Der Rosengarten - Kathrin Steinberger - E-Book

Der Rosengarten E-Book

Kathrin Steinberger

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Beschreibung

Hungern für den Sieg. Frieren für den Sieg. Herbst 1916 – gefühlt ist die ganze Welt im Krieg. Die jugendliche Rosa hat in dieser schweren Zeit einen zusätzlichen Kampf zu bewältigen. Denn nach dem tödlichen Arbeitsunfall ihres Vaters wird sie zur Vollwaise und muss daher ins Heim. Keine schöne Erfahrung im kriegsgebeutelten Wien. Als ihr angeboten wird, als "Kostkind" zu einer alten Frau zu ziehen, ergreift sie daher die Chance, auch wenn dort das Leben nur unwesentlich besser ist. Denn die alte Wirtshauswitwe ist verhärmt, streng und hart. Aber immerhin gibt es dort genug zu essen – was Rosa in ein moralisches Dilemma bringt. Sollten in diesen knappen Zeiten doch Lebensmittel und sonstige Materialien gerecht unter der Bevölkerung aufgeteilt werden. Was eigentlich Gesetz ist, scheint allerdings niemanden zu interessieren, wenn man nur genug Geld hat. Verraten kann Rosa die alte Frau jedoch auch nicht, denn ins Waisenhaus will sie auf keinen Fall zurück. So findet sie ihre eigenen Wege, um ihr Gewissen zu erleichtern. Und sie findet einen seelischen Zufluchtsort – das alte benachbarte und nun verlassene Gasthaus der Frau, den "Rosengarten". Hier findet sie nicht nur Ruhe, sondern eines Tages auch Simon. Einen verletzten Deserteur von der Isonzo-Front … Ein historisch versiert und schonungslos erzählter Jugendroman über eine junge, starke Frau im Ersten Weltkrieg auf ihrem Weg zu Emanzipation und Selbstbestimmung, über einen Alltag voller Knappheit und Mangel, über die Frage nach Moral und Gerechtigkeit sowie über die grausamen Geschehnisse an der Front. ... und krepieren für den Sieg, die Soldaten dort und wir hier, dachte Rosa dann immer.

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Seitenzahl: 379

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Kathrin Steinberger

Der Rosengarten

Für Renate Welsh,

voll Dankbarkeit, wie herzlich der kleine Bonsaivor 20 Jahren aufgenommen wurde

Auszeichnungen:

2015 Mira-Lobe-Stipendium

2018 Kinder- & Jugendbuchpreis des Landes Steiermark für das Manuskript

2024

© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlagbild: Stefan Karch

Grafische Gestaltung und Satz: Elvira Perterer

Schrift: Questa Sans, Lust Text, Minion Pro

Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien

ISBN 978-3-7022-4195-7 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-4196-4 (E-Book)

E-Mail: [email protected]

Internet: www.tyrolia-verlag.at

Social Media: Tyrolia Verlag Kinderbuch

Kathrin Steinberger

Der Rosengarten

Rosa, der Krieg und das Niemandsland

Inhalt

Teil I: 1916–1917

Gute Beute

Glockenschläge

Fort

Das Kinderhaus

Das Angebot

Ottakring

Einkäufe

Allein

Das Geheimnis

Der Überfall

Der Rosengarten

Teil II: 1917–1918

Zucker und Milch

Winter

Der Fremde

Wundbrand

Neue Hosen

Das Lazarett

Lügen

Niemandsland

Der Schlag

Der Einbruch

Wahrheit

Abschied

»Was hofft ihr?«

Nachwort

Glossar

Die Autorin

Teil I

1916–1917

Gute Beute

»So eine dumme Ziege«, dachte Rosa. Sie bog um eine Ecke und wäre beinahe mit einem alten Mann zusammengestoßen. Rosa schämte sich, weil sie sich nicht umdrehte, um sich zu entschuldigen.

»Ziegler die Ziege« hatten Hansi und Ferdi die Irmi wegen ihrer vorstehenden Zähne in der Schule oft genannt. Rosa hatte damals nie mitgelacht, weil sie nicht gern andere verspottete.

Aber eine Ziege ist sie wirklich, dachte Rosa. So wie Irmi gerade eben vor ihr gestanden war, in ihrem neuen hellblauen Kleid mit dem hübsch geschnürten Mieder und dem Sonnenschirmchen in der Hand. Dabei schien gar keine Sonne. Wozu brauchte man Ende Oktober einen Sonnenschirm? Wie sie Rosas abgenutztes Kleid gemustert hatte, bis Rosa ihre Füße in den abgelaufenen Schuhen so weit wie möglich zurückgezogen hatte.

Irmi hatte leicht reden, wie der Krieg einem das Leben schwermachte. Ihr Vater verdiente gut daran, dass der Kaiser viele Stiefel für seine Soldaten brauchte. Irmi bekam ihre feinen Stiefeletten von der eigenen Fabrik. Da konnte sie Rosa leicht hämisch mustern und davon reden, wie mühsam es war, dass es durch den Krieg kaum mehr Schokolade gab.

Schokolade! Rosa schnaufte wütend, während sie über die Straße lief, einem Pferdefuhrwerk auswich und auf ihr Wohnhaus zuging. Als ob es nichts Wichtigeres gab, wo der Krieg schon mehr als zwei Jahre dauerte.

Rosa schüttelte den Kopf, als sie daran dachte, wie sehr sie Irmi früher beneidet hatte. Sie schloss das Haustor auf und stieg die abgetretenen Stufen in den zweiten Stock hinauf, das Bündel mit der heutigen Beute an sich gepresst. Nein, sie wird sich jetzt nicht die Freude nehmen lassen. Ihr Einkaufsweg war so erfolgreich gewesen, Irma Ziegler und ihr komischer Sonnenschirm werden ihr das nicht verderben.

Sie öffnete die Wohnungstür, legte das Tuch auf den kleinen Esstisch und zog an der Garderobe zwischen Tür und Ofen Schuhe und Weste aus. Mit wenigen Schritten war sie bei der Küchenecke, nahm die große Emailleschüssel und holte Wasser von der Bassena am Gang. Sie wusch sich gleich die Hände und trug die volle Schüssel zurück in die Wohnung.

Sie lächelte stolz, als sie den Knoten im Tuch löste und ihre Beute herausholte, zuerst die Erdäpfel und dann das Butterstück. Sie holte einen kleinen Teller und legte die Butter drauf, dann wusch sie die Erdäpfel, nicht zu lange, damit sie nicht aufquollen, und heizte mit so wenig Kohlen wie möglich den Herd an.

Während die Erdäpfel kochten, räumte Rosa ihre Nähsachen vom Tisch auf die Sitzbank an der Wand. Lächelnd nahm sie auch noch den blauen Zwirn aus dem Tuch und legte ihn in die Schatulle zu den anderen. Es war wirklich ein guter Einkauf gewesen.

Als die Erdäpfel weich waren, zog Rosa die Schale ab, ganz vorsichtig, nur mit den Fingerspitzen. Weil sie schon ziemlich alt waren, ging das leicht. Mit dem Nagel vom Zeigefinger löste Rosa die kleinen schwarzen Augen heraus. Dass es nicht die schönsten Erdäpfel waren, störte sie nicht. Die letzten hatten sie vor mehr als einer Woche gehabt. Und es waren sogar fünf Stück. Sie hatte nur zu zwei Geschäften gehen müssen.

Der Vater würde sich freuen. Gestern hatte es nur den Rest der Suppe von vorgestern gegeben. Heute endlich wieder einmal Erdäpfel, dazu sogar ein Stück Butter und eine Scheibe Brot für jeden.

Rosa legte den letzten Erdapfel zurück in den Topf, deckte ihn mit einem Tuch zu, wusch sich die Hände und griff nach dem Kleid, das auf einem Sessel hing. Nach dem Abendessen würde es ohnehin zu dunkel sein, um weiterzunähen, sie wollte das Petroleum für die Lampe sparen. Rosa warf einen Blick auf das Kleid und strich es glatt, ehe sie es zusammenfaltete und in ihren Korb legte. So ein schöner dunkelblauer Stoff. Er roch vertraut. Rosa konnte sich erinnern, wie gut er zu den blauen Augen und hellen Haaren ihrer Mutter gepasst hatte.

Rosas Augen waren braun wie die des Vaters und ihre Haare deutlich dunkler als die der Mutter, fast braun, aber auch nicht ganz, irgendwie eine Dazwischenfarbe. Aber als sie das Kleid vor einer Woche zögerlich aus dem Kasten geholt hatte, hatte der Vater gelächelt und gemeint, dass es ihr hervorragend stehen würde. Es war ein komisches Gefühl, die Kleider der Mutter für sich umzunähen, aber über den Sommer war Rosa aus allen Sachen herausgewachsen, und jetzt, wo die Kälte des nahenden Winters langsam zu spüren war, brauchte sie etwas. Neue Kleider oder auch nur neuen Stoff, um eins zu nähen, konnten sie sich unmöglich leisten.

Als Rosa die Gabeln auf den Tisch legte, hörte sie den Vater im Stiegenhaus. Sie hätte das Geräusch seiner Stiefel unter hunderten anderen wiedererkannt. Kurz verstummten die Schritte, dann rauschte das Wasser der Bassena, weil er sich wie jeden Abend draußen die schmutzigen Hände wusch. Unmittelbar danach drehte sich sein Schlüssel im Schloss. Die Wohnungstür quietschte, schon trat er durch die Tür, in seinem staubigen Mantel, seiner schwarzen Hose und den Stiefeln, deren Absätze schief waren, von der Art und Weise, wie er auf dem Kutschbock saß und sie vor sich abstützte. Auch heute hatte Rosa den Eindruck, dass der Geruch aller Straßen Wiens an ihm klebte, aber wie jeden Tag roch er vor allem nach den Pferden, nach Heu und dem Leder der Kutsche, und er lächelte ihr entgegen.

»Na Rosalein, wie war dein Tag? Lustiger als meiner, hoff ich?«, fragte er, während er sich Mantel und Stiefel auszog.

Rosa berichtete ihm rasch von ihren Erlebnissen, denn eigentlich wollte sie ihn so bald wie möglich auf die Erdäpfel aufmerksam machen. Er nickte, aber Rosa hatte das Gefühl, dass er nur mit einem Ohr zuhörte. Rosa war erstaunt. Das sah ihm gar nicht ähnlich.

Der Vater setzte sich, rückte seine Gabel zurecht, und schaute endlich auf den Topf vor sich. Sein Lächeln wurde breiter.

»Wonach riecht es denn hier?«, fragte er. »Das sind doch nicht etwa –«

»Erdäpfel!« Rosa hob den Deckel hoch. Ein wenig Dampf stieg auf. »Sogar fünf Stück.«

Jetzt lachte der Vater wirklich: »Wo hast du die hergezaubert, du Wunderkind?!«

Rosa platzte fast vor Stolz.

»Die hat es beim Wagner gegeben«, sagte sie. »Ich bin zur Frau Pribil, fragen, ob sie blauen Zwirn hat. Beim Hinweg war der Wagner zu, aber als ich zurückgegangen bin, hat die Frau Wagner grad die Tür aufgesperrt und gerufen, dass noch eine Lieferung gekommen ist. Ich hatte gar kein Geld mehr dabei, aber die Frau Wagner hat gelacht und gesagt, die Tochter vom Herrn Röck lässt sie immer anschreiben, weil der Herr Röck, also du, ja ein ehrenwerter Mann ist, und dann hab ich mir fünf Erdäpfel aussuchen können, während die anderen erst zusammengelaufen sind. Und ein Stück Butter für die Marken hatte sie auch, und zwei Zwiebeln und zwei Handvoll Fisolen, aber die sind für morgen.«

Rosa holte tief Luft. So sehr hatte sie darauf gewartet, davon erzählen zu dürfen. Sie spürte ihre roten Wangen. Der Vater lachte immer noch, stand auf, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und schob sie liebevoll zu ihrem Sessel.

»Na, dann lass uns essen, bevor das Festmahl kalt wird«, sagte er.

Für ein paar Minuten aßen sie schweigend. Rosa nahm sich nur wenig Butter und bemühte sich, sie möglichst gleichmäßig auf einem Erdapfelstück zu verstreichen. Eigentlich war es verboten, die Butter roh zum Essen herzunehmen, man bekam sie, um damit zu kochen. Aber kaum jemand hielt sich daran. Die erwachsenen Frauen, mit denen Rosa in den Schlangen vor den Geschäften stand, schimpften oft, dass sich die Regierung gar nicht einzumischen brauchte, wie die Leute ihre Butter aßen, wenn ihnen schon kaum mehr welche zugeteilt wurde.

Die Erdäpfel waren etwas ausgekühlt, aber im Kern noch heiß, und sie schmeckten wunderbar. Ein wenig traurig schielte Rosa auf den leeren Topf. Sie hätte noch einmal und noch einmal zwei Kartoffeln essen können.

»Und, hast du deinen Zwirn bekommen?«, fragte der Vater schließlich.

Rosa nickte, dann zuckte sie mit den Schultern. »Na ja, genau die passende Farbe hatte die Frau Pribil nicht mehr, nur etwas heller. Aber das macht nichts, ich hab noch einen in Dunkelgrau. Ich mach mit dem blauen die äußeren Nähte, und da, wo man’s nicht so sieht, nehm ich den grauen.«

Rosa zerteilte ihren zweiten Erdapfel in kleine Stücke. Sie spürte, wie der Vater sie mit traurigem Blick ansah. Rosa wollte Schneiderin werden. Seit sie als kleines Kind der Mutter beim Nähen zugeschaut hatte, hatte nichts sie mehr fasziniert als die Handgriffe, die aus einem Stück Stoff langsam ein wunderschönes Kleid, einen eleganten Rock oder eine Bluse mit gerafften Ärmeln werden ließen. Ihre Tante Erna, die selbst Weißnäherin gewesen war, hatte behauptet, dass sie noch nie jemanden mit einem solchen Talent wie Rosa gesehen hätte, und ihr viele Sachen gezeigt. Und die Eltern hatten versprochen, wenn Rosa die Schule gut abschloss, würden sie ihr eine gute Lehrstelle besorgen.

Früher hatte Rosa davon geträumt, in einem der Salons in der Innenstadt zu arbeiten, von denen Tante Erna erzählte. Feine Damen würden zu ihr kommen, vielleicht sogar die Hofdamen, und bei ihr ein Ballkleid bestellen, und bei der letzten Anprobe würden sie sich verzückt vor dem Spiegel drehen und sagen: »Fräulein Rosa, nur Sie können so schneidern, wie ich es mir wünsche.«

Früher war das gewesen. Als sie ein Kind gewesen war. Als es gereicht hatte, sich abends unter der Decke zu verstecken und sich einzureden, dass alles gut ausgehen würde. Aber früher war vorbei. Es hatte aufgehört, als die Mutter gestorben war, vor etwas mehr als zwei Jahren.

Nur wenige Wochen nach ihrem Begräbnis hatte der Krieg begonnen, der große Krieg, in dem sich scheinbar die ganze Welt bekämpfte. Keine sechs Monate nach der Mutter mussten sie neben ihr Tante Erna begraben, die an der Tuberkulose erkrankt war. Im Krieg hatte niemand Platz für ein Lehrmädchen, schon gar nicht die feinen Salons, deren Inhaber bei Rosas Anblick nur die Nase gerümpft hatten. So saß Rosa zu Hause und verdiente nebenbei ein paar Heller, wenn sie für andere Leute Kleider ausbesserte oder Stulpen und Ärmel herausließ.

Der Vater legte seine Gabel hin, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Rosa sah ihn an. Sie kannte ihn, irgendetwas bedrückte ihn. Sie schluckte den letzten Bissen hinunter und wartete.

»Rosalein, ich muss dir was erzählen«, begann er. »Heut war das Militär bei mir. So ein kleiner Offizier, frag mich nicht nach dem Rang, ich erkenne das nie. Der hatte eine Depesche für mich.«

»Was ist eine Depesche?«, fragte Rosa.

»Eine Art Brief«, antwortete der Vater. »Eine Nachricht, die schnell verbreitet werden soll. Wie sie halt beim Militär Nachrichten weitergeben.«

»Aber du bist ja nicht beim Militär«, sagte Rosa, ihre Stimme zitterte.

Viele Männer mussten Soldaten werden und kämpfen, an den vielen Fronten, an denen Österreich mit anderen Ländern im Streit war. Nur wer gute Gründe vorweisen konnte, war davon ausgenommen, etwa weil man auch hier an der »Heimatfront«, wie man Wien jetzt nannte, eine kriegswichtige Arbeit leistete. Wie der Vater, der für das Militär Sachen von einem Ort zum anderen lieferte. Außerdem war er der letzte Verwandte, den sie in der Stadt noch hatte, und sie ein Kind, das noch nicht für sich selbst sorgen konnte.

Dennoch hatte Rosa immer Angst, denn der Krieg dauerte schon lange, der Sieg kam nicht so schnell, wie der Kaiser und seine Generäle das versprochen hatten. Es konnte ja sein, dass jemand auf die Idee kam, sie wäre nun alt genug und der Vater sollte doch kämpfen.

Der Vater schien ihre Gedanken zu lesen, er beugte sich vor und legte seine Hand auf die ihre.

»Hab keine Angst, niemand nimmt mich dir weg«, sagte er. »Darum ging es nicht in dem Brief. Es war eine Nachricht vom Militärkommando. Ausgehängt hat man sie auch schon. Sie brauchen unsere Fuhrwerke. Es gibt einen Erlass, dass sie für den Fronteinsatz eingezogen werden.«

Rosa war zuerst erleichtert, doch dann erschrak sie: »Sie nehmen das Fuhrwerk? Die ganze Kutsche?«

»Mit den Rädern allein werden sie nicht viel anfangen«, antwortete der Vater und lächelte schief, aber Rosa wusste, wie sehr ihn das traf.

»Was wird dann aus Nanni und Mitzi?«, fragte Rosa.

»Die kommen mit«, antwortete der Vater. Jetzt wurden seine Augen richtig dunkel.

»Das können die doch nicht machen«, rief Rosa.

Nanni und Mitzi waren Vaters Pferde, zwei große gutmütige Noriker, die Rosa fest ins Herz geschlossen hatte. Als sie sechs Jahre alt gewesen war, hatte der Vater die Stuten gekauft, und Rosa hatte ihre Namen aussuchen dürfen. Nanni nach einer Hündin, die eine ihrer Freundinnen damals gehabt hatte, und Mitzi nach dem Kosenamen der Mutter, die Maria geheißen hatte. Die Mutter hatte kurz protestiert, aber dabei gelacht, und so kamen Nanni und Mitzi zu ihren Namen. Seit damals zogen sie die schwere Kutsche des Vaters treu kreuz und quer durch Wien. Und nun sollten sie fort, in den Krieg?

»Aber sie sind doch hier zuhause!« Rosas Augen füllten sich mit Tränen. »Man kann sie doch nicht dorthin schicken, wo geschossen wird, da fürchten sie sich doch, da könnten sie –« Sie stockte.

»Wer weiß, ob sie an die Front geschickt werden«, sagte der Vater besänftigend. »Meine Kutsche ist groß und nicht so wendig, die ist den Anforderungen dort vermutlich gar nicht gewachsen. Viel eher werden sie sie im Tross einsetzen, weiter hinten, wo sie Vorräte herumfahren. Genauso wie hier, nur halt woanders.«

»Aber sie gehören doch hierher«, begann Rosa noch einmal, dann rollten die Tränen wirklich und sie konnte nicht weitersprechen. Ein paar fielen auf den Tisch und färbten das Holz dunkel.

»Ich weiß, Rosalein«, sagte der Vater mit dumpfer Stimme. »Aber die Armee braucht mehr Material, und wenn der Kaiser das verfügt, kann ich nichts machen. Morgen muss ich alles in die Rudolfskaserne bringen. Du kannst ja mit zum Stall kommen und dich verabschieden.«

Rosa nickte, schluckte ein paar Mal und riss sich zusammen. Es half ja nichts, wenn sie so weinte, es würde den Vater nur noch trauriger machen. Sie starrte auf ihren leeren Teller. All die Freude über die Erdäpfel war verflogen. Da fiel ihr etwas ein. Sie hob den Kopf und schaute den Vater an.

»Wenn du nicht mehr als Fuhrwerker arbeitest, was machst du dann?«, fragte sie.

»Ich werd schon was finden«, sagte der Vater achselzuckend. »Solchen Spaß, wie auf dem Kutschbock zu sitzen, wird nichts machen. Aber in den Fabriken suchen sie grad Arbeiter, weil die Armee die Produktion erhöht hat. Damit kann man auch überleben, wirst seh’n.«

Rosa nickte nur. Überleben, dachte sie, das ist es wohl. Wir sind gar nicht da, wo die Kämpfe stattfinden, trotzdem reden hier alle nur mehr vom Überleben.

Glockenschläge

Weinend hing Rosa am Hals der Pferde. Zuvor hatte sie dem Vater geholfen, die beiden aus dem Stall in der Nähe der Wohnung zu holen und fertig zu machen. Nun lud der Vater seine Kutsche mit all den Dingen voll, die er für seine Arbeit gebraucht hatte, all die Gurte und Boxen, die die Armee ebenfalls angefordert hatte.

Als er die Futtertröge von Mitzi und Nanni auflud, kamen ihr wieder die Tränen. Dann konnte sie den Tieren nur mehr die Hälse tätscheln, während der Vater dem Inhaber des Stalles die Hand schüttelte. Der Mann seufzte.

»Eine Schande«, murmelte er. »Eine Schande das alles.«

Rosa hatte mitbekommen, dass mehrere Kutscher ihren Stallplatz aufgaben, weil sie dieselbe Anordnung erhalten hatten. Sie fragte sich, wie er Stallbesitzer nun genug Geld verdienen wollte.

»Vielleicht sehen wir uns bald wieder«, sagte der Vater. »Wenn dieser Krieg schnell vorbei ist. Vielleicht kriege ich bald alles zurück.« Es klang aber, als glaubte er selbst nicht daran.

Rosa sah ihm nach, wie er mit der Kutsche langsam die Hernalser Hauptstraße hinunterfuhr. Sie wusste, dass Nanni und Mitzi es am Morgen gerne gemütlich angingen, aber heute schien ihr, als ließen die Pferde traurig die Köpfe hängen. Rosa blieb auf der Straße, bis sie die Kutsche nicht mehr sah.

Dann zahlte sie bei Frau Wagner die Schulden, ging nach Hause und brachte am blauen Kleid stundenlang nur wenige Stiche weiter.

Spät am Nachmittag kam der Vater wieder, saß schweigend am Tisch, aß Fisolen, ohne zu zeigen, ob er sich über das Gemüse freute. Die Fisolen waren klein und schief gewachsen, die letzte Ernte vor dem Winter, aber sie schmeckten gut. Doch auch Rosa blieben die Bissen im Hals stecken.

Draußen war es schnell dunkel geworden. Der Vater stand auf und machte sich fertig fürs Bett.

»Ich hab mit Josef Moser gesprochen, dem Vater von der Luise, mit der du in der Schule warst. Der arbeitet drüben in der Karabinerfabrik. Er sagt, dort suchen sie Männer, die die schweren Arbeiten machen können. Da geh ich morgen hin.«

Rosa nickte. Der Vater stand für einen Moment neben der Sitzbank, dann strich er ihr gedankenverloren über die Haare und verschwand im Schlafzimmer.

Der Vater bekam die Arbeit. Sein Lohn war geringer als das, was er mit dem Fuhrwerk verdient hatte, aber er reichte, um die Wohnung zu erhalten und die kargen Dinge zu kaufen, die sie zum Leben brauchten.

Jeden Morgen stand Rosa mit ihm auf, richtete ihm im Licht der kleinen Tischlampe den mit Zuckerrüben gestreckten Kriegskaffee, und strich ihm den Mantel glatt, während er in die Stiefel stieg. Zum Abschied küsste er sie auf die Stirn, und dann saß Rosa sehr müde vor ihrer Tasse. Aber im Bett liegen zu bleiben, wenn er so früh aus dem Haus musste, brachte sie nicht zusammen. Und meistens war es gut, wenn sie schon in der Dämmerung unterwegs war und sich vor einem Geschäft anstellte.

Es wurde immer schwieriger, Lebensmittel aufzutreiben. Manche Dinge, über die sie vor zwei Jahren nicht nachdenken hätte müssen, waren jetzt kaum mehr zu beschaffen. Als sie diesmal mit einer Flasche Frischmilch aus dem Geschäft der Wagners trat, kam sie kaum an der Menge der noch angestellten Leute vorbei, die sie bedrängten, ihnen die Milch zu überlassen. Für Milch brauchte man einen Bezugsschein, aber oft wurde nicht genug geliefert, dann musste man sich mit Trockenmilchpulver begnügen.

Heute hatte Rosa als Vorletzte in der Schlange noch Milch bekommen. Sie wollte dem Vater unbedingt eine Freude machen. Sie wusste, wie zuwider es ihm war, in der stickigen Fabrik Waffen für den Krieg zu bauen. Also wies sie die Menschen ab, auch die Frau, die ihr ein Kleinkind mit entzündeten Augen entgegenhielt, und rannte schnell davon. Denn sie fürchtete, dass ihr jemand folgen würde, um die Milch zu stehlen.

All das Elend, die vielen kriegsversehrten Bettler, die mit fehlenden Beinen und Augenklappen auf der Straße hockten, dazu das trübe Novemberwetter, ließen die Stadt noch dunkler wirken. An der Ecke kam sie an einer Gruppe Buben vorbei, die dem Kohlewagen gefolgt waren, um die heruntergefallenen Kohlestückchen aufzulesen. Zwei der Burschen begannen sich zu prügeln, ein Wachmann kam mit der Pfeife im Mund und dem gezückten Knüppel angelaufen, und Rosa beeilte sich, in die Wohnung zu kommen.

Die Milch zauberte dem Vater für einen Moment ein Lächeln auf die Lippen. Er bemühte sich, Rosa zuzuhören, und erzählte ihr eine Geschichte darüber, wie eine Arbeitskollegin in der Fabrik sich über eine in einer Werkbank versteckte Ratte erschrocken hatte. Aber im Gegensatz zu früher hielten diese lustigen Gespräche nicht lange an, und sie gingen mit ernsten Gesichtern ins Bett.

Am nächsten Morgen stand Rosa im Nieselregen zwei Stunden beim Bäcker an und kam nur mit einem halben Laib aus dem Geschäft heraus. Sie ging bis zum Yppenmarkt hinauf, aber die meisten Stände vom Großmarkt waren geschlossen. Um die wenigen offenen drängten sich die Leute, einige schimpften über die Wucherpreise eines Gemüsehändlers. Rosa stellte sich in die Reihe vor einem Stand mit Karfiol und Steckrüben.

Während sie nachrechnete, ob sich ihr Kohlenvorrat bis zum nächsten Lohn des Vaters ausgehen würde, hörte sie eine Frauenstimme hinter sich: »Ich sag Ihnen doch, mein Schwager arbeitet in Schönbrunn als Gärtner, der schwört, dass er es von zwei Köchen gehört hat, die im Schloss arbeiten. Er stirbt, das ist sicher.«

Neugierig geworden drehte sich Rosa leicht nach hinten und begann zuzuhören.

»Das kann ich nicht glauben«, antwortete eine andere. »Das kann nicht passieren.«

»Er ist fast siebenundachtzig. Natürlich passiert da so was. Er hat es wohl seit Wochen auf der Lunge, jetzt sei das Fieber dazugekommen. Das weiß ja ein jeder, dass einer da aufs Ende zusteuert.«

Rosa sah aus dem Augenwinkel, wie sich eine der beiden Frauen bekreuzigte.

»Gott hilf uns«, murmelte sie. »Was soll dann aus uns werden?«

»Das, was wir ohnehin überall sehen«, sagte die andere bitter und deutete auf das Chaos auf dem Markt. »Das kann ja nur das Ende sein.«

Rosa war dran. Sie zeigte auf den Karfiol, der von den wenigen verbliebenen noch am brauchbarsten aussah, und zahlte unverschämte zwanzig Heller dafür.

Der Regen nahm zu. Rosa hob das Tuch, das sie um ihren Hals geschlungen hatte, und band es sich um den Kopf. Sie ahnte, über welchen fast siebenundachtzigjährigen Mann in Schönbrunn die beiden Frauen geredet haben. Aber das konnte nicht wahr sein.

In Schönbrunn stand das große Schloss, in dem der Kaiser wohnte. Als Kind war sie mit den Eltern manchmal mit der Kutsche hingefahren und hatte den prächtigen Bau und die schönen Gärten bewundert. Früher hatten sie öfter solche Ausflüge gemacht. Rosa wäre sehr gerne wieder einmal mit dem Vater in den Wienerwald gefahren, um der grauen Stadt zu entkommen, aber das war nicht mehr möglich. Jetzt war dort Sperrgebiet, das Militär hatte die Aussichtswarten besetzt und überall Wachen aufgestellt, mit schweren Waffen, für den Fall, dass man die Stadt vielleicht doch vor einer feindlichen Armee schützen musste. Sogar so große Kanonen, um mit ihnen Flugzeuge abzuschießen, hatte die Armee bauen lassen. Flugzeuge! Die Menschen durften sich diesen mit Stacheldraht eingezäunten Gebieten nicht mehr nähern.

Zu Hause hängte Rosa ihre nassen Sachen an den Herd. Mit einem Messer fitzelte sie die angefaulten Stellen aus dem Karfiol heraus. Es war eine erbärmlich kleine Portion, doch der Vater aß wie immer, ohne sich zu beklagen. »Schmal ist er geworden«, dachte Rosa. Am Essen konnte es jedoch nicht liegen, das ganze Jahr über hatten sie nicht mehr auf den Tellern gehabt. Sicher war es die Arbeit in der dunklen Halle.

»Ich hab heut zwei Frauen reden hören«, sagte sie. »Dass der Kaiser krank ist.« Es war kein schönes Thema, aber besser als diese ewige Stille.

Der Vater mochte Kaiser Franz Joseph. Er erzählte gern, wie er ihm einmal begegnet war, lange vor Rosas Geburt, als er gerade sein Fuhrwerk gekauft hatte. Der Vater behauptete, er sei auf der Ringstraße entlanggefahren, mit einer Ladung Stoff für einen Händler in der Innenstadt, und nahe der Hofburg sei plötzlich der Kaiser mit vielen Männern als Begleitung vorbeigeritten. Der Vater war stehen geblieben, um die Gruppe vorbeizulassen, und habe ehrfurchtsvoll einen kleinen Diener gemacht, im Sitzen auf dem Kutschbock, dumm sei er sich dabei vorgekommen. Aber der Kaiser hätte es wirklich gesehen, habe zwei Finger an die Kappe gehoben, wie ein militärischer Gruß. Richtig stolz war der Vater, wenn er die Geschichte erzählte. Bestimmt wusste er jetzt etwas Aufmunterndes zu sagen.

Aber sein Gesicht blieb dunkel. »In der Fabrik haben ein paar Leute auch so etwas berichtet«, sagte er. »Es hat sehr ernst geklungen. Einer der Vorarbeiter ist sogar früher gegangen, weil er nach Schönbrunn hinausfahren wollte.«

»Dann stimmt es?«, fragte Rosa erschrocken.

Der Vater zuckte mit den Schultern: »Ich weiß es nicht. Er ist sehr alt und da –« Er sprach nicht weiter. Der Vater sah Rosas traurige Augen und griff nach ihrer Hand.

»Lass uns ein Gebet für ihn sprechen«, sagte er. »Schadet ja nicht.«

Rosa nickte und räumte die leeren Teller weg. Sie saßen einander mit gefalteten Händen gegenüber, Rosa lauschte der brummenden Stimme des Vaters. Er war kein frommer Mann. Er ging manchmal mit ihr in die Kirche, aber nicht jeden Sonntag. Er legte keinen Wert auf ein Tischgebet und bekreuzigte sich nicht sofort, wenn er sich sorgte, wie es etwa Frau Walcher aus der Nachbarwohnung tat. Dass er ein Gebet vorschlug, bedeutete wohl, dass er die Gerüchte ernst nahm.

Rosa dachte über den Kaiser nach. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Franz Joseph fuhr nicht in der Stadt herum, und Rosa hatte nie einen Grund, zur Hofburg zu gehen. In Schönbrunn hatte sie mal einen motorisierten Wagen gesehen, von dem einige Umstehende behauptet hatten, da säße der Thronfolger drin. Rosa hatte kurz einen Blick auf den dicken Mann auf der Rückbank werfen können.

Den Kaiser selbst kannte sie nur von den Bildern, die in Geschäften oder Büros hingen. In ihrer Schule war sein Porträt in jedem Klassenzimmer gewesen, ein alter Mann mit Glatze und buschigem Bart, der mit gütigen Augen auf die Kinder herunterschaute.

Dort hatte sie auch von seinen tapferen Kämpfen gehört, seiner Politik für alle Völker in seinem großen Reich, seiner bedeutenden Familie, den Habsburgern. Er war immer schon da gewesen. Er war älter als der Vater, ja sogar älter als alle vier Großeltern von Rosa es gewesen waren, und die waren alle schon tot. Aber der Kaiser war da. Für ihn zogen die Männer in diesen Krieg, nahmen die Frauen die Fabrikarbeit und die harten Jahre hin, so stand es in den Zeitungen, deren Titelblätter Rosa manchmal auf der Straße las.

Nach dem Gebet drehte Rosa das Licht in der Küche aus. In dieser Nacht lag sie in ihrem kleinen Kabinett noch lange wach und dachte über alles nach.

Aber kaum, dass sie weggedöst war, riss sie die Glocke der nahen Kalvarienbergkirche wieder aus dem Schlaf. Wie ein Donnerschlag knallte sie durch den Raum. Rosa richtete sich verwirrt auf. Ein weiteres Läuten war zu hören, von einer der Kirchen weiter weg. Und da, noch eine. Die Glocken hallten über die ganze Stadt.

Rosa stand auf und öffnete ihr kleines Fenster. Der kühle Nachtwind wehte herein. Sie sah Lichter in anderen Wohnungen, Menschen, die wie sie ratlos aus ihren Fenstern schauten. Rosa fröstelte es. Oder kam das von den Glocken?

Sie lief zum Schlafzimmer hinüber. Der Vater saß am Bett, die Lampe auf seinem Nachttisch brannte.

»Was ist das?«, fragte Rosa. »Wieso läuten alle Glocken?«

Sie erschrak, als sie die nassen Augen des Vaters bemerkte. Seit dem Begräbnis der Mutter hatte sie ihn nicht mehr weinen gesehen.

»Sie läuten für den Kaiser«, sagte er. »Weil er gestorben ist.«

Seit vielen Jahren schon hatte Rosa nicht mehr im Bett der Eltern geschlafen, aber in dieser Nacht durfte sie sich neben den Vater legen. Sie bat ihn, die Geschichte von seiner Begegnung mit dem Kaiser zu erzählen, und hörte ihm weinend zu, bis sie einschlafen konnte.

Am nächsten Morgen fühlte sie sich müde und seltsam leer. Auch der Vater war bleich. Er würgte sein Brot hinunter, ließ etwas Kaffee übrig, und umarmte Rosa zum Abschied ganz fest.

»Ich geh mit dir zum Begräbnis«, sagte er. »Das wird ein Leichenzug, wie man ihn wohl nie wieder zu Gesicht bekommen wird. Da gehen wir hin. Damit du ihn auch noch siehst. Sie werden ihm die schönsten Pferde vor den Wagen spannen. Die schauen wir uns an.«

Rosa schluckte und nickte. Sie hasste Begräbnisse. Die, die sie bisher besuchen hatte müssen, waren furchtbare Abschiede von lieben Menschen gewesen.

Später lief sie wie immer durch die Straßen, um Essen aufzutreiben. Aber fast alle Geschäfte waren geschlossen, die Marktstände leer. Die Menschen huschten wie Gespenster herum. Sogar dem dicken Wachmann mit der glänzenden Uniform an der Ecke lief eine Träne über die Wange. Die Stadt war schwarz, überall hingen dunkle Fahnen oder Stoffreste an den Fenstern. In vielen Auslagen lehnte ein Bild des Kaisers. Vor manchen hatten sich Menschen versammelt und beteten. In der Kalvarienbergkirche wurde eine Messe gelesen, die Leute standen bis auf die Straße hinaus.

Am Nachmittag gab Rosa auf. Ein halbes hartes Brot hatte sie ergattert. Ihr war kalt, sie wollte die traurigen Gesichter nicht mehr sehen, also machte sie sich auf den Heimweg.

Bei einer Trafik musste sie auf die Straße ausweichen, eine große Menge drängte sich davor, um ein Exemplar der neu eingetroffenen Zeitung zu erwischen. Rosa sah auf dem Titelblatt ein Porträt des Kaisers, genau das Bild, das in ihrem Klassenzimmer gewesen war. Gütig schaute Franz Joseph zu ihr herüber, als würde er sich genauso wundern, was hier vor sich ging.

Erst am nächsten Tag öffneten wieder alle Geschäfte und das Leben schien weiterzugehen. Aber etwas war anders. In den Gesichtern der Menschen sah Rosa nun noch mehr Kummer als schon zuvor, aber oft auch so etwas wie Zorn oder Wut.

Während sie in den Schlangen anstand, lauschte sie wie immer den Gesprächen der Leute. Fröhliche Unterhaltungen waren das noch nie gewesen, aber so viele Kommentare über die Unfähigkeit der Politiker hatte es bisher nicht gegeben. Als hätten die Leute mit dem alten Kaiser auch ein gutes Stück Geduld verloren.

»Wir müssen einfach an das Gute glauben, Rosalein«, sagte der Vater. »Wir haben ja einander. Wer weiß, wenn der Winter hart wird, wird das mit den Kämpfen vermutlich bald sein Ende haben. Dann wird alles besser.«

Rosa nickte zu seinen Worten und versuchte, mit aller Kraft daran zu glauben.

Sechs Tage nach dem Tod des Kaisers saß Rosa in der Küche und durchwühlte ihr Nähkästchen. Sie hatte sich eingebildet, noch einen dunkelbraunen Zwirn zu haben, aber sie fand ihn nicht. Das ärgerte sie. Unmöglich konnte sie die gute Hose des Vaters mit der falschen Farbe stopfen.

Fest entschlossen verließ sie die Wohnung. Und es schien ein Glückstag zu sein. Bei Frau Pribil war geschlossen, aber im kleinen, vollgestopften Laden der alten Frau Breitmoser wurde sie fündig. Eine alte Frau war gestorben und ihre Tochter hatte Frau Breitmoser den Großteil ihrer Nähsachen im Tausch für eine Wolldecke überlassen. Darunter war tatsächlich eine große Rolle dunkelbrauner Zwirn.

Und auf dem Rückweg kam Rosa gerade am Geschäft der Wagners vorbei, als der Laufbursche eine Lieferung Weißkraut vom Handwagen eines Mannes lud. Sofort stellte sich Rosa an, und weil sie bald an die Reihe kam, konnte sie sich einen schönen Krautkopf aussuchen, von dem sie und der Vater zweimal essen würden.

Das Kraut verbreitete bereits einen angenehmen Duft in der Küche und Rosa hatte mit der Hose begonnen, als es klopfte. Rosa wunderte sich, der Vater benutzte immer seinen Schlüssel. Da hörte sie leise Stimmen vor der Tür.

Irgendwie fühlte sich alles plötzlich falsch an, aber Rosa konnte nicht sagen, wieso. Langsam ging sie zur Tür, da klopfte es wieder.

»Ja bitte?«, rief Rosa leise.

»Rosa, bist du das?«, erklang eine Stimme von draußen, die sie kannte, aber nicht gleich zuordnen konnte.

»Ja …« Rosa antwortete leiser, als sie gewollt hatte. »Hier ist der Sepp«, sagte die Stimme. »Der Moser Josef. Kannst du bitte aufmachen, wir müssen mit dir reden.«

Der Moser Josef, natürlich. Aber der musste doch gerade arbeiten, wie der Vater? Rosas Hände schlossen auf, das Metall des Türgriffs war eigenartig heiß, obwohl es doch kalt war.

Vor der Tür stand wirklich Josef Moser, und daneben ein anderer Mann, den Rosa nicht kannte, aber mit diesen ölverschmierten Händen konnte er nur ein weiterer Fabrikarbeiter sein. Er schaute Rosa nicht an. Die beiden betraten die Wohnung, ohne Rosas Einladung abzuwarten.

Josef Moser stellte sich neben den Herd, auf dem das Kraut vor sich hin schmorte, knetete mit der linken Hand die rechte, räusperte sich und sagte dann: »Rosa, wir müssen mit dir reden. Wegen dem Toni, also, deinem Vater.«

Er räusperte sich noch einmal: »Weißt du, es hat in der Fabrik einen Unfall gegeben. Ein Wagen hat sich losgerissen. Er ist durch die Halle gerast und hat zwei Männer mitgenommen. Einem hat er die Füße abgefahren und den anderen gegen eine Wand gedrückt. Das war der Toni. Also, dein Vater. Der Wagen hat ihm den Brustkorb eingequetscht. Er ist – also«, er räusperte sich wieder, »er ist gestorben, Rosa. Es tut mir leid, dein Vater ist tot.«

Rosa fühlte sich, als hätte jemand das Fenster aufgemacht und eiskalte Luft hereingelassen, die sie mit einem Stoß eingeatmet hatte. Ihre Beine gaben nach. Da war plötzlich der fremde Mann und setzte sie auf einen Sessel. Rosa wollte sagen, dass sie da nicht sitzen konnte, weil das der Sessel vom Vater war, aber es kam nicht aus ihrem Mund.

Sie hörte noch, dass man den Vater ins Krankenhaus gebracht hatte, wo die Ärzte ihm aber nicht mehr helfen konnten, dass er jetzt dort bleiben würde bis zur Beerdigung, dass alle gesammelt hätten für ein ordentliches Begräbnis für den Toni, dass man sich um alles kümmern werde.

Rosa verstand nur die Hälfte, saß einfach da, bis plötzlich Frau Walcher im Raum stand. Die Nachbarin hatte ein ernstes Gesicht, bekreuzigte sich, murmelte in einem fort »achneinachnein« und verabschiedete die Männer.

»Du kommst mit zu uns«, sagte sie zu Rosa. »Kannst ja nicht allein hierbleiben.«

»Aber die Hose –« Endlich fanden wieder Worte aus Rosas Mund.

»Was?«, fragte Frau Walcher.

Rosa zeigte auf die Sitzbank, auf der die braune Hose lag, die eingesteckte Nadel glänzte. »Die muss ich fertignähen.«

Frau Walcher schüttelte den Kopf. »Aber Kind, das ist doch egal.«

»Die braucht der Vater«, beharrte Rosa.

Die Nachbarin schaute das Mädchen an, dann sagte sie: »Dann nehmen wir sie mit. Kannst sie ja später fertigmachen.«

»Und das Kraut …«, begann Rosa.

»Das nehmen wir auch mit. Komm!« Frau Walcher schob Rosa vom Sessel hoch.

Rosas Körper folgte von allein, ging in die Nachbarswohnung, ließ sich zum Tisch setzen, spürte die Umarmung von Anna, der Tochter der Walchers. Sie nahm den Löffel in die Hand, den die junge Frau ihr hinhielt, und aß die Portion Kraut, die Frau Walcher ihr auf einen Teller geschöpft hatte.

Rosa fand es nicht richtig, dass Frau Walcher und Anna das restliche Kraut aßen, es war ja für den Vater. Aber sie wusste auch, dass es falsch gewesen wäre, das zu sagen, also ließ sie es.

Später richtete Anna auf der Bank ein Nachtlager für Rosa her, und schließlich lag Rosa im Dunkeln und sollte schlafen. Aber in ihrem Kopf hallte es »falschfalschfalschfalsch«, bis sie irgendwann einnickte, weil das Hallen im Kopf sie doch müde gemacht hatte.

Fort

Schon am übernächsten Tag war das Begräbnis. Rosa hatte am Tag davor die Hose des Vaters fertiggenäht, es war unmöglich gewesen, es nicht zu tun. Frau Walcher brachte die Hose gemeinsam mit dem schönen Rock und den guten Schuhen zum Krankenhaus, wo der Vater lag, damit der Bestatter es ihm für die Beerdigung anziehen konnte.

Rosa kam der Gedanke, dass sie die Hose nicht wiedersehen würde, so wie den Vater. Sonst war ihr Kopf völlig leer. Frau Walcher gab ihr Anweisungen, dass sie sich waschen, schlafen, umziehen sollte, und Rosa folgte ihr. Gemeinsam mit Anna holte sie das schöne dunkelblaue Kleid aus der Wohnung. Sie hatte es noch nie getragen, seit sie es umgenäht hatte.

Die Nachricht vom Tod des Vaters hatte sich schnell verbreitet, viele hatten ihn gekannt. Die Männer aus der Fabrik und die Kameraden von den Fuhrwerkern hatten alles erledigt. Rosa wurde von den Walchers in die Kalvarienbergkirche geschoben. Dort war ein schlichter Holzsarg, den sie die ganze Messe hindurch anstarrte. Am liebsten hätte sie geschrien, dass da nicht der Vater drin sein konnte.

Nach der Kirche wurde sie in eine der Kutschen gesetzt, die den Trauerzug zum Hernalser Friedhof bildeten, stand vor dem Grab, in dem schon die Mutter, Tante Erna und die Eltern des Vaters lagen. Ihre Hand zitterte so sehr, als sie mit der Schaufel Erde in die Grube werfen sollte, dass alles herunterfiel und nur ein kleiner Teil auf dem Sarg landete. Man schüttelte ihr die Hand, Gesichter sahen sie an, wer waren alle diese Leute? Als es draußen dunkel wurde, war sie wieder bei den Walchers. Ein Teller Suppe stand vor ihr. Sie zählte im Kopf die Löffel, die sie zum Mund führen musste, bis die Schüssel leer war. Siebzehn. Sie hatte furchtbare Kopfschmerzen.

Am nächsten Morgen, Rosa hatte sich gerade angezogen und zum Kaffee gesetzt, klopfte es an der Tür. Draußen stand eine fremde Frau. »Weißgerber mein Name. Ich komme vom Fürsorgeamt, ich suche Rosa Maria Röck aus der Nachbarwohnung.«

Die Frau war nicht alt, aber auch nicht mehr jung, nicht dünn, aber auch nicht dick, groß mit aschblondem Haar unter einem kleinen schwarzen Hut.

»Haben Sie Informationen über den Verbleib des Kindes?«

Frau Walcher deutete auf Rosa. »Da ist sie, bitteschön.«

»Das ist gut, dass ich dich hier finde.« Die Frau blickte Rosa prüfend an. »Ich hatte keine Informationen, wo man sie untergebracht hat.«

»Wir haben sie halt mal genommen«, erklärte Frau Walcher. »Ist ein gutes Mädel, und ihr Herr Vater war ein guter Mensch.«

Frau Weißgerber nickte kurz.

Es war Rosa noch gar nicht eingefallen, dass es irgendwie mit ihr weitergehen musste. Sie war nicht erwachsen, aber sie hatte keine Eltern mehr. Eine Waise, dachte Rosa, und es tat in der Brust weh. Waisen, das waren andere, wie ihre frühere Schulfreundin Gerti, deren Eltern an Tuberkulose gestorben waren, und die man dann zu einer Großmutter nach Korneuburg geschickt hatte. Rosa hatte keine Großeltern mehr. Was würde Frau Weißgerber mit ihr machen?

Die Fürsorgerin zog sich einen Sessel heran und setzte sich vor Rosa. Sie wirkte abgehetzt, wie jemand, der immer zu wenig Zeit hat, aber ihr Lächeln war nicht unfreundlich.

»Ich nehm dich jetzt mit«, sagte sie. »So machen wir das, wenn ein Kind allein übrig bleibt, weißt du.«

In Rosa zuckte etwas. War sie übrig geblieben, wie eine schlechte Birne, die keiner haben wollte?

»Kann sie nicht dableiben?«, fragte Frau Walcher. »Wir kennen sie ja. Wir kümmern uns schon.«

Rosa nickte. Sie würde gerne bei den Walchers bleiben. Auch Anna fand das eine gute Lösung. Frau Weißgerber war höflich, aber bestimmt.

»So einfach ist das nicht«, antwortete sie. »Das ist schön christlich von Ihnen, aber wir können die Kinder nicht irgendwo lassen. Zuerst muss sie mitkommen und wir müssen schauen, ob wir Verwandte finden. So ist das Gesetz. Sie können natürlich einen Antrag auf Pflegschaft stellen. Aber so eine Entscheidung treffe nicht ich.«

So musste Rosa ihre Sachen zusammensuchen. Hätte ihr Anna nicht dabei geholfen, Rosa hätte nicht gewusst, was sie mitnehmen sollte. Anna schlichtete all ihre Kleider und andere wichtigen Dinge in den Koffer, während Rosa hilflos Sachen in die Hand nahm und wieder weglegte.

Alles hatte in Rosas Koffer gar nicht Platz, also packten sie auch noch den größeren Koffer, den der Vater verwendet hatte. Rosas Nähsachen, ihre paar Bücher, die alte Puppe, dazu die wenigen Habseligkeiten, für die Rosa sich entscheiden konnte. Die von der Mutter gehäkelte kleine Decke für die Sitzbank. Den Zierpolster, den der Vater ihr einmal von einer Lieferung aus der Innenstadt mitgebracht hatte. Die tönerne Figur einer Tänzerin, die Rosa zu ihrer Taufe von einer Großmutter, an die sie sich nicht mehr erinnerte, bekommen hatte.

Dann standen sie da und sahen sich um, und Anna fragte verlegen: »Meinst du, dass du alles hast?«

Rosa konnte nur mit den Schultern zucken. Was war denn alles? Es fühlte sich an, als hätte sie nichts mehr.

Frau Walcher umarmte Rosa zum Abschied und sagte: »Ich schau mir das an, Rosa, vielleicht können wir dich ja nehmen.«

Auch Anna drückte Rosa fest. »Wirst seh’n Rosa, alles wird gut.«

Rosa nickte nur, murmelte »Danke für alles« und folgte Frau Weißgerber. Auf dem Weg durchs Stiegenhaus versuchte sie, sich alles einzuprägen. Die kleinen Risse in der Wand, die abgesprungene Fliese bei der Bassena im Hochparterre, die Zweige der Kastanie, die man durch das Gangfenster sehen konnte, das Muster am Steinboden …

Es war ihr Zuhause, hier war sie geboren. Würde sie je hierher zurückkommen?

Auf der Straße schlug Frau Weißgerber zielstrebig den Weg Richtung Innenstadt ein. Rosa folgte ihr, so gut sie es mit den zwei schweren Koffern zusammenbrachte.

Nach ein paar Häuserblöcken bemerkte Frau Weißgerber, dass das Mädchen zurückfiel, und blieb stehen. Als Rosa sie eingeholt hatte, streckte sie die Hand aus: »Na, gib schon einen her.«

Dankbar reichte Rosa ihr den größeren Koffer. Jetzt traute sie sich auch endlich zu fragen, wo sie überhaupt hingingen.

»Zuerst einmal ins Kinderhaus. Da werden alle Kinder hingebracht, die wir kurzfristig unterbringen müssen. Dann wird weiter geschaut, wo man einen Platz findet. Das ist halt sehr schwierig gerade mit dem Krieg und allem.«

Frau Weißgerber ging weiter. Rosa lief hinterher und ihr Herz klopfte nicht nur vom schnellen Gehen. Kinderhaus. Ein Waisenhaus. Kinderheim. Sie wusste, was darüber geredet wurde: Dreckig sei es, die Kinder würden erst recht verwildern, Essen gäbe es auch zu wenig.

Das erste Mal, seit Josef Moser und sein Kollege vor der Tür gestanden waren, spürte Rosa so etwas wie Angst.

Die Glocken der nahe gelegenen Alserkirche unterbrachen ihre Gedanken. Als würde sich das Geräusch durch die Luft übertragen, begannen nun auch die Glocken der Votivkirche zu läuten. Und so setzte es sich durch die Stadt fort, bis ein lautes Dröhnen über ganz Wien hing.

Für Frau Weißgerber schien das keinen Unterschied machen, sie ging schnell weiter. Rosa fiel auf, was für eine Unruhe über der Stadt lag. Viele Menschen waren unterwegs und fast alle schienen Richtung Innenstadt zu hetzen.

Rosa brauchte eine Weile, ehe sie sich erinnerte: Der Kaiser wurde heute beerdigt. Der Trauerzug! Die Menschen beeilten sich, um einen Blick auf die Kutsche zu erhaschen und Franz Joseph die letzte Ehre zu erweisen. Ein Mann lief an ihnen vorbei mit seinem kleinen Sohn an der Hand.

Rosa erinnerte sich, dass ihr Vater die Kutsche hatte sehen wollen, wie sehr er sich auf die Pferde gefreut hatte. Jetzt ist Papa selbst begraben, dachte sie bitter. Der Kaiser auch. Und ich bin übrig geblieben.

Frau Weißgerber bog um eine Ecke. Rosa stolperte ihr hinterher.

Das Kinderhaus

Endlich, als Rosa schon fast keine Kraft mehr hatte, blieb Frau Weißgerber stehen und öffnete mit einem großen Schlüssel eine schwere hölzerne Haustür. Das Haus war hoch und dunkelgrau. Zögernd folgte Rosa der Frau hinein.

Als erstes fiel ihr der Geruch auf. Er war so intensiv, dass er sich wie ein penetranter Schleier über alles legen würde, vermutete Rosa. Es stank nach alter Milch, nach zu lang geschmortem Kohl, nach Schweiß und vielen Menschen auf engem Raum. Rosa hatte sofort das Bedürfnis, alle Fenster aufzureißen.

Dann sah sie, dass bei allen Gangfenstern die Griffe abmontiert waren. Als sie noch darüber nachdachte, was der Grund dafür sein konnte, fielen ihr die Kinder auf. Es waren viele. Kleine Stöpsel, die ihr gerade bis zu den Hüften reichten, und größere, in ihrem Alter und älter. Lauter Mädchen. Manche in abgenutztem, aber einmal schön gewesenem Gewand, andere in einheitlichen sackförmigen, hässlich hellbraunen Kleidern mit hohen Krägen, die sie wohl hier bekommen hatten.

Obwohl sie wusste, dass es sich nicht gehörte, musste Rosa die Kinder anstarren. Die Kinder starrten zurück. Ein Mädchen mit kurz geschorenen roten Haaren trug einen großen Bottich an ihr vorbei und musterte sie feindselig. Rosa bemerkte, dass nur einige Mädchen normale Schuhe trugen, viele Füße steckten in harten hölzernen Pantoffeln, die neben den dünnen Strümpfen kaum gegen die Kälte im Haus schützen würden.

Frau Weißgerber blieb so plötzlich vor einer geschlossenen Tür stehen, dass es Rosa übersah und in die Fürsorgerin hineinrannte.

»Entschuldigung«, murmelte sie.

»Ist ja nichts passiert«, antwortete Frau Weißgerber, richtete sich den verrutschten Hut und öffnete die Tür. Rosa wunderte sich. Natürlich war etwas passiert, sehr viel sogar.

Sie folgte der Frau in den Raum. Es war ein Büro. An einer Seite stand ein mit Papieren überladener Tisch. Der zweite in der Raummitte war deutlich leerer, eine dünne Frau mit hochgestecktem Haar saß dahinter.

»Ach, Frau Weißgerber«, sagte sie und legte das Papier weg, das sie gerade noch gelesen hatte. »Bringen Sie die Schumanngasse?«

Ihre Stimme klang dünn und irgendwie weinerlich. Sie musterte Rosa, aber anders als bei Frau Weißgerber fühlte sich Rosa dabei nicht wohl.

»Schumanngasse vier«, antwortete Frau Weißgerber. »Das ist die Rosa Röck. Sie war bei den Nachbarn. Die wollten sie gleich behalten.«

»Na, wenn das so einfach wäre«, säuselte die dünne Frau.

»Das ist Frau Richter, Rosa«, sagte Frau Weißgerber und deutete ihr, dass sie näher kommen sollte. »Frau Richter verwaltet das Haus. Sie wird dich aufnehmen. Ich wünsche dir alles Gute.« Sie hielt ihr die Hand hin. Rosa schüttelte sie verdutzt. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Frau Weißgerber sich so bald verabschieden würde, und sah ihr verschreckt hinterher.

»Dann setz dich mal«, hörte sie die säuselnde Stimme hinter sich.

Abermals wurde sie von Frau Richter gemustert. Es fühlte sich an, als sei sie ein Stück Fleisch beim Metzger, und Frau Richter müsse noch überlegen, ob sie es kaufen wolle.

»Du hast sicher einen Heimatschein?«, fragte sie dann.

Rosa nickte. Sie holte den kleinen Koffer, kniete sich hin und suchte darin den Schein, den Anna für sie mit einigen anderen Papieren hineingesteckt hatte. Mit zitternden Fingern reichte sie ihn über den Tisch und setzte sich wieder hin.

Frau Richter las sich den Zettel durch und nahm dann ein großes, in Leder gebundenes Buch, in das sie etwas einzutragen begann.

»Deine Mutter, Maria Röck, verstarb vor zwei Jahren?«, fragte sie, als wüsste sie das ohnehin bereits.