Der Märtyrer - Anthony Ryan - E-Book

Der Märtyrer E-Book

Anthony Ryan

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Beschreibung

»Düster und exzellent geschrieben« Publishers Weekly  Die Zeiten haben sich für Alwyn Scribe geändert. Einst war er ein Geächteter, jetzt ist er Spion und ein eingeschworener Beschützer von Lady Evadine Courlain. Ihre Visionen einer dämonischen Apokalypse verliehen ihr die fanatische Ergebenheit der Gläubigen.  Doch Evadines wachsender Ruhm hat sie in Konflikt mit der Krone und dem Bund gebracht und im Königreich brauen sich gefährliche Unruhen zusammen... Als Alwyn ins Herzogtum Alundia geschickt wird, um eine Rebellion niederzuschlagen, muss er sich auf alte Instinkte verlassen, um für seine neue Sache zu kämpfen. Alwyn Scribe war nie dazu bestimmt, Soldat zu sein. Ein Dieb? Ja. Ein Schreiber? Ganz gewiss. Aber ein Soldat? Diese Rolle scheint zu seinem Albtraum zu werden. Tödliche Fehden und uralte Geheimnisse werden aufgedeckt, als der Krieg ausbricht, ein Krieg, der über das Schicksal des Königreichs Albermaine entscheiden und vielleicht die Ankunft der prophezeiten Zweiten großen Plage verhindern wird.

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Dies ist der Umschlag des Buches »Der Märtyrer« von Anthony Ryan, Sara Riffel

Anthony Ryan

Der Paria

Der stählerne Bund 2

Aus dem Englischen von Sara Riffel

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Martyr: Book Two of the Covenant of Steel« im Verlag Orbit, London

© 2022 by Anthony Ryan

Für die deutsche Ausgabe

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: © Birgit Gitschier, Augsburg, Illustration: © Federico Musetti

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-98762-1

E-Book ISBN 978-3-608-12291-6

Inhalt

Karte

Was zuvor geschah …

Erster Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Zweiter Teil

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

Einunddreißigstes Kapitel

Dritter Teil

Zweiunddreißigstes Kapitel

Dreiunddreißigstes Kapitel

Vierunddreißigstes Kapitel

Fünfunddreißigstes Kapitel

Sechsunddreißigstes Kapitel

Siebenunddreißigstes Kapitel

Achtunddreißigstes Kapitel

Neununddreißigstes Kapitel

Vierzigstes Kapitel

Einundvierzigstes Kapitel

Zweiundvierzigstes Kapitel

Dreiundvierzigstes Kapitel

Danksagung

Dramatis Personae

Gewidmet der Erinnerung an Lloyd Alexander, Autor der Chroniken von Prydain, der als Erster die Tür aufstieß und mich hereinbat.

Karte

Was zuvor geschah …

Schreiben an den Rat der Eminenzen des östlichen reformierten Bundes der Märtyrer – Notiz des Archivars: Fragment. Datum und Autor unbekannt.

Gesegnete Brüder des Rates,

zu meiner großen Freude kann ich Euch Folgendes mitteilen: Ich bin in den Besitz einer persönlichen Aufzeichnung gelangt, die nach meiner Überzeugung ein authentisches Werk des berühmt-berüchtigten Alwyn Scribe darstellt.

Eine vollständige Abschrift des Berichts werde ich Euch selbstverständlich zukommen lassen, sobald meine Arbeit hier beendet ist. Nachdem ich das Manuskript aber in seiner ganzen Bösartigkeit gelesen habe, kann ich den Inhalt schon einmal kurz zusammenfassen. Doch möchte ich an Euch appellieren, mich für die Wiedergabe von Scribes Lügen nicht zu verurteilen. Ich versichere Euch, meine Seele bleibt von jeglicher Ketzerei unberührt.

Wenig überraschend stammt Alwyn Scribe aus ärmlichen Verhältnissen. Geboren in einem Hurenhaus, kannte er weder Mutter noch Vater und behauptet, nach dem Lieblingsschwein des dortigen Zuhälters benannt worden zu sein. In jungen Jahren aus dem Haus vertrieben, schloss er sich – so weiß es die Legende – einer Bande von Missetätern an, die in einem Herzogtum an der Westküste des ehemaligen Königreichs Albermaine in einem Wald namens Shavine ihr Unwesen trieb.

Der Anführer der Schurken, ein gewisser Deckin Scarl, bezeichnete sich selbst als König der Gesetzlosen. Dass es diese Person wirklich gab, gilt als gesichert. Scarl und seine schöne, aber intrigante Geliebte Lorine D’Ambrille tauchen in vielen der überlieferten Balladen und Geschichten der Gegend auf. Scribe behauptet, Scarl sei ein unehelicher und nicht anerkannter Sohn des Herzogs der Shavine-Marschen gewesen. Letzterer beging später Verrat an König Tomas Algathinet, dem Herrscher von Albermaine, und wurde deswegen hingerichtet. Eine Gruppe Verbannter aus dem Fjordland unter Führung der jungen Gelehrten Berrine Jurest, von der später noch die Rede sein wird, berichtete Scarl vom Sturz seines Vaters. Von übermäßigem Ehrgeiz gepackt, heckte der skrupellose und gerissene Scarl einen Plan aus, um die Burg des neuen Herzogs zu besetzen. Er wurde jedoch verraten und ging den Soldaten der Krone in die Falle, die von Sir Ehlbert Bauldry angeführt wurden, dem gefürchteten Kämpen des Königs. Ungeziefer ist jedoch schwer beizukommen, und so gelang es Alwyn, dem folgenden Massaker zu entgehen, nicht zuletzt, indem er einen Bandengefährten ermordete.

Von einer merkwürdigen Treue beseelt, die fast schon an die eines geprügelten Hundes zu seinem Herrn erinnert, schlug Alwyn sich bis zu der Burg durch, in der Scarl gefangen gehalten wurde. Dort traf er noch gerade rechtzeitig ein, um Zeuge von dessen Hinrichtung zu werden. Eine Neigung zur Trunksucht trieb ihn dazu, seinen Kummer im Bier zu ertränken, worauf er von den Männern des Königs ergriffen wurde. Nach einer kräftigen Tracht Prügel sollte er gehängt werden, wurde jedoch von Sir Althus Levalle, Großoffizier der Kompanie der Krone, gerettet. Dank Sir Althus blieb Alwyn zwar der Strick erspart, nicht aber der Pranger, wo er viele Stunden Quälerei ertragen musste. Nach dieser Tortur erklärte Althus, er habe Alwyn nur deshalb verschont, weil er mit Deckin Scarl befreundet gewesen sei, mit dem er in den Herzog-Kriegen gemeinsam gekämpft hatte. Alwyn überlebte also, wurde aber in die berüchtigten Erzminen geschickt, ein unterirdisches Arbeitslager, aus dem kein Verdammter je entkommen war.

Alwyns Hang zu Unwahrheiten zeigt sich in der Beschreibung seiner Reise zu den Erzminen. Er wurde vom sogenannten Kettenmann dorthin geschafft, einem Caerither, der angeblich die übernatürliche Gabe besaß, die Stimmen der Toten zu hören. Ich möchte jedoch behaupten, dass Letzteres dem erfundenen Humbug zuzurechnen ist, mit dem Scribe sein Werk auszuschmücken pflegt, wenn seine Furcht vor dem caerithischen Mystiker auch offenkundig echt war. Auf der Reise lernte Alwyn die junge Diebin Toria kennen, mit der ihn einige Jahre lang eine ambivalente Freundschaft verband.

Nach seiner Ankunft in den Erzminen nahm ihn zu seinem Glück Sihlda Doisselle unter ihre Fittiche. Wie Ihr, verehrte Brüder, wisst, gilt Aszendentin Sihlda bei einigen unbedeutenden Zweigen des Bundes als Märtyrerin. Sie wird vor allem ihrer Liebe zur Wahrheit wegen verehrt, an der sie auch einer verlogenen Obrigkeit gegenüber festhielt – weshalb der Adel ihr einen Mord anhängte und sie in die Erzminen verbannte. Unverdrossen gründete Sihlda in Gefangenschaft eine treue Gemeinde aus Mitinsassen. Scribes Legende enthält zahlreiche Hinweise darauf, dass die Aszendentin ihn unterrichtete und er ihr sogar seinen Nachnamen verdankte. Sie führte ihn in die Kunst des Schreibens und des logischen Denkens ein. Unter ihrer kundigen Anleitung kam er zu dem Schluss, Deckins Bande sei von Lorine D’Ambrille verraten worden. Zudem vertraute Sihlda ihm ein wichtiges Geheimnis an, das später noch erwähnt werden soll. Obwohl sie Alwyn offenbar zugeneigt war, vermute ich dennoch, dass sie – hätte sie gewusst, was für ein Geschöpf sie da bei sich aufgenommen hatte – ihm schon bei ihrer ersten Begegnung mit einer Spitzhacke den Schädel eingeschlagen hätte.

Sihldas klugen Machenschaften und dem Tunnel, den sie mit ihrer Gemeinde grub, ist es zu verdanken, dass Alwyn nach vier langen Jahren aus den Erzminen entkommen konnte. Er beschreibt das Opfer, das Sihlda dafür brachte. Im einstürzenden Tunnel kamen sie und ihre Gemeinde ums Leben; Alwyn jedoch gelang die Flucht, begleitet von Brauer, einem frommen Raufbold, und der treuen Toria mit dem vulgären Mundwerk. Gemeinsam entflohen die drei ihren Verfolgern und erreichten das Sanktuarium des Bundes in Callintor. Hier überredete Alwyn den Aszendenten, ihnen Zuflucht zu gewähren, und versprach ihm im Gegenzug eine Abschrift von Sihldas Testament – für einen Kleriker ein höchst wertvolles Schriftstück.

Doch auch als Schreiber und Gelehrter blieb Alwyn im Herzen ein Gesetzloser. Als in Callintor ein Bekannter von ihm namens Erchel eintraf, ein übler Geselle mit bestialischen Neigungen, den er für einen Komplizen Lorines hielt, beschloss er, ihn zu foltern, um die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Bevor er jedoch zur Tat schreiten konnte, wurde Erchel von einer gewissen Ayin, an der er sich vergreifen wollte, entmannt. Nach außen hin eine einfältige Frohnatur, machte Ayin mit gewalttätigen Männern kurzen Prozess. Erchels Tod war zwar nicht Alwyns Schuld, dennoch wurde er für den Mord verantwortlich gemacht. Zu seinem Glück kam es just zu diesem Zeitpunkt zur schicksalhaftesten Begegnung seines Lebens.

In der Schriftrolle der Wiederauferstandenen Evadine Courlain ist nachzulesen, dass sie Callintor damals tatsächlich einen Besuch abstattete. Ihr Auftrag war es, die erste Kompanie des Bundes aufzubauen, um ein Wiederaufflammen des Prätendenten-Aufstands zu verhindern, weshalb sie unter den versammelten Schurken des Sanktuariums nach Rekruten suchte. Gemeinsam mit seinen beiden Gefährten heuerte Alwyn unter dem Banner der Märtyrerin an – nicht etwa aufgrund seiner Frömmigkeit, sondern einzig, um dem Strick zu entgehen. Die arglose Ayin, für die Alwyn einen seltsamen Beschützerinstinkt empfand, trat ebenfalls in die Kompanie ein. Von der darauffolgenden Schlacht auf dem Feld der Verräter sind zahllose Geschichten überliefert, in denen Scribes Tapferkeit beschrieben wird. Seine eigene Erzählung zeichnet ein Bild von einer unfreiwilligen, wenn auch zweifellos siegreichen Teilnahme. Zudem bestätigt sich, was viele vermuten, nämlich, dass Alwyn damals Märtyrerin Evadine das Leben gerettet hat.

Von der Horde des Prätendenten war nach der Schlacht nicht mehr viel übrig, Evadine gelang es jedoch, ihren Kindheitsfreund Sir Wilhum Dornmahl vor der Hinrichtung zu bewahren. Als Verräter verlor Wilhum sämtliche Titel, konnte aber dem Tod entrinnen, indem er in die Kompanie des Bundes eintrat.

Nach der Schlacht geschah es auch, dass Alwyn seine Seele befleckte, indem er die Sackhexe, eine caerithische Heilerin, aufsuchte, um den von einem Giftpfeil tödlich getroffenen Brauer zu retten. Die Sackhexe hieß so, weil sie stets einen Sack über dem Kopf trug, angeblich um ihr schrecklich entstelltes Gesicht zu verbergen. Mit ihr traf Alwyn eine Abmachung: Im Gegenzug für die Rettung seines Freundes sollte er ein kleines altes Buch an sich nehmen, das in einer ihm unbekannten Schrift verfasst war. Zwar gab ihm die Bitte Rätsel auf, dennoch willigte er ein, und Brauer überlebte. Wie genau der Raufbold geheilt wurde, ist nicht überliefert, Alwyn schreibt seine Wiederherstellung jedoch den unnatürlichen Kräften der Hexe zu.

Von hier an folgt die Erzählung der bekannten Legende von Märtyrerin Evadine. Es wird berichtet, wie die Kompanie des Bundes nach Norden in die Hafenstadt Olversahl im umkämpften Fjordland entsandt wurde, um einen Aufstand und ein Einfallen der heidnischen Ascarlianer zu verhindern. In Olversahl traf Alwyn Berrine Jurest wieder, die jetzt in der berühmten Bibliothek von König Aeric arbeitete. Er überredete sie, das Buch der Sackhexe zu übersetzen, das – wie er erfuhr – in archaischem Caerithisch verfasst war und eine nahezu wörtliche Wiedergabe seiner ersten Begegnung mit Berrine im Shavine enthielt. Bevor Alwyn mehr herausfinden konnte, wurde Olversahl von einer Horde Ascarlianer überrannt. Ein sogenannter Tielwald fügte Märtyrerin Evadine im Kampf schwere Verletzungen zu, Alwyn und Wilhum gelang es jedoch, sie zu retten. Die Überlebenden der Kompanie segelten auf einigen beschlagnahmten Schiffen der Ascarlianer fort, und Olversahl und seine berühmte Bibliothek fielen den heidnischen Flammen zum Opfer.

Nach Ankunft in der Hafenstadt Farinsahl war Märtyrerin Evadine tagelang dem Tode nahe, bis Alwyn und Feldwebel Swain von der Kompanie des Bundes ihre Seelen der Verdammnis preisgaben, um sie zu retten: Alwyn sollte die Sackhexe suchen und sie bitten, ihre geliebte Feldherrin zu heilen. Kaum hatte sich Alwyn auf die Suche nach der Hexe gemacht, wurde er vom Kettenmann gefangen genommen. Imaginäre Geister hatten ihm eingeflüstert, Alwyn würde einmal sein Untergang sein, weshalb er schon seit Jahren danach trachtete, ihn zu töten. An einen Baum gefesselt konnte Alwyn nur die Folter des Kettenmannes ertragen und auf sein Ende warten. In dem Moment tauchte jedoch Lorine D’Ambrille auf, die inzwischen zur Herzogin der Shavine-Marschen aufgestiegen war, und enthüllte Alwyn, sie habe den Kettenmann beauftragt, ihn gefangen zu nehmen. Sie behauptete, an Deckins Tod unschuldig zu sein. Vielmehr machte sie einen Mann namens Todman dafür verantwortlich, den sie schon vor langer Zeit getötet hatte. Zum Beweis, dass sie die Wahrheit sprach, brachte sie den Kettenmann um und rettete Alwyn das Leben, bestrafte ihn aber für sein vorlautes Mundwerk, indem sie ihn am Baum gefesselt zurückließ.

Das Auftauchen der Sackhexe bewahrte Alwyn schließlich vor dem Hungertod. Sie befreite ihn und nahm ihm das Buch ab, das sie ihm gegeben hatte, ebenso wie Berrines Anleitung zu dessen Übersetzung. Zudem verriet sie ihm, dass ihr Gesicht unter dem Sack alles andere als entstellt war. Zusammen kehrten sie nach Farinsahl zurück, wo – und es schmerzt mein frommes Herz, dies zu berichten – Alwyn nach eigener Aussage an einem mysteriösen Ritual teilnahm, um die edle Evadine vor dem nahen Tod zu bewahren. Nach seiner Darstellung war ihre Wiedererweckung durch die Seraphilen nur eine Wahnvorstellung infolge eines Fiebertraums. Noch blasphemischer ist seine Behauptung, zwischen ihm und der Märtyrerin hätte sich eine körperliche Anziehung entwickelt. Ich hoffe, gesegnete Brüder, Ihr versteht jetzt, weshalb dieser Bericht um jeden Preis vor allen außer den Frommsten unter uns verborgen werden muss.

Die folgende Wiedergabe der berühmten Rede der Märtyrerin vor den Gläubigen Farinsahls entspricht wiederum überraschend genau der Überlieferung. Und auch die ruchlose Verschwörung einiger Diener der Krone, die sich vor dem Aufstieg der Märtyrerin fürchteten und sie in einen Hinterhalt lockten und verschleppten, wird wahrheitsgetreu beschrieben. Alwyn liefert manch erhellendes Detail dazu, etwa wie Brauer durch die Hand der Entführer starb. Zu diesem Zeitpunkt trennten sich die Wege zwischen ihm und Toria, die an Bord eines Schmugglerschiffs vor den drohenden Unruhen floh. Alwyn behauptet, er sei nicht mit ihr gegangen, weil zwischen ihm und der Märtyrerin eine rätselhafte Verbindung entstanden sei. Angesichts seines üblen Charakters würde ich jedoch eher vermuten, dass er sich irgendein gewinnbringendes Geschäft erhoffte.

Egal aus welchem Motiv, jedenfalls zog Alwyn mit der Kompanie des Bundes zur Burg Ambris, wo der zwielichtige Kleriker Arnabus die Märtyrerin in einem Schauprozess angeklagt hatte. Wegen angeblichen Verrats und Ketzerei zum Tode verurteilt, erwartete Evadine der Strick, bis sich Alwyn in einer Rüstung, die er sich von Wilhum Dornmahl geliehen hatte, einen Weg durch die Menge bahnte, um das Urteil anzufechten.

Dieser Aspekt der Geschichte wird von zu vielen Quellen bestätigt, als dass er falsch sein könnte – Alwyn Scribe forderte damals tatsächlich Großoffizier Althus Levalle zum Duell heraus und erlangte großen Ruhm, weil es ihm – zumindest eine Zeit lang – gelang, sich gegen den angesehenen Veteranen zu behaupten. Im Verlauf des Duells enthüllte Alwyn das Geheimnis, das Aszendentin Sihlda ihm anvertraut und dem sie ihre Verbannung in die Erzminen zu verdanken hatte: dass nämlich König Tomas von Albermaine in Wahrheit der uneheliche Sohn seines Kämpen war und kein Anrecht auf den Thron besaß.

Vom wütenden Großoffizier niedergeschlagen, wurde Alwyn von der Märtyrerin vor dem Todesstoß bewahrt. Evadine war von der Bühne gesprungen und streckte Sir Althus mit einem gestohlenen Schwert nieder, worauf sich die Soldaten des Bundes und die Gläubigen auf die Kompanie der Krone stürzten. Im darauffolgenden Handgemenge gelang es Evadine und ihren Anhängern, den halb toten Alwyn wegzutragen und ihn wieder in den Wald zu bringen, in dem er seine elenden Jugendjahre verbracht hatte. Die Märtyrerin und der Gesetzlose im gemeinsamen Aufstand vereint – doch konnte eine solche Verbindung lange halten?

Erster Teil

•••

Nicht selten vernahm ich die Frage im Flüsterton: »Hat es die große Plage wirklich gegeben? Brachten die Seraphilen Feuer und Zerstörung über die Welt, um sie von den Maleciten zu befreien? Ist es zu glauben, dass im Getümmel der flammenden Rettung tausende starben und riesige Städte untergingen?«

Meine Antwort, für die mich viele verdammen werden, war stets dieselbe: »Ist das wichtig?«

Aus Das Testament der Aszendentin Sihlda Doisselle, niedergeschrieben von Sir Alwyn Scribe

Erstes Kapitel

Erchel wartete im Traum auf mich. Von all den Toten in meiner Erinnerung war es ausgerechnet er. Nicht die hübsche, diebische Gerthe. Nicht Deckin, der furchterregende, wahnsinnige, aber manchmal auch weise König der Gesetzlosen. Nicht einmal der fanatische Stallknecht, den ich vor vielen Jahren in einer verschneiten Nacht dem Tod überließ. Nein, es war Erchel, der mich mit einem anzüglichen Grinsen begrüßte, das die fleckigen Zähne in seinem bleichen Gesicht dunkel hervortreten ließ. Von dem zerrissenen Stoff zwischen seinen Beinen tropfte Blut. Trotz des Grinsens wirkte er nicht eben erfreut, mich zu sehen. Was ich ihm nicht verdenken konnte. Selbst der freundlichste Mann wird es wohl krummnehmen, wenn man ihm das Gemächt absäbelt, und freundlich war Erchel zu Lebzeiten nie.

»Bist du hier, um es dir anzuschauen, Alwyn?«, fragte er und sein Kopf wackelte auf einem dürren Hals hin und her, der Ähnlichkeit mit einer sich windenden Schlange besaß. Dabei klang er nicht wie ein zorniger Sadist, der entmannt worden war, sondern eher wie ein verzweifelter Bettler. »Um dein Werk anzuschauen?«

Seine Finger, die länger und dünner waren, als ich sie in Erinnerung hatte, kratzten über die Armschiene an meinem Unterarm und hinterließen Blutflecken auf dem Metall.

»Bist jetzt ein Ritter, wie?«, zischte er hämisch und sein Kopf wippte auf und ab. »Hoch aufgestiegen? Höher, als der arme Erchel es je vermocht hätte. Hoch genug, um einem alten Freund ein paar Münzen zuzuwerfen.«

»Ich bin kein Ritter«, sagte ich und entriss ihm meinen Arm, weil seine Berührung mir trotz der Rüstung wehtat. »Und wir waren nie Freunde.«

»Willst du dem armen alten Erchel gegenüber etwa knausrig sein?« Mürrisch beugte er sich vor und griff sich mit den langen Fingern an die blutige Stelle zwischen den Beinen. »Dabei fehlt ihm sein bestes Stück, schon vergessen? Das kleine Biest hat’s ihm abgeschnitten, und du hast sie machen lassen.«

»Ich hab sie überhaupt nichts machen lassen«, erinnerte ich ihn. »Aber ich will nicht behaupten, dass ich sie dran gehindert hätte.«

Er biss die Zähne zusammen und stieß ein Geräusch aus, das wie ein groteskes zischendes Lachen klang. »Sie bekommt schon noch, was sie verdient«, sagte er. Seine Zähne klapperten, während sich in den Tiefen seines Mundes etwas Dunkles, Feuchtes wand. »Dafür wirst du sorgen.«

Von plötzlicher Wut erfasst packte ich mein Schwert und zog es aus der Scheide, doch Erchel befand sich nicht mehr in Reichweite. »Komm schon, komm«, sagte er und winkte mich zu sich. »Willst du dein Werk nicht bewundern?«

Über das büschelige Gras wehte Dunst heran, in dem Erchel nur noch wie ein gebeugter Schatten erschien. Der weiche Boden schmatzte unter meinen Stiefeln, während ich ihm folgte, getrieben von Neugier ebenso wie dem Wunsch, ihn zu töten – ein Vergnügen, das mir in der Wirklichkeit nicht vergönnt gewesen war. Wir schienen uns in einem Sumpf zu befinden, den ich nicht kannte. Überall herrschte dichter Nebel, und bis auf die bizarren Schatten von Felsbrocken, die wie stumme, reglose Ungeheuer aufragten, war im Dunkeln nichts zu sehen. Was immer das für ein Ort war, ich war noch nie hier gewesen.

Bald schon verlor ich Erchel im Dunst aus den Augen und wanderte ziellos umher, bis mich der Schrei irgendeines Tiers wie ein Leuchtfeuer anlockte. Der Ruf klang fremd – ein raues, tiefes Krächzen, das immer lauter wurde und bald schon mit einigen anderen Stimmen zu einem misstönenden Chor anschwoll. Der Ursprung wurde deutlich, als der Wind den Nebel auseinandertrieb und ein großer Vogel auftauchte, der auf einem halb versunkenen Leichnam hockte. Ein solches Tier hatte ich noch nie gesehen, groß wie ein Adler, aber ohne jede Anmut. Wie Erchels Kopf wippte auch der des Vogels auf einem langen Hals auf und nieder. Helle Knopfaugen musterten mich hungrig über einem blutigen Schnabel, der an ein spitzes Hackbeil erinnerte. Der Schnabel teilte sich, und der Vogel stieß einen weiteren Schrei aus, der von zahllosen anderen Kehlen erwidert wurde.

»Soweit ich weiß, werden sie Geier genannt«, teilte Erchel mir mit, der sich mit funkelnden Augen an meinem Entsetzen erfreute.

Ich schaute mich um und sah, dass der gesamte Sumpf bis in die dunstige Ferne mit hunderten, wenn nicht tausenden Vögeln bedeckt war. Sie schlugen mit den breiten Schwingen, und ihre Köpfe wippten auf und nieder. Immer wieder öffneten sie die Schnäbel, um in den Chor der grausigen Schreie einzustimmen. Offenbar freuten sie sich über das Aas, das es zu fressen gab. Waren die Vögel schon zahlreich, wurden sie von der Menge der Toten sogar noch übertroffen. Die Leichen lagen teils versunken im trüben Wasser. Die meisten waren Soldaten, die in dumpf glänzenden Rüstungen steckten. Aber auch gewöhnliche Leute, Kinder und Greise waren darunter. Hier und da leuchteten die farbenfrohen Gewänder von Adligen. Alle waren sie eines gewaltsamen Todes gestorben, und der Sumpf war rot vom Blut, das aus zahllosen Wunden floss.

»Das hier, Alwyn«, Erchel kicherte schrill, »das ist dein Werk …«

Ein Schrei brach aus meiner Kehle hervor, und ich stürzte mich auf ihn, riss das Schwert hoch, um ihn zu erschlagen. Aber, wie so oft im Traum, gelang es mir nicht. Erchel verschwand, und die Klinge traf nur Luft.

»Du hast sie gerettet.«

Ich wirbelte herum und sah seine gekrümmte Gestalt mit hämischem Grinsen hinter mir stehen. Sein Gesicht zitterte vor bösartiger Freude, wie stets, wenn er ein Tier gefangen hatte, um es zu quälen.

»Die Wiederauferstandene«, höhnte er. »Und hast damit eine Welt voller Leid und Tod geschaffen …«

Ich hob das Schwert auf Brusthöhe und packte den Griff mit beiden Händen, um dem grinsenden Unhold die Klinge in sein leuchtendes Auge zu stoßen. Doch wieder verschwand er, um mich von hinten weiter zu verspotten.

»Was dachtest du eigentlich, was du damit erreichst?«, fragte er und klang aufrichtig neugierig. Er stand jetzt neben dem Geier im Wasser, der geschäftig auf die Leiche einhackte, auf der er saß. »Hast du wirklich geglaubt, die Welt zu verbessern, indem du sie vor dem Tod bewahrst?«

»Halt den Mund!«, krächzte ich und ging auf ihn zu.

»Hast du von Aszendentin Sihlda denn gar nichts gelernt?« Auf dem überlangen Hals ragte Erchels Kopf unnatürlich hoch auf. Vorwurfsvoll zog er die Brauen zusammen. »Sie würde sich für dich schämen, wenn sie dich so sehen könnte …«

Ein unartikulierter Wutschrei entfuhr mir. Ich stürmte auf ihn zu und zog das Schwert schräg herum, um ihm den Kopf von dem schlangenähnlichen Hals abzuschlagen. Stattdessen stürzte ich jedoch in den Sumpf und wurde vom Gewicht meiner Rüstung unter Wasser gezogen. Panik loderte in mir auf. Ich warf strampelnd das Schwert weg, um mich wieder an die Oberfläche hochzukämpfen. Als ich endlich Luft schmeckte, sah ich Erchel über mir schweben. Auf seiner Schulter hockte der Geier, und über ihm verdunkelte sich der Himmel. Die anderen Vögel stiegen auf und sammelten sich zu einem dicht kreisenden Schwarm.

»Meine Freunde werden dich nicht sofort erledigen«, versprach Erchel und fügte dann breit grinsend hinzu: »Erst will ich dabei zuschauen, wie sie dir die Eier abreißen. Ob du wohl so laut schreien wirst, wie ich es getan habe?«

Krächzend breitete der riesige Vogel auf seiner Schulter die Schwingen aus und stürzte sich auf mich. Lange Klauen schlossen sich um meinen Kopf und drückten mich wieder in den Sumpf hinab. Der Vogel ließ nicht locker, während ich versank. Seine Klauen zerfetzten meine stählerne Armschiene, als wäre sie aus Papier, und sein Schnabel hackte in meine Haut, zerrte an meinem Fleisch, zerrte und zerrte …

»Alwyn!«

Meine Hand schoss nach vorn, um den Schnabel zu packen, der an meinem Unterarm riss. Stattdessen bekam ich jedoch ein menschliches Handgelenk zu fassen. Ein überraschter Aufschrei ließ mich erwachen, das wirbelnde rote Wasser verschwand, und Ayins Gesicht tauchte vor mir auf, die mich verwirrt ansah. Einen Moment lang lag ich nur da und schaute ihr in die Augen. Die Winterkälte drang auf mich ein, und die vertrauten Geräusche und Gerüche eines Lagers bei Sonnenaufgang fluteten meine Sinne.

»Hast du wieder geträumt?«, fragte Ayin und blickte vielsagend auf meine Hand, die ihr Gelenk gepackt hielt.

»Entschuldige«, murmelte ich und ließ sie los. Ich rutschte auf dem Haufen aus Fellen und Stofffetzen herum, der mein Bett darstellte, und setzte mich auf, um mir mit der Hand durch das zerzauste Haar zu fahren. In meinem Kopf hämmerte derselbe Schmerz, der mich auch begrüßt hatte, als ich vor zwei Wochen aus der Ohnmacht erwacht war – ein Andenken an Sir Althus Levalle, den ehemaligen Großoffizier der Kompanie der Krone, dem niemand eine Träne nachweinte. Bei aller Kritik an seinem Charakter, die ich vorbringen könnte – die Stärke seines Arms steht außer Zweifel.

»Ich träume nicht mehr«, sagte Ayin. »Seit die Feldherrin mich gesegnet hat.«

»Das ist … gut«, erwiderte ich und schaute mich nach dem grünen Fläschchen um, das ich in letzter Zeit ständig bei mir trug.

»Du solltest dich auch von ihr segnen lassen«, fuhr Ayin fort. »Dann träumst du bestimmt nicht mehr. Wovon hast du denn geträumt?«

Von einem Mann, dem du vor gar nicht langer Zeit die Eier abgeschnitten hast. Ich schluckte die bissige Bemerkung hinunter. Ayin konnte manchmal etwas aufdringlich sein, eine derart harsche Erinnerung an ihr früheres Ich hatte sie aber nicht verdient. Wenn ich allerdings an das dachte, was sie dem Aszendenten in Farinsahl nach Evadines Verschleppung angetan hatte, war ich nicht sicher, ob sie von ihren einstigen Gewohnheiten tatsächlich ganz geheilt war.

»Hast du schon mal von einem Tier namens Geier gehört?«, fragte ich stattdessen.

»Nein.« Sie zuckte blinzelnd mit den Achseln. »Was ist das?«

»Ein großer, hässlicher Vogel, der Leichen frisst.«

Ich stieß ein erleichtertes Seufzen aus, als ich das grüne Fläschchen unter der zusammengerollten Decke fand, die mir als Kissen diente. Betbruder Delric nannte den Inhalt »Elixier eines Quacksalbers«, da es Schmerzen linderte, ohne sie jedoch zu heilen. Quacksalber hin oder her, ich war stets dankbar dafür, wie schnell das bittere, ölige Gemisch das Pochen in meinem Kopf vertrieb. Delrics überraschtes Gesicht war das Erste, was ich nach dem Erwachen aus dem langen Schlaf sah, in den mich Levalles Hieb geschickt hatte. Mit seinen kundigen Händen hatte er eingehend meinen Kopf abgetastet und hin und wieder ein Knurren ausgestoßen, wenn er eine Beule oder einen Knubbel entdeckt hatte. Bei einem war er besonders lange verharrt.

»Hat mir der Schweinehund den Schädel gespalten?«, erkundigte ich mich.

»Ja«, erwiderte er schlicht. »Scheint aber zu heilen.« Dann reichte er mir das grüne Fläschchen mit der Anweisung, einmal am Tag zu ihm zu kommen, damit er meinen Kopf abtasten konnte. Außerdem sollte ich mich sofort bei ihm melden, sollte ich aus der Nase oder den Ohren bluten.

»Zeit zum Lernen«, sagte Ayin jetzt, nahm die Tasche von ihrer Schulter und legte sie in ihren Schoß. »Ich hab neue Tinte und Pergament.«

Ich verzog das Gesicht und schluckte noch einen Tropfen aus der Flasche, bevor ich den Stopfen wieder hineindrückte. Delric hatte mich davor gewarnt, dass ich bei übermäßigem Gebrauch des Zeugs zu dessen Sklave werden könnte. Dennoch war es jeden Tag aufs Neue ein Kampf, nicht alles auf einmal zu trinken.

»Woher?«, fragte ich und legte das Fläschchen wieder unter mein Kissen.

»Die Leute aus Ambriside haben heute Morgen Vorräte gebracht. Und ein paar Rekruten. Ich hab nachgezählt.« Sie griff in die Tasche und holte ein Stück Pergament heraus, mit einer krakeligen Strichliste darauf. »Eintausendeinhundertzweiundachtzig.«

Noch keine Armee, dachte ich. Aber in ein oder zwei Monaten vielleicht schon. Der Gedanke warf ein paar unangenehme Fragen auf. Wie würden Herzog Elbyn und, wichtiger noch, König Tomas darauf reagieren, dass sich im Shavine eine große Menge Gläubige versammelte, die alle der Wiederauferstandenen folgen wollten? In Wahrheit war ich jeden Tag aufs Neue überrascht, dass unsere Späher bislang noch keine Soldaten der Krone oder des Herzogs gemeldet hatten, die in den Wald eindrangen.

»Lernzeit«, wiederholte Ayin und stupste mich auffordernd an der Schulter an. Bereits seit ein paar Tagen gab ich ihr Unterricht im Schreiben und Rechnen, und sie hatte sich als gelehrige, mitunter übereifrige Schülerin erwiesen. Für die meisten einfachen Leute waren Lesen und Schreiben geheimnisvolle Künste, die nur die Geistlichen und Adligen beherrschten. Anfangs war auch Ayin dieser Meinung gewesen. Mit argwöhnisch gerunzelter Stirn hatte sie die Buchstaben betrachtet, die sie abschreiben sollte. Doch als sie erst verstanden hatte, dass das abstrakte Gekritzel Laute darstellte, die sich zu Wörtern verbinden ließen, war ihr Misstrauen schnell in helle Begeisterung umgeschlagen. Ihre Schrift blieb ungelenk, und die Buchstaben waren krumm und schief, lesen konnte sie jedoch schon erstaunlich flüssig. Es klang nicht mehr abgehackt, und sie zog die Vokale auch nicht in die Länge, wie ich es am Anfang meiner Lehrzeit getan hatte.

»Mit der ersten Offenbarung von Märtyrer Stevanos waren wir noch nicht ganz fertig«, erinnerte sie mich und holte die Schriftrolle aus ihrer Tasche. Ich unterrichtete sie genau so, wie ich es von Aszendentin Sihlda gelernt hatte. Folglich ließ ich Ayin wichtige Schriften des Bundes vorlesen und abschreiben und korrigierte dabei Rechtschreibung und Grammatik. »Wir waren an der Stelle, wo sich Stevanos gegen die Verführungskunst der Maleciten-Hure Denisha wehrt.«

In freudiger Erwartung wickelte sie die Schriftrolle aus, und ich dachte darüber nach, wie seltsam widersprüchlich Ayin doch war. In vieler Hinsicht ähnelte sie einem unschuldigen Kind, das sich in dieser verwirrenden Welt zurechtfinden muss. Allerdings hatte sie auch mehrere Morde begangen, ohne deswegen Schuldgefühle zu zeigen. Unserer Feldherrin Evadine war sie so ergeben wie eh und je. Zugleich schienen die reißerischen Stellen in den Schriften des Bundes sie besonders zu faszinieren, was ich, vor allem nach meinem Traum, beunruhigend fand.

»Ich glaube, heute probieren wir mal etwas anderes«, sagte ich und griff nach meinen Stiefeln.

Als wir aus der Nische zwischen zwei alten Steinblöcken traten, in der sich mein Unterschlupf befand, stand die Sonne hell am klaren Himmel. Wie mir gesagt wurde, hatte ich die fliehende Kompanie nach Evadines Rettung von der Burg Ambris im Delirium zu diesem Ort mitten im Wald geführt – ich selbst konnte mich daran nicht mehr erinnern. Die zahlreichen Ruinen, die noch aus der Zeit vor der großen Plage stammten, stellten das perfekte Versteck für eine Bande Gesetzloser dar, für Evadines immer größer werdende Anhängerschar waren sie jedoch längst zu klein geworden. Man hatte Bäume gefällt, um provisorische Hütten zu errichten, in denen die Soldaten der Kompanie und die neuen Rekruten Platz fanden. Letztere mussten gerade die Aufmerksamkeit von Feldwebel Swain und den anderen Befehlshabern über sich ergehen lassen.

»Gerade stehen, hab ich gesagt!«, bellte Swain einem schlaksigen Kerl zu, der vergeblich versuchte, in der ersten Reihe einer unordentlichen Kohorte Haltung anzunehmen. »Weißt du nicht, was ›gerade‹ heißt, du dünnbeiniges Spatzenhirn?«

So, wie der Kerl Augen und Mund aufriss, bezweifelte ich tatsächlich, dass ihm schon einmal jemand die Bedeutung des Wortes beigebracht hatte.

»Bei den Märtyrern«, brummte Swain und entriss dem Schlaksigen die Pike. »Das hier«, sagte er und hielt die Waffe in die Höhe, »ist gerade. Und das auch.« Er hielt die Pike waagerecht und stieß den Schaft hart in die Brust des Kerls, sodass dieser in die Reihe dahinter fiel und die Rekruten links und rechts von ihm mit umriss. »Wenn du in einer Schlachtreihe nicht gerade stehst, ergeht’s dir schlimmer als einem nackten Arsch im Winter«, sagte Swain. »Aufstehen!«

Die anderen Soldaten, die in einzelnen Trupps auf die spärlichen Lichtungen verteilt waren, hatten es kaum besser. Die Rekruten waren ein bunt gemischter Haufen; neben Grünschnäbeln, die vom Kämpfen keinen blassen Schimmer hatten, waren auch Veteranen darunter und andere, die schon mindestens einmal mit den Truppen des Herzogs marschiert waren. Die meisten waren Bauern, keine Stadtbewohner, und von dem tiefen, wenn auch fehlgeleiteten Wunsch beseelt, der Wiederauferstandenen zu folgen. In den letzten Tagen waren auch einige Geistliche aufgetaucht, zumeist junge Novizen, die noch nicht die Weihe als Betbruder oder -schwester erhalten hatten. Die wachsende Zahl der Bauern schürte die Sorge darüber, wie der König reagieren würde. Und dass nun auch noch Geistliche eintrafen, die dem Bund den Rücken gekehrt hatten, würde dessen Ablehnung der Wiederauferstandenen wohl eher noch verstärken. Offiziell anerkannt hatte er sie bislang ohnehin nicht.

Ich führte Ayin von den schreienden und fluchenden Soldaten weg und ging mit ihr zu einem flachen Bach. Die Ufer und die moosbewachsenen Steine, die aus der Strömung ragten, waren mit Raureif überzogen. Ich schob meinen Mantel unter mir zusammen, setzte mich auf einen Stein nahe einer Biegung und wartete schweigend, bis Ayin mich erneut am Arm anstupste.

»Was machen wir …?«

»Warte«, sagte ich und hielt den Blick auf die Mitte des Baches gerichtet, wo sich ein großer Felsbrocken aus dem Wasser erhob. Der Vogel tauchte schon bald auf, ließ sich flatternd auf dem Felsen nieder und begann, mit dem kleinen Schnabel im Moos nach Milben zu picken.

»Was siehst du?«, fragte ich Ayin.

»Einen Vogel auf einem Stein«, sagte sie und kniff verwundert die Augen zusammen.

»Was für einen Vogel?«

»Ein Rotkehlchen.« Ihre Liebe zu Tieren schien die Oberhand zu gewinnen, sie wirkte nun schon fröhlicher. »Es ist hübsch.«

»Ja.« Ich nickte zu ihrer Tasche. »Schreib’s auf.«

»Was soll ich aufschreiben?«

»Was du siehst. Den Vogel, den Stein, den Bach. Schreib alles auf.« Das war eine von Sihldas Lektionen gewesen, für die ich damals allerdings mein Gedächtnis hatte bemühen müssen, weil es in den Erzminen so wenig Interessantes zu sehen gab.

Ayin griff gehorsam in ihre Umhängetasche und holte Schreibfeder, Tinte, Pergament und das flache Holzbrett heraus, das sie als Schreibtisch benutzte. Der Anblick des grob geschnitzten Dings versetzte mir einen Stich, und ich musste an den herrlichen aufklappbaren Schreibtisch denken, den ich beim Überfall der Ascarlianer auf Olversahl verloren hatte.

Ayins Miene wirkte immer noch zweifelnd, während sie den Stopfen aus dem Tintenfass zog. »Wozu?«, fragte sie.

»Wenn du selbst schreiben lernen willst, darfst du nicht bloß die Worte anderer kopieren«, erklärte ich. »Wahre Kunstfertigkeit entsteht aus Begreifen.«

Sie setzte sich neben mich, kniff wieder die Augen zusammen und stellte das Tintenfässchen sorgfältig so auf, dass es nicht umfiel. Dann tauchte sie die Feder ein und begann zu schreiben. Wie üblich korrigierte ich ihre Fehler, während sie schrieb, und führte manchmal ihre Hand, um die Buchstaben zu formen. Ihre Schrift blieb ein ungelenkes Gekritzel, wenn sie in letzter Zeit auch leserlicher geworden war. Heute war Ayin zögerlicher als sonst, ihre Feder verharrte des Öfteren über dem Pergament, genau wie bei mir, als Sihlda mir diese Lektion zum ersten Mal erteilt hatte. Abschreiben war stets einfacher, aber wenn Ayin je eine echte Schreiberin werden wollte, dann musste sie lernen, eigene Worte zu formulieren.

»Das Rotkehlchen sitzt auf dem Stein«, las sie nach einigen Mühen stolz lächelnd vor. Zwar erschien sie mir immer noch wie ein Kind, doch ihr Lächeln erinnerte mich daran, dass sie inzwischen zu einer jungen Frau geworden war und einer hübschen noch dazu. Was ich nicht wenig beunruhigend fand.

»Gut«, sagte ich. »Mach weiter. Beschreib den Vogel, beschreib den Stein. Und nicht nur, was du siehst. Welche Geräusche macht der Bach? Wonach riecht die Luft?«

Eine Weile lang sah ich zu, wie ihre Schreibfeder über das Pergament kratzte, in Gedanken aber kehrte ich bald wieder zu meinem Traum zurück. Gern wollte ich mir einreden, dass das Bild mir zuvor unbekannter Vögel, die sich an Leichen gütlich tun, auf die kürzlich erlittene Kopfverletzung zurückzuführen war. Wer wusste schon, wie sich ein gespaltener Schädel auf das Gehirn auswirkte? Doch die Vögel waren mir realer vorgekommen, als es für ein Traumbild möglich schien. Außerdem hatten Erchels Worte wahr geklungen. Das war nicht der Unsinn, den man sonst von Traumgestalten zu hören bekam. Du hast die Wiederauferstandene gerettet und damit eine Welt voll Leid und Tod geschaffen …

Ich erschauerte und zog meinen Mantel fester um mich. Dabei fiel mir die Melodie auf, die Ayin bei der Arbeit vor sich hin summte. Sie hatte eine angenehme, von Natur aus melodiöse Stimme, und ab und zu mischten sich ein paar kurze Strophen in ihr Lied. Für gewöhnlich war es albernes Zeug ohne tieferen Sinn, das sie nur des Reimes wegen dichtete, heute jedoch besaß das Lied tatsächlich einen Inhalt.

»So lebt wohl, ihr Schwestern und Brüder«, sang sie eine angenehm schwermütige Weise. »Lebt wohl, ihr Brüder im Stahl …«

»Was ist das?«, fragte ich. Sie blickte von ihrem Pergament auf.

»Nur ein Liedchen«, sagte sie und zuckte mit den Achseln. »Ich singe es bei der Arbeit.«

»Hast du es dir ausgedacht?«

»Ich denke mir alle meine Lieder selbst aus. Schon seit ich klein war. Ma mochte es immer, wenn ich ihr was vorsang.« Ihre Miene wurde düster. »Sie war dann weniger wütend, also hab ich’s oft gemacht.«

Ich deutete auf das Pergament. »Schreib’s auf, das Lied, das du gerade gesungen hast.«

Sie runzelte skeptisch die Stirn. »Ich weiß nicht, wie die Wörter geschrieben werden.«

»Ich zeig’s dir.«

Anfangs war ihre Hand noch zögerlicher als sonst, aber bald schon gewann sie mehr Selbstvertrauen, während sie sich mit der Aufgabe anfreundete. Sie sang die Zeilen und schrieb sie dann nieder. »Bald schon ziehn wir in die Schlacht, und für mich wird es das letzte Mal …«

»Ist das alles?«, fragte ich nach einer Weile, als sie bereits die ganze Seite mit Strophen vollgeschrieben hatte.

»Jedenfalls alles, was ich mir bis jetzt ausgedacht habe.«

»Wie nennst du es? Ein gutes Lied braucht einen Titel.«

»›Das Schlachtenlied‹. Die ersten Zeilen sind mir nach der Schlacht auf dem Feld der Verräter eingefallen.«

»Das ist ein bisschen schlicht.« Ich nahm ihr Schreibfeder und Pergament ab, fügte über den Strophen einen Titel und noch ein paar Verzierungen an den Buchstaben hinzu.

»›Des Kriegers Schicksal‹«, las Ayin und verzog spöttisch den Mund.

»Das klingt poetisch«, sagte ich verärgert, was sie jedoch nur noch mehr zu belustigen schien.

»Wie du meinst.«

Ich runzelte die Stirn und überlegte, ob ich sie zurechtweisen sollte, als eine Stimme durch die Bäume meinen Namen rief. Ein junger Mann mit gerötetem Gesicht kam auf uns zugeeilt, stolperte über eine Wurzel und wäre beinahe hingefallen. Wie viele der einstigen Novizen des Bundes, die unter Evadines Banner angeheuert hatten, war Eamond Astier ein Stadt- und kein Landkind. Die eifrigen, aber oft behütet aufgewachsenen jungen Leute waren recht ungeschickt und mit ihrem neuen Zuhause im Wald noch unvertraut.

»Meister Scribe«, keuchte er atemlos und mit rotem Kopf. Ich verkniff mir ein müdes Seufzen, als er sich auch noch verbeugte. Obwohl ich keinen Rang besaß, neigten die Neulinge zu solchen Ehrbezeugungen, und ich hatte es inzwischen aufgegeben, sie davon abhalten zu wollen. »Die Gesegnete bittet um Eure Anwesenheit.«

Seine Stimme klang dringlich und auch etwas zittrig, was auf Furcht hindeutete. Eamond war nur etwa ein oder zwei Jahre jünger als ich, und doch wirkte sein glattes, bartloses Gesicht sehr jung, als er sich aufrichtete. Sein schnelles Blinzeln war das eines Mannes, der noch nie gekämpft hatte und eine Schlacht auf sich zukommen sah.

»Gibt’s Ärger?«, fragte ich und reichte Ayin das Pergament zurück.

»Späher sind aus dem Osten zurückgekehrt«, sagte er und schaute kurz zu Ayin und dann wieder zu mir. Dass er sich trotz seiner Angst von einem hübschen Gesicht ablenken ließ, belustigte mich. Meine Heiterkeit schwand jedoch bei seinen nächsten Worten: »Sie sind da, Meister Alwyn. Die Soldaten des Königs.«

»Und du bist sicher, dass es Männer des Königs sind?«

So unterwürfig, wie Fletchmann nickte, war es offenbar das erste Mal, dass er von der Gesegneten direkt angesprochen wurde. Er war eindeutig kein unerfahrener Jungspund. Die robuste Kleidung und der Eschenholzbogen, den er in der Hand hielt, ließen auf einen Wilddieb schließen. Dennoch wand er sich unter Evadines Blick verlegen wie ein Kind.

»Wie viele?«, fragte Swain.

»Ich habe einhundert gezählt, Bruder Feldwebel«, erwiderte Fletchmann. »Könnte natürlich nur eine Vorhut sein. Wir hielten es für das Beste, die Nachricht schnell zu überbringen, anstatt weiter zu beobachten. Sie lagern in Shrivers Hain, etwa acht Meilen östlich von hier.«

»Lagern?«, fragte ich mit überraschtem Stirnrunzeln.

»Ja, Meister Scribe«, sagte der Wilddieb etwas weniger ehrfürchtig – ein Gesetzloser erkennt den anderen. »Ich fand es ebenfalls seltsam. Sie suchen nicht nach Spuren und haben auch keine Jäger oder Spürhunde mitgebracht. Nur einhundert Berittene unter drei Bannern.«

»Drei Banner«, wiederholte Evadine. Sie sprach leise, aber ich hörte einen Hauch Bestürzung in ihren Worten. »Bitte beschreibe sie.«

»Das größte war das Banner des Königs. Zwei große goldene Raubkatzen. Das zweite wies eine schwarze Rose auf weißem Grund auf. Das dritte war ein rot-blau gestreifter Wimpel.«

Bei der Beschreibung des zweiten Banners tauschten Evadine und Wilhum einen Blick aus. Es war eines, das sie beide gut kannten. Mir war es ebenfalls vertraut, ich hatte es nach der Schlacht auf dem Feld der Verräter gesehen, an dem Tag, als die Legende der Gesegneten ihren Anfang nahm. Damals war ein Ritter, dessen Schild von einer solchen Rose geziert wurde, zu uns gekommen und hatte Wilhum Dornmahl, einen Freund aus Evadines Kindheit, der zum Verräter geworden war, in ihre Hände übergeben.

»Der rot-blaue Wimpel ist das Zeichen des Waffenstillstands«, erklärte Evadine. Lächelnd ergriff sie Fletchmanns Hand, der sofort vor ihr auf ein Knie sank. »Bitte lass das«, sagte sie. »So förmlich muss man nur Prinzen gegenüber sein. Steh auf, ich möchte dir für deine gute Arbeit heute danken. Und jetzt geh und ruh dich aus.«

»Ein Waffenstillstand also«, sagte Wilhum, nachdem der Späher – trotz Evadines Aufforderung immer noch mit geneigtem Kopf – gegangen war. »Schlau von König Tomas, von all seinen Rittern ausgerechnet ihn zu schicken.«

»Schlau.« Evadine nickte, doch dann glitt ein Anflug von Verärgerung über ihr Gesicht. »Oder grausam.«

»Einhundert königliche Soldaten sind kein schlechtes Aufgebot«, sagte Swain. »Aber eines, mit dem wir, wenn nötig, fertigwerden.«

»Wenn das tatsächlich alles ist«, hielt ich entgegen. Ich musterte Evadine sorgfältig, bevor ich hinzufügte: »Sollte es eine Falle sein, dann ist der Köder gut gewählt.«

»Du denkst doch nicht etwa, dass ich einfach blind in das Lager reiten werde, Meister Scribe?«, fragte Evadine und hob eine Augenbraue.

»Ich denke, der König oder seine Ratgeber wussten genau, welchen Ritter sie schicken mussten. Einen, den du garantiert verschonen wirst. Aber wenn sie ohne Hunde gekommen sind, ist das ein gutes Zeichen. Es könnte bedeuten, dass sie tatsächlich reden wollen.«

»Wir haben auf der Burg Ambris eine Menge königliche Soldaten getötet«, wandte Wilhum ein. »Und den Großoffizier noch dazu. Während sie im Begriff standen, das Urteil von Krone und Bund zu vollstrecken. So etwas lässt sich nur schwer wiedergutmachen.«

»Das mag für den Anführer eines Aufstands oder einen Gesetzlosen gelten«, gab ich zurück und sah Evadine an. »Aber nicht für die Wiederauferstandene.«

Evadine verschränkte die Arme und senkte den Kopf. Sie trug die einfache Baumwollhose und das Hemd, die sie sonst unter ihrer Rüstung anhatte, und hatte sich als Schutz vor der Kälte einen Bärenfellmantel um die Schultern gelegt. Ihr Gesicht war blass wie immer, inzwischen kannte ich sie jedoch gut genug, dass mir auffiel, wie müde sie wirkte: Die leicht verzogenen Mundwinkel und ihre geröteten Augen deuteten auf eine schlaflose oder zumindest unruhige Nacht hin. Hatte auch sie Albträume gehabt, und wenn ja, waren darin Geier vorgekommen?

Schließlich presste sie die Lippen zusammen – ein weiteres Zeichen, das mir inzwischen vertraut war. Sie hatte sich entschieden. Ihre Entscheidungen konnten für uns alle Leben oder Tod bedeuten. »Wähle einhundert Soldaten aus«, sagte sie zu Swain. »Die besten, die wir haben. Zur Mittagszeit marschieren wir los, um meinen Vater zu treffen.«

Zweites Kapitel

Als Sir Altheric Courlain unsere Truppe zwischen den Bäumen hervortreten sah, ging er durch die Kette der Wachposten, die um das königliche Lager verteilt waren. Der Ort war hinsichtlich seiner Verteidigung gut gewählt. Shrivers Hain war ein Gehöft, das schon länger leer stand und aus ein paar eingestürzten Gebäuden auf einer niedrigen Anhöhe bestand. Zum Vorteil des erhöhten Geländes kamen die bröckeligen Steinmauern hinzu, die eine nützliche Barriere gegen jeden Angriff bildeten. Zudem war man auf dem Gehöft vor ungebetenen Gästen einigermaßen sicher. Gesetzlose mieden den Ort, was an den Geschichten über Shrivers Schatten lag. Angeblich sollte der Geist des längst verstorbenen Besitzers des Gehöfts noch immer in den Gemäuern hausen. Er hatte einst in einem Anfall von Wahnsinn seine Familie erwürgt und die Leichen der Ermordeten an den Ästen der Apfelbäume aufgehängt, weil er glaubte, dass sie dadurch zu neuem Leben erwachen würden. Als das nicht geschah, trieb ihn die Last seiner Schuld selbst in den Tod. Als unerlöste Seele durfte er nicht durch die Himmlische Pforte treten und war stattdessen dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit auf seinem alten Gehöft umherzuirren. Über die Jahre hatten schon viele behauptet, ihn gesehen zu haben, ich selbst gehöre aber nicht dazu. Die Bäume waren knorrig und verwachsen, doch wenn tatsächlich je Leichen an ihren Ästen gehangen hatten, war davon jetzt nichts mehr zu sehen.

Sir Altheric trug ein edles Lederwams anstelle einer Rüstung, und seine einzige Waffe war das Langschwert an seinem Gürtel. Außerdem hatte er den rot-blau gestreiften Wimpel in der Hand und stach ihn in die Erde, als er etwa zwanzig Schritt von den Wachposten entfernt stehen blieb. Für einen Mann von derart beeindruckender Größe und Körperkraft war es ein Leichtes, die Wimpelstange tief in den Boden zu rammen, sodass sie aufrecht stehen blieb, als er sie losließ. Danach trat er zurück, legte demonstrativ seinen Schwertgürtel ab und warf ihn zu Boden.

»Du solltest nicht alleine gehen«, riet Wilhum Evadine, die nun ebenfalls ihr Schwert abnahm und es ihm reichte. »Die Stelle, die er ausgewählt hat, ist für meinen Geschmack zu nah an den Wachposten.«

»Ich habe vollstes Vertrauen in das Ehrgefühl meines Vaters«, sagte sie. »Sollte ein königlicher Soldat mich gefangen nehmen wollen, wird er ihn eigenhändig töten. Aber ich stimme dir zu, dass noch jemand anwesend sein sollte, um sich anzuhören, was er zu sagen hat.« Sie hob eine Hand, als Wilhum seinen Schwertgürtel ablegen wollte. »Nimm’s mir nicht übel, Wil, aber du weißt, dass er seit unserer aufgelösten Verlobung nicht mehr gut auf dich zu sprechen ist. Und du selbst konntest ihn auch nie ausstehen. Ich glaube, ich brauche einen objektiveren Zeugen.«

Sie wandte sich mit hochgezogenen Brauen mir zu und deutete auf den wartenden Ritter neben dem Wimpel. »Wenn du mir die Ehre erweisen würdest, Meister Alwyn.«

Während wir die Anhöhe hinaufstiegen, bellte Feldwebel Swain unserer einhundert Mann starken Eskorte, die ausschließlich aus Veteranen vom Feld der Verräter und von der Schlacht in Olversahl bestand, Befehle zu. Er ließ sie entlang der Bäume dicht Aufstellung nehmen, sodass sie nötigenfalls schnell vorwärtsstürmen konnten. Sir Altherics Haltung spiegelte die seiner Tochter: Er hatte die Arme verschränkt und musterte uns abschätzend, wenn auch mit strengerer Miene. Wie zu erwarten galt seine Aufmerksamkeit vor allem Evadine, aber auch mir maß er einen längeren Blick zu, als wir ein halbes Dutzend Schritte vom Wimpel entfernt stehen blieben. Ich hatte ihn bislang nur mit Rüstung gesehen und stellte jetzt fest, dass sein Gesicht Evadines ähnelte: Er besaß hohe Wangenknochen und bleiche Haut, sein Haar war länger und sein Bart dichter, als es für einen Ritter üblich war. Die blauschwarzen, von silbrigen Strähnen durchzogenen Locken wehten im Wind, während sein Blick über mein Gesicht hinwegglitt und dann zu Evadine zurückkehrte.

»Vater«, sagte sie und verneigte sich tief. Ich verbeugte mich ebenfalls und sank auf ein Knie, wie es vom einfachen Volk bei der Begrüßung eines Adligen erwartet wurde. Sir Altheric hingegen fühlte sich nicht bemüßigt, uns zu begrüßen.

»Du bist dünner geworden«, sagte er zu Evadine, als sie sich wieder aufrichtete. Auch seine Stimme ähnelte ihrer, nur klang sie etwas barscher. »Hast dich wohl bloß von Würmern und Nüssen ernährt, wie?«

»Ich kann dir versichern, dass es mir nicht an Essen mangelt, Vater«, erwiderte Evadine. Als sie sah, dass ich immer noch das Knie beugte, huschte ein verärgerter Ausdruck über ihr Gesicht, und sie bedeutete mir aufzustehen. »Darf ich vorstellen …«, begann sie, doch Sir Altheric fiel ihr ins Wort.

»Der Schreiber, der gegen den Großoffizier gekämpft hat.« Er musterte mein Gesicht mit der krummen Nase, das von meinem Leben als Gesetzloser und kürzlich erst vom Kampf mit Sir Althus Levalle deutlich gezeichnet war. »Wie ich hörte, war es ein ziemliches Spektakel. Jeder Knecht von hier bis Couravel redet davon. Der Gesetzlose, der beinahe einen Ritter besiegt hätte, noch dazu einen ziemlich berühmten.« Ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Aber nur beinahe.«

Es sollte wohl eine Prüfung sein – eine Einladung dazu, ihm entweder trotzig zu widersprechen oder eingeschüchtert den Blick abzuwenden. Ich beschloss, weder das eine noch das andere zu tun. »Ganz recht, edler Herr«, erwiderte ich freundlich. »Ich habe gegen ihn gekämpft, und er hätte mich zweifellos getötet, hätte Eure Tochter ihm nicht ihr Schwert in den Schädel geschlagen.« An der Stelle hätte ich aufhören sollen, aber ich konnte noch nie der Versuchung widerstehen, andere herauszufordern, die sich für etwas Besseres hielten. »Ein Schicksal, das ich für weitaus barmherziger halte, als er es verdient hatte.«

Sir Altherics Augen verengten sich belustigt. »Da kann ich dir nicht widersprechen«, knurrte er und wandte sich wieder Evadine zu. »Ich will auf unnötige Förmlichkeiten und leere Worte verzichten.« Er nickte zu dem Wimpel, der über ihm flatterte. »Vermutlich weißt du, was das bedeutet?«

»Der König hat dich geschickt, um in seinem Namen zu verhandeln«, sagte Evadine. »Was heißt, dass du uns seine Bedingungen überbringen sollst. Darf ich eine Vermutung äußern, wie die aussehen könnten?«

Die Miene des Ritters verfinsterte sich. Hatte er eben noch belustigt gewirkt, so stand er jetzt stocksteif da, und sein Gesicht zuckte vor Zorn. Zugleich wirkte es jedoch so, als sei er das gewohnt. Offenbar war es nicht das erste Mal, dass seine Tochter ihn in Rage brachte. »Wenn es sein muss«, brummte er.

»Ich soll meine Kompanie auflösen«, sagte Evadine. »Meine Anhänger sollen ihre Waffen abgeben und nach Hause zurückkehren, dann wird ihnen jede Strafe erlassen. Ich soll König Tomas die Treue schwören und mich in irgendeinen abgelegenen Schrein zurückziehen, wo ich bis ans Ende meiner Tage die Märtyrer still um Vergebung anflehen kann.« Sie schenkte ihm ein unfrohes Lächeln. »Habe ich recht, Vater?«

Sir Altherics Wut schien verraucht zu sein, stattdessen trat ein bedauernder Ausdruck auf sein Gesicht. Wie er seine Tochter ansah – vermutlich das eigensinnigste Geschöpf, das sein Stammbaum je hervorgebracht hatte –, teilte mir jedoch noch etwas anderes mit. Die Liebe dieses Mannes zu seiner Tochter wurde zwar auf eine harte Probe gestellt, war aber dennoch ungebrochen.

»Du hast recht«, sagte er seufzend, »und liegst zugleich falsch.« Er straffte sich und fuhr im abgehackten Ton von jemandem fort, der eine auswendig gelernte Botschaft vortrug. »König Tomas lässt ausrichten, dass sich die bedauerlichen Ereignisse auf der Burg Ambris ohne sein Wissen und seine Genehmigung zugetragen haben. Er hat gegen die Person Evadine Courlain kein Dekret erlassen und ihre Taten auch nicht verurteilt. Stattdessen muss sich Herzog Elbyn von den Shavine-Marschen dafür verantworten, unerlaubt im Namen des Königs gesprochen und die Gesegnete entführt zu haben, die als heldenhafte Kämpferin Seiner Majestät hochgeschätzte Dienste erwiesen hat. Ein jeder Adliger, der sich bei diesem Verbrechen als Mittäter schuldig gemacht hat, wird ebenfalls bestraft werden. Evadine Courlain ist herzlich eingeladen, den König in Couravel zu besuchen, um dort für ihren Dienst im Fjordland gebührend geehrt zu werden. Seine Majestät wartet zudem mit Freuden darauf, dass sie ihm ihre aufrichtige Loyalität zusichert und das Versprechen ablegt, in Zukunft keinerlei Verrat mehr in Wort oder Tat zu begehen.«

Bei den letzten Worten richtete sich sein Blick auf mich. Ich hatte mich schon gefragt, ob der Satz, den ich Sir Althus in der Hitze des Kampfes an den Kopf geworfen hatte, von der Menge der Zuschauer gehört worden war. Tomas Algathinet ist ein Bastard, der nicht mehr Anrecht auf den Thron hat als ich! Aszendentin Sihldas Geheimnis, das sie mir anvertraut hatte und das in ihrem Testament festgehalten war, schien in die Welt hinausgelangt zu sein. Wie weit mochte es sich schon herumgesprochen haben, und wie viele glaubten daran? Auch der König selbst? Da er noch auf dem Thron saß, hatte er der Geschichte von seiner unehelichen Herkunft wohl nicht allzu viel Bedeutung beigemessen, oder es kümmerte ihn nicht, dass er nicht König Mathis’ Sohn, sondern der seines berühmten Kämpen war.

Evadine nahm die Worte ihres Vaters schweigend auf und hielt den Kopf nachdenklich gesenkt. Vor ihrer Entführung in Farinsahl war sie voller Eifer für ihren Kreuzzug gewesen, befeuert von der Vision, dass eine Seraphile leibhaftig zu ihr gekommen war, um sie zu retten. Ihre überirdische Heilung war nur der erste Schritt auf dem Weg, die Menschen des Landes für die Wahrheit des Bundes zurückzugewinnen, eine himmlische Bestätigung dafür, dass sie mit ihrem Ziel, das Wiedererstarken der Maleciten und die zweite große Plage zu verhindern, richtiglag. Seit dem Blutbad auf der Burg Ambris hatte ich in den gemeinsamen Wochen im Wald jedoch eine Evadine kennengelernt, die stärker in sich gekehrt war. Inzwischen hielt sie nur noch selten Predigten, obwohl ständig neue Rekruten zu uns kamen. Stattdessen umrundete sie täglich das Lager und nickte den Leuten, die sie ehrfürchtig grüßten, bloß stumm zu. Nach der kurzen Zeit, die ich in ihrer Gegenwart verbracht hatte, bereiteten mir ihr müdes Gesicht, der zweifelnde Ausdruck, ihr unsteter Blick und ihre leise Stimme zunehmend Sorgen.

Sir Altheric musterte Evadine und trat dann näher, was mich erstarren ließ. Ich hatte mein Schwert in Wilhums Obhut zurückgelassen, hatte jedoch aus eingefleischtem Misstrauen im Stiefel heimlich ein Messer stecken. Als der Ritter jetzt zu seiner Tochter ging und ihre Hand ergriff, wirkte seine Haltung aber alles andere als bedrohlich.

»Das ist ein Ausweg für dich, Evadine«, sagte er leise und flehend. »Ich bitte dich, nimm ihn an.«

Sie schloss die Augen und biss die Zähne zusammen. Vermutlich hatte sie die Hand ihres Vaters schon lange nicht mehr auf sich gespürt, ob nun in einer freundlichen Geste oder aus Wut. Von den Briefen, die ich für ihren trotteligen Möchtegernverehrer, den verstorbenen Sir Eldurm Gulatte, verfasst hatte, wusste ich, wie sehr Sir Altheric seinem einzigen Kind zugeneigt war. Gulattes bittere Seitenhiebe gegen ihn ließen auf einen Mann mit starkem Beschützerinstinkt schließen, der nach Gulattes Meinung seiner Tochter jede Chance verwehrte, die Liebe zu finden, ganz gleich, wie würdig ihr künftiger Gatte sein mochte. Zudem hatte Evadine durch das Erlernen der Kampfkunst und ihre Entscheidung, eine Klerikerin des Bundes zu werden, mit ihrer Familie gebrochen und jegliches Erbe verwirkt. Für einen Mann von solch edler Abstammung mussten die Blamage und Missachtung schwer zu ertragen sein, dennoch war er hierhergekommen – wenn sich auch nicht sagen ließ, ob er es eher ihr zuliebe oder für das Königreich tat. König Tomas mochte ein Bastard sein, aber er saß nun einmal auf dem Thron. Nachdem der Prätendent vernichtend geschlagen oder zumindest in seine Schranken verwiesen war, besaß Tomas keine Rivalen mehr. Und nun war zur Unzeit eine Wiederauferstandene aufgetaucht und in seinem Namen in einem falschen Schauprozess angeklagt worden.

Ich überlegte schon, ob ich Evadine warnen sollte, nur für den Fall, dass die Bitte ihres Vaters tatsächlich ihr Herz erweichte. Es galt, das Angebot genau zu durchdenken und darüber zu verhandeln. Wenn Tomas tatsächlich Herzog Elbyn und seine Mittäter verurteilen wollte, zeugte dies von seinem Bedürfnis, die gegenwärtige Krise zu überwinden. Ein solches Bedürfnis eröffnete Möglichkeiten. Mir war das klar, Evadine jedoch vielleicht weniger. Außerdem hatte ich mir Sir Altherics Worte aufmerksam angehört und glaubte, in manchen scheinbar harmlosen Formulierungen eine tiefere Bedeutung entdeckt zu haben. Eine Warnung war jedoch unnötig, denn als Evadine die Augen öffnete, lag statt der zweiflerischen Müdigkeit der letzten Wochen glühende Wut darin.

»Sag mir, Vater«, erwiderte sie, »hältst du mich immer noch für eine Lügnerin? Oder wie war das? ›Vom Wahnsinn befallen wie so viele ihres Geschlechts, wenn die Weiblichkeit in ihnen erblüht?‹« Sir Altherics Züge verhärteten sich, er nahm die Hand weg und trat einen Schritt zurück, während sie fortfuhr. »Du erinnerst dich noch, wie ich dir das erste Mal von meinen Visionen erzählt habe, oder? Wie ich dich schluchzend bat, etwas dagegen zu tun?«

Das Gesicht des Ritters lief dunkel an, und Scham schimmerte in seinen Augen. »Ich behaupte nicht, ein Mann ohne Fehl und Tadel zu sein, ob nun als Vater oder sonst wie. Aber ich habe versucht, dir zu helfen.«

»Ja.« Ein freudloses Lachen drang über ihre Lippen. »Mit allen möglichen Heilern, die mir übelschmeckende Medizin eingeflößt haben, von der ich würgen musste oder vor Schmerzen geschrien habe. Dann kam eine caerithische Scharlatanin, die Talismane über meinem Körper schwenkte und mich mit stinkenden Zaubertränken traktierte, während ich die Märtyrer anflehte, meine Seele vor ihrem heidnischen Unfug zu schützen. Und als nichts davon half, war als Nächstes ein perverser Betbruder an der Reihe, der bereit war, den Wahnsinn aus mir herauszupeitschen. Ein Mann, der wahrlich in seiner Berufung aufging. Und all das musste ein dreizehnjähriges Mädchen ertragen, deren einziges Verbrechen darin bestand, dass sie ihrem Vater die Wahrheit erzählt hatte.«

Sie verstummte, ihr Zorn legte sich so schnell, wie er aufgeflammt war. Vater und Tochter starrten einander einen Herzschlag lang an, bevor Sir Altheric den Blick senkte, während Evadine unbeirrt blieb. »Meister Alwyn«, sagte sie, ohne mich anzuschauen. »Wie würdet Ihr auf das höchst großzügige Angebot des Königs antworten?«

Ihre direkte Frage traf mich unvorbereitet, was mir womöglich anzumerken gewesen wäre, hätte nicht just in diesem Moment das lästige Pochen in meinem Schädel aufs Neue eingesetzt. Der stechende Schmerz ließ eine tiefe Falte auf meiner Stirn entstehen, und ich zog die Schultern hoch.

»Darf ich mich in einer kurzen Mutmaßung ergehen, edler Herr?«, fragte ich und rieb mir mit der Hand über die Stirn, was das Pochen jedoch nicht vertrieb.

Offenbar hielt Sir Altheric mich für einen Wichtigtuer, der das Ohr der Gesegneten hatte, deshalb murmelte er nur unverbindlich: »Ergeht Euch, in was immer Ihr wollt, Meister Scribe.«

»Der König nennt Evadine eine heldenhafte Kämpferin«, sagte ich. »Zudem erwähnt er Verrat in Wort und Tat. Liege ich richtig mit der Annahme, dass die Querelen, die dieses Königreich erschüttert haben, auf dem Feld der Verräter noch kein richtiges Ende gefunden haben?«

Der Adlige nickte widerstrebend und richtete den Blick wieder auf seine Tochter. »König Tomas braucht jeden loyalen Untertanen, den er finden kann«, sagte er. »Besonders solche, die sich bereits im Kampf bewährt haben.«

»Der nächste Krieg, der uns erwartet«, erwiderte Evadine mit grimmiger Miene. »Das ist der Preis für meine Begnadigung?«

»Ich will nicht vorgeben zu wissen, was im Kopf des Königs vorgeht. Ich darf lediglich sagen, dass sich im Süden neues Unheil zusammenbraut. Zu welchen Bedingungen du der Krone dienst, ist eine Sache zwischen dir und dem König.«

»Mir fällt auf, dass Ihr den König recht häufig erwähnt«, sagte ich, da über das Thema des bevorstehenden Krieges offenbar nicht mehr aus ihm herauszuholen war. »Über den Bund aber sprecht Ihr nicht. Darf ich fragen, wie die hohen Kleriker zu dieser Sache stehen?«

»Dem König«, sagte Sir Altheric und wandte sich mir mit kaltem Blick zu, »steht es frei, seine eigenen Gesetze zu machen und Leute zu begnadigen, wie er es für richtig hält, ohne die Kleriker zurate ziehen zu müssen.«

»Evadine Courlain ist Aspirantin im Bund der Märtyrer«, wandte ich ein. »Und eine Wiederauferstandene. Und doch war es ein Diener des Bundes, ein gewisser Aszendent Arnabus, der den falschen Schauprozess durchgeführt hat. Die Großzügigkeit und Weisheit des Königs wissen wir natürlich sehr zu schätzen, doch kann die Sicherheit der Gesegneten, die die größte Sorge all ihrer Anhänger ist, nur garantiert werden, wenn sich Krone und Bund hinsichtlich ihrer Zukunft in diesem Reich einig sind.«

Der Ritter schüttelte ärgerlich den Kopf. »Für den Bund kann ich nicht sprechen.«

»Nein.« Ich neigte zustimmend die Stirn. »Er wird für sich selbst sprechen müssen.« Ich hielt inne und wandte mich Evadine zu, die ihren Vater inzwischen nicht mehr ganz so finster ansah. Ich hob fragend eine Augenbraue und erhielt ein knappes Nicken zur Antwort. Seit ihrer Heilung durch die Sackhexe hatten wir die Fähigkeit entwickelt, uns ohne Worte zu verständigen. Sie hatte mir gerade die Erlaubnis gegeben, an ihrer Stelle zu verhandeln.

»Weshalb«, sagte ich und wandte mich wieder Sir Altheric zu, »die Zustimmung zu König Tomas’ Bedingungen nicht hier oder in Couravel gegeben werden kann, sondern nur in Athiltor, der heiligsten aller Städte, wo der Rat der Eminenzen seine Billigung dieser Abmachung und die Anerkennung der Wiederauferstandenen verkünden muss. Damit der Rat einen Eindruck davon gewinnt, wie hoch angesehen die Gesegnete beim einfachen Volk ist, wird sie mit ihrer ganzen Kompanie und allen, die sich ihr unterwegs anschließen wollen, dorthin reisen.«

»Ihr wollt mit einer Armee aus Bauern in Athiltor einmarschieren?« Sir Altherics Tonfall klang bestürzt, aber auch leicht beeindruckt. Offenbar wusste er taktisches Denken durchaus zu schätzen.

»Dem Wunsch des Königs nach einem friedlichen Abschluss der bedauerlichen Angelegenheit kommen wir gern entgegen«, erwiderte ich. »Wenn die Wiederauferstandene den heiligsten Ort in ganz Albermaine besucht, von tausenden bejubelt und vom König persönlich begrüßt, wird jeder wissen, wie hoch sie in seiner Gunst steht. Und höchstens ein Narr würde noch denken, dass er ihr schaden will.«

Sir Altheric seufzte und beugte sich vor, um sein Schwert vom gefrorenen Gras aufzuheben. »Spricht dieser Mann für dich?«, fragte er Evadine und legte den Schwertgürtel wieder um.

»Er hat mein Vertrauen«, erwiderte sie, »weil er es sich verdient hat, Vater. Du hast uns die Bedingungen des Königs überbracht, und du hast meine gehört. Morgen wirst du diesen Wald verlassen und sie dem König und dem Rat der Eminenzen überbringen. Innerhalb eines Monats werde ich mit meiner ganzen Kompanie in Athiltor sein.«

Sie nickte mir zu, und wir wandten uns zum Gehen.