Der Porzellaner - Annick Klug - E-Book
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Annick Klug

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Beschreibung

Als junger Bergmann bricht Samuel Stöltzel 1706 nach Meißen auf, um bei dem berühmt berüchtigten Alchemisten Friedrich Böttger das Goldmachen zu erlernen - nicht zuletzt, um damit auch das Herz seiner geliebten Sophie zu gewinnen. Statt des ersehnten Goldes, das König August zur Finanzierung seiner Kriege braucht, gelingt die Erfindung des Porzellans. Enttäuscht muss Samuel jedoch zusehen, wie sich die nun entstehende Manufaktur in Machtkämpfen zwischen Böttger, dem kreativen Kopf, und Nehmitz, dem Beamten des Hofes, aufreibt. Samuel sieht sich gezwungen, mit dem Herstellungsgeheimnis nach Wien zu fliehen, wo er auf eine neue Chance für sich und das weiße Gold hofft ...

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Inhalt

 

CoverÜber das BuchTitelImpressumTeil ISamuel – Bei Meißen, 5. Januar 1719Samuel – Freiberg, 1706Samuel – Meißen, 1706Samuel – Meißen, 1706Sophie – Oberbobritzsch bei Freiberg, 1706Samuel – Meißen, 1706Sophie – Bobritzsch bei Freiberg, 1706Samuel – Königstein, 1707Sophie – Meißen, 1707Samuel – Dresden, 1707Samuel – Meißen, 1707Samuel – Dresden, 1708Constantia – Dresden, 1708Teil IISamuel – Bei Pirna, 5. Januar 1719Samuel – Dresden, 1708Samuel – Dresden, 1708–1709Constantia – Berlin, 1709Constantia – Dresden, 1709Constantia – Dresden, 1709August – Thorn, 1709Samuel – Dresden und Freiberg, 1709Samuel – Dresden, 1709Constantia – Dresden, 1709Constantia – Leipzig, 1710Constantia – Danzig, 1710Samuel – Meißen, 1711Sophie – Meißen, 1711Samuel – Meißen, 1711Constantia – Stralsund und Dresden 1711–1712August – Dresden, 1712Constantia – Dresden, 1712Samuel – Meißen, 1712–1713Samuel – Dresden, 1713Teil IIISamuel – Bei Schandau, 6. Januar, 1719Samuel – Meißen, 1714August – Meißen, 1714Samuel – Meißen, 1714Sophie – Meißen, 1714Samuel – Meißen, 1714–1715Sophie – Meißen, 1715Samuel – Meißen, 1715Constantia – Pillnitz, 1715August – Warschau, 1715Sophie – Meißen, 1715Samuel – Schneeberg und Freiberg, 1716Samuel – Meißen, 1716August – Warschau, 1716Constantia – Halle, 1716Samuel – Meißen, 1717Sophie – Meißen, 1718Samuel – Meißen, 1718Samuel – Freiberg, 1718Samuel – Dresden, 1718Sophie – Meißen, 1718Samuel – Meißen, 1718Teil IVSamuel – Wien, 1719Constantia – Stolpen, 1719August – Dresden, 1719Samuel – Wien, 1719Sophie – Meißen, 1719Samuel – Wien, 1719August – Dresden, 1720Samuel – Wien, 1720Constantia – Stolpen, 1720Samuel – Wien, 1720Sophie – Meißen, 1720Samuel – Meißen, 1720Danke

Über das Buch

 

Als junger Bergmann bricht Samuel Stöltzel 1706 nach Meißen auf, um bei dem berühmt berüchtigten Alchemisten Friedrich Böttger das Goldmachen zu erlernen – nicht zuletzt, um damit auch das Herz seiner geliebten Sophie zu gewinnen. Statt des ersehnten Goldes, das König August zur Finanzierung seiner Kriege braucht, gelingt die Erfindung des Porzellans. Enttäuscht muss Samuel jedoch zusehen, wie sich die nun entstehende Manufaktur in Machtkämpfen zwischen Böttger, dem kreativen Kopf, und Nehmitz, dem Beamten des Hofes, aufreibt. Samuel sieht sich gezwungen, mit dem Herstellungsgeheimnis nach Wien zu fliehen, wo er auf eine neue Chance für sich und das weiße Gold hofft

 

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

  

Die Autorin dankt dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und

Kultur des Landes Brandenburg und der VG Wort mit dem Programm

»Neustart Kultur« für die Förderung der Arbeit an diesem Roman.

  

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

  

Textredaktion: Anna Hahn, Trier

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

Einband-/Umschlagmotiv: © Lucie Skalova; artsandra;

PrachaubCh/shutterstock

eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7517-4779-0

luebbe.de

lesejury.de

Teil I

Samuel

Bei Meißen, 5. Januar 1719

Tief sank Samuel in den Schnee. Schritt für Schritt zog er die Stiefel aus dem weiten, weiß beschneiten Feld, das sein Gewicht mit leisem Knirschen einsog und nur mit einem widerwilligen Seufzer wieder freigab. Er kämpfte sich vorwärts, stieß den Atem rhythmisch aus, angetrieben von einer unbändigen Wut und der Verzweiflung darüber, was er von nun an sein würde: ein Verräter. Noch haderte er mit sich, ob er nicht umkehren sollte, doch seine Füße schienen nur eine Richtung zu kennen – fort. Fort aus Meißen, ja sogar fort aus Sachsen. Obwohl er sicherlich eine neue Anstellung finden würde. Er war ein guter Bergmann, der jederzeit unterkäme in den Silberminen in Freiberg, wo auch seine Brüder arbeiteten, oder zu Hause in Scharfenberg beim Vater. Samuel sah den Vater vor sich. Hochmut kommt vor dem Fall, würde sein Blick sagen. Und doch war es nicht dieser Blick, dem Samuel entfloh.

Er erreichte den Hügelkamm, weit weg von der Straße, und schaute hastig zurück, ob ihn vielleicht jemand verfolgte, aber da war nichts außer der gespenstisch schimmernden Schneefläche und seinen einsamen Spuren darin, die die stetig herabsinkenden Flocken bald unter sich begraben haben würden. Hier auf dem Hügel war der Schnee weniger tief, der Wind hatte alles fortgeweht. Ein eisiges Fegefeuer, dachte Samuel, während er sich weiter antrieb. Seine Lunge schmerzte, und die Wangen waren taub vor Kälte. In festen Klumpen hing der Schnee an seinem Mantel, unter dem er die Mappe spürte, die er sich zwischen Hemd und Wams gesteckt hatte, um sie vor der Nässe zu schützen. Seine Notizen, Briefe und Rezepte waren das Einzige, was ihm geblieben war von seiner Zeit in der Manufaktur. Samuel zog den Mantel enger um sich und streckte das Gesicht dem schwarzen sternenlosen Himmel entgegen.

»Böttger!«, schrie er in die Nacht hinaus, anklagend und hilflos, während der Wind ihm die Schneeflocken ins Gesicht jagte, kleine Nadelstiche, die an seiner Wut zu einem Nichts verdampften. Eine Wut, die sein Herz besetzte, seine Gedanken, seinen gesamten Körper. Böttger hatte ihm alles genommen. Er, der ihm Meister und Gefährte zugleich gewesen war. Ein Freund. Roter Löwe, weißer Drache. Samuel erinnerte sich zurück an das Labor, in dem sie gearbeitet hatten, an die Tiegel, Pfannen und Kolben, die rußgeschwärzten Mauern und die schwelende Glut. Er roch die schmelzenden Erze, den beißenden Qualm, der ihnen die Tränen in die Augen getrieben hatte, und fühlte noch einmal das Verlangen nach dem Gold, das sie hatten erschaffen wollen. Ein giftiger Traum, der Böttger den Verstand gekostet hatte und Samuel alles, was er liebte.

Meißen lag bereits weit hinter ihm, als Samuel es wagte, sich wieder der Straße zu nähern. Er pflügte sich den Weg talabwärts, strauchelte und rutschte, bis er in dem weichen, kühlen Bett liegen blieb. In der Nacht mutete der Schnee gräulich an, wie die Porzellanmasse, für die er als Massemeister zuständig gewesen war. Ein gutes Grab wäre das, ein passendes, dachte er und lachte bitter auf, bevor er sich wieder hochrappelte. Nur nicht an Sophie denken, sagte er sich und tat es unweigerlich. Ihre Tante hatte ihn nicht mehr zu ihr gelassen, hatte ihn fortgejagt, und jetzt, da Samuel auf alles, was geschehen war, zurückblickte, gab er Böttger auch daran die Schuld. Sophie hatte oben am Fenster der Schenke gestanden, mit blassem Gesicht, ohne eine Gefühlsregung. Nur die Hand hatte sie gehoben und ihm zum Abschied zugewinkt. Wo waren ihr funkelnder Blick, ihr spöttisches Lachen, das Beben ihres Körpers, der sich mit jeder Faser nach einem unabhängigen Leben verzehrte? Wo war die Sophie, die er liebte? Auch sie hatte ihn verraten. Oder nein. Sie hatte sich selbst verraten.

Samuel erreichte die Straße, die dank der Schlitten, Wagen und Wanderer fest und leicht zu begehen war. Wieder blickte er sich um, aber es war kein Mensch zu sehen. Ein Stückchen weiter, wo der Weg im Wald verschwand, sollte der Wagen auf ihn warten, keine einfache Kutsche, sondern mindestens eine feine Equipage mit livriertem Diener hatte man ihm versprochen. Dort, zwischen den Bäumen, ließ sich bereits das Schimmern einer Laterne erahnen. Aus dem Gebüsch fuhr ein Rabe hoch. Schnee stob von den Ästen, und Samuel zuckte zusammen. Der Gruß des schwarzen Vogels war ihm unheimlich und doch ging er entschlossen auf das Licht zu und fand auch bald den Wagen, der allerdings keine Equipage war, sondern ein klappriges Gefährt, von dem Samuel hoffte, dass es nicht in der nächsten Schneewehe auseinanderfallen würde. Die Enttäuschung senkte sich bang in seine Brust. Würden sich auch all die anderen Versprechungen, die der geheimnisvolle Monsieur Lemont ihm gemacht hatte, nur halb erfüllen? Noch konnte er umkehren. Samuel aber trat näher an den Wagen heran. Der Kutscher saß bewegungslos unter einem Berg von Fellen und Decken. Beinahe fürchtete Samuel, er sei erfroren. Erst als er ihn mit dem Erkennungswort ansprach, erwachte der Mann aus seiner Starre und hieß Samuel in die Kutsche einsteigen. Samuel klopfte sich den Schnee vom Mantel und vertraute sein Schicksal dem Fremden an. Schlitternd setzte sich der Wagen in Bewegung und fuhr durch die Dunkelheit der Ungewissheit entgegen. Genau wie vor dreizehn Jahren, dachte Samuel, als er mit vier anderen Männern nach Meißen gekommen war. Schnee hatte keiner gelegen, damals im Januar des Jahres 1706. Dafür war sein Herz voller Hoffnungen gewesen, und in seiner Erinnerung glühten noch Sophies Kuss und das Versprechen, das er ihr damals in Freiberg gegeben hatte. Ein Goldmacher hatte er werden wollen. Ein Goldmacher.

Samuel

Freiberg, 1706

Ein Goldmacher also. Samuel berauschte sich an dem Wort. Es klang nach Wagnis, nach einer Offenbarung, nach einer ganz besonderen Art des Studiums, abseits der Universitäten, die ja für einen einfachen Bergmann wie ihn unerreichbar waren. Es war schon viel, dass der Bergrat, Pabst von Ohain, ihn als seinen Gehilfen eingestellt hatte. Hier, im Haus des angesehenen Wissenschaftlers, hatte Samuel mehr gelernt, als er sich je hätte träumen lassen. Begierig lauschte er den Gesprächen, von denen ihm kein Wort entging, stellte Fragen, sooft es möglich war, und doch blieb er unter den gelehrten Herren am Ende nur ein Zaungast. Sein unermüdlicher Eifer, der Ohain oft an die Grenzen seiner Geduld brachte, war vielleicht auch ein Grund, warum man ausgerechnet ihn nach Meißen schickte. Dort auf der Albrechtsburg sollte Samuel in den Dienst einiger besonderer Wissenschaftler treten. Einer von ihnen war ein ehemaliger Apothekergeselle, dessen Name Ohain stets mit gedämpfter Stimme aussprach: Böttger. Viel wusste Samuel nicht über ihn, nur, dass der Bergrat seit einiger Zeit den königlichen Auftrag hatte, diesem Böttger bei seiner Arbeit auf die Finger zu schauen und ihn dabei, wo es ging, zu unterstützen – sei es mit Material oder mit Gehilfen. Eine Arbeit, von der stets nur in Andeutungen gesprochen wurde, aber Samuel hatte seinen Herrn von Aurum flüstern hören und von einem Hauptwerk, dessen Gelingen der König ungeduldig erwartete. Es bestand kein Zweifel daran, dass es dabei ums Goldmachen ging.

Den Weg durch das Haus des Bergrats kannte Samuel im Schlaf – die knarrenden hölzernen Stiegen im oberen Stockwerk, die steinernen Stufen, die von der ersten Etage in die Halle hinunterführten, die breite Diele mit den geschnitzten Wäscheschränken, die Nischen in den Mauern, in denen die Talglichter standen, und schließlich die geräumige Küche mit dem altmodischen gemauerten Herd und dem mächtigen Rauchabzug, von welchem Pfannen und Töpfe in allen Größen und Formen herabhingen. Hier schnappte sich Samuel das nötige Geschirr, um in der Speisekammer den Most und die Gurken für den Bergrat zu holen, die dieser immer zum Frühstück aß. Und während seine Füße ihn wie von selbst über die Stufen und Türschwellen führten, preschten seine Gedanken in die Zukunft vor. Warum sollte es nicht möglich sein, Gold herzustellen? Hatte nicht zuvor schon einer rotes Glas gemacht? Und ein anderer den giftigen grauen Kobalterzen die schönste blaue Farbe entlockt und wieder ein anderer das Schwarzpulver erfunden? Warum also nicht auch Gold? Jener märchenhafte Stoff, der seinem Besitzer nicht nur Reichtum brachte, sondern die Tür in ein neues Leben zu öffnen versprach.

Der Sonnenstreifen auf dem Lehmboden erlosch, als Samuel die Tür zur Speisekammer hinter sich zuzog. Er hielt inne, bis seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Das Fass mit den Gurken stand hinter der Tür – fünf Stück sollten es sein, der Bergrat nahm es immer sehr genau. Samuel hob den Deckel vom Gurkenfass und rührte mit der Holzzange in der trüben Essigsuppe. Drei Gurken lagen bereits auf dem Teller, da sprang wie aus dem Nichts eine Gestalt hinter dem Sauerkrautfass hervor. Buh! Samuel rutschte vor Schreck der Teller aus der Hand, Essig schwappte auf die Hose und die Gurken glitschten über den Rand. Blitzschnell fasste er nach. Flink war er schon immer gewesen. Vielleicht kein Riese, aber wendig, und man sah ihm die harte Arbeit eines Bergmanns immer noch an. Seine Hände waren während seines Diensts beim Bergrat glatter geworden, aber zupacken konnte er so gut wie eh und je. Er erwischte den Teller kaum eine Handbreit über dem Boden.

»Sophie?«

Die Kammerzofe der Bergrätin. Sie musste ihn abgepasst haben. Keck und zugleich unschuldig wie ein Engel lugte sie hinter dem Fass hervor und verspeiste genüsslich den Rest eines Apfels. »Was denn?«

Jetzt kam sie Schritt um Schritt auf ihn zu, den hübschen Kopf mit dem nussbraunen streng frisierten Haar leicht nach vorne gereckt. Ihre zierliche Gestalt tänzelte um Säcke und Töpfe wie ein Fräulein bei Hofe, bis sie einer Gurke, die ihr im Weg lag, mit der Fußspitze einen gezielten und ganz und gar nicht höfischen Stups versetzte. Die Arme verschränkt, blieb sie vor Samuel stehen. Wild trommelte sein Herz. Es war kühl in der Speisekammer und roch nach Essig, geräucherter Wurst und Dörrobst. Sophie musterte ihn. Wo immer sie ihm über den Weg lief, ließ sie Samuel spüren, dass sie ihn für einen Schwätzer hielt, im besten Fall für einen Träumer. Auch jetzt lag Spott in ihrem Blick, beinahe Verachtung, aber Samuel meinte auch ein neugieriges Funkeln zu erkennen. Nervös strich er sich seine schwarzen störrischen Locken hinter die Ohren und straffte sich.

»Heute siehst du mich vielleicht zum letzten Mal die Gurken für den Bergrat aus der Speisekammer holen.«

»Pfff«, machte Sophie. »Wo soll’s denn hingehen?«

»Nach Meißen gehe ich, um ein Goldmacher zu werden. Und ein Forscher.«

»Und morgen holst du die Sterne vom Himmel?«, fragte Sophie lachend.

»Für dich auch das!«, gab Samuel zurück und legte vorsichtshalber den Teller beiseite, denn bei Sophie wusste man nie, was sie im Schilde führte. Sie aber kam nur immer näher, so nah, dass er die goldenen Sprenkel in ihren Augen sehen konnte. Augen blank und grün wie geschliffener Zöblitzer Serpentin. Dann, als ihre Nasenspitze fast die seine berührte und Samuel kaum noch zu atmen wagte, verzogen sich ihre Züge zu einem Grinsen. Samuel erwischte sie am Überkleid. Sie beugte ihr lachendes Gesicht zu ihm, sodass die Zahnlücke frech vor seiner Nase tanzte. Auge in Auge. Ihre Finger in seine Oberarme gekrallt. Und ihr Atem, ihr apfelsüßer Atem, der sich warm auf seine Wangen legte.

»Sophie«, flüsterte Samuel und suchte nach einem Satz, einem Geschenk, einem Versprechen, das er ihr geben wollte.

»Wenn ich ein Goldmacher werde, nimmst du mich dann?«

»Sicher doch, wenn du ein Goldmacher wirst, dann nehme ich dich.« Ihre Augen blitzen auf, Begierde und Abscheu zugleich. Und bevor Samuel begreifen konnte, was geschah, näherten sich ihre Lippen den seinen. Ihr Kuss war forschend. Er schmeckte fremd und süß, und das Glück überfiel ihn prickelnd, beinahe schmerzhaft, warm, kalt, endlos – und jäh unterbrochen vom Sonnenlicht, das durch die sich öffnende Tür fiel, vom Schrei der Bergrätin und vom Klirren der Schüssel, als diese auf dem Boden zersprang.

Am Nachmittag desselben Tages trat Samuel in das Arbeitszimmer des Bergrats, das sich im nördlichen Teil des Hauses befand. Der hohe Raum war zu drei Seiten bis unter die Decke mit Regalen versehen, in denen sich die Bücher und Aktenmappen aneinanderreihten. Als Bergrat und Oberzehntner stand Ohain dem Bergbau in Freiberg zwar vor allem als Beamter und Steuereintreiber vor, aber er hatte sein wissenschaftliches Interesse nie verloren und forschte neben seiner alltäglichen Arbeit, sooft es seine Zeit erlaubte. Durch die beiden quadratischen Fenster fiel das blasse Licht eines fortgeschrittenen Wintertages. Mehrere Tische standen im Zimmer verteilt, auf denen sich weitere Bücher und Mappen türmten, daneben Gesteinsproben, buntes Glas und allerlei Metallklumpen, die in Kästen sortiert oder offen herumlagen. Gottfried Pabst von Ohain saß, die Stirn in Falten gelegt, über seinen Schreibtisch gebeugt und schien nichts um sich herum wahrzunehmen. Er war ein gedrungener, etwas schwerfälliger Mann, der die fünfzig überschritten hatte und sich zu jeder Jahreszeit in warme, wollene Kleidung packte, was seine Rundlichkeit noch betonte. Samuel war noch immer wie benommen von Sophies Kuss, unsicher, ob sie sich vielleicht nur einen Scherz mit ihm erlaubt hatte. Keinen klaren Gedanken konnte er fassen – und das, obwohl er doch eine wichtige Entscheidung zu treffen hatte. Eine Entscheidung, die seinem Leben eine vollkommen neue Wendung geben würde. Leise räusperte er sich, sodass der Bergrat aufsah.

»Und, Stöltzel? Habt Ihr Euch entschieden?«

Samuel hielt die Luft an. Aber nur für einen Wimpernschlag, denn eigentlich hatte er längst einen Entschluss gefasst.

Wieder in der Diele, blieb Samuel am Absatz der Treppe stehen. Aus der Küche klang das vertraute Klappern und Lachen der Mägde herauf. Ganz allmählich kam ihm zu Bewusstsein, was er mit seiner Zusage angestoßen hatte, und bei dem Gedanken an den fremden Ort, der ihn erwartete und an dem er keinen Menschen kannte, wurde ihm nun doch etwas bang ums Herz. Bis zum Abend strich er im Haus herum und suchte nach Sophie. Er hätte sich gern von ihr verabschiedet und ihr gesagt, dass seine Ankündigung, ein Goldmacher zu werden, keineswegs ein Scherz war. Er klopfte gar unter einem Vorwand an die Stubentür der Bergrätin und erschrak, als diese selbst öffnete. Stammelnd machte er unter ihrem strengen Blick kehrt. Sie würde froh sein, dass sie ihn los war und nicht länger um die Sittsamkeit ihrer Zofe fürchten musste. Zurück in seiner Kammer, machte er sich umständlich daran, die wenigen Kleidungsstücke, die er besaß, in ein Tuch zu wickeln, und sah dabei immer wieder nachdenklich aus dem kleinen Giebelfenster hinüber zu den Dächern der Stadt. Kurz fragte er sich, wie sehr er Sophie und sein Leben in Freiberg vermissen würde, dann aber nahm die Begierde zu erfahren, was es mit dem Goldmachen auf sich hatte, überhand, und er schnürte entschlossen sein Bündel.

Hatte es ihn nicht lange schon aus der Enge Freibergs fortgezogen? Und war da nicht immer schon etwas Unbestimmtes gewesen, das Samuel antrieb zu wachsen, zu wissen und die Welt um sich in immer größeren Kreisen zu entdecken, so wie andere Männer vor ihm, die über die Meere gefahren waren oder den Sternenhimmel erforscht hatten? Warum sollte er nicht auch dazugehören? Als Kind war er gern zur Schule gegangen und hatte es kaum erwarten können, seinen Heimatort Scharfenberg zu verlassen. Bei seinem letzten Besuch zu Hause hatte er stolz berichtet, dass er in Freiberg nicht mehr in den Silberminen grub, sondern in die Dienste des Bergrats Pabst von Ohain getreten war. Der Vater jedoch, bei dem Samuel das Bergmannshandwerk gelernt hatte, hielt von alldem nichts.

»So ein Blödsinn«, hatte er gefaucht. »Dass einer wie du überhaupt das Schreiben gelernt hat.«

»Aber Vater …«

»Einer, der als Bergmann geboren ist und sich nun unter den studierten Leuten bewegt. Gotteslästerlich ist das, gefallsüchtig. Ohne Demut.«

Noch bis zum letzten Abend seines Besuchs hatte Samuel gehofft, der Vater könnte, wenn nicht verstehen, so doch zumindest respektieren, dass der Sohn einen anderen Weg ging und dass es keinesfalls anmaßend war, wenn er seinen Wissensdurst und sein Talent zum Lesen und Schreiben nutzte, das ja auch von Gott gegeben war. Während die Mutter nach dem Abendessen den Tisch abräumte und die Geschwister Samuel umringten und ihn bestürmten, bald wieder heimzukehren und ihnen etwas aus der Stadt mitzubringen, schielte Samuel immer wieder zum Vater in der Hoffnung auf eine versöhnliche Geste. Die zornigen Tränen, die aufstiegen, würgte er hinunter, und als der Vater schließlich ohne ein Wort des Abschieds vom Tisch aufstand, brach sich Samuels Enttäuschung unvermittelt Bahn. Er sagte Dinge, die er später bereute, und als selbst das vom Vater nicht beachtet wurde, zerschlug er in seiner wütenden Ohnmacht einen Stuhl und wünschte dem Vater gar den Tod.

Solange er zurückdenken konnte, war der Vater so gewesen. Als wäre etwas in ihm erloschen. Im Gegensatz zu Samuel ließ die Mutter sich nicht davon beirren. Sie lachte über den Griesgram, neckte ihn, indem sie ihn dazu verführte, ein Glas Wein zu trinken, was er zunächst immer ablehnte, so wie er auch ihre Zärtlichkeiten abwehrte und ihnen doch nie widerstehen konnte. Einmal, Samuel musste etwa zwölf Jahre alt gewesen sein, waren der Vater und er in der Silbermine verschüttet worden. Wegen Samuels zahlloser Fragen waren sie während der Arbeit hinter den anderen zurückgeblieben, und plötzlich hatten sich einige Gesteinsbrocken rieselnd von der Decke gelöst. Im nächsten Augenblick brach der Berg über ihnen zusammen. Wie durch ein Wunder blieben sie unverletzt, aber der Weg nach draußen war ihnen versperrt. Starr vor Entsetzen wartete Samuel darauf, dass der Vater etwas unternehmen würde, um sie zu retten. Die Flamme der Kerze flackerte bereits schwach, aber der Vater saß völlig bewegungslos da und tat nichts. Nur seine Lippen formten stumm ein Gebet. Erschrocken begriff Samuel, dass er sich mit dem Tod abgefunden hatte, und schüttelte den Vater, worauf dieser, wohl zum ersten Mal in seinem Leben, den Sohn in die Arme schloss und an sich drückte. Samuel war überwältigt gewesen von der Wärme, nach der er sich immer gesehnt hatte, und verharrte an der Brust seines Vaters für einen ewigen Augenblick zwischen den Welten. Dann aber riss er sich los. Wie besessen begann er, mit bloßen Händen das Geröll zur Seite zu schieben, bis er die Stimmen der anderen hörte. Der Berg öffnete sich, und Samuels Lunge füllte sich mit Luft. Nie hatte der Vater es ihm gedankt, dass er ihm das Leben gerettet hatte. Er schien danach eher noch gleichgültiger gegenüber allem und noch mehr darum bemüht, sich jede Freude am Leben zu versagen. Bei jenem letzten Besuch in Scharfenberg verließ Samuel das Haus der Eltern noch in derselben Nacht. Das Versprechen, bald zurückzukehren, hatte er bis zum heutigen Tag nicht eingelöst, und nun, da er nach Meißen in die Dienste eines Goldmachers trat, was in den Augen des Vaters nichts weniger als der Bund mit dem Satan sein musste, würde Samuel es wohl erst recht nicht mehr tun.

Gegen sechs Uhr abends trat er mit seinem Bündel aus dem Haus des Bergrats. Es war bereits dunkel und das Licht der trüben Laterne spiegelte sich auf dem regennassen Pflaster. Ohain hatte angekündigt, dass ein gewisser David Köhler, selbst ein ehemaliger Bergmann aus Freiberg, der schon seit einiger Zeit in Böttgers Diensten stand, Samuel sowie drei andere Bergleute nach Meißen bringen würde. Noch hatte sich Köhler mit dem Wagen nicht eingefunden, aber die drei anderen warteten bereits. Einen von ihnen erkannte Samuel an seiner hochgewachsenen Statur und den schlaksigen Gesten, mit denen er seine Reden untermalte. Mit Paul Wildenstein hatte Samuel vor fünf Jahren in den Silberminen in Freiberg gegraben, aber kaum je ein Wort mit ihm gewechselt, denn Samuel war mit seinen fünfzehn Jahren gerade noch klein genug gewesen, um mit den anderen Jungen in die schmalen Gänge vorausgeschickt zu werden. Paul, um ein weniges älter und lang wie ein Baum, blieb bei den Männern. Schon damals war Paul dafür bekannt gewesen, dass sein Mundwerk niemals stillstand, und auch jetzt redete er unablässig auf einen anderen Burschen ein, der sich Samuel als Johann Schuberth vorstellte. Johann, kleiner und kräftig, mit freundlichen Knopfaugen und Locken, die im Schein der Laterne kupfern schimmerten, wirkte fast noch wie ein Knabe. Unsicher blickte er sich um und konnte, im Gegensatz zu den anderen, seine Hoffnung und Furcht vor dem, was ihnen bevorstand, kaum verbergen. Der Dritte im Bunde war der Ofenbauer Balthasar Görbig, der als Einziger schon in den Dreißigern war und bereits ein verlebtes Gesicht hatte. Er stand mit seiner Tonpfeife im Nieselregen und musterte Samuel mit verschlossener Miene. Jetzt, wo Samuel sich zu ihnen gesellte, verstummte Paul, sodass Samuel sich wie ein Eindringling fühlte. Fröstelnd standen die Männer beieinander, die Hände in den Hosentaschen, während sie sich gegenseitig beäugten. Würden sie miteinander auskommen? Im Guten zusammenarbeiten können? Oder sich gegenseitig das Leben schwer machen? So oder so würden sie am Ende die Arbeit erledigen müssen, die man ihnen auftrug.

Gegen sieben endlich kam der Wagen, und ein junger drahtiger Kerl sprang auf das Pflaster. Das musste David Köhler sein. Stumm wies er die Neulinge mit einem Kopfnicken an, auf den Wagen zu steigen, auf welchem bereits mehrere Fässer geladen waren.

»Was ist denn dadrin?«, wollte Samuel wissen.

»Wirst es schon früh genug erfahren«, brummte Köhler. Mehr war aus ihm nicht herauszubringen.

Als der Wagen anfuhr, warf Samuel einen letzten Blick zurück auf das Haus und hoffte Sophies Gestalt noch einmal zu erblicken, aber sie blieb verschwunden. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Ich komm wieder, Sophie. Wenn mich dieser Goldmacher reich gemacht hat, komm ich zu dir. Dann küsst du mich nicht mehr heimlich in der Speisekammer, sondern zeigst mich mit Stolz: Seht her, der Samuel Stöltzel, der ist meiner, und ich gehör zu ihm.

Fast die gesamte nächtliche Fahrt über regnete es. Obwohl es mitten im Januar war, ließ der Frost auf sich warten, und das Land versank im Schlamm. Auf dem Wagen breitete Paul mit gesenkter Stimme sein angebliches Wissen über den Goldmacher Böttger aus. Der Singsang seiner Worte vermischte sich mit dem Prasseln des Regens und dem Poltern der Wagenräder und wurde in Samuels Ohren zu einer Art Beschwörung ihres künftigen Schicksals. Böttger, so erzählte Paul, hatte vor aller Welt behauptet, dass er Gold machen könne. Nun hielt König August ihn auf der Albrechtsburg in Meißen gefangen und verlangte, dass er seine Behauptung einlösen sollte.

»Er ist aber nicht nur ein Goldmacher«, fuhr Paul raunend fort. »Sondern auch ein Magier. Vielleicht ein Teufelsbündler, der seine Seele dem Antichristen verschrieben hat, um aus dem, was hier in diesen Fässern lagert, pures Gold zu gewinnen.«

»Wird er uns in die Kunst des Goldmachens einführen?«, fragte Johann furchtsam. Paul nickte bedeutungsvoll.

»Das wird er. Unermesslicher Reichtum erwartet uns. Der Preis dafür ist allerdings hoch. In der Hitze der magischen Goldöfen müssen wir, um das Gold zu gewinnen, alle Gräuel dieser Welt anschauen und dürfen den Blick nicht abwenden, bis das Feuer erloschen ist. Und wenn wir das Gold dann in unseren Händen halten, bleibt in uns eine Kälte zurück, als wäre auch unser Herz zu kaltem Metall verglüht. Niemals werden wir Frieden finden, und sind wir einst tot und halb verwest, müssen wir ruhelos über die Felder streifen. Das ist das Schicksal aller Teufelsbündler.«

Einen Moment lang lieb es still. Dann lachte Paul, als er in die verängstigten Gesichter seiner Gefährten sah.

»Alles nur Ammenmärchen! Ein Hasenfuß, wer sich davon aufhalten lässt.«

Und doch blieben Samuel Zweifel, ob nicht etwas dran sein mochte an der Geschichte.

Am Wegrand streckten kahle Kopfweiden ihre Äste in den Himmel, einzelne Büsche hockten da wie verhutzelte Männlein. Der Wind riss die Wolken auf, sodass der Mond gespenstisch auf sie herableuchtete. Paul hielt inne in seiner Rede und überließ sie ihren Gedanken. Als der Regen wieder stärker wurde, zwängten sich die Männer zwischen die abgedeckten Fässer. Johann, der Samuels Zögern bemerkte, winkte ihm freundlich zu, näher heranzurücken, damit er nicht nass würde, und auch Paul rückte ein Stück zur Seite. Samuel spürte ihre Wärme und fühlte sich auf einmal seltsam vereint mit diesen Fremden, mit denen er nun ein Schicksal teilte. Schweigend setzten sie ihre Fahrt fort, dicht unter die Plane gedrängt, wo sich der modrige Geruch des groben Leinens mit den Ausdünstungen der Männer mischte. Als Samuel einmal nach Luft schnappte und die Plane zurückschlug, sah er David Köhler, den Rücken zugewandt, auf dem Kutschbock sitzen.

»Sind wir an Miltitz schon vorbei?«, rief er ihm fragend zu.

Köhler aber schenkte ihm so wenig Beachtung wie dem Regen, der an ihm herunterfloss. Ärgerlich sah Samuel vorbei an der hageren Gestalt und heftete den Blick auf den Punkt, wo der Weg sich in der Dunkelheit auflöste, als könne er so die Fahrt nach Meißen beschleunigen.

Samuel

Meißen, 1706

Sie erreichten Meißen im ersten Tageslicht. Staunend sah Samuel die majestätische Burg aus dem Morgendunst aufsteigen. Der Wagen bahnte sich den Weg durch die erwachende Stadt, steil ging es bergauf, sodass die Männer absprangen und das letzte Stück zu Fuß gingen, bis sie auf den Burghof kamen. Während Köhler sich um die Pferde kümmerte, folgten die vier Neulinge dem Verwalter, der sich als Inspektor Steinbrück vorstellte, ein mausgrauer Herr mittleren Alters, der seinem Namen alle Ehre machte. Steinbrück führte sie in ein leeres Zimmer im zweiten Stockwerk, warf ihnen schnaufend einige Strohsäcke hin, Holz für den Ofen und etwas zu essen. Wortkarg stillten sie ihren Hunger. Samuel feuerte den Ofen an und ließ sich dann auf einen der Strohsäcke fallen, wo er erschöpft in einen traumlosen Schlaf sank.

Die Sonne stand schon hoch, als er erwachte. Noch im Halbschlaf vernahm Samuel das, was ihn wohl geweckt hatte: ein seltsam bedrohliches Schnarren, das sich näherte, bis er begriff, dass dies eine menschliche Stimme war.

»Es wird unvermeidlich sein, dass dieser Teil der Burg – in case of victory … wenn natürlich auch nicht alle Räumlichkeiten tauglich sind: il n’y a pas assez de lumière, aber der Saal nach vorne hinaus … Mon dieu, Steinbrück, wo bleibt Ihr?«

Samuel setzte sich auf und starrte zur Tür, während draußen die schnarrende Stimme nun direkt vor ihrem Zimmer haltmachte.

»Wenn ich bitten darf, wir sind bereits in Verzug. Wollt Ihr auf der Treppe Euer Lager aufschlagen? Aber gut, Ihr habt ja recht: Sic erunt novissimi primi!«

Die Tür flog auf, und ein runzeliger Herr stand vor ihnen und stutzte. Er reichte dem Inspektor Steinbrück, der nun atemlos hinter ihm auftauchte und selbst kein Riese war, gerade bis zur Schulter. Ruckartig sah der kleine Herr von einem zum anderen, als würde er zählen: eins, zwei, drei, vier. Offenbar hatte er die Bergleute nicht hinter dieser Tür erwartet. Johann rieb sich die Augen und blinzelte verwirrt. Mit leiser Ironie, die Samuel jedoch sehr wohl bemerkte, fragte der Herr, ob es ihnen auch an nichts fehle.

»Vous êtes comfortable?« Er wartete keine Antwort ab, sondern blickte nun fragend zu Steinbrück, der sich den Schweiß von der Stirn wischte.

»Die Bergleute aus Freiberg«, keuchte er. »Die Ihr kommen ließet, werter Doktor Tschirnhaus.«

Samuel war mit einem Schlag hellwach. Das also war Tschirnhaus. Der Bergrat hatte oft von ihm erzählt: der herausragende Wissenschaftler, der in Paris und sonst wo seine Studien betrieben hatte, der weiß Gott wie viele Sprachen sprach, der Scharfsinnige und Präzise, ein Stern unter den Gelehrten! Nun stand er vor ihm, hatte ein Gesicht wie ein gedörrter Apfel, unaufhörlich in Bewegung, darüber die gepuderte Perücke, deren seitliche Teile er grotesk mit eisernen Klammern hochgesteckt hatte, damit sie ihm nicht ins Gesicht fielen. Den Rock, der einmal durchaus eines Grafen würdig gewesen wäre, hatte er an den Ellbogen abgeschnitten, die Hände waren weiß bestäubt, was auch auf seinen Wangen und auf seiner Kleidung Spuren hinterlassen hatte. Ein Verrückter, dachte Samuel, und im selben Augenblick schraubte Tschirnhaus seine Stimme erneut in die Höhe: »Frechheit! Was die sich erlauben! Ärsche hoch!« Er scheuchte die Männer aus dem Zimmer und ging Steinbrück an, weil dieser es bisher versäumt hatte, die Ankunft der Bergleute aus Freiberg zu melden.

»Muss ich mich denn um alles selber kümmern?«, schimpfte Tschirnhaus. »Es gibt immer etwas Besseres zu tun, als herumzuliegen und zu schlafen. Also hopp, an die Arbeit. Na los, hopp, hopp.«

Die vier Bergmänner glotzten Tschirnhaus an wie eine Schafherde, bis dieser begriff, dass sie auf genauere Anweisungen warteten. Die Augen in seinem Runzelgesicht drehten sich gen Himmel. Ungeduldig wedelte er mit den Armen.

»Den hinteren Saal dort, der zum Domplatz hinausgeht. This is absolutely impossible. Da schaut uns ja ganz Meißen bei der Arbeit zu.« Gestikulierte wild und befahl den Bergmännern, die Fenster bis auf Kopfhöhe zuzumauern und den oberen Teil mit Gitterstäben zu versehen. Das Material stünde seit Tagen bereit. Dann schwirrte er davon, ohne dabei seinen Redefluss zu unterbrechen, ratterte weiter, wie eine Holzkugel, die den Berg hinunterspringt und nicht zu bremsen ist, und beschwerte sich, dass er von Schafböcken umgeben sei, die Denken für ein Fremdwort hielten, und wenn man ihnen nicht sagte, dass sie essen und scheißen sollten, dann vergäßen sie auch das. Er schlug eine Tür zu, und seine Stimme verlor sich in den Gemäuern. Schwindlig geworden von der Rede des Doktors stieg Samuel mit den anderen den Wendelstein hinab, eine der Treppen, die sich in den beiden Türmen über die drei Stockwerke der Burg nach oben wanden. Sie folgten Steinbrück in den besagten Saal, und nach einer kurzen Verständigung begannen sie mit ihrer Arbeit. Schweigend setzte Samuel Stein auf Stein, mauerte das Licht fort und erschrak bei dem Gedanken, dass es beinahe so anmutete, als errichteten sie ihr eigenes Gefängnis.

Neben dem Umbau einiger Räume, die ihnen künftig als Laboratorien und Werkstätten dienen sollten, war es schon bald Samuels Aufgabe, unterschiedlichste Mineralien und Erden zu bearbeiten. Früh am Morgen nahm er seine Arbeit auf, reinigte gemeinsam mit Johann feinen Flusssand, Alabaster, weißen oder roten Ton, zerstieß Gesteine im Mörser und fügte die Ingredienzien nach Tschirnhausens Anleitung in immer neuen Mischverhältnissen zusammen. Die Mahlzeiten nahmen die Männer gemeinsam in der geräumigen Küche im Erdgeschoss ein. Meistens gab es Grütze oder Biersuppe, am Mittag manchmal etwas Fleisch. Nach und nach gewöhnten sie sich aneinander, scherzten, erzählten von zu Hause oder sangen gemeinsam, wenn Paul auf seiner Geige spielte. Nur David Köhler blieb immer abseits und redete kein überflüssiges Wort. Wie sich nun herausstellte, fiel ihm die Aufgabe zu, ihre Arbeit zu beaufsichtigen. Er tat dies auf die ihnen bereits bekannte mürrische Art und duldete keinerlei Fragen. Samuel aber begriff auch so schon bald, dass Tschirnhaus nach einer Masse suchte, die bei enormer Hitze zu Tiegeln und Platten gebrannt werden konnte. Offenbar sollten diese als Arbeitsgeräte dienen, die äußerst hohe Temperaturen unbeschadet überstehen würden, weit höher, als es die Bergleute von der Verarbeitung der Metallerze kannten. Aber wozu? Um Gold zu machen? Oder doch eine andere Erfindung?

Und wo war eigentlich dieser Böttger, in dessen Diensten er nun stand? Wo war das Fabelwesen, das Genie, der ungeschliffene Diamant, wie Ohain ihn einmal genannt hatte, ein einfacher Apothekergeselle nur, aber mit geradezu übersinnlichem Instinkt? Der Alchemist, der es verstünde, Gold zu machen oder doch wenigstens fast? Tschirnhaus jedoch erwähnte Böttger mit keinem Wort, genauso wenig das Goldmachen. Samuel beschlich allmählich der Verdacht, dass niemand die Absicht hatte, sie in dieses oder irgendein anderes Geheimnis einzuweihen, und dass sie stattdessen für den verrückten Tschirnhaus Handlangerarbeiten zu erledigen hatten – Arbeiten, bei denen man nichts lernte und die, wie Samuel fand, eines Bergmanns nicht würdig waren. Mit keinem Ton hätte er gemurrt, wenn er Tschirnhaus auch nur einen Bruchteil der Ehrfurcht hätte entgegenbringen können, mit der Bergrat Pabst von Ohain immer seinen Namen aussprach. Samuel aber sah in Tschirnhaus lediglich einen Narren, der mit rotem Gesicht und vor Ungeduld bebend seine Anweisungen erteilte, in langen Sätzen und einem babylonischen Sprachgewirr, das kein gesunder Mensch verstehen konnte. Hatte Tschirnhaus dem Bergrat mit seinen irren Scherzen den Kopf verdreht? Hatte er ihm eine Substanz eingeflößt, die Ohain die Sinne trübte? Mehr als einmal sann Samuel darüber nach, zu fliehen und nach Freiberg zurückzukehren. Er schrieb etliche Briefe an den Bergrat, die schwer genug auf den Weg zu bringen waren, denn Samuel konnte keinen Boten bezahlen und gab seine Briefe auf gut Glück Reisenden mit, die nach Süden fuhren. Offenbar erreichten die Briefe ihr Ziel jedoch niemals, denn Ohain antwortete nicht.

Aber dann war Böttger auf einmal da. Wie aus dem Nichts. Samuel schleppte soeben neu eingetroffene Tonerde in die Burg. Keuchend ging er durch einen der halbdunklen kleineren Räume, als ihm im Durchgang unvermittelt eine Gestalt gegenüberstand und ihm den Weg versperrte. Stand da wie ein Gespenst, und aus irgendeinem Grund wusste Samuel sofort, dass dies Böttger sein musste. Er war kaum älter als Samuel selbst, aber um einiges größer. Trotz seiner massigen Statur, des breiten Gesichts und des wilden, seltsam farblosen Haarschopfs wirkte er ein wenig unbeholfen, ja, fast verletzlich. Ein Paar wässrig helle Augen leuchteten wie zwei Monde aus dem schmutzigen Antlitz heraus und blickten Samuel so tieftraurig an, dass es diesem ans Herz fasste. Gebannt und neugierig musterten sie einander, bis aus den Tiefen der Burg die schnarrende Stimme ertönte und der Zauber zerfiel. Böttgers Blick verengte sich. Abrupt marschierte er los und brüllte durch die Burg: »Tschirnhaus!«

Samuel ließ den schweren Sack fallen, sah Böttger angespannt nach, und im nächsten Augenblick erhob sich aus Tschirnhausens Labor ein rasender Sturm. Stimmen schwollen an, Böttger brüllte, Tschirnhaus schnarrte mit seiner hohen Stimme, und es dauerte nicht lange, da fiel etwas klirrend zu Boden.

»Alles Mist!«, schrie Böttger. Er warf Tschirnhaus vor, er würde seine Arbeit unterwandern und immer nur reden, wie die Hühner gackern, aber Eier legen würde er keine. Das Material, das er ihm zur Verfügung stelle, sei unbrauchbar. Mit Absicht würde er seinen Erfolg hinauszögern. Tschirnhaus protestierte.

»Hinauszögern? Ich bitte Euch!«

Seine Stimme schnappte über. »Comment voulez-vous retarder une éternité? Eine Ewigkeit lässt sich nicht hinauszögern!«

Völlig außer sich verkündete Böttger daraufhin, er werde sich beim König über Tschirnhaus beschweren, was diesem ein meckerndes Lachen entlockte. Sollte er doch! Und prophezeite, dass dies Böttgers sicheres Ende sein würde.

»You are dead!«

Eine Tür knallte. Böttger stapfte zurück, vorbei an Samuel, die Mondaugen dunkel vor Zorn, und verschwand, während Tschirnhausens Stimme schrill hinter ihm herjagte.

Der Wettstreit der Narren nahm in den folgenden Tagen und Wochen seinen Lauf. Böttger und Tschirnhaus beschimpften sich oder lachten schallend im Wechsel, dann wieder verzogen sie sich flüsternd hinter verschlossenen Türen. Nie wusste man, ob es ihnen mit ihrem Geschrei ernst war oder ob sie einander nur foppten. Offenbar forschten sie an unterschiedlichen Dingen und waren nicht nur über das Ergebnis, sondern auch über den Weg, wie dies zu erreichen war, grundsätzlich anderer Meinung. Unablässig versuchten sie sich gegenseitig davon zu überzeugen, dass sie im Recht waren, und wo dies nicht möglich war, spielten sie einander Streiche. Samuel kam es vor, als wollten sie den Wahnsinn des anderen immer weiter und immer geräuschvoller auf den Gipfel treiben, und doch glaubte er, hinter dem irrwitzigen Schauspiel ein Geheimnis aufblitzen zu sehen. Begierig schnappte er die meist unverständlichen Sätze auf, suchte sie zu entschlüsseln und zu einem Sinn zusammenzufügen. Dann aber meinte er immer klarer zu erkennen, dass sie über die Alchemie sprachen und etwas, das sie Lapis philosophorum nannten, den Stein der Weisen – so viel konnte Samuel sich zusammenreimen.

Von Paul erfuhr er, dass eines Abends einige Tiegel aus Tschirnhausens Laboratorium verschwunden seien. Und zwar ausgerechnet jene Tiegel, über die Tschirnhaus zuvor höchst euphorisch gewesen war, weil ihm damit etwas ganz Besonderes gelungen sei. Es bestand kein Zweifel, dass Böttger hinter diesem Diebstahl steckte. Tschirnhaus tobte, und alle erwarteten, dass ihn nun der Schlag träfe oder er Böttger endgültig an die Gurgel ginge. Aber dann wurde es ganz still. Verdächtig still. Am nächsten Morgen schien Tschirnhaus sich zur großen Verwunderung aller mit Böttger versöhnen zu wollen. Samuel sah die beiden gemeinsam die Treppe hinuntersteigen. Tschirnhaus hatte sogar die Hand auf Böttgers Arm gelegt.

»Mein hitziges Temperament«, entschuldigte er sich säuselnd. »Je suis désolé. Aber ich will es wiedergutmachen und Euch künftig besser zur Seite stehen. Kommt heute Abend zum Essen in mein Arbeitszimmer, denn ich habe da eine Entdeckung gemacht – ich will nicht zu viel verraten … Lasst Euch überraschen.«

Böttger sah scheel auf den Zwerg herab, schwankte zwischen Argwohn und Triumph, bis schließlich seine Neugierde siegte. Pünktlich erschien er zum ausgemachten Zeitpunkt in Tschirnhausens Arbeitszimmer im oberen Stockwerk. Samuel, dem man befohlen hatte, den Wein zu bringen, betrat den Raum, als Tschirnhaus soeben eigenhändig den Eintopf servierte und Böttger den Teller zuschob, randvoll mit fetten Hammelstücken in einer süßen Zwiebelsoße.

»Mir ist das Schriftstück eines Jesuiten in die Hände gefallen«, reizte Tschirnhaus Böttgers Neugierde. »La solution – die Lösung, die Euch ans Ziel bringen wird, sie verbirgt sich hinter den Zeichen einer ägyptischen Steintafel, die man in der Gruft eines koptischen Klosters fand …«

Samuel, der darauf brannte, mehr zu erfahren, ließ sich Zeit damit, die Weinflasche zu entkorken, und beobachtete dabei Böttger, der skeptisch zu Tschirnhaus blickte und die Fleischstücke hungrig in sich hineinschaufelte, hastig und ohne auf den Löffel zu sehen.

»I am convinced«, fuhr Tschirnhaus fort, »dass dies ein Hinweis auf den Stein der Weisen ist. Das Geheimnis der ägyptischen Katzengöttin …«

Samuel schenkte den Wein ein und war froh, dass keiner der beiden Männer ihn zu beachten schien. Sein Blick wanderte zwischen Böttger und Tschirnhaus hin und her – um ein Haar hätte er den Wein verschüttet, als er gespannt auf Böttgers Reaktion wartete. Böttger fixierte Tschirnhaus, misstrauisch, was wohl hinter dem Theater stecken möge, und leerte dabei den Teller, bis er plötzlich auf etwas biss, das wohl nicht in den Eintopf gehörte und seine Miene gefrieren ließ. Samuel konnte kaum glauben, was er nun zu sehen bekam. Tschirnhausens Mundwinkel zuckten schon, als Böttger vor Ekel ausspuckte und fassungslos auf seinen Teller starrte. Etwas Haariges lag da. Eine Katzenpfote. Vor Zorn schien er sich nicht rühren zu können, und auch Samuel stand da wie vom Donner gerührt, während Tschirnhaus losprustete und schließlich in einen spöttischen Vortrag über das Geheimnis der Ägypter verfiel, die angeblich wüssten, wie man eine graue Katze in einen Löwen verwandelte. Abstruses Zeug, wie Samuel fand, bis er begriff, dass Tschirnhaus wohl die Transmutation meinte, die Umwandlung von Blei zu Gold, oder sich vielmehr mit diesem bösen Spaß darüber lustig machte.

»Taucht das Katzenvieh nur schön in Eure Säfte, mon cher Böttger«, japste er und deutete auf die Katzenpfote. »Na los, schluckt sie hinunter. Zur besseren Entwicklung empfiehlt es sich vielleicht, Spiritus nachzuschütten und Euch zur Sicherheit noch ein Goldstück ins Hinterteil zu stecken, auf dass die Transmutation gelinge.«

Böttger lief rot an, unfähig, etwas zu sagen, sodass Tschirnhaus fortfuhr.

»Schaut am nächsten Tag nur fleißig in Euren Nachttopf, ob Dukaten darin liegen. Stellt Euch nur vor – der König wird Euch zum Hofmagier ernennen, und Ihr müsst nichts tun, als den ganzen Tag zu fressen, und hättet Sachsen nicht nur reich gemacht, sondern auch noch von der elenden Katzenplage befreit.«

Damit prostete er Böttger zu, der nun nicht mehr an sich halten konnte, den Teller über den Tisch kippte, sich die Katzenpfote schnappte und unter Tschirnhausens schallendem Gelächter hinausrannte.

Einen Tag später kam Böttger die Treppe herauf, wo Tschirnhaus soeben mit Köhler im Gespräch war und Samuel und Johann aufmerksam danebenstanden. Feierlich trug Böttger einen von Tschirnhausens Tiegeln vor sich her, bis obenhin voll mit seinen Exkrementen. Erklärte mit großer Geste, das Experiment sei gelungen und allein Tschirnhaus gebühre der Ruhm. Es sei deshalb auch an Tschirnhaus, die Erfolgsmeldung samt Kostprobe dem König persönlich zu überreichen. Streckte ihm den Tiegel hin und ließ diesen, da Tschirnhaus keine Anstalten machte, Böttgers Gabe anzunehmen, klatschend auf den Steinboden fallen. Die Blicke starr aufeinandergerichtet, rührten sie sich nicht. Samuel wusste nicht, wo er hinsehen sollte, und den anderen Männern ging es offenbar nicht anders. Johann schließlich ertrug die Anspannung nicht länger und machte Anstalten, die Bescherung zu beseitigen. Tschirnhaus aber pfiff ihn zurück. »Der Mist bleibt liegen. Auf dass Böttgers Wahnsinn und Beschränktheit hiermit für alle sichtbar und nicht mehr zu leugnen sei. Quod erat demonstrandum.« Keiner der Männer wagte es danach, Böttgers Hinterlassenschaft zu entfernen. Sie lag da ein paar Tage, bis einer von ihnen, beladen mit drei riesigen Zinkwannen, hineintrat, kurz darauf der nächste und dann noch einer und so weiter, bis sich die ganze Scheiße treppauf, treppab über die gesamte Burg verteilt hatte.

Samuel

Meißen, 1706

An einem Morgen war Samuel, wie so oft, früh erwacht. Er saß lange auf der Bettkante und lauschte den tiefen, regelmäßigen Atemzügen von Paul und Johann. Obwohl er erst seit ein paar Wochen hier war, fühlte er sich leer und antriebslos. Was war aus seiner Hoffnung geworden, das Goldmachen zu erlernen? Wie lange sollte er noch ausharren in diesem Narrenhaus mit schlecht bezahlter Arbeit, die ihn keinen Schritt weiterbrachte? Ein ganzes Jahr oder nur gerade bis zum Frühling? Und wohin sollte er dann gehen? Zurück nach Freiberg? Zwar waren die Schreibarbeiten und Botengänge, die er dort für den Bergrat erledigt hatte, allemal interessanter als seine jetzige Arbeit, aber was würde Sophie sagen, wenn er unverrichteter Dinge wieder auftauchte? »Schon zurück, Herr Goldmacher?«, würde sie fragen. »Und? Hast du mir Dukaten mitgebracht?«

Samuels Gedanken drehten Schleifen, während vor dem Fenster die Sterne vorbeizogen. Schließlich hielt es ihn nicht länger in der Kammer. Er schlüpfte in die abgewetzten knielangen Hosen und das wollene lehmfarbene Wams, strich sich flüchtig über die dunklen Locken und schlich hinaus. Ziellos durchstreifte er Räume der Burg, die er noch nicht gesehen hatte, ging vorbei an bunt bemalten Wänden und kunstvoll gearbeiteten Türen und Fenstern. Die Decke über ihm fügte sich in spitzen, gewölbten Rauten aneinander, als hätte hier ein riesenhaftes Insekt seine Waben gebaut. Die Fenster, immer paarweise, blickten ihn an wie schimmernde Augen. Die ganze Burg hatte etwas Verwunschenes. Kam man vom Fluss her auf Meißen zu, blendete sie einen mit ihren Türmchen, Zinnen und blitzenden Fensterchen, aber wenn sie einen erst in ihrem steinernen Leib aufgenommen hatte, verlor man sich in den unzähligen Winkeln, Treppen und Spitzbögen, verborgenen Kammern und Giebeln, die alle ein Rätsel aufzugeben schienen.

Samuel stieg schließlich wieder hinab ins Erdgeschoss, wo ihre Arbeitsräume lagen, die jetzt im Dunkeln ganz fremd anmuteten. Zu gerne hätte er Böttgers Labor gesehen, das sich irgendwo im Keller befinden musste, aber die Tür, die hinunterführte, war fest verschlossen. Die zu Tschirnhausens Labor dagegen war nur angelehnt. Samuel sah sich kurz um, dann schlüpfte er hinein. Auch hier waren die Fenster mannshoch zugemauert. Durch die schmalen Öffnungen schimmerte das erste Tageslicht und spiegelte sich in den großen gläsernen Brennlinsen, mit denen Tschirnhaus experimentierte. In die Sonne gestellt, bündelten sie das Licht zu enormer Hitze. Auf diese Weise konnte er, ohne den aufwendigen Brand im Ofen, wo solche Temperaturen nicht leicht herzustellen waren, die Materialien verschmelzen und nach der neuartigen Mischung forschen, von der Samuel immer noch nicht ganz begriffen hatte, wozu sie gut sein sollte. Er fuhr mit dem Finger über die glatte Oberfläche der Linsen, und während draußen der Morgenhimmel allmählich heller wurde, schöpfte er auf einmal wieder Hoffnung. So schnell würde er nicht aufgeben. Vielleicht könnte er Tschirnhaus bei seinen Experimenten assistieren. Gleich morgen würde er ihn aufsuchen und fragen.

»So früh schon auf den Beinen?«

Samuel fuhr herum und erkannte Tschirnhaus – mehr an seiner Stimme, als dass er ihn sah, denn es war immer noch recht dunkel.

»Ich konnte nicht schlafen …«

»Wer nicht schlafen kann, hat nicht genug gearbeitet.«

»Ich …«

»Nun, dem kann abgeholfen werden. Es gibt immer etwas zu tun. Wenn ich mich recht entsinne, wäre zum Beispiel die Treppe von einer gewissen Substanz zu befreien.«

Samuel wusste, was Tschirnhaus meinte, denn die Spuren von Böttgers Kot hatten die Stufen im Wendelstein inzwischen mit einem eigenwilligen Muster überzogen.

»Doktor Tschirnhaus …«

»… und wenn Ihr Euch schon in die Materie eingearbeitet habt, könnt Ihr Euch ebenso gut noch den Abort vornehmen.«

»Aber …«

»Wenn Ihr gleich damit beginnt, könntet Ihr bis zum Frühstück damit fertig sein.«

Wenig später kniete Samuel und schrubbte. Bewaffnet mit einer Scheuerbürste, einem Lappen und dem rostigen Eimer kroch er den Wendelstein hinauf. Eintauchen in die eiskalte, trübe Suppe, mit einem Schwapp das Wasser auf der Stufe verteilen, schrubben und die Schmiere, die sich bildete, mit dem Lappen zurück in den Eimer wringen. Nächste Stufe. Es liegt eine gewisse Zuverlässigkeit in der Eintönigkeit, dachte Samuel. Wenn aber sein neues Leben bedeutete, die Exkremente eines Wahnsinnigen vom Boden zu kratzen, war es dann nicht besser, sich aus dem Staub zu machen? Die Zeit schmolz dahin unter den kreisenden Bewegungen der Bürste. Das Frühstück war längst vorbei, als die Treppe sauber und dunkel glänzend hinter ihm lag und er zum Abort hinüberwechselte. Dort bearbeitete er mit Bürste und Lappen den hölzernen Sitz – eine Arbeit, die ganz offensichtlich schon lange keiner mehr erledigt hatte. Er sah durch das Loch hinab in die Tiefe, und vor lauter Ärger entglitt ihm der Lappen. Es dauerte eine Weile, bis es klatschte. Samuel fluchte und schwor bei sich, dieser verwünschten Burg und seinem sinnlosen Tun darin so schnell wie möglich zu entkommen. Ein Goldmacher hatte er werden wollen, hatte sich die Welt dieser geheimnisvollen Wissenschaft erobern wollen, und jetzt stand er da wie ein Trottel und hatte nichts mehr, nicht einmal mehr einen stinkenden Lappen.

Er sann noch darüber nach, ob er Tschirnhaus zum Abschied seine Meinung geigen oder die Burg doch lieber klammheimlich verlassen sollte, als er aus dem Loch heraus eine Stimme hörte. Nun war es also so weit. Er hatte den Verstand verloren. Nicht weil er eine Stimme hörte. Tschirnhausens Stimme konnte von überall herkommen, auch aus einem Scheißloch. Aber dies war nicht Tschirnhaus, auch nicht Böttger oder einer von den anderen Männern. Diese Stimme war ihm sehr vertraut und traf ihn dennoch wie der Schlag: Es war der Bergrat. Pabst von Ohain. Er war hier! Samuel sprang auf.

Direkt unter dem Abort befanden sich zwei Lagerräume, doch dort war keine Menschenseele. Die Stimmen mussten also von weiter unten kommen, aus dem Keller, wo Böttger vermutlich sein Labor hatte. Samuel drückte sich den Flur entlang. Schon von Weitem sah er den Offizier, der tagsüber zu Böttgers Bewachung am Durchgang stand. Schlurfend ging der rot berockte Kerl einige Schritte auf und ab. Er hatte den Hut abgenommen und pickte, weil ihm wohl die Zeit lang wurde, Staubflusen von seinem Dreispitz. Samuel zögerte nicht lange. Als der Offizier sich erneut einige Schritte vom Durchgang entfernt hatte, schlich er an ihm vorbei und schlüpfte durch die Tür, die gemauerten Stufen hinab. Kopflos hetzte er durch Gänge und Tunnel, lauschte immer wieder angespannt, aus welcher Richtung die Stimmen kamen, und hatte nur das eine Ziel im Sinn, den Bergrat noch rechtzeitig abzufangen. Vollkommen dunkel war es hier, und einzig die Stimmen wiesen ihm den Weg, bis Samuel endlich vor einer schweren Holztür zum Stehen kam. Beherzt drückte er die Klinke, riss die Tür mit einem Ruck auf und sah in drei überraschte Gesichter, die ihn aus dem rußgeschwärzten Raum heraus anblickten. Die Wände waren voll behängt mit Töpfen, Wannen und kupfernen Gerätschaften. Auf langen Brettern reihte sich Glas an Glas mit verschiedenen Salzen, Pulvern und Flüssigkeiten in allen möglichen Farben. In der Mitte des Raums stand ein Holztisch, auf dem aufgeschlagene Bücher und Pergamentrollen unordentlich nebeneinanderlagen. Einige der Rollen hingen ausgebreitet an den Wänden und gaben geheimnisvolle Zeichen preis. Der hintere Teil des Raums, wo sich eine Feuerstelle befinden musste, war von einem Vorhang verdeckt, hinter dem ein rötlicher Schein flackerte. Hier also verbarg sich das Geheimnis, fuhr es Samuel durch den Kopf. Die ganze Scharade, der Wahnsinn, der oben verbreitet wurde, war nur Ablenkung, Nebenschauplatz, was auch immer. Hier unten war das Herz des Geschehens, und Böttger war dessen Seele. Tschirnhaus verzog bei Samuels Anblick das Gesicht, als hätte er Essig verschluckt. Böttgers Mondaugen starrten Samuel an. Ohain zeigte als Einziger wenigstens ein bisschen Freude, Samuel zu sehen, wenn auch seine Verwunderung überwog.

»Herr Bergrat!«, stieß Samuel hervor, aus Angst, die Gelegenheit könnte gleich wieder verstreichen. »Ich muss Euch dringend sprechen. Es liegt ein schreckliches Missverständnis vor.«

Tschirnhaus schnarrte: »Missverständnis? Wohl eher eine Ungeheuerlichkeit. Was habt Ihr hier zu suchen?« Ohne die Antwort abzuwarten, wandte er sich an Ohain. »Das hat uns gerade noch gefehlt bei dem ganzen Schlamassel. Dass der da nun auch noch alles ausplaudert. Da bleibt uns wohl nur, ihn auf immer einzusperren oder aber ihm die Zunge herauszuschneiden.«

»Herr Bergrat, ich bitte Euch!« Flehend suchte Samuel Ohains Blick und erschauerte, als dieser laut auflachte. Sein Retter, seine einzige Hoffnung, lachte über ihn, schlug dem kleinen Tschirnhaus auf die Schulter, nannte ihn bei seinem Vornamen Walther.

»Lasst die Scherze, Doktor. Der Junge wird uns noch ohnmächtig.«

Tschirnhaus stieß verächtlich die Luft aus und fand, ein kleiner Schreck könne sehr lehrreich sein. Very instructive.

»Der Stöltzel war über ein Jahr in meinen Diensten«, erklärte Ohain. »Und ich sage Euch, man kann ihm vertrauen. Er ist viel zu talentiert, um ihn in einem Kerker versauern zu lassen.«

Samuel schossen Tränen der Dankbarkeit in die Augen. Er sah sich bereits mit Ohain auf dem Weg zurück nach Freiberg und hielt Sophie in Gedanken schon an die Brust gedrückt, als Ohain weitersprach.

»Böttger, Ihr klagt doch immer darüber, dass Ihr keine Hilfe habt und die Schlepperei mit dem Holz und dem Wasser kaum allein zu schaffen sei. Jetzt, wo Samuel schon einmal hier ist, könnte er Euch zur Seite stehen. Zudem kann er vernünftig lesen und schreiben.«

Tschirnhaus protestierte. »Verehrter Bergrat. Warum ein weiteres Talent verschwenden? Die Sache ist ein Hirngespinst, believe me. Und Ihr, Böttger, solltet Euch lieber an Robert Boyle halten. Habt Ihr dessen Buch The sceptical Chymist nicht gelesen? Allein auf Beobachtungen sollten sich Eure Erkenntnisse stützen, nicht auf die alchemistische Lehre, dieses verschwurbelte Zeug. Nonsens. Hokuspokus.«

»Das Buch von Mister Boyle ist nur in englischer Sprache erhältlich«, wandte Ohain ein.

»Ich werde es Böttger gern übersetzen.«

»Aber Boyle experimentierte selbst mit der Transmutation.«

»Ein Fehler …«

»Und die rote Erde? Sogar Newton …«

»Er ist davon abgekommen …«

Samuel blickte von einem zum andern und verstand kein Wort. Angst kroch in ihm hoch, denn sein Schicksal schien bei alldem eine untergeordnete Rolle zu spielen. Ohain brachte Tschirnhaus schließlich mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Ihr wisst sehr gut, dass diese Entscheidung nicht in unseren Händen liegt. Der König wünscht, dass wir Böttger in seinem Werk unterstützen, damit er recht bald sein Versprechen einlösen kann. Tun wir also alle unser Bestes. Was meint Ihr, lieber Böttger? Wollt Ihr es mit Samuel versuchen?«

Böttger musterte Samuel abschätzend und zuckte dann kaum merklich mit der Schulter, womit er anscheinend sein Einverständnis kundtat. Ohain klatschte zufrieden in die Hände, tätschelte Samuel zum Abschied freundschaftlich den Rücken, wünschte gutes Gelingen und war fort. Tschirnhaus folgte ihm mit dem üblichen Redeschwall, und Samuel blieb allein mit Böttger zurück. Regungslos standen sie da und sahen einander an, während der Wind durch die Fensterluken pfiff. Samuel erschauerte. Und anstatt sich über die lang erhoffte Wendung zu freuen, wurde es ihm auf einmal eng in der Brust.

In den ersten Tagen beachtete Böttger ihn kaum. Er trug Samuel einfache Arbeiten auf, wie das Säubern des Fußbodens oder der Gerätschaften, und verschwand dann wieder hinter dem Vorhang, wo er zumeist Selbstgespräche führte. Samuel wagte es nicht, ihm dorthin zu folgen. Was, wenn Böttger wirklich, um Gold zu machen, mit dem Teufel zugange war? Was, wenn dort, wo es flackerte, Gespenster und Dämonen hausten? Erst nach und nach bröckelte die Angst von ihm ab, und er begann, den Raum zu erkunden. Er befühlte die kühle, blank gewetzte Holzplatte des Tisches, nahm bald das eine oder andere Glas herunter, lauschte, wie die ihm oft unbekannten Substanzen darin rieselten oder glucksten, und fuhr – da Böttger es ihm nicht verboten hatte – mit dem Finger über die Zeichen auf den Pergamentrollen, las die Namen der Planeten: Saturn, Merkur, Venus. Er atmete den beißenden Rauch ein, der hinter dem Vorhang hervorquoll, oder den Geruch nach Kampfer, den Böttger verströmte, und ging, wenn es ihm aufgetragen wurde, nach oben, um Holz oder Wasser zu holen oder Brot und Fleisch und roten Wein. Böttger nahm seine Mahlzeiten meist allein im Labor ein, während sich Samuel anfangs noch zu den anderen in die Küche gesellte. Allerdings war es ihm nicht erlaubt, auch nur über das kleinste Detail zu sprechen, das ihm in Böttgers Labor begegnete. Paul stellte bohrende Fragen und rätselte, ob Samuels neue Aufgabe eine Auszeichnung oder eine Strafe war, aber Samuel schwieg, wie Tschirnhaus es ihm eingebläut hatte. Die Plaudereien mit Johann und Paul wurden karger, und bald hatte Samuel immer weniger Verlangen danach, das Laboratorium zu verlassen. Der Schauer, den er hier nach wie vor empfand, war nun nicht mehr angsteinflößend, sondern voller Verheißung. Begierig versuchte er zu begreifen, woran Böttger arbeitete. Ohne Zweifel ging es um die Herstellung von Gold. Doch was tat Böttger genau? Samuel hatte nicht die geringste Vorstellung davon. Er hörte nur das Scharren und Klirren der Gefäße hinter dem Vorhang, das Lodern des Feuers und manchmal Böttgers Flüche. An manchen Tagen saß Böttger vorn am Tisch, studierte seine Bücher, schrieb lange, schwer lesbare Listen zur Vorbereitung seiner Experimente und bat Samuel dann und wann, ihm ein bestimmtes Buch zu reichen oder den Bleistift anzuspitzen. Da Böttger keine festen Arbeitszeiten kannte und Samuel nichts verpassen wollte, stellte er sich schon bald im vorderen Teil des Labors ein Bett auf.

Es war längst Frühling geworden, und draußen zeigten die Bäume hellgrüne Spitzen, als Samuel an einem Abend zurück in den Keller kam. Inzwischen aß er gemeinsam mit Böttger und hatte Suppe und Brot von oben geholt. Er wollte das Essen soeben auf dem Tisch abstellen, da erschütterte hinter dem Vorhang ein ohrenbetäubender Knall das Laboratorium. Die Explosion ließ Gerätschaften durch die Luft fliegen, Funken stoben, es schepperte und klirrte, dann war Stille. Beißender Rauch drang unter dem Vorhang hervor, und eine dunkle Flüssigkeit rann über den Boden. War das Blut? War Böttger tot? Dann aber hörte Samuel ein schwaches Hüsteln, und ohne weiteres Zögern stürmte er nach hinten, riss den Vorhang beiseite, bereit, sich einem Heer von Höllenteufeln zu stellen. Aber alles, was er sah, war ein gewaltiges Chaos und Böttger inmitten einer stinkenden schwarz-silbern perlenden Lache, von oben bis unten übersät mit Splittern und die Augen zugekniffen, als würden sie brennen. Samuel zerrte den schweren Körper nach vorn, wusch Böttger zunächst die Augen aus, säuberte sein Gesicht und gab ihm Wein, um den Mund auszuspülen. Dann, da Böttger zu schwindelig war, um länger aufrecht sitzen zu können, zog Samuel ihm die Kleider aus, die von einer klebrigen Flüssigkeit durchtränkt waren, wusch den weißen Leib, hüllte ihn in eine Decke und bugsierte Böttger in das Bett, das gleich neben der Tür stand. Das Erste, was Böttger hervorbrachte, war der Befehl, Tschirnhaus auf gar keinen Fall etwas von dem Vorfall zu erzählen. Samuel sollte lediglich um neue Kleidung bitten und sich Augentrost geben lassen, damit Böttger sich mit einem Sud daraus die geschwollenen Lider spülen konnte. Nachdem Samuel dies ausgeführt hatte, machte er sich daran, den ganzen Raum zu säubern, wusch den Vorhang und sah sich zum ersten Mal im hinteren fensterlosen Teil des Laboratoriums um. Er war keineswegs so gespenstisch, wie Samuel befürchtet hatte, gab aber leider auch wenig Aufschluss über die Arbeit, die Böttger dort verrichtete. Neben einer offenen Feuerstelle stand dort ein vollständig mit Ruß bedeckter eiserner Herd, gegenüber davon ein Schrank mit etlichen Dosen und Schachteln. An der Wand hingen weitere Gefäße, Zangen und Rührstäbe und dort, gleich neben dem Rauchabzug, hatte Böttger die Katzenpfote an die Wand genagelt, die Tschirnhaus ihm in die Suppe gelegt hatte. Weiter hinten, in einer Mauernische, entdeckte Samuel eine unordentliche Schlafstätte aus Stroh und mehreren Decken. Geschäftig ging er nun hierhin und dorthin, goss Wasser auf den Boden, schrubbte und wischte, und obwohl Böttger mit einem Verband auf den Augen still im Bett lag, kam es Samuel so vor, als spüre er dessen Blick auf sich ruhen.

Nach drei Tagen, als Samuel das Laboratorium längst wieder in Ordnung gebracht hatte und ein wenig unschlüssig überlegte, was er tun sollte, erhob sich Böttger ächzend aus dem Bett.

»Es wird Zeit, die Experimente wieder aufzunehmen«, murmelte er, und Samuel verfolgte mit klopfendem Herzen, was nun geschehen würde. Über den langen Tisch gebeugt, notierte Böttger blinzelnd einige Gedanken auf einer Tafel und blätterte in einem Buch, das sich Die zwölf Schlüssel nannte. Aber bald schon versagten ihm die Augen, die immer noch entzündet waren. Fluchend tränkte er ein Tuch in dem Sud, den Samuel für ihn aus dem Augentrost zubereitet hatte, und bedeckte sein Gesicht damit. Fluchte noch mehr, dass er nun nicht weiterarbeiten konnte, und ging blind mit weiten Schritten auf und ab, wobei er die Schemel umstieß, die ihm im Weg standen. Schließlich blieb er abrupt stehen, horchte und rief Samuel zum ersten Mal bei seinem Namen.

Von diesem Tag an bezog Böttger ihn mehr und mehr in seine Arbeit mit ein, und Samuel nannte Böttger seinen Meister, was dieser, als Samuel das Wort zum ersten Mal aussprach, mit einem leisen Lächeln kommentierte, beinahe so, als hätten sie einen Vertrag geschlossen.

»Hast du schon mal vom Lapis philosophorum gehört?«, fragte Böttger, als er mit knappen Erklärungen umschrieb, wonach er suchte.

»Der Stein der Weisen?«

Böttger nickte. »Und weißt du auch, wie er beschaffen ist und wozu?«

»Um Gold zu machen?« Samuel wagte kaum, es auszusprechen, doch Böttger schien mit der Antwort zufrieden zu sein.

»Nach meinen jetzigen Erkenntnissen handelt es sich dabei um eine rote Tinktur.«

»Wie Blut …«