verteilt. Es konnte sich um einen bösen Streich handeln. Es war schon vorgekommen, dass jemand mit Schweineblut eine Straftat vorgetäuscht hatte. Wir mussten unvoreingenommen alles überprüfen. Ich wollte gerade die drei Stufen ins Haus hinein nehmen, als Johannes mich beiseitenahm. Johannes war unser eigener Kriminaltechniker, den wir von Halle mitgebracht hatten. Er war während meines Gespräches mit Fotoaufnahmen des Innenhofes beschäftigt. Dabei hatte er sich einen Überblick verschafft. Leise und für die anderen unhörbar sagte er: »Die Blutspuren gehen über den Hof zum Durchgang an der Scheune. Wahrscheinlich sogar darüber hinaus. Das sollten wir nachher überprüfen.« Dieses Detail war außer Johannes niemandem aufgefallen. Ich sah nach dem ABV und dem Leiter der Kripo. Ordnungsgemäß sperrten sie den Tatort nach unserem Eintreffen ab. Keiner außer uns durfte ihn betreten. Auf diese Weise blieben die Spuren »sauber«.

Wir begannen mit der Spurensicherung im Haus. Der gesamte Weg vom Hauseingang bis zur Schlafzimmertür wurde fotografisch und durch spurensichernde Maßnahmen dokumentiert. Die rötliche Substanz, das Blut, fand sich überall. Wie der Kriminaltechniker gesagt hatte, führte es durch den Hausflur, die hölzerne Treppe hinauf ins erste Obergeschoss. Das Schlafzimmer war der eigentliche Tatort. Diesem wollte ich mich jetzt zuwenden, als Johannes erneut an mich herantrat. Er zeigte mir eine Blutspur von der Schlafzimmertür weg zu einer weiteren Tür auf diesem Flur. Auf den Dielen waren zum Teil kreisrunde Auflagerungen rötlicher Substanz. Aber auch solche, deren Ränder aufgerissen waren und dünne Spritzer nach allen Seiten zeigten, waren vorhanden. Diese Spuren mussten also in flüssiger Form aus einer bestimmten Höhe auf die Spurenträger aufgeschlagen sein. Zu unserem Erstaunen fanden wir gleichartige Hinweise zu einer dritten Tür auf diesem Flur. Was war hier nur in der letzten Nacht geschehen? Um wessen Blut handelte es sich? Ich musste mich gedulden, denn es gilt immer, systematisch vorzugehen – Schritt für Schritt. Endlich wandte sich die Spurensicherung dem Schlafzimmer zu.

Weil das einzige Fenster dieses Raumes mit einem Faltrollo abgedunkelt war, lag der Raum im Halbdunkel. So konnte man kriminaltechnisch natürlich nicht arbeiten. Wir brauchten Licht. Als das Rollo hochgezogen war und zusätzlich eine Deckenleuchte eingeschalten wurde, bot sich uns ein grausiger Anblick: Das Schlafzimmer ähnelte einem Schlachtfeld. Die Zimmerwände links und rechts des Ehebettes wiesen großflächig Blutspuren in Form von Spritzern auf. Der Fußboden links und rechts neben dem Ehebett war von Blutlachen bedeckt. Kopfkissen, Federbetten und Laken waren großflächig blutverschmiert. Wie konnte jemand nur so bestialisch wüten? Während eine männliche Leiche rechts neben dem Bett auf dem Fußboden lag, fanden wir eine tote Frau auf der linken Körperseite mit über den Bettrand geneigtem Oberkörper liegend, blutüberströmt vor. Der Mann war ebenfalls blutüberströmt.

Ein Kampf hatte definitiv stattgefunden. Die Frau hatte sich gewehrt, wie die Schnittspuren an ihren Händen bewiesen. Sie hatte versucht, sich aufzurichten, sich aber in der Decke verfangen. Diese lag halb um ihre Beine gewickelt, halb am Boden. In erreichbarer Nähe des Bettes, rechts neben der Zimmertür befand sich der Lichtschalter. Auch er war blutig. Neben ihm an der Wand sicherten wir in Blut gegriffene Hand- und Teilfingerabdrücke. Nach Lage der Frau erschien es als möglich, dass sie mit bereits verletzten Händen versucht hatte, das Licht einzuschalten. Zwischen Bett und Wand waren nur etwa vierzig Zentimeter Platz. Wenn sie diesen Versuch ernsthaft unternommen hatte, bedeutete das, dass der Täter im Dunkeln gehandelt hatte.

Johannes machte gerade detaillierte Fotoaufnahmen des Schlafzimmers und der Mordopfer, als vom Institut für Gerichtliche Medizin der Martin-Luther-Universität Halle zwei Rechtsmediziner ankamen. Der Leiter der Kripo hatte sie bereits bei unserem Eintreffen angefordert. Sie sollten vor Ort eine Leichenschau vornehmen, um die Opfer im Gesamtzusammenhang mit dem Tatort in Augenschein zu nehmen. Die Beurteilung der Position der Leichen ermöglicht manchmal tiefere Einblicke in den Tathergang als ihre bloße Obduktion. »Na, das sieht übel aus«, kommentierte einer der beiden den Schauplatz. »Raubmord?«, fragte er in die Runde. »Dafür haben wir bisher keine Anhaltspunkte«, erwiderte ich. »Könnte eine Beziehungstat sein.« Dann machten sie sich an ihre Untersuchung. »Die Lage der Wischspuren lässt vermuten, dass der oder die Täter im Dunkeln angegriffen haben.« Damit wurde meine Annahme bestätigt. »Mannomann, so viele Stichverletzungen«, sagte nach einer Weile der Mediziner. »Kein Wunder, dass hier so viel Blut ist. Lange können die sich nicht gewehrt haben. Bei dem starken Blutverlust verliert man schnell das Bewusstsein.« – »Wo kann die Sektion durchgeführt werden?« Der Leiter der Kriminalpolizei des nahe gelegenen Ortes schlug vor: »Das Krankenhaus Laucha-Dorndorf ist, denke ich, das nächste.« Der ABV nickte. »Gut, ich leite den Abtransport der Leichen in die Wege und kläre das mit dem Krankenhaus.« Die Gerichtsmediziner schlugen den folgenden Tag für die Sektion vor. »Wenn es da in Laucha keine Einsprüche gibt, veranlasse ich auch das.« Nach einem Telefonat war alles geklärt. Die Sektion wurde auf den nächsten Tag in der Leichenhalle des entsprechenden Krankenhauses anberaumt.

Eines wussten wir nach der Tatortarbeit und den sofort durchgeführten Ermittlungen mit Bestimmtheit: Zumindest ein Täter hatte sich bei der äußerst brutalen Tat eine Verletzung zugezogen. Möglicherweise war es der Kampf mit der Frau gewesen, bei dem sich einer der Täter so stark geschnitten hatte, dass er die zahlreichen Blutspuren außerhalb des Tatortes hinterließ. Von den Opfern hatte es keines mehr aus dem Schlafzimmer herausgeschafft. Und die Tat hatte auch ohne jeden Zweifel in diesem Raum ihren Anfang genommen. Es war daher auszuschließen, dass das sichergestellte Blut im Flur und im Treppenhaus sowie auf dem Hof von den Opfern stammte. Dem Massaker nach zu urteilen, das die Eheleute im Schlaf überrascht hatte, konnten wir einen Streich mit Schweineblut wohl auch ausschließen – obwohl der medizinische Beweis noch ausstand. Es war demnach die Spur des Mörders, die quer über den Hof zur Scheune führte.

Dieser Spur wandten wir uns nun zu. Die im Freien festgestellte Spurenlage ließ sich am besten mit einem Fährtenhund verfolgen. Daher forderten wir eine dieser Spürnasen an. Eine entsprechende Hundestaffel war zu dieser Zeit in Halle stationiert und hatte mit ihren Fährtenhunden oft zur Ergreifung von Tätern beigetragen. Am Nachmittag traf der Hundeführer samt Begleiter auf vier Pfoten ein. Johannes, unser Kriminaltechniker, erklärte dem Führer, was er vorgefunden hatte. Zunächst gingen alle zum Haus, dann zeigte er die »saubere« Spur in Richtung Scheune. Sie diente als Fährtenansatz. Der Hund nahm die Spur sofort auf. Er arbeitete zügig. Außerhalb des Hofes angekommen, überquerte er die Dorfstraße. Zielgerichtet steuerte er auf einen weiteren Bauernhof zu, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Vor der grünen, hölzernen Haustür legte sich der Hund ab. Hinter Hund und Führer folgte in gehörigem Abstand der ABV. »Da wohnt Herbert K. mit seiner Mutter«, klärte er uns auf. »Der sorgt hier regelmäßig für Unruhe.« Erstaunt sahen Johannes und ich uns an. »Was macht er denn für Ärger?«, fragte ich. »Herbert hat den Paragraph 51. Er ist nicht ganz richtig.« Mit der Hand deutete er eine Scheibe vor seinem Gesicht an. »Ist er denn gewalttätig?«, fragte Johannes. »Wenn man vom Erschrecken der Dorfbewohner absieht, eigentlich nicht.« – »Also keine tätlichen Angriffe bisher?« Der ABV schüttelte den Kopf. »Er taucht nur unvermittelt in fremden Wohnungen auf. Ansonsten weiß ich von nichts.« Der Leiter der Kripo klingelte. Man hörte von drinnen die Glocke – einen Dreiklang. Dann geschah eine Weile nichts. Endlich hörten wir Schritte über den Hof tappen. Es mussten kleine Schritte sein, denn wir hörten das Tappen kurz hintereinander. Endlich wurde an der Tür herumgefummelt. Im Türrahmen erschien eine ältere Frau. »Ja?« Sie sah zuerst den Polizisten in Uniform an, dann den Hund, der friedlich vor ihrem Tor lag, aber dennoch aufmerksam lauschte und beobachtete. »Was ist denn hier los?«, fragend betrachtete sie den Rest der MUK. Wir überließen es dem ABV, die Situation zu klären. Schließlich kannte die Frau ihn und würde ihm so auch mehr Vertrauen schenken als uns. »Wir möchten Herbert sprechen. Es geht um die Klärung eines Sachverhalts.« – »Da ist doch was passiert«, mutmaßte sie. Selbstverständlich war etwas passiert, sonst stehen keine Polizisten mit Fährtenhund vor der eigenen Haustür. Aber es war auch eher eine Bitte um Erklärung an den ABV. »Drüben bei Dieter und Heidi, da ist letzte Nacht was passiert. Na und weil ihr ja quasi gegenüber wohnt, wollten wir den Herbert fragen, ob er was gesehen hat.« – »Die können doch auch mich fragen«, bemerkte die Mutter mürrisch. »Das werden sie auch noch, keine Sorge.« Der ABV hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und beugte sich zu der kleineren Frau hinab wie ein Lehrer zu einem Schüler. »Aber jetzt wollen sie eben erst mal mit Herbert reden.« Hilflos hob die Frau die Schultern. »Na, dann müsst ihr eben mal nachschauen«, duzte sie uns. »Im Haus ist er jedenfalls nicht. Vielleicht oben, bei den Tauben.« Sie nickte mit dem Kopf in Richtung Stall. Mein Blick folgte dieser Geste. Vis-à-vis an einem Stallgebäude stand eine Tür halb offen. Von dort führte eine Treppe nach oben. Der ABV nickte einem weiteren Kriminalisten zu. Dann gingen beide hinüber und stiegen die Treppe hinauf. Die Mutter blieb währenddessen bei uns stehen und beobachtete ebenso wie wir den Aufgang. Kurz danach hörten wir einen Wortwechsel. Besorgt sah die Mutter hinauf zu einem kleinen Fenster im Dach, als ob sie dort hineinsehen und verfolgen könnte, was drinnen geschah. Da die Stimmen laut und schroff wurden, ging ich davon aus, dass Herbert K. nicht mitgehen wollte. Dann gab es ein Poltern. Endlich sahen wir die Schuhe des Kriminalisten, anschließend Hoflatschen und danach die geputzten Schuhe des ABV. Alle traten auf den Hof hinaus. Herbert K. stand leicht gebeugt und misstrauisch um sich schauend zwischen den beiden offiziellen Personen.

»Mutti, die wollen mich mitnehmen«, rief er entrüstet zu der alten Frau hinüber. »Ich bin doch mit den Tauben noch gar nicht fertig. Sag denen, dass ich erst die Tauben fertig machen muss!«, verlangte er mit der Sturheit eines launischen Kindes. Doch die Frau sagte nichts, sah nur verbittert die Polizisten an. Der ABV ging zu ihr und sprach in beruhigendem Tonfall: »Es geht nur um die Klärung eines Sachverhalts. Wir nehmen ihn kurz mit.« Die Bäuerin gab kein Zeichen des Einverständnisses. Sie schaute ihren Sohn an und presste die Lippen aufeinander. Dann bewegte sich der ganze Tross von dem Gehöft. Die Frau blieb am grünen, hölzernen Hoftor zurück.

»Hast du gehört, was bei Dieter und Heidi los ist?« Aufgeregt kam Ingrid in den Stall. Carola stützte sich an der Flanke der Kuh ab, als sie unter dem Tier hervorkam. Sie stellte den Eimer beiseite und richtete sich auf ihrem Melkschemel auf. »Als ich heute früh auf Schicht gefahren bin, war alles ruhig«, wunderte sich die junge Frau. »Die Polizei ist da«, erklärte Ingrid mit großen Augen, »und der Hof ist abgesperrt.« Carola wurde blass. »O mein Gott, dann war das doch was Ernstes!« Ingrid sah Carola überrascht an. »Na ja, Peters Susi, die kam heute etwas vertrödelt zur Arbeit. Sie war gestern mit ihrem Freund tanzen gewesen, obwohl sie die Frühschicht hatte. Sie wollte gleich durchmachen. Egal. Jedenfalls erzählte sie mir vorhin, dass sie bei Dieter Licht gesehen hat. Das war auf ihrem Heimweg. Sie meinte, dass sie den Dieter mit der Taschenlampe hat rumfunzeln sehen. Sie dachte: ›Wahrscheinlich ist ’ne Sicherung raus.‹ Sie hat sich nur gewundert, warum der nachts um eins an den Sicherungen schraubt. Um die Zeit braucht kein normaler Mensch Strom, aber wer weiß.« Sie schwieg. »Und nun ist der Hof abgesperrt, sagst du?« Ingrid nickte. »Die Susi muss zur Polizei. Sie muss das denen sagen! Los, ich suche sie!« Mit dem Melkschemel um die Hüften eilte Carola los.