Der Riss in unserem Leben - Barry Jonsberg - E-Book

Der Riss in unserem Leben E-Book

Barry Jonsberg

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Beschreibung

Geschwister sind füreinander da. Immer.

Amy und Aiden Delatour führen ein privilegiertes Leben mit liebevollen Eltern. In einer durch den Klimawandel zerstörten Welt, fehlt es ihnen an nichts, während der Großteil der Menschheit unter den Folgen leidet. Die einzige Bedingung dafür: Die Zwillinge müssen immer und ohne jede Ausnahme aufeinander aufpassen.

Doch nachdem Aiden aufgrund dieses Versprechens eine schlimme Verletzung erlitten hat, ist er nicht mehr derselbe. Amy erkennt ihren Bruder, auf den sie sich immer verlassen konnte, kaum wieder. Er ist zwar nach wie vor für sie da, doch etwas hat sich verändert. Etwas, das ihre gesamte Welt auf den Kopf stellen wird.

Ein packender Roman, der unter die Haut geht und seine Leser*innen mit einem mitreißenden Plottwist überrascht. Barry Jonsberg begeistert seine Fans mit dieser einfühlsam erzählten und intelligenten Near-Future-Dystopie.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 322

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Barry Jonsberg

DER RISS IN UNSEREM LEBEN

Aus dem Englischenvon Ursula Höfker

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2020 by Barry Jonsberg

© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Catch me if I fall« bei Allen & Unwin, AUS

Lektorat: Tamara Reisinger

Aus dem Englischen von Ursula Höfker

Covergestaltung: Geviert, Grafik & Typografie

Covermotive: Shutterstock.com (AstroStar, Anek Sakdee, Von LitvinovaVic, Peera_stockfoto)

FK · Herstellung: bo

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-28365-0V003

www.cbj-verlag.de

Für Evelyn Rose Lutz mit lieben Grüßen von Bampa

SECHS JAHRE ZUVOR

Bei dem Unwetter war wieder mal der Strom ausgefallen. Aiden und ich lagen in unseren Betten und Mum las uns bei Kerzenlicht eine Geschichte vor. Ich erinnere mich noch, dass ich dachte, Geschichten bei Kerzenschein seien so viel besser, weil die Flamme tanzte und Wellen von Licht und Schatten über Mums Gesicht wogen ließ, während sie las. Es war, als wäre ihr Gesicht in Bewegung und Teil der Geschichte, als veränderten die Worte ihren Gesichtsausdruck, drückten auf einen Schalter in ihrem Innern und knipsten etwas an und aus, an und aus.

Aiden hatte die Bettdecke bis über die Nasenspitze hochgezogen. Mit großen Augen blickte er Mum unentwegt an, ohne zu blinzeln. Das Kerzenlicht ließ sein Haar, das schwarz und wellig war wie meines, auf dem weißen Kopfkissenbezug zittern. Es war, als würden dünne Würmer über seine Kopfhaut kriechen. Bei der Vorstellung musste ich kichern, doch dann bekam ich Angst.

Ich weiß nicht mehr, worum es in der Geschichte ging, weil ich an Kerzen und Lichtspiele und Würmer gedacht hatte, doch Aiden sog jedes Wort auf.

Als Mum das Buch zuklappte, protestierten wir gleichzeitig lautstark.

»Noch eine! Bitte!«

Doch sie wollte uns keine weitere Geschichte vorlesen, wie sehr wir auch bettelten. Wir bräuchten unseren Schlaf, meinte sie. Wir hätten am nächsten Morgen Schule (obwohl wir alle wussten, dass das ohne Strom nicht der Fall sein würde). Wir konnten sie nicht umstimmen. Sie las uns immer nur eine Gutenachtgeschichte vor, weil … das war einfach so. Gute Nacht und schlaft schön. Wir versuchten es trotzdem. Weil … das war einfach so.

»Können wir die Kerze bitte hierbehalten?«

Aiden hatte Angst vor der Dunkelheit. Ich nicht. Ich war taffer als er. Ich bin die Ältere. Um drei Minuten, sagte Mum, aber das erklärte eine Menge. Es erklärte, warum immer ich die Entscheidungen traf, warum ich bestimmte. Aiden stellte das nie infrage, weil es eine Tatsache ist und es Tatsachen nicht kümmert, ob du sie infrage stellst oder nicht. Und sie ändern sich auch nicht, nur weil du sie nicht magst.

Aiden war dafür ziemlich clever.

»Amanda, sag deinem Bruder, warum die Kerze nicht hier drinbleiben kann«, sagte Mum.

Ich setzte mich im Bett auf und holte tief Luft. »Weil es gefährlich ist«, sagte ich. »Wenn einer von uns – wahrscheinlich Aiden, da er ziemlich tollpatschig sein kann –, wenn also einer von uns die Kerze in der Nacht umwirft, könnten wir die Betten in Brand stecken und das Haus niederbrennen und alle in dem Feuer umkommen, deshalb können wir nur elektrische Nachtlichter haben, aber die können wir jetzt auch nicht haben, weil der Strom ausgefallen ist wegen dem Unwetter und wir keine Batterien mehr haben.«

Hier musste ich noch einmal tief Luft holen, da sämtliche Worte von eben auf der Welle des letzten Atemzugs gesurft waren und meine Lunge leer war.

Mum lächelte. »Eine gute Antwort, Amanda«, sagte sie. Ich strahlte. »Wenn auch ein wenig selbstzufrieden.«

Ich wusste nicht, was sie damit meinte, nahm aber an, dass es wahrscheinlich etwas Gutes war.

Sie wandte sich Aiden zu und strich seine Bettdecke glatt. »Es könnte also irgendeinem von euch beiden – möglicherweise sogar Amanda, auch wenn sich das kaum jemand vorstellen kann – ein Missgeschick passieren. Wir müssen dafür sorgen, dass euch nichts passiert, meine Kleinen.«

Aiden nickte im selben Augenblick, als nicht weit entfernt ein Donnerschlag ertönte, der das Wasserglas auf meinem Nachttisch zum Wackeln brachte. Es war fast ein wenig komisch, als hätte Aidens Nicken den Donner ausgelöst.

»Außerdem, wenn das Unwetter so weitertobt, braucht ihr kein Licht«, meinte Mum. »Ihr habt dann mehr als genug von der natürlichen Sorte. Meint ihr, dass ihr trotzdem schlafen könnt, Kuschelmonster?«

Wir alle wussten, dass das Unwetter noch stundenlang dauern würde und wir wahrscheinlich auch am Morgen noch keinen Strom hatten, um Frühstück zu machen. So lief es normalerweise. Und wir wussten auch, dass der Donner uns nicht am Schlafen hindern würde. Wir hatten während Orkanen geschlafen und das hier war nichts im Vergleich dazu.

»Ja, Mamma«, sagte Aiden.

»Klar«, sagte ich.

Mum setzte sich noch einmal auf mein Bett, was ein wenig seltsam war und absolut nicht zur abendlichen Routine gehörte. »Ich glaube, ihr seid alt genug, um das zu hören«, sagte sie, »deshalb möchte ich, dass ihr gut aufpasst.«

Wir setzten uns beide im Bett auf. Würde noch eine Geschichte kommen, obwohl sie Nein gesagt hatte? Was immer es war, es klang aufregend.

»Ihr seid eineiige Zwillinge«, begann sie. Das wussten wir. Natürlich wussten wir das. Das war sehr selten und machte uns zu etwas ganz Besonderem. Doch wir schwiegen. Warteten einfach ab. »Geschwister«, fuhr sie fort, »die untrennbar miteinander verbunden sind. Das ist etwas Wunderbares. Etwas ganz Wunderbares.«

Ich unterdrückte ein Gähnen. Ich war müde und das war schließlich weder besonders interessant noch aufregend. Zumindest bis jetzt nicht. Klar waren wir etwas Besonderes. Das hatte ich schon immer gewusst.

»Aber es bedeutet auch, dass ihr Verantwortung füreinander übernehmen müsst. Verantwortung übernehmen bedeutet, dass ihr manchmal Dinge tun müsst, die ihr vielleicht nicht tun wollt, um dem jeweils anderen zu helfen und ihn zu beschützen. Versteht ihr, was ich meine?«

Wir nickten beide, aber ich war mir nicht sicher, ob wir es wirklich so richtig begriffen. Vielleicht führte Mum deshalb ein Beispiel an.

»Nehmen wir mal an, ich würde die Kerze tatsächlich hierlassen und Amanda würde sie in der Nacht umwerfen …« Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Mum gab mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich schweigen solle, und das tat ich dann auch. »Und du, Aiden, würdest aufwachen und euer Zimmer stünde in Flammen. Was würdest du als Erstes tun?«

»Ich würde Amanda aufwecken und dafür sorgen, dass sie sofort das Zimmer verlässt.«

»Ja. Gut. Warum?«

»Weil sie meine Schwester ist und ich sie beschützen muss.«

Mum strahlte, beugte sich vor und streichelte Aidens Wange.

Ein eifersüchtiger Stich ließ mich zusammenzucken. Ich hätte diese Frage auch beantworten können. Diese kleine Geste der Zuneigung hatte eigentlich ich verdient, und es schmerzte, sie nicht zu bekommen.

»Das bedeutet, Geschwister zu sein«, sagte sie. »Das bedeutet, Familie zu sein. Es gibt eine alte Weisheit, Kinder. Geschwister sind immer da, um einander aufzufangen, wenn einer fällt. Wenn irgendetwas schiefgeht – und es muss nichts Großes sein wie ein Feuer, es könnte einfach sein, dass einer von euch traurig ist oder es ihm nicht gut geht –, dann sollte der andere immer da sein und helfen. Immer! Das meinte ich mit Verantwortung. Du, Aiden, musst immer da sein, um Amanda aufzufangen, wenn sie fällt.«

Er nickte.

»Und ich fange Aiden auf«, sagte ich. »Er fällt ständig.« Weil er so tollpatschig ist, dachte ich, sagte es jedoch nicht laut.

»Ja«, bekräftigte Mum. »Ihr müsst mir versprechen, dass ihr immer aufeinander aufpasst.«

Wir versprachen es mit dem ganzen Ernst von Sechsjährigen. Später, als Mum die Kerze ausgepustet und das Zimmer verlassen hatte, schob sich Aidens Hand durch die Dunkelheit zwischen unseren Betten und ergriff meine. Er konnte manchmal so kindisch sein, zum Beispiel auch, wenn er Mum Mamma nannte.

Wir schliefen Händchen haltend ein. Die Blitze zuckten silbern und schwarz und der Donner spielte Schlagzeug auf den Fensterscheiben.

GEGENWART …

Aiden wollte meine Hand halten, doch dafür war ich zu alt. Er auch, logischerweise. Ich trat ihm leicht gegen den Fuß, und er ließ los, aber erst nachdem alle es gesehen haben mussten. Genau das, was ich an unserem ersten Tag brauchte. Ich wischte die Hand, die er gehalten hatte, an meinem Kleid ab und verschränkte beide Hände hinter dem Rücken. Mein Gesicht brannte, und je mehr ich an das Brennen dachte, desto heißer wurde mir. Super. Einfach super.

Mr. Meredith stellte sich hinter uns und legte eine Hand auf meine Schulter und die andere auf die von Aiden.

»Was für ein Glück haben wir, Kinder?«, fragte er die Klasse über unseren Kopf hinweg. Niemand meldete sich, aber ich vermute mal, es war eine Frage, auf die keine Antwort erwartet wurde. »Wir bekommen heute Zuwachs, und das gleich im Doppelpack!«

Die Klasse schaute uns an. Es wäre schön, wenn ich behaupten könnte, dass sie nicht sonderlich interessiert waren, dass sie aus den Fenstern blickten oder an ihren Fingernägeln pulten, doch es war leider so, dass sie uns anstarrten, als kämen wir von einem anderen Planeten. Meine Gesichtstemperatur stieg um ein paar weitere Grad.

»Die beiden sind nicht nur Zwillinge«, fuhr Mr. Meredith fort, »sie sind sogar eineiige Zwillinge.« In seiner Stimme schwang ein Staunen mit, als wären wir alle Zeuge eines Wunders. »Wer kann mir etwas zu eineiigen Zwillingen sagen?«

Ein Mädchen in der ersten Reihe meldete sich, doch Mr. Meredith ignorierte sie. Vermutlich meldete sie sich immer, die Alleswisserin der Klasse, die alle anderen dumm dastehen ließ. Ich hatte alte Filme gesehen, in denen so etwas vorkam. Ein Junge ziemlich weit hinten meldete sich, doch die Bewegung war langsam und unsicher. Mr. Meredith nahm die Hand von meiner Schulter, und sie erschien vor meinen Augen, der Zeigefinger ausgestreckt.

»Ja, Daniel.«

»Zwei Kinder, die dieselbe Mutter haben und gleich aussehen«, sagte er, aber seine Stimme klang unsicher und brach. Die Klasse blieb stumm und wartete offensichtlich darauf, dass er weiterredete. »Und gleichzeitig geboren werden«, fügte er hinzu.

»Sehr gut, Daniel«, lobte Mr. Meredith. »Ausgezeichnet.«

Das Mädchen in der ersten Reihe hatte immer noch die Hand oben.

Mr. Merediths Seufzer strich an meiner Wange vorbei. »Ja, Charlotte?«

Charlotte setzte sich aufrechter hin und ruckelte mit den Schultern, als wollte sie sicherstellen, dass auch beide korrekt ausgerichtet waren. »Bitte, Sir«, sagte sie, »eineiige Zwillinge kommen aus einer Zygote, die sich teilt und zwei Embryos ausbildet, was bedeutet, dass diese beiden keine eineiigen Zwillinge sein können, weil eineiige Zwillinge immer dasselbe Geschlecht haben. Sie müssen also zweieiige Zwillinge sein, die aus zwei unterschiedlichen Eiern stammen, die jedes für sich befruchtet wurde.«

Leises Lachen ertönte. Wahrscheinlich wegen des Wortes Eier. Charlotte fuhr mit wütender Miene auf ihrem Stuhl herum. »Es stimmt aber«, sagte sie und drehte sich wieder zu uns zurück. »Nicht wahr? Ich habe recht, Sir, oder? Sagen Sie es ihnen.«

»Ja, du hast recht, Charlotte. Absolut recht.« Der Lehrer trat vor uns und faltete die Hände. »Ich vermute, das Wort Eier hat das Lachen ausgelöst. Harte Eier, Spiegeleier, Rühreier, ja? Köstlich auf Toast. Aber Charlotte hat wie immer recht. Wir kommen alle aus Eiern, Kinder. Doch das macht uns nicht zu Hühnern, oder? Hat irgendjemand das Bedürfnis, das hier zu tun?« Er kauerte sich hin, die Knöchel seiner Hände berührten sich und die Ellenbogen waren abgespreizt. So stolzierte er vor der Klasse auf und ab, die Ellenbogen pumpten, der Kopf ruckte vor und zurück und dabei gackerte er die ganze Zeit.

Anfangs stöhnten die Schüler, doch dann lachten sie und kriegten sich nicht mehr ein, als er sich vor ihnen drehte. Ich musste lächeln. Dieser Lehrer war entweder das Beste, was uns passieren konnte, oder echt nervig. Das würde sich erst noch zeigen, deshalb lächelte ich nur.

Er richtete sich wieder auf.

»Also, ich hatte das Bedürfnis, wie ihr gesehen habt, aber das bin nur ich, Kinder. Wenn ich Pausenaufsicht habe und euch beim Spielen zuschaue, sehe ich euch rennen, springen und hüpfen. Aber ich sehe ganz bestimmt niemanden, der ein Huhn nachahmt.« Er machte eine Pause. »Zumindest bis jetzt noch nicht.« Mr. Meredith wandte sich uns zu und breitete die Arme aus. »Aber ich verhalte mich sehr unhöflich unseren Gästen gegenüber, die mit ziemlicher Sicherheit nicht länger im Rampenlicht stehen wollen. Bitte heißt unsere neue Mitschülerin und unseren neuen Mitschüler willkommen. Das ist Amanda Delatour und ihr Zwillingsbruder Aiden Delatour. Kann ich hören, wie wir uns freuen, Kinder?«

Alle klatschten, worauf mein Gesicht noch röter wurde. Ich schaute kurz zu Aiden, doch seine Miene war ausdruckslos wie immer.

»Wollt ihr nebeneinandersitzen?«, fragte Mr. Meredith leise. Er hatte sich zu uns heruntergebeugt, als der Applaus verebbt war.

»Nein danke«, antwortete ich, »wir sind völlig eigenständig.« Ich wollte souverän klingen, doch meine Stimme zitterte ein wenig.

Der Lehrer nickte. »Dann sucht euch einen Platz«, sagte er. »Wo immer ihr wollt.«

Ich blickte mich im Klassenzimmer um, aber die Entscheidung war nicht schwer. Ich brauchte dringend eine Freundin, und wie es aussah, war das Mädchen in der ersten Reihe in derselben Situation. Alleswisser, so vermutete ich, blieben in den Pausen auf dem Schulhof allein, da man während des Unterrichts schon genügend von ihnen zu hören bekam. Außerdem war es keine schlechte Strategie, sich vorn hinzusetzen. Nicht nur, dass man hier alles besser hören konnte, die in den hinteren Reihen hatten oft einen Ruf, wie ich gelesen hatte. Und zwar keinen besonders guten. Charlotte strahlte mich an, als ich mich setzte, doch ich legte die Hände flach auf den Tisch und blickte stur geradeaus.

Aiden setzte sich, wie ich feststellen musste, nach hinten.

»Mr. Meredith kann manchmal ein ziemlicher Spielverderber sein.«

Charlotte und ich saßen unter einem riesigen Ventilator auf der Schulveranda. Mr. Meredith hatte vor der Mittagspause auf seinem Tablet nachgesehen und gesagt, dass wir nicht rausgehen könnten zum Spielen, da die UV-Strahlung eine gefährliche Stärke erreicht hätte. Das war keine Überraschung. Die UV-Strahlung hier war immer gefährlich. Wir hatten gestöhnt und vorgeschlagen, uns mit Sonnencreme mit extra hohem Lichtschutzfaktor einzucremen und Mützen mit Nackenschutz aufzusetzen, aber er wollte uns trotzdem nicht rauslassen.

»Und ein Huhn«, bemerkte ich.

Charlotte lachte. »Ja, er macht solche Sachen ständig. Er ist witzig. Bei manchen Lehrern würde es aussehen, als versuchten sie zu angestrengt, witzig zu sein, aber er ist … ich weiß auch nicht. Bei ihm ist es echt. Er mag Kinder. Und es gibt zu viele Lehrer, die uns anscheinend hassen.«

Das stimmte, aber bevor Charlotte es ausgesprochen hatte, hatte ich noch nicht wirklich darüber nachgedacht. Von meinen früheren Lehrern hatten recht viele Kinder offensichtlich überhaupt nicht gemocht, gemessen an der Art, wie sie uns behandelten, sogar im Fernunterricht, wenn wir Hunderte von Kilometern voneinander entfernt waren. Ich fragte mich, weshalb sie überhaupt Lehrer geworden waren. Sie sind wie Bauern, die keine Tiere oder kein Getreide mögen, oder wie ein Arzt, der keine Medikamente mag.

»Warum sitzt dein Bruder allein da drüben?«

Ich schaute zu Aiden hinüber. Er saß etwa zehn Meter von uns entfernt, und zwar allein, weil alle anderen so dicht wie möglich bei den Ventilatoren saßen. Die Hitze scheint ihn nicht zu stören. Er schwitzt einfach und tupft sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab. Manchmal, wenn wir einen Spaziergang durch unseren Garten machen, bekommt er große, runde Schweißflecken unter den Achseln. Das ist mehr als nur ein bisschen eklig.

»Er ist lieber allein«, erklärte ich.

Ich sagte ihr nicht, dass er strikte Anweisung hatte, in der Schule auf Abstand zu bleiben. Nur weil wir Zwillinge sind, glauben alle, dass es diese bekloppte Verbindung zwischen uns gibt. Klar, es gibt sie. Es gibt diese Verbindung zwischen uns. Aber sie bedeutet nicht, dass wir jede Sekunde unseres Lebens zusammen verbringen müssen, trotz der Tatsache, dass Aiden glücklich wäre, wenn wir es täten. Er braucht meine Unterstützung. Ich wahrscheinlich auch seine. Aber der Unterschied besteht darin, dass ich auch Raum für mich und meine eigenen Freunde brauche. Es ist Aidens Problem, wenn er weder das eine noch das andere braucht.

»Ich hätte gern einen Zwillingsbruder«, sagte Charlotte. »Ein Einzelkind zu sein, ist schrecklich.«

Das sagten alle, und ich hatte gelernt, dem nicht zu widersprechen. Ich erklärte ihnen nicht, dass Einzelkinder die Liebe ihrer Eltern nicht teilen müssen oder dass Alleinsein sich manchmal anfühlt wie der Himmel auf Erden und dass sie, wenn sie um die Probleme wüssten, wahrscheinlich nicht mehr so erpicht darauf wären, mit jemandem aufzuwachsen, der genauso aussieht wie sie und ähnlich denkt und spricht. Ich habe eine andere Persönlichkeit als Aiden. Eine vollkommen andere. Er ist still und nimmt immer Rücksicht auf meine Gefühle. Ich bin nicht so still, aber auch ich nehme Rücksicht auf meine Gefühle. Ich habe ihm das einmal gesagt, aber er hat den Witz nicht verstanden.

»Ja, es ist cool«, erwiderte ich. »Aber wir sind eben identisch.«

Charlotte schüttelte den Kopf.

»Ihr mögt sehr ähnlich aussehen, aber ihr könnt nicht identisch sein. Glaub mir. Ich kenne mich mit solchen Dingen aus.«

Dad holte uns selbst von der Schule ab. Mum war geschäftlich bei einer Konferenz in Melbourne. Sie ist oft weg, was einerseits Kacke ist, andererseits aber auch gut. Dad kocht sehr viel besser als Mum und er hat nichts gegen Pommes. Mum ist strikt gegen Pommes. Eigentlich ist sie gegen alles außer Gemüse, das wir in den Gemüsebeeten hinter dem Haus anbauen. Ich habe sie darauf hingewiesen, dass Pommes aus Kartoffeln und somit Gemüse sind, aber das spielt für sie keine Rolle, weil sie glaubt, dass Gemüse gesund sein muss (mit einigen wenigen Ausnahmen, zu denen Pommes nicht gehören). Ich habe nichts gegen gesundes Gemüse, aber wenn ich die Wahl habe, esse ich es trotzdem lieber gebraten. Aiden ist das alles gleichgültig, da er nichts isst. Klar, er isst schon etwas, aber kein Essen, wie wir es kennen.

Aiden und ich schwammen in unserem Pool, während Dad das Abendessen zubereitete. Gemüsefrittata mit Pommes hatte er angekündigt. Eines meiner Lieblingsgerichte.

Ich muss ehrlich sein. Wenn es etwas gibt, was Aiden besser kann als ich, dann ist es schwimmen. Er kann durch die ganze Länge des Pools tauchen, und wenn er sich richtig anstrengt, kann er mich im Freistilschwimmen problemlos schlagen. Ich weiß das, weil ich ihn einmal beobachtet habe, als er nicht wusste, dass ich da war, und er war wie ein Delfin geschwommen. Nie im Leben könnte ich so schwimmen. Aber wenn wir Wettschwimmen machen, lässt er mich immer gewinnen. Nur knapp, als würde er sich wirklich anstrengen, es aber nicht ganz schaffen. Manchmal gefällt mir das und manchmal ärgert es mich. Heute machten wir nur ein paar gemächliche Züge im Bruststil.

»Wie fandest du die Schule heute, Aiden?«, fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern und strich sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. »Okay so weit. Mr. Meredith könnte ganz nett sein. Du weißt, was ich meine, Amanda? Richtig nett.«

»Ja. Albern auf eine Art, wie Erwachsene es normalerweise nicht sind.«

»Er mag seine Schüler.«

»Das hat Charlotte auch gesagt.«

»Wird Charlotte deine Freundin?«

Dieses Mal zuckte ich mit den Schultern. »Vielleicht. Abwarten.«

Plötzlich war mir nicht mehr nach Reden, deshalb paddelte ich am Beckenrand hin und her und betrachtete durch getönte Fenster die Hügel in der Ferne. Sie waren purpurfarben mit grünen Flecken und eingehüllt in Hitzeschleier. Die Luft des frühen Abends flirrte. Aiden schwamm weiter und überließ mich meinen Gedanken.

Während des Abendessens fragte uns Dad über die Schule aus. Die Frittata war köstlich, und die Pommes waren fest und knusprig, weshalb ich Stück für Stück abknabberte und ihre Erdigkeit auskostete. Ich hatte die Kartoffeln eigenhändig aus der Erde gebuddelt. Aiden überließ das Reden größtenteils mir, wie immer.

»Es freut mich, dass der erste Tag gut gelaufen ist«, sagte Dad. »Die Schule hat einen sehr guten Ruf, und es war gar nicht so einfach, euch dort anzumelden.«

Ich wusste das. Die Schulgebühren waren enorm hoch, doch unsere Eltern konnten sich das leisten. Dennoch nahm die Schule nicht jedes x-beliebige Kind. Keine Ahnung, wie schwierig es gewesen war, sie dazu zu bringen, dass sie uns aufnahmen, aber Mum und Dad hatten ein Bewerbungsgespräch ums andere und hatten dazu noch eine Menge Geld hingeblättert. Als wir in Queensland wohnten, hatten wir mit Fernunterricht begonnen, da unser Haus praktisch von der Zivilisation abgeschnitten war. Nach dem Umzug nach Sydney waren Privatlehrer zu uns gekommen, was einerseits okay war, andererseits aber auch nicht. Ich wollte Freundinnen haben, und auch wenn Mum und Dad immer wieder sagten, dass ich Glück hätte, in meinem Zwillingsbruder einen Freund zu haben – und dass jede Menge Leute uns darum sehr beneiden würden –, gab ich ihnen deutlich zu verstehen, dass das nicht reichte. Ich liebe meinen Bruder, ja. Aber er ist kein Freund. Mit ihm kann ich mich nicht über … na ja, Mädchensachen austauschen. Logisch. Diese Schule wird das alles ändern. Charlotte wird wahrscheinlich eine Freundin werden, aber andere Mädchen vielleicht auch. Es war schließlich mein erster Tag und ich hatte in Sachen Freundinnen bereits einen glänzenden Start hingelegt.

Zur Schlafenszeit rief Mum uns per Videocall von ihrem Hotel in Melbourne aus an. Zuerst unterhielt sie sich mit Dad, und als wir im Bett lagen und lasen, nahm er uns mit dazu.

»Wie war der erste Schultag, Kuschelmonster?«

Ich wünschte zum tausendsten Mal, sie würde endlich aufhören, uns so zu nennen. Es ist peinlich.

»Es war super, Mum«, antwortete ich. »Ich glaube, ich habe schon eine Freundin gefunden.«

Wir erzählten ihr alles, was wir an dem Tag erlebt hatten, alles über den Unterricht und was wir gelernt hatten und besonders viel über Mr. Meredith. Mum lächelte, nickte und versprach, übermorgen zurückzukommen, vorausgesetzt, es fielen keine Flüge aus, was mehr ein Wunschdenken war. Sie sagte, dass sie uns liebe und wir uns nicht von den Schlafläusen beißen lassen sollen, und wir sagten ihr, dass wir sie auch liebten und dass es keine Schlafläuse gebe, und dann reichten wir sie zurück an Dad.

Aiden wollte noch reden, aber ich war nicht in Stimmung. Ich fand es unmöglich, dass wir mit zwölf Jahren immer noch im selben Zimmer schlafen mussten. Es war ja nicht so, als gäbe es in unserem neuen Haus nicht jede Menge Schlafzimmer, aber Mum und Dad wollten nichts davon hören. Ihr könnt nachts aufeinander aufpassen, sagten sie. Da schlafen wir, wandte ich ein. Es änderte nichts.

Ich knipste meine Nachttischlampe aus und drehte mich zur Wand, hauptsächlich, um Aiden vom Reden abzuhalten. Er würde nichts sagen, wenn er dachte, ich wolle schlafen. Aber ich wollte noch nicht schlafen. Ich ging in Gedanken noch einmal den ganzen Tag durch, erlebte noch einmal jeden Augenblick. Und ich wusste, ich würde von der Schule träumen, von Mr. Meredith und Charlotte. Es würde ein wunderbarer Traum werden.

Aiden träumt nicht. Das sagt er zumindest. Vielleicht erinnert er sich nicht an seine Träume. Das ist gleichermaßen seltsam und traurig, wenn du mich fragst.

Ich wusste, dass es eine ausgesprochen bescheuerte Idee war. Kaum dass ich sie hatte, wusste ich es. Aber ich wollte nicht hören. Nicht einmal auf mich selbst.

Mr. Meredith schaute vor der Mittagspause wieder auf sein Tablet. Dieses Mal waren die Werte besser, und wir durften draußen spielen, wenn auch nur mit Mützen und Sonnencreme, was er persönlich begutachtete. Fürsorgepflicht, murmelte er, während er uns kontrollierte. Wenn ihr Hautkrebs bekommt, bin ich dafür verantwortlich. Außer Mr. Meredith schien das niemanden zu kümmern. Ein paar Jungs und auch zwei Mädchen liefen sofort zum Basketballfeld. Charlotte und ich blieben bei einer Bank im Schatten und öffneten unsere Lunchboxen. Ich hatte einen Apfel dabei, Möhrenstifte und ein gekochtes Ei von unserem eigenen Huhn. Es hieß Kentucky. Charlotte hatte ein Sandwich dabei, belegt mit etwas, was aussah wie kalter Braten.

Sie bemerkte, dass ich es anstarrte. »Ich liebe kalten Braten«, sagte sie und nahm einen kleinen Bissen. »Du nicht, Amanda?«

»Doch! Aber meine Eltern erlauben nicht, dass ich welchen esse. Sie sagen, es sei ›nicht nahrhaft‹.« Ich malte die Anführungszeichen mit den Fingern in die Luft. »Deshalb gibt’s bei mir immer nur Obst und Gemüse. Immer Gemüse. Es hängt mir langsam zum Hals raus, wenn ich ehrlich bin.«

Charlotte legte ihr Sandwich in die Box zurück. Sie hatte nur dieses eine Mal abgebissen.

»Hast du schon einmal Mango gegessen?«, fragte sie.

»Natürlich. Bevor wir nach Sydney gezogen sind, haben wir in Queensland gewohnt. Da gab es überall Mangobäume.«

»Ich liebe Mangos. Ich habe erst einmal eine gegessen, aber dieser Geschmack …« In ihre Augen trat dieser verträumte Ausdruck. »Jetzt sind sie extrem knapp und man bekommt sie nirgendwo mehr. Außer …«

»Außer?«

»Mir hat jemand gesagt, dass im Victoria Park ein Mangobaum steht, ein paar Minuten von hier. Mehrere sogar. Und dass sie Früchte tragen.«

Ich lachte. »Das muss ein Scherz gewesen sein. In Sydney wachsen keine Mangos.«

Charlotte nahm ihr Sandwich wieder aus der Box, überlegte kurz und legte es zurück.

»Früher war das tatsächlich so«, sagte sie, »aber der Klimawandel hat alles Mögliche verändert. Das meiste zum Schlechteren, aber gelegentlich auch etwas zum Besseren. Offenbar ist es in Sydney jetzt warm genug, dass hier Mangobäume wachsen können. Jessica, sie ist im Jahrgang über uns, sagt, dass sie welche im Victoria Park gesehen hat. Und glaub mir, Jessica weiß, wovon sie spricht.«

Ich knabberte an einem Karottenstift. Es erschien mir unwahrscheinlich, dass Charlotte sich das gerade ausgedacht hatte. Ein bisschen wie gestern mit ihrer Zygoten-Behauptung hatte sie auch heute im Unterricht mit ihrem phänomenalen Wissen auf fast allen Gebieten geglänzt. Ihr Kopf ist vollgestopft mit Wissen.

»Selbst wenn es stimmt«, begann ich. Charlotte blickte mich scharf an. »Und ich bin sicher, dass es stimmt«, fügte ich rasch hinzu, »hätte irgendjemand sie inzwischen gepflückt. Ausgeschlossen, dass Obst in einem Park lange am Baum hängt.«

Charlotte seufzte. »Das stimmt wahrscheinlich«, meinte sie. »Wahrscheinlich.«

Und da hatte ich die Idee.

»Ich schaue für dich nach«, sagte ich.

»Wann?«

»Jetzt. Aiden und ich gehen jetzt gleich. Es ist doch nur die Albert Street hinunter, und wenn wir rennen, sind wir zurück, lang bevor der Nachmittagsunterricht beginnt.« Ich war aufgeregt. Wenn es etwas gab, womit ich meine neue Freundin beeindrucken konnte, womit ich sicherstellen konnte, dass sie in mir jemanden sah, der ihrer Freundschaft würdig war, dann war es das. Ich stand auf.

»Man wird dich in der Mittagspause nicht vom Schulgelände lassen«, wandte Charlotte ein. »Von dieser Regel gibt es keine Ausnahme, weil die Schule jederzeit wissen muss, wo du bist. Du hast Mr. Meredith und das ganze Fürsorgepflicht-Gedöns gehört. Außerdem könnte es draußen gefährlich sein. Du weißt, dass Teile von Sydney … nicht sicher sind.«

Ich wischte ihre Argumente beiseite, hauptsächlich, weil ich in diesen berauschenden Gefilden der Fantasie war, in denen einen die Aussicht auf Erfolg blind macht für die Angst. Meine Gedanken dazu waren folgende: Selbst wenn ich keine Mango fand – und ich war mir ziemlich sicher, dass es keine geben konnte –, würde ich ihr beweisen, dass ich mich vor nichts fürchtete, dass ich eine Rebellin war, eine, die kurz entschlossen handelte, ohne an ihre eigene Sicherheit zu denken. Mir gefiel diese Vorstellung von mir, auch wenn sie mit der Realität nur wenig zu tun hatte.

»Wir sind eingezäunt«, gab Charlotte zu bedenken.

»Es braucht schon mehr als einen Zaun, um mich aufzuhalten«, erklärte ich. »Geh zu Mr. Meredith und rede mit ihm. Lenke ihn ab. Mach ihm das Huhn. Ich bin bald wieder da.«

Ich lief zu Aiden, der beim Basketball zuschaute. Er ist in den meisten Sportarten gut, würde aber nie mitmachen, solange ich nicht mit auf dem Feld bin. Wen wundert es da noch, dass ich immer die Initiative ergreifen muss?

»Komm mit, Aiden«, sagte ich und er zögerte nicht. Es war, als wartete er auf Anweisungen.

»Wohin gehen wir?«

»Über den Zaun.«

»Weshalb?«

»Das erkläre ich dir beim Gehen.«

Eines muss man Aiden lassen: Er vertrödelt keine Zeit mit Einwänden. Als ich die Spitze meiner Schulschuhe in den Maschendrahtzaun steckte und die zwei Meter nach oben kletterte, war er immer direkt neben mir. Wir sprangen auf der anderen Seite auf den Boden und huschten hinter ein Gestrüpp vielleicht fünfzig Meter entfernt. Ich strich mir die Haare aus den Augen und spähte aus unserem Versteck. Soweit ich es beurteilen konnte, hatte uns niemand auf dem Schulhof bemerkt. Niemand hatte Alarm geschlagen. Ich hockte mich auf die Fersen und versuchte, meine Atmung zu regulieren.

Jetzt, da ich Zeit zum Nachdenken hatte, fragte ich mich, was zum Teufel ich da eigentlich tat. Es würde keinen Mangobaum geben. Das war einfach bescheuert. Und in einem Punkt hatte Charlotte recht: Es gab gefährliche Plätze hier in der Gegend. Unsere Eltern hatten uns erzählt, was für schreckliche Dinge Menschen passieren konnten, die allein herumspazierten. Was nach einer guten Idee ausgesehen hatte – um meinen Mut und meinen Wert zu beweisen –, erschien mir jetzt dumm und sinnlos. Aber ich konnte nicht einfach wieder über den Zaun zurückklettern. Charlotte würde wissen, dass ich kalte Füße bekommen hatte, und das ertrug ich nicht. Mir kam der Gedanke, dass ich einfach zehn oder fünfzehn Minuten hier warten könnte, außer Sichtweite, und dann zurückgehen und behaupten, ich hätte den Baum nicht gefunden. Oder vielleicht, dass ich ihn doch gefunden hätte, mir aber jemand zuvorgekommen sei und die Früchte gepflückt hätte. Aiden würde es bestätigen.

Aber irgendwie brachte ich das auch nicht über mich. Der Park konnte nur ein oder zwei Minuten die Straße hinunter liegen. Tatsächlich konnte ich, wenn ich über die Schulter schaute, in wenigen Hundert Meter Entfernung Bäume ausmachen. Wir wären in Nullkommanichts dort und wieder zurück.

»Komm mit, Aiden«, sagte ich.

Ich versuchte, ihm auf dem Weg alles zu erklären, aber es war gar nicht so einfach, die richtigen Worte zu finden. Zum einen würde ich wie ein Idiot dastehen, würde ich zugeben, dass ich das alles nur tat, um Charlotte zu beeindrucken, und auch wenn es mich nicht allzu sehr kümmerte, was Aiden über mich dachte, ging das zu weit. Also sagte ich, ich hätte gehört, im Park würden Mangos wachsen, und dass ich wissen wolle, ob das stimme. Alles ganz heldenhaft, entschlossen und eigenverantwortlich. Keine Ahnung, ob er mir glaubte.

»Das ist gefährlich, Amy«, sagte er. »Wenn Mum und Dad dahinterkommen …«

»Dann sollten wir besser dafür sorgen, dass sie nicht dahinterkommen, okay?«, erwiderte ich.

Er sagte nichts dazu, doch an der Art und Weise, wie er sich beim Gehen ständig umschaute, erkannte ich, dass er in äußerster Alarmbereitschaft war. Und ich muss zugeben, dass ich immer mehr Angst bekam, je weiter wir gingen. Es war eine fremde Welt hier draußen – eine insgesamt unbekannte Welt –, und bange Vorahnung war wie heißer Atem in meinem Nacken. Das kleinste Geräusch ließ mich zusammenzucken und meine Haut fühlte sich hypersensibel an.

»Entspann dich«, sagte ich zu Aiden. »Du machst mich nervös.«

Er sagte nichts.

Wir erreichten das Ende der Albert Street und der Park lag vor uns auf der anderen Straßenseite. Ich sah einen etwas seltsamen steinernen Bogen in Cremefarben, Braun und Hellblau mit einer Inschrift darauf: Richard Hellyer Memorial Entrance. Der Park selbst war schön angelegt, auch wenn der Rasen offensichtlich lange nicht gemäht worden war. In letzter Zeit hatte es einige Unwetter gegeben und alles war grün. Es war auch alles still. Kein Verkehr und – soviel ich sehen konnte – auch keine Menschen im Park. Mein Puls normalisierte sich, und ich dachte, dass wir jetzt vielleicht umkehren sollten. Ich könnte den seltsamen Eingangsnamen als Beweis anführen, dass ich da war, und Charlotte einfach sagen, dass es keine Mangos gab. Ich würde mit den Schultern zucken und Tut mir leid sagen. Hey, kein Problem. Ich hab’s versucht, okay? Aber die Stille weckte den Wunsch in mir, den Park wenigstens kurz zu betreten. Nur ein kleiner Rundgang und wieder zurück. Das war ein Abenteuer und ich erlebte nie Abenteuer.

Aiden hielt meine Hand, als wir die Straße überquerten, und dieses Mal ließ ich es zu. Wir blieben vor dem Eingangsbogen stehen, und ich fragte mich, was er da überhaupt verloren hatte. An sich war es nämlich gar kein Eingang. Es gab keinen Zaun oder sonst eine Einfriedung, sodass man den Park einfach an jeder beliebigen Stelle betreten konnte. Ich konnte keinen Sinn darin erkennen. Trotzdem gingen wir unter dem Bogen durch – es erschien unhöflich, es nicht zu tun, da irgendjemand sich offensichtlich die Mühe gemacht hatte, ihn zu bauen. Gleich dahinter blieben wir wieder stehen. Der Betonweg hatte Risse. Grasbüschel und Unkraut wuchsen darin, als versuchte die Natur, sich den Weg zurückzuerobern.

Verglichen mit anderen Parks war dieser nichts Besonderes. Keine Wasserfälle, wie ich es in Videos gesehen hatte, aber das war wohl auch nicht zu erwarten gewesen. Keine lehrreichen Tafeln mit den lateinischen Namen der Bäume darauf. Nur Gras und ein paar riesige Bäume, bei denen es sich mit ziemlicher Sicherheit um Moreton-Bay-Feigen handelte. Ich kannte sie aus der Zeit, als wir in Queensland gewohnt hatten. Keine Mangobäume, so viel stand fest, obwohl ich das wahrscheinlich nicht mit Sicherheit wissen konnte, bevor ich nicht den ganzen Park durchforscht hatte, und das würde ich nicht tun. Ich wollte Aiden gerade sagen, dass wir zurückgehen sollten, als wir ein Geräusch hinter uns hörten. Wir wirbelten herum.

Ein Mädchen. Sie muss am Torpfosten gesessen haben und wir waren direkt an ihr vorbeigegangen. Jetzt stand sie auf, und ich sah, woher das Geräusch gekommen war, das uns auf sie aufmerksam gemacht hatte. Sie hielt eine Spraydose in der rechten Hand und schüttelte sie, drehte das Handgelenk, als wollte sie den Inhalt durchmischen. Da stand sie, breitbeinig, schüttelte die Dose und starrte uns an. Aiden stellte sich vor mich. Sie sah nicht aus, als ginge eine echte Gefahr von ihr aus, aber Aiden lässt es nie darauf ankommen.

Dieses Mädchen war schmutzig. In ihrem Gesicht waren leichte Dreckspuren, besonders unter den Augen, die von einem so leuchtenden Grün waren, dass sie einen an Ort und Stelle festzunageln schienen. Auch ihre Beine waren schmutzig. Die fluoreszierenden gelben Nike-Turnschuhe dagegen waren blitzsauber. Shorts und ein T-Shirt, beides zerlumpt. Sie musste ungefähr dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein, es war schwer zu sagen. Ihr Haar war kurz und ungleichmäßig geschnitten, als hätte sie es selbst gemacht, und zwar ohne Spiegel. Ihr Mund war breit, und sie hatte eine Stupsnase, aber das Faszinierendste an ihr waren die Augen. Zehn oder zwölf Herzschläge lang herrschte Schweigen.

»Hallo«, sagte ich. »Wir tun dir nichts.«

Sie erwiderte nichts darauf und wandte den Blick auch nicht von uns ab. Schüttelte nur weiter die Dose. Mir wurde langsam ein wenig mulmig. Man hatte uns gewarnt, dass Straßenkinder gefährlich sein konnten, doch es war ja kaum etwas an ihr dran, so mager war sie. Als könnte ein starker Wind sie umpusten.

»Wir gehen jetzt«, sagte ich und machte einen Schritt auf sie zu.

Sofort hörte sie mit dem Schütteln der Dose auf und verschiedene Geräusche hinter uns ließen uns herumfahren. Sieben oder acht Kids sprangen von dem am nächsten stehenden Feigenbaum wie seltsame, fremdartige Früchte. Sie landeten elegant, mit gebeugten Knien. Nicht einer stolperte. Aiden stellte sich wieder vor mich. Offenbar – und berechtigterweise – schätzte er die Gefahr auf dieser Seite größer ein. Meine Kehle war trocken, als die Kids auf uns zukamen. Fünf Jungs und zwei Mädchen, alle zerlumpt, schmutzig und offensichtlich taff. Ich dachte kurz ans Weglaufen, was jedoch sinnlos gewesen wäre. Es war klar, dass sie uns nach weniger als zehn Metern eingeholt hätten. Wir hatten nichts Wertvolles bei uns, sodass der Versuch, uns auszurauben, ebenfalls sinnlos gewesen wäre. Aber womöglich wollten sie uns einfach wehtun, weil … na ja, weil wir anders waren und ihnen vielleicht langweilig war. Ich sah, dass Aiden die Hände zu Fäusten ballte.

Sie stellten sich im Kreis um uns herum auf und musterten uns von oben bis unten. Das Mädchen vom Torbogen trat in den Kreis. Sie hatte wieder angefangen, die Dose zu schütteln. 

»Wir haben nichts von Wert bei uns«, sagte ich. »Wir sind nur zwei Schüler und müssen zurück. Es tut mir leid, wenn das euer Revier ist. Wir wussten es nicht und wollten ganz bestimmt nicht unerlaubt eindringen. Wir würden jetzt gern gehen, wenn das okay ist.«

Schweigen.

»Bitte«, fügte ich hinzu.

»Bitte«, wiederholte das Mädchen. Sie lächelte und zeigte dabei kleine, leuchtend weiße Zähne. »Wie ausgesprochen höflich. Bitte. Danke. Nach Ihnen. Von mir aus gern. Ich weiß das sehr zu schätzen.« Jetzt lächelte sie nicht mehr.

»Wir haben nichts, was ihr brauchen könnt«, sagte ich in die Stille hinein.

»Oh, da bin ich mir nicht so sicher«, meinte das Mädchen. Sie machte einen Schritt auf uns zu, wobei sie Aidens Versuch, sich ihr in den Weg zu stellen, ignorierte. »Eure Kleider sind in meinen Augen nicht schlecht. Besser als meine auf jeden Fall. Vielleicht ziehen wir sie euch aus und lassen euch nackt nach Hause gehen. Falls ich einen Anfall von Großzügigkeit kriege, könnt ihr meine Sachen haben, aber ich fürchte, sie würden euch nicht zusagen. Flöhe, ihr wisst schon. Fiese Dinger. Garantiert nicht euer … Stil.«

»Wir rufen die Polizei«, sagte Aiden. Das brachte die meisten von ihnen zum Lachen.

»Oooooh«, rief ein Junge. »Nicht die Polizei! Ich habe Angst, Xena. Beschütze mich, Xena. Diese bösen, bösen Polizisten.«

Das Mädchen hob die Dose und versprühte einen feinen schwarzen Nebel vor unseren Augen. Aiden und ich wichen beide einen Schritt zurück.

»Oder vielleicht tagge ich euren Körper. Das wäre cool. Xenas Graffiti-Tag auf eurem nackten Hintern. Ihr könntet ihn der Polizei zeigen. Wenn ich ehrlich sein soll, langweilt es mich langsam, immer nur unser Territorium zu markieren.« Sie wies auf den Parkeingang. Auf einem der Pfeiler waren mit schwarzer Farbe ein großes X und daneben ein kleinerer, undefinierbarer Schnörkel aufgesprüht. »Ich muss Neues ausprobieren, meine Kunst weiterentwickeln«, fuhr sie fort. »Was käme da gelegener als zwei reiche Kids als Leinwand?«

Da fing ich an zu weinen. Ich wollte es nicht, weil ich nicht davon ausging, dass Schwäche zu zeigen uns in irgendeiner Form helfen würde, aber ich konnte nicht anders. Aiden spannte die Muskeln an. Ich wusste, dass er kurz davor war anzugreifen. Er würde sich auf den am nächsten stehenden Jungen werfen und zuschlagen. Für ihn spielte es keine Rolle, dass er zahlenmäßig unterlegen war und sie ihn wahrscheinlich halb totprügeln würden. Er hat nie Angst, selbst wenn es allen Grund dazu gibt.

»Wenn du meine Schwester anfasst, bringe ich dich um«, sagte er. Ohne jeden Unterton, ohne die geringste Spur einer Drohung. Es war, als stellte er eine Tatsache fest. Heute gibt es 45 Grad. Australien ist ein Inselkontinent. Wenn du meine Schwester anfasst, bringe ich dich um. Das machte alles umso bedrohlicher. Eines der Kinder wich sogar einen Schritt zurück.