Der Rote Pfeil - William Brewer - E-Book

Der Rote Pfeil E-Book

William Brewer

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Beschreibung

Einst als vielversprechender Schriftsteller gehandelt, scheiterte der junge Ich-Erzähler aufgrund einer hartnäckigen Schreibblockade an seinem zweiten Buch. Nun sitzt ihm sein Verlag im Nacken und fordert den Vorschuss zurück. Ohnehin verschuldet, muss er sich auf einen herausfordernden Deal einlassen: Um beim Verlag seine Schulden abzuarbeiten soll er die Biografie eines berühmten Physikers schreiben, der völlig von der Welt zurückgezogen lebt.

Gebeutelt von seiner prekären Existenz als New Yorker Intellektueller, entzweit von seiner Frau Annie und verfolgt von einem überwältigenden Gefühl, das er als „den Nebel“ beschreibt, macht sich der Protagonist auf die Suche nach dem Physiker. Dabei findet er Antworten auf die Fragen, die ihn seit seiner Kindheit beschäftigen, und entdeckt, was unser aller Existenz im Kern ausmacht.

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ZUMBUCH

Einst als vielversprechender Schriftsteller gehandelt, scheiterte der junge Ich-Erzähler aufgrund einer hartnäckigen Schreibblockade an seinem zweiten Buch. Nun sitzt ihm sein Verlag im Nacken und fordert den Vorschuss zurück. Ohnehin verschuldet, muss er sich auf einen herausfordernden Deal einlassen: Um beim Verlag seine Schulden abzuarbeiten, soll er die Biografie eines berühmten Physikers schreiben, der völlig von der Welt zurückgezogen lebt.

Gebeutelt von seiner prekären Existenz als New Yorker Intellektueller, entzweit von seiner Frau Annie und verfolgt von einem überwältigenden Gefühl, das er als »den Nebel« beschreibt, macht sich der Protagonist auf die Suche nach dem Physiker. Dabei findet er Antworten auf die Fragen, die ihn seit seiner Kindheit beschäftigen, und entdeckt, was unser aller Existenz im Kern ausmacht.

William Brewer erzählt in seinem meisterhaften Debüt eindrucksvoll von Trauma und Depression, Zeit und Erinnerung und der tröstlichen Gewissheit menschlicher Verbundenheit.

ZUMAUTOR

William Brewer, geboren 1989 in West Virginia, hat an der Columbia University studiert und unterrichtet derzeit an der Stanford University. Seine Gedichte und Kurzgeschichten erschienen in renommierten Zeitschriften wie The New Yorker und American Poetry Review. Sein Lyrikband I Know Your Kind wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Der Rote Pfeil ist sein erster Roman.

WILLIAM BREWER

DER ROTE PFEIL

Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach

BLESSING

Die Originalausgabe THEREDARROW erschien erstmals 2022 bei Knopf, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2022 by William Brewer

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Julian Brimmers

Umschlaggestaltung: SERIFA, Christian Otto

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28133-5V001

www.blessing-verlag.de

Für Ry

Als Erstes möchte ich sagen, dass ich glücklich bin. Das war nicht immer der Fall. Es war sogar kaum je der Fall – auch wenn ich mich glücklich fühlte, war ich es nicht, weil ich wusste, dass das schon alles war – ein Gefühl, eine Illusion, die bald von etwas verjagt würde, das ich den Nebel nenne. Dass ich jetzt glücklich bin, verdanke ich der Tatsache, dass es mit der Reise und mehr noch mit der Behandlung geklappt hat. Ich möchte die Behandlung noch nicht beschreiben, weil ich Sie sonst verliere. Wissen sollten Sie, dass ich dreiunddreißig und körperlich kerngesund bin (gute Werte beim neuen guten Cholesterin, niedrige Werte beim schlechten, einwandfreier Puls, keine Drogenabhängigkeit), ein beruflicher Versager und dass ich in Roma Termini allein in einem Zug namens Frecciarossa sitze und darauf warte, über Bologna nach Modena zu fahren. Ich verbringe in Italien meine Flitterwochen; Annie und ich haben im September vor einem Dreivierteljahr geheiratet, die Hochzeitsreise aber aus Wettergründen aufgeschoben. Da wir beide der Meinung waren, diesen Abstecher solle ich allein unternehmen, schläft meine Frau noch im piekfeinen G-Rough Hotel (einem Stadthaus aus dem 17. Jahrhundert, das zu einem italienischen Design-Tempel umgebaut worden ist) an der Piazza di Pasquino in dem prunkvollen Doppelbett, einem Original des berühmten Möbeldesigners Guglielmo Ulrich, von dem alle Möbel der Suite stammen, nach dem sie benannt ist, und über den ich spreche, als hätte ich die geringste Ahnung, wer das ist. Hab ich nicht.

Ich fahre nach Modena, um einen Physiker zu finden. Nach den Bedingungen meines Vertrags darf ich weder öffentlich noch privat seinen Namen nennen, bis unser Projekt abgeschlossen ist und er entschieden hat, ob er mich nennen möchte. Deswegen werde ich ihn einfach den Physiker nennen, aber wenn Sie sehr neugierig sind, sollte es Ihnen nicht schwerfallen, den einzigen berühmten theoretischen Physiker zu finden, der aus Modena stammt.

Ich muss den Physiker finden, weil er mir eine Geschichte schuldet. Seine Geschichte. Genauer gesagt, die zweite Hälfte seiner Lebensgeschichte, von unserer Gegenwart bis zurück zu der von ihm sogenannten »großen Erkenntnis«, dem Augenblick, in dem er die »bahnbrechende Einsicht« hatte, wie er sie nennt, nach der er dann ein brillantes Physikstudium absolvierte und schließlich die Grundsteine zu seiner allerdings noch umstrittenen Theorie der Quantengravitation legte. (Genauer darf ich auch diese nicht beschreiben.) Alles von seiner Geburt bis ins Jahr vor der großen Erkenntnis habe ich schon im Kasten, aber diese »Erkenntnis« ist der springende Punkt: Sie ist mein Freifahrtschein aus einem beträchtlichen Schuldenloch, das ich mit meinem Versagen erzeugt habe, ein anderes Buch zu schreiben, das ich einem der größten Verlage unseres Landes zugesichert hatte, einem Verlag, der mir einen beträchtlichen Vorschuss gezahlt hatte, den ich nicht zurückzahlen kann, weil ich ihn für Sachen wie vier Tage in der Junior Suite des luxuriösen G-Rough Hotel verballert habe. In einem Hochhaus in Manhattan brennen viele Frauen und Männer in dunklen Anzügen richtig darauf, mich in einen juristischen Suplex zu nehmen, wenn ich sie enttäusche.

Das Gute ist, dass ich mir nach der Behandlung verzeihen kann, mich in diese Lage gebracht zu haben, und dafür bin ich dankbar. Aber egal wie tiefgreifend die Behandlung war und wie sehr sie mein Leben verändert hat – und das hat sie –, mir ist klar, dass an der Realität meiner Schulden nicht zu rütteln ist, dass ich immer noch eine Lösung für sie finden muss und, was schlimmer ist, dass mir nicht nur ihre finanziellen Folgen Angst machen. Sie sind der letzte Dorn, den ich noch im Fuß stecken habe, nachdem ich jahrelang durch eine Dornenhölle gegangen bin. Leider erhält dieser Dorn nicht nur jene Zeit am Leben und verbindet mich mit ihr, er kann potentiell auch das neue Leben vergiften, das mir geschenkt worden ist. Und auch wenn ich glücklich und bei klarem Verstand bin, habe ich doch immer noch so viel Angst davor, was der Tag bringen kann, dass ich am beeindruckenden Frühstücksbuffet im G-Rough nichts runtergebracht habe, nicht mal eine Scheibe Prosciutto oder ein Melonenbällchen, nichts außer einem Cappuccino, der mir durch die Därme fährt, sodass ich es gar nicht erwarten kann, dass dieser Zug endlich zum Leben erwacht, losfährt und mit mir irgendeiner Form von Abschluss entgegenrast.

Die Lösung ist kinderleicht: Ich muss nur den Physiker finden, den Rest seiner Geschichte erfahren und meinen Auftrag abschließen, nämlich als Ghostwriter seine Memoiren zu schreiben. Durch eine Folge von Ereignissen, die – je nachdem, ob man eine lebensverändernde Behandlung vor oder hinter sich hat – als Fluch oder Segen erscheinen, kann ich meine Schulden beim Verlag tilgen, wenn ich diese Memoiren des Physikers schreibe. Für jedes abgelieferte Kapitel wird das dafür fällige Honorar von meinem negativen Guthaben abgezogen. Je mehr ich von seinem Leben schreibe, desto mehr erhalte ich von meinem Leben zurück.

Dann ist er aber verschwunden. War einfach weg. Alle Anrufe gingen direkt zur Voicemail. Die Mail-Adresse war tot. Seine Mittelsmänner mauerten. Wo ich auf gute, altmodische, professionelle Zusammenarbeit und Dynamik gebaut habe, herrscht nur noch Abwesenheit, eine Abwesenheit, durch die nicht nur das Projekt in der Schwebe bleibt, sondern auch meine Schulden neu beflügelt werden, denn die kann ich nicht tilgen, weil ich über ein Vermögen von Pi mal Daumen null Dollar verfüge, was auch alle Welt so sieht bis auf den Staat Kalifornien, gemäß dessen Gesetzen zur ehelichen Gütergemeinschaft ich nicht über ein Vermögen von Pi mal Daumen null Dollar verfüge, weil ich verheiratet bin, und das bedeutet, dass Annie – meine gute, ehrliche und patente Annie, deren Liebe das Einzige war, was ich nicht vermasselt habe, und die ich besonders nach meiner Behandlung nur jeden Tag mehr bewundere – im Fall meiner Verurteilung mit Gehaltspfändungen oder einer Vermögensbeschlagnahme rechnen muss, und wenn sich mir so schon der Magen umdreht, verwandelt diese Vorstellung ihn in eine Wäscheschleuder.

Erschwerend kommt hinzu, dass ich von einem Typ namens Richards ständig daran erinnert werde – das ist sein Nachname, den er »Rie-schard« ausspricht, das S wird anscheinend nicht mitgesprochen. Richards ist der Lektor der Memoiren, ein älterer Mann aus Montana mit einem Dr. jur., der nach New York gezogen und ins Verlagswesen eingestiegen ist, aber immer noch so redet, als hätte er in Bozeman ein Kanzleischild hängen. Er mischt schon eine Weile in der Branche mit, hat aber ein paar schlechte Jahre hinter sich, was ich weiß, weil er immer wieder sagt: »Ich habe ein paar schlechte Jahre hinter mir«, und mit diesem Buch, den Memoiren des Physikers, bei denen er Kopf und Kragen riskiert hat, um die Rechte zu ersteigern, lehnt er sich weit aus dem Fenster, um seinen Job zu retten. Als stünde er damit noch nicht genug unter Druck, hat es im Verlag kürzlich einen Regimewechsel gegeben, und ihm ist unmissverständlich signalisiert worden, dass man seinen »Arsch aufs Korn nimmt«, wie er es ausdrückt. Dass er wegen dieses Projekts von Anfang an unter Druck stand, wäre charmant untertrieben. Und dann lief alles aus dem Ruder. Als ich Richards kurz nach dem Verschwinden des Physikers fragte, ob es wirklich sinnlos sei, seinen Vorgesetzten die Situation zu erläutern, lachte er nur kläglich ins Telefon und sagte, »da kannst du auch ’nen Knoten anbellen«, was immer das heißen mag.

Richards hat mein ganzes Mitgefühl, aber ich habe Angst, dass er langsam ausklinkt. Oder schon ausgeklinkt ist. Am Anfang waren seine Nachrichten noch nachvollziehbar: leicht beunruhigte Mails, vielleicht eine am Tag, in denen er wissen wollte, ob ich etwas gehört hätte. Ich erklärte ihm immer wieder, dass ich nie direkten Kontakt zum Physiker hatte und deshalb machtlos sei. Aber das spielte offenbar keine Rolle. Dann kamen immer öfter immer verzweifeltere Mails. Er spickte sie mit Wendungen wie »Was soll ich machen?«, woraus erst »Was sollen wir machen?« wurde, dann ein persönlicheres »Du machst dir bestimmt Sorgen«, was umkippte in ein »Eine solche Situation – ich weiß noch aus dem Jurastudium, was das für deine Frau und dich bedeuten muss; es ist tragisch«, bevor er zu »Wir sind ruiniert« zurückkehrte, woraus erst »Du bist ruiniert« und schließlich »Ich bin ruiniert« wurde.

Dann fing er an, einmal am Tag anzurufen, manchmal auch zweimal, und sprach mir jedes Mal auf die Mailbox, und so ziemlich das Einzige, was ich verstehe, ist ein schräges Keuchen zwischen den Sätzen. Es klingt, als würde er Suppe schlürfen.

Und jetzt ist es vor ein paar Minuten weiter eskaliert, da hat er mich im Taxi zum Bahnhof per FaceTime angerufen. Ich weiß, ich hätte nicht rangehen sollen, aber als er es sogar per FaceTime probierte, dachte ich, vielleicht ist der Physiker wieder aufgetaucht und Richards will nur durchgeben, dass alles gut ist und ich die restlichen Flitterwochen genießen kann. Ich ging also ran, und da war er, sein Gesicht sah aus, wie es online eben aussieht, rot und irgendwie geschwollen wie bei einem Boxer, und sein Kopf, den ich immer echt rechteckig fand, was durch einen flachen, raspelkurzen weißen Buzzcut noch verstärkt wird, passte so vollkommen ins Display des Smartphones, dass ich das Gefühl hatte, er spräche nicht mit mir durch das Display, sondern wäre das Display, so als hielte ich eine körperlose digitale Persönlichkeit aus der Zukunft in der Hand.

»Rufst du mit Absicht per FaceTime an?«, fragte ich.

Ein schweres Keuchen kratzte durch den Lautsprecher. »Jetzt kommt’s knüppeldick«, sagte er, ohne irgendwen direkt anzusprechen.

»Gibt’s was Neues?«

»Ich fand einfach, wir müssten mal live reden.« Etwas Sprunghaftes lag in seinen Augen, ein Glänzen.

»Bei dir muss es doch drei Uhr morgens sein – hast du was getrunken?«

»Kann sein, dass ich ein bisschen einen im Tee habe. Ich habe ein paar schlechte Jahre hinter mir. Und es kann noch viel schlimmer kommen.«

Richards strahlte eine tiefe und fast jungenhafte Einsamkeit aus, das war nicht zu übersehen. Wenn dies das Ziel seines FaceTime-Anrufs war, hatte er es erreicht. Er hatte mein Mitgefühl. Nicht zuletzt, weil er mich aus einer Gefühlswelt anzurufen schien, aus der ich mich selbst erst vor Kurzem befreit hatte. Auch wenn er mich nie besonders höflich behandelt hat (er war strikt gegen meine Beteiligung an dem Projekt), mir in letzter Zeit immer stärker auf die Pelle gerückt ist, um mich einzuschüchtern, und so tief gesunken ist, sogar meine Frau in die Sache reinzuziehen, alles bloß damit er in seiner Unsicherheit nicht so allein dastand – trotz alledem wollte ich dem Mann helfen. Eine Gelegenheit, um sein Leid zu lindern: So sah ich die Sache dort im Taxi, als ich Richards in der Hand hielt – ein Gedanke, der mir noch vor wenigen Wochen undenkbar gewesen wäre. Ein warmer Gedanke, ein schlichter Gedanke, ein Gedanke, den ich mit dem wahren, verletzlichen Richards teilen wollte, der sich aus einer Urangst heraus an mich wandte. Es hätte ein aufrichtiger und verbindender Augenblick sein können, aber als ich gerade ansetzte, verhärtete sich sein Gesicht, seine Stimme wurde trocken und scharf, er sah direkt in seine Kamera, seine digitalen Augen bohrten sich in meine, und er sagte: »Umso schlimmer für dich, vergiss das nicht.«

Das Display fühlte sich heiß an. Ich sah hoch. Hinter der Windschutzscheibe des Taxis kam Termini in Sicht, kantig und unpersönlich, und ob es nun an Richards’ Worten oder an der modernistisch strengen Architektur des Bahnhofs lag, er erinnerte mich jedenfalls an ein Gefängnis, hinter dessen Türen das Leid lag, das Richards jetzt auch mir zudachte. Ich konnte es spüren und bekam Angst. Aber wenn mich jetzt die Angst überfällt, werde ich gewissermaßen ihr Zeuge. Nicht optisch, sondern beziehungsmäßig, eine geladene Wolke steigt in mir auf und dehnt sich in gezackten Wellen aus; das passiert in mir, ist aber kein Teil von mir, sondern einfach etwas, das halt passiert, und dann ist es vorbei, und ohne mir dessen richtig bewusst zu werden, sah ich wieder ins Smartphone, lächelte und sagte: »Weißt du, Richards – es ist, wie es ist. Sorry, ich muss weiter.« Ich tippte ihn weg, bezahlte den Taxifahrer und verschwand in der Menge, in einer Vielzahl isolierter Ereignisse in Anzügen und Sommerkleidern, die Koffer und Smartphones hielten, auf ihre Armbanduhren schauten, die Taschen nach Fahrkarten oder Zigaretten abtasteten und alle irgendwo hinmussten, wo sie nicht waren, verschwand in einem Schleier, aus dem ich in den Frecciarossa Nr. 9318 stieg, Wagen 8, Platz 19D, wo ich jetzt sitze und auf den Beginn des Tagesausflugs Richtung Norden auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke nach Bologna warte, wo ich umsteige und mit einem Nahverkehrszug noch drei Stationen weiter nach Modena fahre, dem Ort, an dem ich hoffentlich, wie ich gestern jedenfalls noch glauben durfte, den Mann finde, der das letzte Band durchtrennen kann, das mich noch mit meiner Vergangenheit verbindet.

Noch hat sich niemand zu mir in die Vierergruppe gesetzt, was ich vor der Behandlung als Bestätigung meines Argwohns gedeutet hätte, dass ich von aller Welt verachtet werde. Warum verachtet? Aus vielen Gründen. Aus allen, die Sie wollen. Nicht der geringste war definitiv, dass meine bloße Anwesenheit die Leute anwiderte, als sähen sie ein Geschwür. Daran erinnerte ich meiner Meinung nach – an ein Geschwür im Lächeln der Wirklichkeit. Natürlich glaubte ich nicht, ich sähe wie ein Geschwür aus, aber das gehörte gerade zu dem grauenhaften Trick: Mich umgab eine negative Aura, die ich intuitiv erahnen, aber nicht sehen konnte. An manchen Tagen war sie nur ein hartnäckiger Fleck, aber an anderen, an Tagen wie heute – einem Tag, an dem ich mir üble Vorwürfe mache, weil ich gescheitert bin, alles in den Sand gesetzt und mir das eingebrockt habe –, da muss die Aura geradezu lodern wie das durchgeknallte Glühen einer elektrischen Insektenfalle. Aber so fühle ich mich nicht – im Fenster kann ich andeutungsweise mein Spiegelbild mit rotem Bart und Sommersprossen erkennen und weiß, dass ich absolut gewöhnlich aussehe.

Kleine Bildschirme über dem Gang zeigen die Strecke unseres Zugs von Rom nach Bologna als rote Linie den Stiefel hoch mit einem Geschwindigkeitsanzeiger daneben, der noch auf null steht, und einer Uhr darüber, die den Countdown bis zur Abfahrt zeigt. Während die Sekunden runterticken, drücke ich den Rücken durch, öffne meine Lunge der Luft aus der Klimaanlage und konzentriere mich auf einfache, regelmäßige Atemzüge, einen, dann den nächsten, bis der Rhythmus erst meinen Magen und dann meinen Geist so beruhigt, dass ich mich dahinter niederlassen und zusehen kann.

Aus den Lautsprechern kommt eine aufgezeichnete Durchsage, von der ich nur das Wort »Frecciarossa« verstehe, das für mich bis gestern Abend nur ein Wort war, als ich nämlich im Ulrich-Bett am Einschlafen war – mit dem Geist halb noch in dieser Welt, halb schon in der ersten Traumlosigkeit – und eine Stimme hörte, die »der rote Pfeil« rief, eine Wendung, die so überhaupt keinen Kontext hatte, dass sie sich wie eine Zauberformel aus dem kosmischen Jenseits anfühlte, jedenfalls dachte ich das, als der Schlaf mich langsam in die Arme schloss, weil ich nicht merkte, dass sie von Annie kam, die auf der anderen Seite des Zimmers am Sekretär aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts saß, noch in ihrer Abendgarderobe, Jeans und Bluse schwarz in schwarz mit einem grünen Seidenschal als Farbtupfer, und sich zum Auswendiglernen seitenweise italienisches Vokabular notierte, das sie im Lauf des Tages aufgeschnappt hatte, wobei sie dazuschrieb, wie und wann etwas hängen geblieben war. Das hat sie sich zur abendlichen Gewohnheit gemacht, seit wir vor einer Woche in diesem Land angekommen sind, und beweist so, mit welchem Engagement sie die Sprache lernt, seit ihre Firma sie dem Team für die Entwicklung eines neuen KI-gestützten Sprachlernprogramms zugewiesen hat. »Ich soll nicht nur eine Sprache lernen«, sagte sie zu Beginn des Projekts, »ich soll auch darauf achten, wie und wann ich etwas lerne.«

Jetzt erweitert sie ihren Wortschatz so besessen, dass sie manchmal laut wird, wenn ihr eine Übersetzung einfällt, wie zum Beispiel gestern beim Abendessen, als wir schweigend die Speisekarte studierten und sie plötzlich so laut mit »Priesterwürger« herausplatzte, dass ich hochfuhr und mich umsah. »Strozzapreti«, wiederholte sie leiser, »an strozzare erinnere ich mich aus Commissario Montalbano. Wetten, das bedeutet es?« Sie gab das Wort in ihr Handy ein und lächelte mich triumphierend an. »Hab ich doch gesagt! Strozzapreti – ›Priesterwürger‹ – toller Name für eine Pastasorte«, und erst da verstand ich endlich, dass sie über die Pastagerichte auf der Speisekarte sprach.

»Der rote Pfeil«, hörte ich im Bett wieder, gespenstisch und laut, wie ein Leuchtsignal am Rand der Schwärze, in die ich hinübertrieb, aber plötzlich griff die noch wache Hälfte meines Geistes zu, störte mich auf, und ich sah Annie, die mich vom anderen Zimmerende aus ansah. »Der rote Pfeil«, sagte sie zum dritten Mal, »wann fährt der ab?« Ich blinzelte, unsicher, ob ich wach war. »Der Frecciarossa«, sagte sie langsam und dehnte die Silben. »Der Zug – wann musst du morgen früh am Bahnhof sein? Ich hoffe, du stellst dir einen Wecker. Ich habe nämlich eigene Pläne für den Tag, und zu denen gehört nicht, mit dir aufzustehen.« Frecciarossa, »der rote Pfeil« – in meinem halbwachen Zustand existierten die beiden Wendungen nicht mehr in verschiedenen Sprachen, sondern verschmolzen plötzlich und für alle Zeit in meiner Privatsprache. Ein richtig körperliches Gefühl, fest und glatt wie sauber gearbeitete und geölte Zahnrädchen einer Armbanduhr, die bei der ersten Inbetriebnahme ineinandergreifen und zu ticken anfangen. Sehr angenehm. Dann zog mich die zärtliche Dunkelheit unter die Oberfläche des Bewusstseins.

Und jetzt, wo ich das Wort gerade aus den Lautsprechern in der Decke gehört habe, kann ich es am vorigen Nichtort meines Bewusstseins schweben sehen, erst »Frecciarossa«, dann »der rote Pfeil« und schließlich nur noch »Pfeil«, leuchtend, mit Serifen und leicht vibrierend wie ein Magnet, der neue Wörter anzieht und einen Satz bildet, den Satz, den der Physiker an den Anfang seiner Memoiren stellte – den einzigen Satz, auf dessen Aufnahme er ausdrücklichen Wert legte –, einen Satz, den er in Vorträgen und Interviews seit Jahren als eine Art Schlagwort verwendet, ein Tor, das seinem Denken unzählige überfüllte Säle geöffnet hat und jetzt die Geschichte seines Lebens eröffnet: »Die Zeit ist keine Achse mit zwei gleichwertigen Richtungen: Sie ist ein Pfeil mit unterschiedlichen Enden«. Ich lese den Satz mit dem inneren Auge, wiederhole ihn für mich und spüre, wie sich die Gegenwart ändert, sanfter wird, wie eine Blume mit langen Blütenblättern erblüht, und jedes entfaltet sich zu einem Punkt, von dem aus ich hierher gelangt bin.

ESBEGANNMITeinem Erfolg. Einem Erfolg mit Erzählungen. Wahrscheinlich passt das nur zu gut dazu – fällt mir jetzt ein –, dass ich mir eine Erzählung vergegenwärtigen muss, damit die Hölle endet, die mit Erzählungen begann. Die Erzählungen, die mich fertiggemacht haben, waren Erzählungen, die ich geschrieben hatte. Ich hatte nicht vorgehabt, Erzählungen zu schreiben. Eigentlich hatte ich immer malen wollen. In meiner Kindheit und Jugend war ich der Kunstjunge. Erst der, der zeichnen konnte, dann der, der malen konnte. An der Highschool wurde ich vom Matheunterricht freigestellt, um in den Klassenzimmern Wandmalereien anzufertigen, was mir sehr lieb war, denn ich war nur ein mittelmäßiger Schüler und in Mathe eine absolute Niete. Nach dem Abschluss schrieb ich mich an einer Kunstakademie im Nordosten ein und machte den Master of Fine Arts. Zog dann natürlich nach New York, besorgte mir natürlich ein überteuertes und unterlebensgroßes Wohn-Atelier in Bushwick und schlug eine erfolglose Karriere als Maler ein.

Ich mag das Malen. Es fehlt mir richtig. Die körperliche Arbeit, mein verdreckter Atelieroverall, der Anblick meiner befleckten Hände, ein Freund, der reinschneien, mein Bier trinken und mir beim Malen zusehen kann, wodurch ich arbeite und gleichzeitig unter Leute komme. Nach den Erzählungen habe ich aber nicht mehr das Gefühl gehabt, ich könne je zum Malen zurückkehren. Warum, kann ich nicht sagen. Vielleicht liegt es daran, dass ich mir seit der Behandlung ehrlicher gegenübertrete, heute kann ich jedenfalls zugeben, dass ich einfach nicht besonders gut war. Klar, ich war ein begabtes Kind, aber in West Virginia gilt man schnell als künstlerische Begabung. An der Kunstakademie habe ich dann gelernt, wie man sein Talent inszeniert – ich kannte mich im Jargon aus, rühmte die richtigen Zeitgenossen, legte bei Kritik den Kopf angemessen auf die Seite und – das war das Wichtigste – entwickelte einen Stil, der »ästhetische Konventionen kritisch hinterfragte«. Die Phrase habe ich immer wieder wortwörtlich gesagt und geschrieben. Eine gediegene schauspielerische Leistung. Am Ende habe ich selbst daran geglaubt. Aber genau wie in West Virginia ist das an einer Kunstakademie ein Klacks. Als die Phase vorbei war, verkaufte ich hier und da ein Werk, fast alle an ein und denselben Sammler, und seitdem habe ich mich hauptsächlich mit Kunstvermittlung über Wasser gehalten – indem ich die Bilder erfolgreicher Künstler an die Wände erfolgreicher New Yorker hängte. Es kamen lausige Zeiten. In meinen letzten fünf Jahren als Maler habe ich sage und schreibe zwei Werke verkauft. Ich würde also sagen, dass mir das Malen nicht besonders gut bekommen ist. Wobei das so auch nicht stimmt, denn ohne das Malen wäre ich Annie nicht begegnet.

Als wir uns vor sechs Jahren, im Spätsommer 2013, kennenlernten, arbeitete sie in Brooklyn bei einem Startup-Unternehmen für Künstliche Intelligenz, das sich auf digitale Avatare spezialisierte. Ein Künstlerfreund vernetzte mich mit der Firma, als es um die Frage digitaler Porträts ging. Ich malte keine Porträts, nicht mal Selbstporträts – die am allerwenigsten; ein Selbstporträt konnte ich noch nie malen –, aber das behielt ich natürlich für mich. Ich ging zu dem Meeting, um in einem sterilen skandinavischen Café in der Nähe meines Ateliers einen Gratiskaffee abzustauben. Annie war die Ansprechpartnerin.

Ich kam zu früh, wartete an einem der niedrigen dänischen Tische, kritzelte in meinem Skizzenbuch herum und versuchte, dem Wunschbild zu entsprechen, das sich jemand aus der Informatikbranche von einem potentiellen Grafikmitarbeiter machte: produktiv, konzentriert, geduscht. Meine sonstige Alltagsgarderobe aus farbverkrusteter Carhartt-Arbeitshose und löchrigem T-Shirt war in dieser Nordecke von Kings County zwar völlig akzeptabel, trotzdem hatte ich farbenfreie Sachen angezogen. Warum putzte ich mich heraus, wenn ich doch wusste, dass ich den Job nicht kriegen würde? Weil mich schon lange niemand mehr ernst genommen hatte und ich nehmen würde, was ich kriegen konnte.

Nach zwanzig Minuten saß ich aber immer noch allein da. Inzwischen funkelte der Barista mich unverhohlen an, weil ich mich hier herumdrückte, ohne etwas zu bestellen, ein Problem, das eigentlich locker zu lösen gewesen wäre, nur konnte ich es nicht lösen, weil ich so sicher gewesen war, der Kaffee würde auf ihr Konto gehen, dass ich mein Portemonnaie im Atelier gelassen hatte. Hätte ich es mitgebracht, hätte das aber auch nichts geändert; ich war pleite.

Ich spürte, wie die Empörung des Barista die anderen Kunden ansteckte. Ein junger Mann mit Beanie und außergewöhnlich großen Kopfhörern wiegte sich hin und her und tippte an einem Mac; ein anderer Mann mit aggressiv lässiger Haltung und aufgestanzt finsterem Blick tippte ebenfalls an einem Mac, aber mit so hochfrequenter Intensität, dass ich mir vorstellte, er würde jemanden in einem Chat-Thread anbrüllen, aber vielleicht brüllte er auch niemanden an, sondern brüllte wegen jemandem, nämlich mir; schließlich noch eine junge Frau mit braunem Bob und übergroßen Brillengläsern, die mit einem Textmarker ein Taschenbuch durcharbeitete. Nein, es bestand kein Zweifel; alle wussten, was hier los war, und wollten, dass ich ging. Das spürte ich daran, wie sie mir vielleicht verstohlene Blicke zuwarfen, wenn ich ihnen gerade keine verstohlenen Blicke zuwarf – sicher sein konnte ich nicht, weil ich mich nicht traute, einen von ihnen länger anzusehen, weil ich Angst hatte zu sehen, wie sie mich ansahen und welche Empörung in ihren dunklen Iriden lag. Ich verlief mich dermaßen in diesen Gedankengängen, dass ich nicht mehr aufpasste, wo ich hinsah, denn als ich zu mir kam, merkte ich, dass ich die Frau mit dem Taschenbuch anstarrte, die meinen Blick erwiderte, weil sie gemerkt hatte, wie ich sie ansah, und wahrscheinlich dachte, ich wollte sie spannermäßig auschecken, was nicht der Fall war. Vorher hatte ich sogar bewusst nicht in ihre Richtung geschaut, gerade weil ich sie attraktiv fand und Angst hatte, meine Blicke könnten echtes Interesse verraten, was zwar unbewusst war, aber nur übergriffig rüberkommen konnte. So viel dazu, dachte ich und kniff mich ins Bein, als sie ihre Handtasche nahm, aufstand und in meine Richtung kam. Im verzweifelten Versuch, wenigstens eine Ausrede für meinen unbewussten Blickfick zu haben, skizzierte ich sie hastig und hoffte, ich könnte ihr die Zeichnung als Entschuldigung und Verteidigung zeigen und irgendwas von wegen »Inspiration« faseln. Wenn Sie das weit hergeholt finden, liegen Sie richtig. Das war mein letzter Gedanke, als sie auf mich zukam, eine öffentliche Geißelung ganz in Schwarz, kein Goth und auch nicht die New Yorker Standardmode, sondern eine Eigentümlichkeit, bei der ich schon damals spürte, dass sie bestimmte Überzeugungen in puncto ästhetischer Minimalismus zum Ausdruck brachte: Ich hab das alles so satt.

»Warten Sie hier auf jemanden namens Annie?«

Ich stand auf und schüttelte ihr etwas erregter als beabsichtigt die Hand. »Tut mir leid. Ich hab Sie nicht für sie gehalten. Ich hab eher einen Technikfreak erwartet.«

Sie zog die Hand zurück, und ihre Augen durchbohrten mich. »Und wie sieht ein Technikfreak aus?«

Nicht so gut wie Sie, wollte ich sagen, schluckte es aber runter. »Keine Ahnung, fürchte ich.« Ich starrte meine Stiefel an, mit denen ich mir gern einen Tritt in den Hintern verpasst hätte.

»Aha. Gut, ich hab eine Stunde für dieses Meeting geblockt, was mich angeht, haben wir also noch ein bisschen Zeit.« Sie bot an, uns Getränke auf Spesen zu holen, sagte, sie würde einen Cortado nehmen, ich sagte, ich hätte auch gern einen, und sackte am Tisch zusammen.

Als sie mit den Kaffees zurückkam, fragte sie noch im Stehen, ob ich die Vertraulichkeitsvereinbarung unterschrieben hätte, setzte zu einer Beschreibung ihrer Firma und des angedachten Projekts an und sprach mit einer Zuversicht, die ich sympathisch fand, auch wenn die von mir erwartete Arbeit mich einschüchterte. »Wir würden Sie für einen Umfang von rund zweihundert Porträts unter Vertrag nehmen«, sagte sie. »Die Porträts wären von zwanzig verschiedenen Modellen, aus deren Bildern wir nach unserem Ermessen fast alle Gesichter dynamisch zusammensetzen können. Wir zielen nicht auf Fotorealismus ab – auch wenn das Unheimliche Tal sehr real ist –, und deshalb setzen wir im Gegensatz zu unseren Konkurrenten auf eine lose Ähnlichkeit, die noch realistisch ist, aber eher auf allgemeingültigere Repräsentationen hinausläuft, und idealiter orientieren sich die Porträts stilistisch an dynamischen analogen Eigenschaften wie Pinselstrich und Maserung. So die Schiene Postimpressionismus. Wir überlegen darüber hinaus, die Entstehung sämtlicher Porträts mit Zeitrafferfilmen zu dokumentieren, sofern sich da lohnenswerte kinetische Potentiale ergeben, aber gegenwärtig loten wir noch aus, wie sich solche Daten implementieren lassen. Bestenfalls würden Sie im 4. Quartal liefern, wobei mir bewusst ist, dass Sie das unter Druck setzt, schließlich ist das 2. Quartal schon fast vorbei. Da gäbe es von unserer Seite aus aber Spielraum.«

Ich wollte erst so tun, als verstünde ich, wovon sie sprach, und würde es mir überlegen, gab dann aber schnell zu: »Da bin ich der Falsche für Sie. Es tut mir leid, wenn es da Missverständnisse mit meinem Freund gegeben haben sollte, aber zweihundert Porträts, das ist nicht zu schaffen. Da bin ich nicht der Richtige für Sie. Und Filme? Ich lasse mich nicht filmen.« Sie trank einen Schluck Cortado und schwieg, ein kompakter Stilleklotz klonkte zwischen uns auf den Tisch, was sie anscheinend aber nicht kümmerte, während ich auf meinem Stuhl hin und her rutschte und das Gefühl hatte, ich wäre ihr weitere Erklärungen schuldig. »Ich fürchte, eine solche Unterbrechung würde meinen laufenden Projekten nicht guttun«, fügte ich noch hinzu, obwohl ich praktisch keine Projekte am Laufen hatte, nur ein paar ins Stocken geratene Leinwände, die ich noch nicht verstand. Ihre Haare hatten denselben lackbraunen Glanz wie die Rosskastanien, die in meiner Kindheit in unseren Garten fielen.

»Verstehe«, sagte sie schließlich, und ihre Schultern entspannten sich. »Ich weiß Ihre Ehrlichkeit zu schätzen. Die meisten Leute, mit denen wir Werkverträge abschließen, behaupten, sie schaffen alles. Besonders die Männer. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mir die Kopfschmerzen ersparen.« Sie lächelte zum ersten Mal, kurz aber ehrlich, und ich spürte, wie eine unbekannte Wärme in mir aufwallte wie ein Kontrolllämpchen zwischen den Lungenflügeln. Sie nahm ihre Handtasche und sah sich um, als wollte sie aufbrechen, aber ich wollte nicht, dass sie schon ging, und fragte, wie das in der Technikbranche eigentlich zuginge. Waren ihre Büros eine einzige große Stellfläche mit langen Tischen und Snackbars und so? Typen in Kapuzenpullis mit Reißverschluss?

»Es gibt definitiv Typen mit Kapuzenpullis«, sagte sie und legte die Handtasche wieder hin. »Und ja, unser Büro hat einen offenen Grundriss, aber besonders glanzvoll ist das nicht. Es liegt in einem ziemlich verwahrlosten Altbau, der garantiert nicht den Bauvorschriften entspricht. Im Winter müssen wir Heizgeräte aufstellen. Snacks sind gratis, aber meistens gibt es nur Schokoriegel von Costco. Und tonnenweise Käsebällchen. Es ist ein Start-up-Unternehmen. Nicht gerade das Ziel meiner Träume, aber ich bin froh, dass ich einen Fuß in der Tür habe. Wissen Sie, nach den Typen mit Kapuzenpullis fragt jeder, aber eigentlich sind Typen in schwarzen Rollkragenpullis das Besondere. Meine Mitarbeiterinnen und ich nennen sie die Stevies. Manchmal sieht man, wie sich zwei Stevies unterhalten und anscheinend gar nicht merken, dass sie beide dasselbe anhaben.«

»Ein ästhetisches Verbrechen«, sagte ich.

»Aber hallo.« Sie sah sich wieder um.

»Schreiben Sie auch in Code und so?«

»Ja, wenn’s sein muss. In einem Start-up muss jeder alles ein bisschen können. Aber eigentlich bin ich Designerin. Ich entwerfe die Experience, die der Code dann ausdrücken muss.«

»Ich war an einer Hochschule für Kunst und Design. Bin aber auf der Kunstseite geblieben. Design war mir zu zugeknöpft.«

»Interessant. Seh ich anders. Ich meine, ich verstehe vielleicht, dass Sie das ein bisschen professionalisiert finden. Aber was Ihnen zugeknöpft vorkommt, ist vielleicht nur gut designt, also rein. Es hat nur das, was es braucht. Und so was schenkt man halt Aufmerksamkeit.«

»Und was allem schenken Sie Aufmerksamkeit?«

»Möglichst vielem. Dem hier zum Beispiel.« Sie hielt ihr leeres Mokkaglas hoch. »Das ist ein gut designtes Mokkaglas. Manche Leute stören durchsichtige Kaffeebehälter, was ich verstehen kann, aber dank der Durchsichtigkeit kann man sehen, dass der Espresso auf optisch angenehme Weise zubereitet wurde, und das Glas hat dasselbe Gewicht und dieselbe Dichte wie Porzellan, wird anders als die meisten Glassorten aber nicht heiß, also verbrennt man sich beim Trinken nicht die Finger oder Lippen. Das sorgt für Engagement. Engagement ist in der KI eine große Sache. Darüber nachzudenken macht einen Gutteil meiner Arbeitszeit aus. Was bindet einen Menschen an einen Alltagsgegenstand? Und wie lässt sich diese Bindung auf natürliche Weise aufrechterhalten?«

So unterhielten wir uns weiter, als die für das Meeting angesetzte Stunde längst vorbei war. Wir waren so ins Gespräch vertieft, dass wir uns nicht mal beim Barista bedankten, als der vorbeikam, um unsere Gläser abzuräumen. Als wir uns schließlich verabschiedeten, fragte ich, ob wir uns mal wieder treffen könnten, und sie meinte, klar.

EINEWOCHESPÄTERtrafen wir uns in einem österreichischen Restaurant in der Nähe ihres Apartments in Park Slope. Wir hatten beide Schnitzel gegessen, so groß wie unsere Gesichter, zwei halbe Liter Lager getrunken, waren fröhlich und auf einer Wellenlänge und präsentierten willkürliche Karten aus dem Blatt unserer Lebensgeschichte. Annie erkundigte sich nach West Virginia und gab zu, dass sie so gut wie nichts über den Staat wüsste und vor mir noch niemanden getroffen hatte, der dort herstammte, und ich weiß nicht, ob es am Lager, an meinen Nerven oder an beidem lag, aber ich schwafelte jedenfalls drauflos, wie schön es dort sei, aber auch aus der Welt gefallen, ein Nichtort der amerikanischen Seele, dessen Menschen entweder ignoriert oder auf Karikaturen reduziert und dessen Landschaften ständig von der Industrie verschandelt würden, was ich in meiner Malerei ergründen wollte. Dann entschuldigte ich mich, weil ich mich so hatte hinreißen lassen, und fragte sie, wo sie herstammte, mir wäre ein gelegentlich aufblitzender Dialekt aufgefallen.

»Nördliche Vokalverschiebung«, sagte sie. »Ist mir bewusst. Ich versuche, ihn mir abzugewöhnen, aber wenn wir Bots testen, ist er bei der Arbeit manchmal ganz hilfreich.« Sie sagte, sie komme aus einer Schlafstadt am Rand von Chicago, die sie »die vorstädtischste Vorstadt aller Vorstädte« nannte.

»Vielleicht weiß ich ja nicht viel über Vorstädte, aber für einen Menschen aus der Vorstadt kommst du mir sehr weltoffen vor.«

»Wie meinst du das? Ich meine, danke, aber …«

»Ich weiß nicht. Du arbeitest in der KI. Du hast Stil. Du bist nicht gewöhnlich, meine ich vielleicht einfach. Wenn ich an Vorstädte denke, stelle ich mir unwillkürlich die gewöhnliche Nachbarschaft in E. T. vor.«

»Damit liegst du auch gar nicht so falsch. Was dir als Gewöhnlichkeit auffällt, ist vielleicht eher eine allgemeine Ortlosigkeit. Ich hab manchmal das Gefühl, Vorstädte sind entworfen worden, um alle Ortsgebundenheit gegenstandslos zu machen. Das macht sie für manche Leute so attraktiv. Mein Dad ist da beispielsweise rausgezogen, weil ihm sein polnisches Stadtviertel in der City bis hier stand. Sagt er jedenfalls. Da wo wir wohnten, mussten wir nie darüber nachdenken, wo wir herstammten, während du dir immer Gedanken darüber gemacht hast, dass du aus West Virginia kommst. Klar, du kriegst dafür eine gewisse Gleichförmigkeit, aber es gibt ja Züge, die dich jederzeit sofort in die City bringen. Und es sind auch nicht alle gleich. Es gibt da auch coole Leute. Meine Großmutter war zum Beispiel supercool. Ich war sehr viel bei ihr. Vielleicht spürst du einfach ihre Energie. Sie war eine erfolgreiche Goldschmiedin. Sie wohnte in der Nachbarsiedlung, und ihr Atelier lag direkt hinter ihrem Haus. Das war etwas Besonderes. Überall Teppiche auf den Fußböden, und Werktische. Sie hatte sogar eine kleine Gießerei. Das war schon wild. Für ein Kind gefährlich, aber das war ihr egal. Sie hat mich immer beschäftigt gehalten. Mir Bücher gegeben. Und mir auch viel beigebracht. Sie hat mich in die City mitgenommen, wenn sie Objekte bei Saks abliefern musste. Danach haben wir in einem Bistro was gegessen und sind ins Art Institute gegangen. Die sind von ihr.« Sie zeigte auf die polierten Bronzesplitter, die sie als Ohrringe trug.

Ich musste zugeben, dass das alles sehr viel schöner klang, als ich es mir vorgestellt hatte.

»Schöner als West Virginia, könnt ich wetten.«

Mir war klar, dass sie das ironisch meinte, aber sie hatte recht, und ich schwieg.

»Sorry, das war dumm.«

Ich ging nicht darauf ein. »Deine Großmutter – hast du der auch deinen Sinn für Design zu verdanken?«

»Ja, kann sein. Aber ins Design bin ich irgendwie reingeschlittert. Meine Großmutter hat mich eher dazu gebracht, viel zu lesen. Deswegen habe ich im Hauptfach Englisch studiert. Nach der Uni habe ich eine Zeit lang im Verlagswesen gearbeitet, das lag mir aber nicht, also bin ich ausgestiegen und zur KI gekommen, wo ich Personality Design gemacht habe, was nur gruseliger Fachjargon für das Konzipieren von Bot-Charakteren ist. Dann ging’s über Interaktionsdesign weiter zur Situativen Erfahrungsgestaltung. Am Ende läuft alles auf Design raus. Heute würde ich sagen, dass meine Großmutter mir diese Einstellung des ›Ran an die Buletten‹ vermittelt hat. Ausprobieren, wie etwas funktioniert. Den Versuch wagen. Danach entsprechend anpassen.« Sie trank ihr Lager aus, ein längerer Zug, als sie erwartet hatte, stellte das Glas ab und unterdrückte ein Aufstoßen. »Wollen wir uns eine Zigarette teilen?«

Wir rauchten auf einer Bank im Vorgarten des Restaurants, lehnten die Köpfe an die efeuberankte Fassade, und das Indigoblau des Himmels wurde schwarz. Über uns wurde eine Lichterkette angeknipst und tauchte uns in schwaches Bronzelicht. Ein Mann mit einer Holga um den Hals blieb auf dem Gehweg stehen, um die Szene zu fotografieren. Er war ungefähr in unserem Alter, trug aber das khakifarbene Klufthemd eines Boyscouts, das er in die Shorts, die mal ein Paar Jeans gewesen waren, gestopft hatte. Seine bleichen Schenkel leuchteten. Wir starrten beide in sein dunkles Objektiv.

»Ein ästhetisches Verbrechen«, sagte Annie, als er weitergegangen war.

»Aber hallo. Die Hemdaufnäher waren nicht mal an den richtigen Stellen. Und er hatte mehr als ein Stufenabzeichen, was völlig sinnlos ist. Kein Blick für Einzelheiten.«

Damit hatte ich verraten, dass ich bei den Boy Scouts gewesen war. Nicht nur bei – ich war ein Boyscout. Ein Eagle Scout. Ich bin stolz darauf, erwähne es aber nicht mehr so gern, weil es heute so schnell mit protofaschistischen Haltungen in Verbindung gebracht wird. Annie reagierte zum Glück nicht spöttisch. Vielleicht war sie einfach höflich. Das ist auch egal, ich erzählte jedenfalls von unseren damaligen Unternehmungen, von der vielen Zeit, die ich als Junge in der freien Natur verbracht hatte, von meinem Fähnlein und schließlich einer Wandertour durch einen Nationalpark in West Virginia, in deren Verlauf wir bei einer Auseinandersetzung zwischen Umweltaktivisten und der Staatsgewalt zwischen die Fronten gerieten, was in einer Art Geiseldrama endete, wobei wir selber das Gefühl hatten, neben uns hockte auf der einen Seite eine Gruppe Umweltaktivisten und auf der anderen die Staatsgewalt. An diese Geschichte musste ich später am Abend denken, als ich wieder allein im Atelier saß und an einem großen seltsamen Bild arbeiten wollte, auf dem viele kleine bunte Gestalten auf einen ausbrechenden Vulkan zugingen. Plötzlich legte ich den Pinsel weg und begann in einer Mischung aus extremer Naivität und einem Schuss Selbstvertrauen, der sich dem Koksrest eines Künstlerfreunds verdankte, die Geschichte in meinen Laptop zu tippen.

Ich bin bei Podiumsdiskussionen oft gefragt worden, was mein Motiv war, sie aufzuschreiben. Die Antwort ist immer dieselbe: Ich weiß es nicht. Ich kann nicht erklären, wie es dazu kam. An der Kunstakademie hatte ich in einem meiner geisteswissenschaftlichen Wahlfächer einen Lyrik-Workshop für Anfänger belegt, aber hauptsächlich weil ich hoffte, das lyrische Kleinformat würde sich auch im wöchentlichen Arbeitspensum niederschlagen. Der Kurs machte aber Spaß. Ich schrieb vor allem Landschaftsschilderungen vom Monongahela River Valley, meiner Heimat, Gedichte, die offenbar keinen interessierten. Für ein anderes Wahlfach belegte ich »Hass und Härte: Über bildende Kunst, Film und Literatur im deutschen Sprachraum nach dem Zweiten Weltkrieg« und entwickelte eine gewisse Begeisterung für Thomas Bernhard und W. G. Sebald, hatte aber beide lange nicht mehr gelesen. Jahrelang hatte ich nur Mails und Anträge für Fördergelder geschrieben, die ich nie bekommen habe; gelesen hatte ich Artikel und Taschenbücher, und manchmal hatte mich auch etwas mitgerissen, aber ich hatte mich nie als echten Leser gesehen, egal was den definierte – vermutlich war es jemand, der disziplinierter war als ich und dem das, was ich da am Laptop machte, weniger seltsam vorkam als mir. Und ja, es fühlte sich komisch an, hatte aber auch etwas entfernt Vertrautes, das aus meiner frühen Kindheit herrührte, wo ich stundenlang dasitzen und Skizzenbücher mit fremdartigen Monstern und Mutanten vollkritzeln konnte – eine Art endloser Hexensabbat, der sich über Dutzende von Seiten hinzog –, und beim Zeichnen verlor sich meine Fantasie in den Lebensgeschichten jeder einzelnen Figur, ihren Charakterzügen, Kämpfen und schließlich auch in ihrer Stimme, die sich immer erst einstellte, wenn das Bild fertig war; erst dann machte ich mit dem Text weiter. Ähnlich fühlte es sich an, als ich in jener Woche im Atelier saß und drauflostippte, an der Erzählung feilte und die Farben meiner Palette zu einer Neontopografie aushärten ließ.

Dann beging ich die größte Idiotie, die ein junger Mann begehen kann, der seine Lebensliebe kennengelernt zu haben glaubt: Ich schickte Annie eine Erzählung und bat sie, sie zu lesen. Und das tat sie auch. Und da sie Anglistik studiert und nach dem Abschluss kurz in der Verlagsbranche gejobbt hatte, bevor sie in den Techbereich wechselte, gab sie mir ernsthaftes und kompetentes Feedback, sagte Sachen wie »die aufgestaute Aggression in dieser Szene ist mit Händen zu greifen«, »mir gefällt der Rhythmus dieser Sätze« und »das hier ist geschludert, ich glaube, das kannst du besser«, und sie sagte nie, ich wäre ein Spatzenhirn, und wollte weiter mit mir zusammen sein. Als ich die erste Erzählung über mein Fähnlein fertig hatte, schrieb ich eine zweite und dann noch eine dritte und konzentrierte mich in jeder Erzählung auf einen anderen oder sprach sogar als ein anderer Boyscout, und als sich die .doc-Dateien in einem Ordner mit dem Titel »KLZ« (»Komisches Literaturzeug«) stapelten, verbrachten auch Annie und ich immer mehr Stunden zusammen, bis anderthalb Jahre vergangen waren und ich zu ihr in die Wohnung in Park Slope gezogen war, und als ich eines Nachmittags im März, an meinem neunundzwanzigsten Geburtstag, um genau zu sein, gerade abhauen und mich umbringen wollte, klingelte in unserer Wohnung mein Handy.

Tagsüber rief mich nie jemand an – abgesehen von Telefonabzockern oder politischen Gruppierungen. Das wusste ich, und trotzdem stockte ich, als ich in der Wohnung das Telefon klingeln hörte. Ich hatte schon abgeschlossen und gedacht, ich würde die Wohnung nie wieder betreten. Meine Schuhe hatte ich schon angezogen, aber noch nicht zugebunden. Ich wollte darauf konzentriert bleiben, diesen Planeten zu verlassen, nachdem ich schließlich den Bilanzpunkt erreicht hatte, zu dem ich so lange unterwegs gewesen war. Aber aus irgendeinem Grund, vielleicht gerade weil ich drauf und dran war, mich umzubringen, wollte ich noch ein letztes Mal eine Stimme hören, bevor ich mich ins große Nichts aufmachte, und so schloss ich die Tür schnell wieder auf und humpelte hinein.

Der Anruf kam von einer mir unbekannten Nummer in einem Teil der Bay Area, wo ich noch nie gewesen war und wo ich niemanden kannte. Ich hielt es für eine neue Standortverschlüsselung, warf aber einen Blick auf das Display, und mir fiel ein, dass es in dem Städtchen in der Bay Area eine Universität gab, deren Englischfakultät ein Schreibstipendium anbot, um das ich mich auf Annies Drängen hin beworben hatte, genauer gesagt, hatte ich von dem Stipendium nie etwas gehört, bis sie mir davon erzählte und meinte, ich solle mich bewerben, wonach sie es nicht wieder erwähnte, bis wir uns eines Abends gerade etwas kochten und sie in fast schon eisigem Ton fragte, ob ich die Bewerbung um das Stipendium eigentlich abgeschickt hätte, und als ich erst überlegen musste, welche Bewerbung sie überhaupt meinte, und dann verneinte, drehte sie sich zu mir, das große Küchenmesser in der Hand, und sagte: »Was zum Geier vergeude ich eigentlich meine Zeit mit dem Kommentieren deiner Erzählungen, wenn du dann nichts mit ihnen anfängst? War das alles echt nur Zeitverschwendung?« Die Klinge wippte und blitzte, während sie sprach, und die Spitze nahm meine Brust aufs Korn wie eine Kobra. Eine unmissverständliche Ansage. Und jetzt, Monate später, klingelte das Telefon.

Ich ging ran und wurde von einem ausgeprägten Nordküstendialekt begrüßt (einer Stimme, die für mich sehr viel Bedeutung bekommen sollte), der LD gehörte, der vielgepriesenen Schriftstellerin, die das Stipendienprogramm der Universität in der Bay Area leitete und mir mitteilte, ich hätte das Stipendium inklusive zwei Jahren Krankenversicherung erhalten.

Damit begannen meine »Duseljahre«, wie ich sie später nannte. Ich war kein Mensch, der Dinge gewann. Ich verlor sie. Immer. Fast zwanzig Jahre lang sagte die Stimme in meinem Kopf, dieselbe Stimme, die mich fast dazu gebracht hatte, das Café zu verlassen, bevor ich Annie traf, Tag für Tag: Du bist ein Verlierer, ein Idiot, eine Krankheit, eine nie versiegende Quelle des Leidens für jeden, der dir begegnet. Und ich glaubte ihr. Daher ja mein Plan, mich wegzumachen. Etwas zu gewinnen war nicht vorgesehen, schon gar nicht ein Stipendium auf einem Gebiet, auf dem ich weder akademische noch sonstwelche Erfahrungen mitbrachte.

Als Annie am Abend von der Arbeit kam und die drei Treppen zu unserem Apartment hochgestiegen war, fand sie daher keinen Umschlag mit meinem Abschiedsbrief an sie und separaten Anweisungen für die Polizei, wo meine Leiche zu finden war, sondern mich am Wohnzimmerfenster, wo ich auf den feuchten Garten mit den Zinnfiguren hinter unserem Brownstone hinaussah, ein japanisches Bier trank und seltsam beschwingt wirkte. Als ich ihr von dem Stipendium erzählte, sagte sie, ich sollte keinen Mist erzählen, dann kreischte und sprang sie dermaßen auf und ab, dass sich ihr kastanienbrauner Bob löste und die langen braunen Haare auf so pilzartige Weise um ihren Kopf herumflogen, dass mir die Knie weich wurden. Sie weinte ein bisschen, nahm die übergroße runde Brille ab, wischte sich die Augen, setzte sie wieder auf, und zu sehen, wie sehr sie sich für mich freute, war das größte Geschenk dieses Augenblicks in meinem Leben, denn da war ich fast sicher, dass dieser Mensch mich wirklich liebte.

»Das ist einfach perfekt«, sagte sie, als sie sich endlich hinsetzte und die Nachricht sacken ließ. Daran, wie sie ins Leere sah und bedächtig den Kopf wiegte, konnte ich einen Augenblick lang erkennen, dass sie vor ihrem inneren Auge eine Montage all der Karrieremöglichkeiten sah, die sich ihr durch einen Umzug boten. Die Bay Area war für sie immer eine berufliche Option gewesen, die in greifbarere Nähe gerückt war, als sie ihrem ersten Start-up entwachsen war. »Da drüben ist so viel los«, sagte sie, wenn sie durch die Stellenanzeigen scrollte. »Das hat ein wahnsinniges Wachstumspotential.« Und als ich jetzt dasaß und sah, wie sehr sie sich freute, schämte ich mich genau deswegen sehr, weil mir aufging, dass ich zumindest mitverantwortlich war und ihr diese Option vorenthalten hatte, weil ich mich an mein gescheitertes Leben in der City geklammert hatte, denn meine Atelierexistenz in der Sackgasse und die mickrige Kunstvermittlung rechtfertigten eigentlich nicht, hiergeblieben zu sein. Im Grunde hatte ich schon immer geahnt, dass es die City selbst war, die Versager wie mich überleben ließ – klar, ich hatte nichts erreicht, aber ich hatte in New York überlebt, und das musste doch etwas gelten. Nur stimmte auch das ja nicht mehr: Der makabre Beweis dafür war mein Abschiedsbrief, den ich in Schnipsel zerrissen und unten im Küchenmüll verbuddelt hatte. Es war beschämend und peinlich. Trotzdem hatte das Telefon geklingelt, und ich war heilfroh, dass ich rangegangen war.

Wir stopften uns an dem Abend mit Grillhuhn voll und hatten beide das Gefühl, wir wären endlich aus dem Schneider. (Ich war immer noch im Schockzustand.) In den anschließenden Wochen informierten wir uns über Wohngebiete in der Bay Area und planten den Umzug; wie sich zeigte, war Oakland genauso teuer wie Brooklyn, darauf konnten wir uns also schnell einigen. Wir sagten unserem Vermieter Bescheid und erzählten es unseren Freunden. Annie ging mit neuer Ernsthaftigkeit die Stellenanzeigen durch. Ich wollte meinen Transporter und den größten Teil meiner Malutensilien verkaufen, den Rest in Kisten verpacken und das meiste im Speicher meines Vaters in West Virginia einlagern, wenn wir Anfang August quer durchs Land zu unserem neuen Zuhause in Kalifornien fuhren. Ich hatte das Gefühl, glücklich zu sein.

Irgendetwas stimmte aber nicht. Alles lief meinen eingefahrenen Lebensrhythmen zuwider. Sogar am allerersten Abend, als ich eigentlich schockiert, erregt und dankbar war, lag ich stundenlang schlaflos im Bett und malte mir aus, was passieren würde, wenn irgendwann aufflog, dass ich vom Schreiben keinen blassen Schimmer hatte. Ich konnte mir nicht erklären, wie die Erzählungen zustande gekommen waren, und sagte mir deshalb, auch sie könnten Teil eines viel größeren und ausgefeilteren Plans sein, mich auf eine Art und Weise zu bestrafen, wie ich noch nie bestraft worden war, ein völlig neues Strafmaß von noch nie da gewesenem Grauen, was eigentlich nur heißen konnte, dass Annie etwas zustieß.

Und das ist jetzt sehr seltsam, muss ich sagen: Ich erinnere mich, dass ich das gedacht habe – einen Gedanken, der mir zahllose Stunden meines Lebens geraubt hat und auch objektiv angenehme Augenblicke mit Vorbehalten und Ängsten erfüllt hat –, und ich spüre nichts. Auch körperlich nicht. Abstrakt weiß ich, dass mein Verstand so arbeitete und dass ich so lebte, aber viel präziser und vertrauter fühle ich, dass es vorbei ist. Und wo weite Landstriche meines geistigen Daseins von Grübeln und Furcht erfüllt waren, herrscht jetzt eine Art Leere, und selbst während die Erinnerungen vor mir vorbeiziehen, kann ich mich einfach umsehen und die Dinge mit ruhiger Klarheit wahrnehmen, die Sonne Roms etwa, die erst weich und eine Art indirekte Beleuchtung war und jetzt plötzlich riesig am Himmel gleißt und sämtliche Stahlgleise in Termini wie Silberbarren leuchten lässt. Ich blinzle sie an, die Stirn ans Fenster gelegt, und lehne mich dann zurück – wir haben uns in Bewegung gesetzt. Der Zug schaukelt sanft aus dem Bahnhof, und ich entspanne mich in der Doppelempfindung von Stillstand und Bewegung. Ich habe dieses eigentümliche Aufbruchsgefühl, das einen nur in einer großen, Fahrt aufnehmenden Maschine überkommt, dem unbestreitbaren Anfang von etwas Neuem, einer Vorwärtsbewegung, aber wenn ich hinausschaue und die alten Lagerhäuser sehe, die die Bahntrasse säumen und warm in ihren verschiedenen Mango- und Kakifarben glühen, versetzt mich etwas in mein Fabrik-Atelier in Bushwick an einem Tag zurück, der genauso heiß war wie dieser, an dem ich mein Leben für den Umzug zerlegte und erstmals von der Behandlung hörte, die es am Ende retten sollte.

MEINATELIERWAR